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Spannend-poetische Erzählung für junge Helden und Abenteurer und solche, die es mal werden wollenDer böse Ritter Lothar hat sich nach dem Mord an Dandars König selbst zum Herrscher über das Königreich ernannt und trachtet dem rechtmäßigen Thronfolger, dem jungen Bal Darin, nach dem Leben. Dieser ist weit entfernt und gut beschützt vor der Bedrohung durch das Böse bei seinem Pflegevater, dem Schwarzen Saron, seines Zeichens Schmied von Dorntal, unter dem gewöhnlichen Namen Balder aufgewachsen, ohne überhaupt zu ahnen, dass er der Prinz von Dandar ist. Doch nun ist es an der Zeit, sein Geburtstrecht einzufordern und den Mord an seinem Vater zu rächen. Nach einer schicksalhaften Begegnung mit dem Zauberer Javer begibt sich Balder auf eine abenteuerliche Reise, um sich als Thronfolger würdig zu erweisen. Die Reise ist lang und gefährlich; der Weg gespickt mit gefährlichen Geistern, Hexen und anderen bösen Mächten, gegen die es sich mit Heldenmut, Ehrlichkeit und Loyalität zu beweisen gilt. Tatkräftige Unterstützung erhält er dabei von seinem treuen Pferd Tentor und Stärke findet er in seiner Liebe zu der schönen Roja.-
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Seitenzahl: 227
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Claus Bork
Saga
Die Kinder der WellenÜbersetzt vonSusanne RichterOriginaltitelBølgernes BørnCopyright © 2015, 2019 Claus Bork and und SAGA EgmontAll rights reservedISBN: 9788711800072
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nachAbsprache mit SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Dandar
Das Land in dem das Abenteuer der Wellenkinder geschieht.
Balder
Ein Knabe, der in Dorntal aufwächst, um Herauszufinden, daß er den Thron erben soll, aber bis dahin muß er sich als würdig erweisen.
Roja
Die Frau, die seine Begegnung mit der Liebe wird.
Lothar
Der, der Balders Vater tötete und ihn so vom Thron verdrängte. Lebt auf seiner Burg in Orsk.
Enjal-Zauberin
Die die Lügen sät, wo immer Lügen wachsen Können. Schmiedet ihre Ränke von Wolftal aus.
Zarakor
Der Fürst der Furcht in Schattental.
Die Nachtwanderer
Zarakors Gesandte.
Javer
Der Zauberer, der die Wege des Schicksals kennt.
Tentor
Balders Pferd.
Rowl
Enjals Wolf aus Wolftal.
Der Schwarze Saron
Balders Pflegevater, der Schmied in Dorntal.
Saronrogn
Der eigene Sohn des Schwarzen Saron.
Jord Faro
Der Wirt von Braunhöhe, wo Balder Javer trifft.
Ydelwynd
Das Land und der See am Rande der Berge am Ende der Welt.
Ein kalter, feuchter Wind jagte durch den Wald, wand sich zwischen den Bäumen hin und her...
Die Stämme waren dick und knorrig. Sie waren so alt wie die Welt selbst, sagte man. Sie standen so majestätisch da. Etwas gebeugt, wenn man genau hinsah, aber nichtsdestotrotz war etwas Stolzes an ihnen. Am Ufer des Sees hörte ihre Verbreitung auf.
Das Wasser gluckerte zwischen den Steinen, und der Wind erzählte im Schilf mit seiner flüsternden Stimme.
Und weil es Herbst war, fielen die Blätter von den großen Baumkronen und legten sich wie ein dämpfender Teppich über den Waldboden und wie kleine Boote auf die Kräuselungen des Sees.
Weil es früher Abend war, war die Sonne hinter den Baumspitzen untergegangen und hatte oben am Himmel einen flammenden Feuerschein hinterlassen. Die Dunkelheit lauerte zwischen den Bäumen und hinter dem Wald, wartete darauf, daß die Sonne verschwinden würde und sie hervorkommen ließ. Der Herbst, stark in seinen kräftigen Farben, erfüllte die Luft mit Düften und erinnerte daran, daß der Winter nicht mehr weit war.
Das Geräusch von schleppenden Füßen hallte zwischen den Bäumen wieder, nahm langsam zu und hallte über den See. Schwere, müde Schritte waren von einem zu hören, der sich durch die feuchten Blätter schleppte.
Er lief stöhnend zwischen den Bäumen davon, so müde, daß er manchmal die Balance verlor und mit der Schulter oder einem Arm gegen die grobe, knorrige Rinde eines der großen Bäume schlug. Dann stieß er einen leisen Fluch aus, hielt an, blieb etwas stehen, um sich zu erholen, keuchte nach Luft und lief weiter.
Er war ein alter Mann.
Seine runzligen Hände zogen den Hut um das Gesicht mit den tiefblauen Augen und dem dichten, grauen Bart zusammen, der unter der Nase und an den Mundwinkeln leicht vergilbt war.
Er lauschte. Die Augen warfen furchtsame Blicke in die Schatten. Zusammengekniffen, spähend...
Er hörte es. Dröhnenden Hufschlag von Pferden - vielen Pferden in hitzigem Tempo auf dem Weg hinter ihm. Er hoffte auf die Dunkelheit. Die Dunkelheit, die ihn verstecken und von den Verfolgern befreien könnte.
Er lief weiter mit dem schwarzen Mantel, der in der Luft hinter ihm her flatterte. Den Hut hielt er mit der einen Hand zusammen, während er versuchte, mit der anderen die Äste beiseite zu schieben.
Dann mußte er stehenbleiben.
Die Augen wurden groß und suchten unter dem Hut nach einem anderen Weg fort von hier. Aber es gab keinen.
Ein See lag vor ihm wie eine große, spiegelblanke Fläche und setzte eine Grenze, wie weit er gelangen sollte.
Er drehte sich um und versuchte, zu entspannen. Es war überstanden. Langsam richtete er sich auf und fand die Würde wieder. Darauf zog er seine gekrümmte Hand aus dem Mantel, hob eine Kristallkugel hoch und starrte in sie hinein. Aber da war nichts - sie war leer.
Er seufzte leise.
Reiter sprengten zwischen den Bäumen hervor. Der Lärm nahm zu, ein Getöse in der Dämmerung verkündete seinen Tod, wie den von so vielen anderen vor seinem.
Er schloß die Augen, lächelte still vor sich hin, während das Gedonner der Pferde an Stärke zunahm, ihn umschloß und einen Augenblick so stehen ließ, allein mit seinen eigenen Gedanken.
Der Junge - ihn hatte er an einem sicheren Ort versteckt. Dort würden sie ihn niemals finden. Ihm fehlte nur das letzte - den Fluch auszusprechen...
Er öffnete die Augen - langsam, wie jemand, der aus einem Traum erwacht.
Sie hatten um ihn herum Aufstellung genommen, zehn - zwölf Meter weg. Vierzig schwarze Pferde erreichten in einem Halbkreis das Ufer zu beiden Seiten seiner gekrümmten, einsamen Gestalt. Sie rasselten mit dem Zaun zeug, eine letzte Symphonie zu Ehren von ihm.
Er brauchte seine Sinne, sandte seine unsichtbaren Fühler aus, las was sie dachten und fühlten, als sie ihm begegneten – Angesicht zu Angesicht.
Sie fürchteten ihn, und die Furcht machte sie unentschlossen. Nur die Angst vor dem Führer trieb sie mit einer furchtsamen, bebenden Wut voran.
Der größte von ihnen lehnte sich vor mit seiner einen Faust, die in einem Handschuh steckte, in die Seite gedrückt.
Er schimmerte blank an den Stellen seines Körpers, die sein schwarzes Gewand nicht bedeckte. Nur sein Gesicht mit dem kräftigen Unterkiefer war nicht von dem Panzerhemd bedeckt.
"Worüber grinst du, alter Mann?" Das war er, den sie Lothar nannten. Lothar Hug, wenn man es genau wissen will.
"Hmmm…" seufzte der Alte. Das war seine Antwort.
"Alter Narr," sagte der Große auf dem Pferd. "Wir haben eine Rechnung offen. Aber erst sollst du mir noch etwas erzählen."
Der Alte schloß die Augen, fühlte die glatte, kühle Kristallkugel zwischen seinen schlanken, runzligen Fingern.
Die Pferde schlugen mit den Hufen. Es waren ungeduldige Pferde, ungeduldig, wie ihre Reiter.
"Töte ihn," flüsterte einer.
Er hörte es ganz deutlich - hörte jeden einzelnen von ihnen seinen Tod durch die zunehmende Dunkelheit flüstern.
"Wo ist der Bengel?" fragte der Anführer.
Der Alte antwortete ihm nicht sofort.
"WO IST ER HIN?" rief er, sodaß es zwischen den Bäumen dröhnte.
Der Alte öffnete die Augen, sah auf die Räuber, seine Mörder und die Pferde...
"Er ist außerhalb deiner Reichweite," antwortete er leise. Dann hellte sich sein müdes, zerfurchtes Gesicht auf mit einem zufriedenen Lächeln, das bis zu den Augen reichte.
"Du findest ihn nie, auch wenn du dein ganzes Leben dafür brauchst."
Die Pferde stampften die Hufe in die weiche Erde.
Es sang in der Luft, ein harter Ton mit einem harten Klang, als Lothar sein Schwert aus der Scheide zog und es drohend über seinen Kopf hob.
Der Himmel war rot wie Blut zwischen den schwarzen Armen der Baumkronen, die sich nach oben streckten, ohne etwas zu erreichen.
Die anderen machten es wie er. Zogen die Schwerter mit dem gleichen, kalten Geräusch in der Stille.
"Ich bin jetzt König," sagte Lothar und sah sich um. Die anderen nickte zustimmend.
Der Alte sah ihn an und schüttelte traurig den Kopf.
"Du wirst nie König," sagte er mit Nachdruck. "Es gibt nur einen König..."
Lothar entblößte seine gelben Zähne mit einem breiten Grin-sen.
"Es gab!" triumphierte er. "Er ist tot. Mein Schwert ist immer noch blutig."
Die anderen zeigten ihre Zähne und machten seine Art, zu Grinsen, nach.
Die Klingen schimmerten in der Dämmerung. Es war so still an diesem Abend am See.
"Ich gebe keinen Heller für dich und deine Zauberkünste," sagte Lothar hart. "Du kannst dich jetzt nicht mehr selbst befreien."
"Hast du Angst vor mir?" fragte der Alte.
"Ha!" antwortete Lothar.
"Ich kann einen Fluch über dich und deine Söldner verhängen," sagte der Alte langsam. "Wenn du wagst, es mich tun zu lassen..?"
"Mach was du willst," spottete Lothar. "Ich fürchte niemanden."
Der Zauberer hob die Hand mit der klaren Kristallkugel hoch über seinen Kopf, während er sie beobachtete.
Die Reiter bewegten sich unruhig im Sattel, während sie verstohlene Blicke auf Lothar warfen. Sie fürchteten den Zauberer, genau wie sie Lothar fürchteten.
"So prophezeie ich..." begann der Zauberer. "Der Tag wird kommen, da du hier stehen wirst, wo du heute stehst - und er wird hier stehen, wo ich stehe. Und wenn du auch glaubst, daß du ihn töten kannst, er wird Hilfe bekommen."
Mit diesen Worten wandte er ihnen den Rücken zu und hob die Kugel über den See.
"Ich verfluche Lothar Hug und seine schlechten Gesellen. Ich schwöre beim Spiegel dieser Zeiten, daß der Tag kommen wird, an dem er, der Prinz, die Hilfe der 'Kinder der Wellen' erhalten wird." Das abnehmende Licht blitzte in einer Flut aus Farben von der Kristallkugel in seiner Hand.
"Kinder der Wellen?" flüsterten die Räuber.
Lothar ignorierte sie. Er zeigte auf jeden Fall seine Furcht nicht, sondern trocknete die Klinge mit seinem Handschuh.
"Hört ihr mich..?" rief der Zauberer mit heiserer Stimme.
Ein plötzlicher Windstoß fegte über den See, auf dem sich Wellen bildeten. Der Wind flüsterte durch die Baumkronen, flüsterte mit seiner tonlosen Stimme, daß es nicht vergessen werden würde.
Der Zauberer drehte sich um. "Ich habe das Meine getan, nun ist meine Zeit um - in dieser Welt. Ich bin bereit..."
Er betrachtete die Baumkronen über ihren Köpfen mit traurigen Augen. Mit einem Blick, der die Sehnsucht des Abschieds und des Schmerzes enthielt, aber gleichzeitig mit der Ruhe, die der Erkenntnis entspringt. Er hatte keine andere Wahl - und er sah es ein.
"Dann stirb!" rief Lothar und spornte sein Pferd. Er trat dem Pferd die Hacken in die Flanken, sprengte voran auf das Ufer zu und hob das Schwert zum Schlag. Die Reiter warteten mit den Waffen im Anschlag.
Mit der Aufbietung seiner letzten Kräfte schleuderte der Zauberer die Kristallkugel auf die Erde, genau vor seine Füße. Die Kugel zersplitterte auf einem Stein und hüllte ihn in einen dichten, stickigen Rauch.
Lothars Pferd bäumte sich auf, und er hatte genug damit zu tun, sich im Sattel zu halten.
Als der Rauch zwischen das Schilf forttrieb, lag der Mantel des Zauberers auf der Erde. Er war leer...
Sie suchten überall nach ihm. Sie suchten am Ufer entlang und zwischen dem Schilf am Wasser, aber er war weg.
Lothar schimpfte und wütete, aber es half nichts.
Der Zauberer war verschwunden und mit ihm verschwanden all seine Hexenkünste von dieser Welt.
Vielleicht konnte er doch etwas zaubern, meinten die schwarzen Reiter. Aber sie wagten nicht, vor Lothar darüber zu sprechen. Sie brachen auf, spornten ihre Pferde und galoppierten durch den Wald.
Der letzte, der den Ort verließ, war Lothar. Zwischen den Bäumen hielt er das Pferd an und blickte ein letztes Mal zurück auf den See.
Das Wasser war rot - wie Blut.
Das Schilf stand in dichten Büscheln, aber es war kein Schilf mehr. Es waren Speere mit langen, blanken Spitzen, die im Mondlicht glänzten. Tausende von Speeren, die durch den Schlamm aufgeschoßen waren und warteten.
Lothar schwitze. Es zitterte leicht um seine Mundwinkel, als er mit der Rückseite des groben Stahlhandschuhs den Schweiß vom Gesicht trocknete. Sein Blick flackerte den See auf und ab, betrachtete das Schilf, das kein Schilf mehr war.
Die Worte des Zauberers klangen immer noch vor seinem inneren Ohr. Schließlich fiel ihm ein, daß die Reiter zwischen den Bäumen auf ihn warteten. Er wurde zornig, zornig über seine eigene Angst und zornig darüber, daß sie sich darüber klar waren.
Dann steckte er sein Schwert in die Scheide, drehte um, gab dem Pferd sie Sporen und verschwand zwischen die Bäume.
Der Mantel des Zauberers blieb am Ufer zurück liegen.
Keiner hatte gewagt, ihn anzurühren.
Um ihn herum lagen die kleinen Scherben der Kristallkugel und schimmerten feucht.
Der Wind schüttelte alles, was er auf seinem Weg zufassen bekam, die Bäume, die Büsche, selbst die Fahnenstangen auf Lothars Burg in Orsk. Schwere regenvolle Wolken segelten über den Himmel dahin.
Die Jungen liefen nach Hause über die Äcker, auf dem Weg zum Großwald und dem Dorf dahinter. Sie befanden sich mitten auf einem offenen Stück Land, als es zu regnen begann.
Ihre Rufe und ihr ausgelassenes Gelächter konnte man weit weg durch den Donner, der ihnen vom Horizont entgegen rollte, hören.
"Wartet auf mich…" rief der Kleinste. Die zwei großen liefen etwas langsamer.
Dann strömte das Wasser hinunter und durchweichte ihre Kleidung in weniger als einer einzigen Minute.
Sie zogen die Jacken über die Köpfe und liefen vornüber gebeugt in den Wald.
Der größte von ihnen war ein kräftiger Bursche mit braunen Augen, dunklem gekräuseltem Haar und einem sehr breiten Mund. Er hatte volle Lippen und wenn er lächelte konnte man seine schiefen Zähne sehen. Er stand mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt und prustete und stöhnte.
"Mein Gott, wie das gießt," rief er und trocknete sich mit der Rückseite des Ärmels unter der Nase.
Der zweitgrößte sagte gar nichts. Er war den anderen nicht ähnlich. Was nicht so zu verstehen ist, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Er sah einfach nicht so aus wie sie. Wo die Augen der anderen braun waren, waren seine blau, und wo die anderen schwarzes, kräuseliges Haar hatten, hatte er eine hellblonde Mähne um sein braungebranntes Gesicht. Es war etwas in seinem Wesen und in seinen Augen, das sagte, daß er älter als der Große war. Er war fast so groß wie ein erwachsener Mann, aber noch schmächtig. Er hatte auch Sommersprossen, aber das hatten die meisten, sodaß es keinen Unterschied machte.
Der Große dagegen, er wog das Doppelte. Aber das hatte er nicht von Fremden, denn sein Vater war der Schwarze Saron, der Dorfschmied. Er war der einzige im Land, der beides war, größer und breiter als Lothar.
Alle hatten den Burschen 'Saronrogn' genannt, von dem Tag an als er das Licht der Welt erblickt hatte. Und das war hängengeblieben. Und es gab keinen mehr, dem einfiel, wie er richtig hieß. Saronrogn - dabei war es geblieben...
"Du, Balder..." Der Große sah ihn an und schüttelte mit dem Kopf, sodaß das Wasser nach allen Seiten spritzte.
Balder - so hieß er, die lange Stange.
"Hmmm..." murmelte Balder. Er hielt nach dem kleinen Knirps Ausschau, der draußen vom Acker auf sie zu gelaufen kam.
"Ich könnte mir gut ein Pferd vorstellen," sagte Saronrogn.
"Hmmm.." murmelte Balder wieder. "Wer könnte das nicht?"
Ein blendender, weißer Blitz zischte im Zick Zack am Himmel herunter, gefolgt von einem knisternden Knall, der über die Hügel hinweg rollte.
Der kleine Knirps warf ängstliche Blicke in den Himmel, lief dann weiter und rannte genau in Balders Arme.
"Na, na, ruhig." Balder lachte und hielt die Arme um ihn. Der kleine Kerl drückte sich an ihn und versteckte sein Gesicht in seiner Jacke.
"Das nächste Mal, wenn er uns nachläuft, kriegt er 'ne Backpfeife," sagte Saronrogn ärgerlich.
"Na, na," sagte Balder. "Das bestimmen wir beide."
"Aber das ist doch wirklich störend," beharrte Saronrogn und sah den kleinen Knirps mit zusammengekniffenen Augen an.
"Ja, ja..." seufzte Balder. "Es wird schon gehen, Rogn..."
Saronrogn sah ihn schief an, aber verfolgte die Sache nicht weiter.
Der Regen trommelte auf die Blätter in den Baumkronen hoch über ihren Köpfen. Es war jetzt naßkalt. Sie zogen die Jacken am Kragen zusammen und begannen, durch den Wald zu gehen. Sie gingen zwischen den Bäumen. Die Blätter lagen in deiner dicken, weichen Schicht, die die Erde bedeckte und die Geräusche von ihren Schritten verschluckte.
Als sie eine Zeitlang gegangen waren, kamen sie auf einen Kiesweg, der an den Stämmen vorbei führte. Gerade als sie standen und den Weg hinunter sahen, schien ihnen, als hörten sie etwas.
Man konnte alles hier sehr weit hören. Der Weg führte wie ein Tunnel durch den Wald. Die Baumkronen trafen sich über ihren Köpfen und ließen fast kein Tageslicht hindurchfallen.
Es wurde Abend.
"Pferde," murmelte Saronrogn, warf sich auf alle viere und lauschte. Er drückte das Ohr flach auf den aufgeweichten Weg und horchte. Ganz richtig - Pferde...
Der kleine Knirps drückte sich an Balder.
"Wir sollten lieber verschwinden, und das schnell," sagte Saronrogn und sprang wieder auf die Beine. Er hatte feuchte Erde am Kinn.
Balder begnügte sich damit, zu nicken. Dann liefen sie über den Weg und versteckten sich zwischen den Bäumen auf der anderen Seite.
Der Lärm nahm zu, gewaltiger und gewaltiger, bis er das gedämpfte Trommeln des Regens auf die Blätter übertönte.
Dann jagten sie in der Dunkelheit vorbei, während der Waldboden bebte und die Bäume sich schüttelten. Steine und Erdklumpen wurden aufgewirbelt und flogen durch die Luft.
Die Jungen drückten sich gegen die Stämme und spürten den Wind der Pferde an ihren Wangen.
Die Reiter waren nur Schatten, schwarze Löcher in der Dämmerung. Aber selbst da, wo sie nichts anderes als nur die flackernden Umrisse ahnen konnten, strahlten sie Gefahr und Bosheit aus, die wie ein Geruch im Wind über ihnen hing.
Balder, Saronrogn und der kleine Knirps rochen sie und krochen steif vor Schrecken im Farnkraut zusammen...
Der kleine Knirps hatte seine Hand in Balders gesteckt und stand da und drückte sie. Er ist zu klein für so einen Ausflug, dachte Balder.
Der Lärm zog ab, die Bäume dämpften den schlimmsten Lärm.
"Puh..." seufzte Balder leise.
"Das waren sie," flüsterte Saronrogn. "Das waren verdammt Schlechte, die da."
Seine Augen schimmerten weiß in der Dunkelheit.
"Wer?"
"Die Nachtwanderer," stöhnte Saronrogn heiser. "Jetzt habe ich sie mit meinen eigenen Augen gesehen." Er holte in kurzen Stößen Luft.
"Sei froh, daß sie dich nicht gesehen haben, Rogn," flüsterte Balder.
"Sie sind auf dem Weg nach Westen," flüsterte Saronrogn.
"Osten," sagte Balder.
"Was?"
"Sie sind auf dem Weg nach Osten!"
"Hm, na ja - Osten," Saronrogn nickte im Halbdunkel.
"Gut, sind sie nicht, sie sind auf dem Weg nach Westen," lachte Balder. "Sei nicht immer so leichtgläubig, Rogn."
Saronrogn ignorierte ihn.
"Woher wohl?" begann er.
"Dorntal," antwortete Balder. "Da ist nur Dorntal, wenn man diesen Weg entlang reitet."
"Es ist lange her, daß sie zuletzt dort waren," sagte Saronrogn.
"Mehr als ein Jahr," sagte Balder. "Damals als sie Tais holten."
Er hätte sich die Zunge abbeißen können.
Der kleine Knirps schniefte in der Dunkelheit.
"Das mußt du entschuldigen," flüsterte Balder. "Ich wollte dich nicht daran erinnern."
Der Kleine nickte tapfer und versuchte, mit dem Weinen aufzuhören.
"Das kriegen sie verdammt nochmal bezahlt eines Tages," brummte Saronrogn. "Ich tret sie breit, ganz in den Boden!!!"
"Werd' erstmal erwachsen," sagte Balder. "Lothar ist kein Schwächling."
"Mein Vater ist größer," sagte Saronrogn. "Und er sagt, wenn ich gut esse und alles Brennholz für die Schmiede hacke, dann werde ich noch größer. Und ich bin es, auf den alle warten, damit ich Lothar ein paar 'runter haue!"
"Schhh, nicht so laut," beruhigte ihn Balder.
"Ich möchte gern nach Hause," flüsterte der kleine Knirps. "Ich friere."
"Ich könnte mir auch ein Paar Stiefel vorstellen," seufzte Saronrogn und versuchte auf seine nackten Zehen auf dem Waldboden zu sehen.
Sie schüttelten das Wasser von sich ab und beeilten sich, nach Hause zu kommen.
Als sie erstmal auf dem Weg waren, wurden sie schnell wieder warm, und der kleine Knirps bekam sofort bessere Laune.
Ein paar Stunden später näherten sie sich einem Dorf, das im entferntesten Winkel von Dorntal lag.
Es war ein kleines Dorf, nur 32 Häuser, wenn man sie alle mitrechnete. Sie lagen auf einer Rodung am Waldrand.
Hinter dem Dorf streckten Wiesen ihre grünen Weiten bis zu den Bergen, weit draußen am Ende der Welt. Dort ragten die Berge bis zum Himmel, grau und massiv.
Die Häuser lagen da mit schmalen gepflasterten Straßen zwischen einander. Sie waren alle wie kleine Vierseitenhöfe gebaut mit einem Hofplatz in der Mitte und einem Tor zur Straße. Die Tore waren in der Nacht geschlossen und wurden erst geöffnet, wenn die Sonne ihre ersten Strahlen über das Land schickte, von den Wäldern bei Ydelwynd.
So war es gewesen seit Lothar Hug an die Macht gekommen war, und so würde es in Zukunft sein, es sei denn ein Wunder würde geschehen und Lothar sterben. Aber das glaubte keiner, denn Lothar war stark wie der Teufel selbst.
"Schhh!" flüsterte Balder und verkroch sich am Waldrand.
Saronrogn sprang hinter einem Baum ins Versteck. Balder spürte den Atem des kleinen Knirpses im Nacken.
Ein fast heruntergebranntes Feuer warf seinen flackernden Schein an die Giebel der Häuser.
Ein Stück weg von der Feuerstelle stand ein großer, breitschultriger Mann in einen dicken Mantel aus Fell gehüllt. Er stützte sich auf eine Forke mit spitzen Zinken, die genau über seinem Kopf in die Luft ragten.
"Das ist mein Vater," flüsterte Saronrogn. "Er wird wohl fuchsteufelssauer sein, jetzt."
"Bestimmt," flüsterte Balder.
"Ich frier," wimmerte der kleine Knirps.
"Verdammt noch mal," murmelte Saronrogn.
"Komm," flüsterte Balder. "Er wird nicht weniger böse, wenn wir hier liegen. Wir sollten lieber sehen, daß wir alles überstanden haben."
Sie erhoben sich und gingen die letzten Meter durch ein Gebüsch. Sie sahen, daß er sie entdeckte, bevor er sich aufrichtete und zu ihnen starrte, unter dem Schatten seines Hutes.
Er blieb stehen, ohne auch nur einen Ton zu sagen, bis sie ganz dicht vor ihm standen.
"Was ist das für eine Zeit, um nach Hause zu kommen?" fragte er grimmig.
"Wir haben uns verlaufen," sagte Saronrogn nervös. Er hasste es, wenn sein Vater zornig war, und genau das war er jetzt. Fuchsteufelswütend.
"Du hättest es besser wissen müssen," brummte er und sah Balder an. "Und dann noch diesen kleinen Kerl da mitschleppen." Er nickte mit dem Kopf in Richtung auf den kleinen Knirps.
"Er ist uns von selbst gefolgt," sagte Balder. "Wir haben es nicht bemerkt, bevor wir aus Dorntal 'raus waren."
Der Schwarze Saron ließ den Schaft der Forke mit der einen Hand los und zeigte auf Saronrogn.
"Du nimmst ihn und bringst ihn nach Hause zu seiner Mutter - jetzt. Und danach kommst du nach Hause. Verstanden?"
Rogn nickte steif. Dann nahm er den kleinen Knirps sanft am Kragen und zog mit ihm ab. Einen Augenblick später waren sie zwischen den Häusern verschwunden.
"Waren sie heute Abend hier?" fragte Balder.
Der Schwarze Saron sah ihm einen Augenblick hart in die Augen. Dann seufzte er und nickte kräftig.
"Ja, sie waren heute Abend hier."
"Wen holten sie?"
"Keinen." Er schüttelte seinen großen Kopf. "Die Hunde warnten uns rechtzeitig. Aber sie nahmen ein paar von den Pferden unten auf der Wiese."
"Hast du keine Angst vor ihnen?" fragte Balder.
Der Schwarze Saron bückte sich und hob im Schein der Feuerstelle einen Hammer auf.
"Ja, zum Teufel, habe ich Angst vor ihnen," zischte er. "Aber sie haben auch Angst vor mir - und vor dem hier." Er schwang den Hammer durch die Luft. "Sie verabscheuen das Schleudern."
Balder fühlte sich schlecht. Er wußte, daß es unverzeihlich war, was sie getan hatten. Sie hätten umdrehen müssen, als sie entdeckt hatten, daß der kleine Knirps ihnen gefolgt war.
"Versprich mir, das nie wieder zu tun," sagte der Schwarze Saron leise.
"Ich verspreche es," sagte Balder.
Der Schwarze Saron drehte sich um und begann ohne weiteres mit langen Schritten auf der Straße zu gehen. Balder folgte ihm im Trab. Als sie unten am Tor waren hielt er plötzlich an und drehte sich um.
"Da war einer und hat nach dir gefragt, heute," sagte er.
"Wer war das?"
"Einer, den ich aus alten Zeiten kenne," murmelte Saron. "So viel weiß ich jedenfalls, er ist nicht wie wir anderen. Er kommt bald wieder, du solltest lieber deine Sachen packen und dich für eine Reise von hier fertigmachen."
Er sah Balder eine lange Sekunde an, und in seinen Augen konnte man eine Sorge ahnen, die er nicht fähig war, zu verstecken.
"Morgen werde ich dir erzählen, warum. Nun will ich schlafen, denn jetzt bin ich müde und wütend vom Stehen und warten, allein in der Dunkelheit."
"Morgen…" nickte Balder. Als er an ihm vorbei durch das Tor ging, drückte er seine schwielige Faust.
"Ich wünschte, du wärst wirklich mein Vater," flüsterte Balder. "Mein richtiger Vater, mein ich..."
Der Schwarze Saron griff nach ihm und nahm ihn an den Schultern.
"Ich wünschte, du wärst mein Sohn, Balder. Ich liebe dich, als wärst du mein eigener. Aus vielen Gründen. Einer davon ist, daß ich deinem Vater gedient habe."
Er bückte sich etwas hinunter und sah Balder fest in die Augen. "Ich versprach, dich hier in Dorntal zu verstecken, damit sie dich nicht finden konnten. Sie haben viele Jahre nach dir gesucht, und ich habe es lange befürchtet. Heute habe ich geglaubt es wäre geschehen, weil ihr vor Anbruch der Dunkelheit nicht hier wart."
"Wer sind sie?"
"Die Nachtwanderer," antwortete der Schwarze Saron und presste die Hände um den Schaft des Hammers.
"Wo kommen sie eigentlich her?"
"Sie kommen aus Schattental," sagte Saron. "Aber letztendlich kommen sie von Lothar."
"Wir sahen sie heute Abend," sagte Balder. "Sie ritten durch den Wald, als wir dort gingen. Rogn hörte sie zuerst, so schafften wir es, uns zu verstecken."
Er schauderte bei der Erinnerung an sie und hatte wieder den Geruch von Furcht in der Nase.
"Sie entdeckten uns nicht."
Saron schüttelte den Kopf.
"Sie wissen, wann du unterwegs bist. Du mußt mich nicht fragen, warum, ich habe keine Ahnung. Aber sie wissen es."
Er dachte einen Augenblick nach, als überlegte er, wie er das, was er nun sagen wollte, ausdrücken sollte.
"Den Abend, als sie Tais getötet haben, den Vater von dem kleinen Knirps, hattest du dich im Wald verlaufen. Ich fand dich vor ihnen. Aus Zorn darüber, daß sie dich nicht fanden, töteten sie ihn. Tais suchten nach dir - er hat dafür mit dem Leben bezahlt."
Balder hatte einen Klumpen im Hals.
"Du mußt fort von hier," sagte Saron. "Hier ist es nicht mehr sicher für dich. Er kommt bald zu dir, Javer. Wenn er kommt, mußt du klar zum Gehen sein."
"Wer ist er?"
"Obwohl ich es weiß, kann ich es dir nicht erzählen. Ich kann zu keinem Menschen auf dieser Welt davon sprechen. Denn, wenn ich es tue, breche ich ein Versprechen, das ich einmal gab."
"Ich bin fertig, wenn er kommt," flüsterte Balder.
Der Schwarze Saron strich mit seiner rauhen Faust über seine Haare. "Das ist gut."
Balder erwachte davon, daß irgendjemand ihm in den Arm kniff.
"Du mußt fort." Es war Saronrogn.
Balder setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen. Dann starrte er verständnislos durch das Dachfenster zu den Sternen.
"Es ist ja mitten in der Nacht."
"Ich weiß auch nicht, warum," sagte Rogn irritiert. "Vater wartet unten auf dich. Beeil dich bißchen, in die Klamotten zu kommen."
Balder sprang aus dem Bett, zog die Hose und die Jacke an und sprang die Treppe in vier langen Sprüngen hinunter. Er fand sie an der Feuerstelle, wo sie saßen und auf ihn warteten.
Das Feuer warf seinen warmen Schein aus dem Kamin auf sie. Auf dem Tisch stand eine Kerze und flackerte.
Der Schwarze Saron saß mit seinem mächtigen Oberkörper über den Tisch gelehnt. Das meiste des Stuhls war fast unter ihm verschwunden. Trotz seiner furchterweckenden Erscheinung und seinem immerwährenden harten Zug um den Mund, hatte er etwas gequältes und wehmütiges an sich. Er sah zu Balder auf, räusperte sich und sagte:
"Du mußt heute Nacht fort, Balder!"
Er erwartete eine Antwort.
Dann streckte er den Arm über den Tisch. In der offenen Handfläche lag ein Pfeil mit goldener Spitze und zwei Reihen weißer Steuerfedern.