Der Selbstbetrug - Mathias Brodkorb - E-Book

Der Selbstbetrug E-Book

Mathias Brodkorb

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Beschreibung

Die Auseinandersetzung um Migration und Integration, um Flüchtlings- und Asylpolitik ist angesichts des neuen Zuwanderungshochs wieder in vollem Gange. Gleichzeitig aber gibt es keine europäische Asylpolitik, sind die Außengrenzen der EU löchrig, geht die Bundesregierung von überzogenen  Zahlen für die qualifizierte Einwanderung aus, werden die Alarmrufe der Städte und Kommunen kleingeredet, wächst das Unbehagen von immer größeren Teilen der Bevölkerung. Die Autoren und Autorinnen dieses Bandes zeichnen die aktuellen Entwicklungen im Asylsystem, beim Thema Fachkräftezuwanderung oder bei der Versorgung von Flüchtlingen nach. Sie plädieren für eine realistische Perspektive, damit die humanitären Notwendigkeiten und die positiven Effekte von Zuwanderung ebenso wie die Belastungen und Gefährungen für die Gesellschaft benannt und diskutiert werden können.

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Ein CICERO-Buch

Alexander Marguier, Volker Resing (Hg.)

Der Selbstbetrug

Wenn Migrationspolitik die Realität ignoriert

Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara

ISBN (Print): 978-3-451-39651-9

ISBN (EPUB): 978-3-451-83152-2

Inhalt

Krise der Migration – Krise der BerichterstattungVORWORT VON ALEXANDER MARGUIER

Das Dilemma der Asylpolitik.Das Herz ist weit, doch die Mittel sind begrenztVON THOMAS MAYER

Die unheimliche Zeitenwende.Wie die Migrationspolitik der Ampel von der Realität eingeholt wurdeVON VOLKER RESING

„Das derzeitige europäische Asylsystem ist unmoralisch.“Ein Gespräch mit Ruud Koopmans

Funktioniert Fachkräftezuwanderung?Deutschland braucht einen radikalen KurswechselVON DANIEL STELTER

Erschöpfte Ressourcen.Die aktuelle Flüchtlingspolitik aus kommunaler SichtVON BORIS PALMER

Die Selbsterdrosselung des Staates.Was Deutschland von ukrainischen Flüchtlingen über seinen bürokratischen Wahnsinn lernen kannVON MATHIAS BRODKORB

Integration ist mehr als Sprache plus Arbeit minus KriminalitätVON AHMAD MANSOUR

Die Unterlassungssünden deutscher Migrationspolitik.Das Beispiel der türkischen EinwanderungVON ILGIN SEREN EVISEN

Überall Rassisten.Wie die Diskussionsunkultur zur Flüchtlingskrise bis heute die Migrationsdebatte prägtVON BEN KRISCHKE

Über die Autoren

Krise der Migration – Krise der Berichterstattung

VORWORT VON ALEXANDER MARGUIER

Am 8. Juni 2023 zeigte sich einmal mehr, was alles schiefläuft in der europäischen Migrationspolitik. Wieder war es ein schreckliches Verbrechen, das die Bevölkerung in einen Schockzustand versetzte – und Politiker zu den üblichen Statements veranlasste, nun müsse aber endlich etwas geschehen. An diesem Donnerstagmorgen war ein 32 Jahre alter Mann in der ostfranzösischen Stadt Annecy in einem Park mit einem Messer auf eine Gruppe Kinder losgegangen und hatte vier von ihnen so schwer verletzt, dass sie tagelang in Lebensgefahr schwebten. Die Opfer waren zwischen 22 Monaten und drei Jahren alt; auch ein Erwachsener trug schwere Stichwunden bei der Attacke davon.

Der Täter: ein in Schweden als Flüchtling anerkannter Syrer, welcher zehn Jahre in seinem Zufluchtsland gelebt hatte, bevor er ein gutes halbes Jahr vor seiner Tat nach Frankreich gekommen war und dort ebenfalls einen Asylantrag gestellt hatte. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron sprach von einem „Angriff absoluter Feigheit“, weiter rechtsstehende Politiker wie Olivier Marleix von der Partei Les Républicains bezeichnete die allgemeine Situation als „außer Kontrolle“, weil die Franzosen nicht wüssten, „wer die Leute sind, die wir aufnehmen“. François Astorg, Bürgermeister von Annecy und Mitglied bei den französischen Grünen, zeigte sich ebenfalls empört über das Verbrechen, warnte jedoch gleichzeitig vor einer politischen Instrumentalisierung der Tat. Dennoch zogen noch am selben Abend etliche Leute durch die Straßen von Annecy und skandierten Sprüche wie „Ausländer raus!“ und „Frankreich den Franzosen!“.

Wie Präsident Macron war auch der französische Innenminister Gérald Darmanin unmittelbar nach der Tat gen Annecy geeilt, um sich vor Ort ein Lagebild zu machen. Die bittere Ironie daran: Darmanin musste deswegen seinen Aufenthalt in Luxemburg abbrechen, wo die Innenminister der EU am selben Tag zusammengekommen waren, um das Asylsystem der Europäischen Union zu reformieren. Nach den großen Flüchtlingswellen der Jahre 2015 und 2016 ist der Migrationsdruck auf Europa nun wieder derart gestiegen, dass die Regierungen praktisch sämtlicher Mitgliedstaaten dringenden Handlungsbedarf sahen. Tatsächlich rang man sich noch am Abend desselben Tages zu jenem Luxemburger „Asylkompromiss“ durch, der nach dem längst gescheiterten Dublin-Verfahren demnächst wieder etwas Ordnung ins Migrationsgeschehen bringen soll. Kernpunkte dieses Kompromisses sind beschleunigte Asylverfahren in geschlossenen Einrichtungen an den Außengrenzen der EU, die Möglichkeit der Rückführung abgelehnter Asylbewerber bei mangelnder Schutzbedürftigkeit sowie eine „solidarische“ Umsiedlung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union für den Fall, dass ein einzelner EU-Staat von der Zahl der Migranten überlastet sein sollte.

Ob das neue Regelwerk Wirkung entfalten wird, muss sich zeigen. Noch ist es nicht einmal vom Europäischen Parlament abgesegnet worden, und kaum waren die Einzelheiten des Asylkompromisses an die Öffentlichkeit gelangt, kündigten Teile der deutschen Grünen erbitterten Widerstand gegen Reformpläne an, denen Bundesinnenministerin Nancy Faeser nach Auffassung der Grünen-Co-Vorsitzenden Ricarda Lang niemals hätte zustimmen dürfen. Pro Asyl sprach von einem „historischen Fehler“ und dem „Ausverkauf“ der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit.

Dabei haben Migrationsforscher ernsthafte Zweifel daran, ob sich aufgrund der Luxemburger Übereinkunft die Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge überhaupt merklich verringern wird. Denn das beschleunigte Asylverfahren an der Außengrenze betrifft ohnehin nur Personen, die aus einem Land mit geringer Anerkennungsquote kommen – was nach derzeitiger Lage allenfalls auf einen Bruchteil aller Migranten zutrifft. Von „Abschottung“ oder gar einem „Frontalangriff auf das Asylrecht“, den etliche Kritiker an die Wand malen, kann keine Rede sein.

„2015 darf sich nicht wiederholen“: Das war das politische Regierungsmantra, nachdem die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel verordnet hatte, die Grenzen zur Bundesrepublik auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise nicht zu schließen – mit den bekannten Folgen. Deutschland wurde wegen dieses Signals zu einem Magneten im weltweiten Migrationsgeschehen, zeitweilig herrschten chaotische Zustände, der gesellschaftliche Zusammenhalt nahm immensen Schaden. Merkels „Grenzöffnung“ ermöglichte nicht nur den Wiederaufstieg der damals schon wieder im Niedergang befindlichen AfD, sie sorgte auch für massives Befremden bei unseren europäischen Nachbarn: schon wieder ein deutscher Sonderweg abseits rationalen Kalküls inklusive absehbarer Kollateralschäden.

Gründe genug also, solche Szenarien künftig zu vermeiden. Doch auch die neue Bundesregierung schlafwandelte in die nächste Flüchtlingskrise hinein: Die Zahl der einreisenden Migranten hat in den zurückliegenden Monaten das Niveau von 2015 längst überschritten, und das liegt keineswegs nur an Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch aus Afrika und dem Nahen Osten machen sich wieder vermehrt Menschen auf den Weg nach Deutschland, nicht zuletzt aufgrund unserer vergleichsweise üppigen Sozialleistungen. Länder und Kommunen schlagen Alarm wegen einer absehbaren Überlastung der Erstaufnahmeeinrichtungen, aber die mediale Öffentlichkeit hat meist nur das Weltklima und Wärmepumpen im Blick. Das Fatale daran: Unsere Gesellschaft ist noch gereizter als vor sieben Jahren.

Cicero bezeichnet sich selbst als „Magazin für politische Kultur“. Und weil wir fest davon überzeugt sind, dass Debatte (mitunter vielleicht sogar Streit) ganz wesentliche Grundlage einer Demokratie ist, scheuen wir auch nicht vor Kontroversen zurück. Wir produzieren demokratischen Gegenwind – wie sich das für Journalisten gehört, deren vornehmste Aufgabe darin besteht, gesellschaftliche Trends im Allgemeinen oder Regierungshandeln im Speziellen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu kritisieren. Auch dieses Buch soll dazu beitragen.

Deutschlands Rolle in der Migrationskrise in den Jahren 2015 und 2016 war für mich persönlich eine prägende Erfahrung. Angela Merkels Ansage von wegen „Wir schaffen das!“ blieb mehr oder weniger begründungslos im Raum stehen: Nachfragen, wer mit „wir“ gemeint, was unter „schaffen“ zu verstehen und ob „das“ nicht etwas unspezifisch sei, verboten sich praktisch von selbst. Das „von selbst“ meine ich im Wortsinn. Denn selbstverständlich gab es keine Anweisungen an die Medien aus dem Kanzleramt heraus, das Lied der sogenannten Willkommenskultur im Brustton der Überzeugung mitzusingen. Mit einer gewissen Fassungslosigkeit musste ich damals feststellen, dass praktisch sämtliche Zeitungen, Magazine, Fernsehsender und Radiostationen ganz freiwillig und wie „von selbst“ notwendige Fragen hintanstellten – und somit ihre eigentliche Funktion als journalistisches Korrektiv, als vielbeschworene „vierte Gewalt“ in einer gesunden Demokratie in eklatanter Weise vernachlässigten. Gruppendenken hatte kritischen Geist verdrängt.

Ich selbst habe damals viele Politiker erlebt – vom einfachen Abgeordneten bis hin zum amtierenden Ministerpräsidenten –, die mir in vertrauensvoller Runde zuraunten, wie wichtig unsere publizistische Aufmüpfigkeit sei: Es würde sich ja sonst keiner trauen, auch mal Widerworte zu geben und auf offensichtliche Missstände hinzuweisen. Und das alles in einem Land, das sich zu Recht seiner Pressefreiheit rühmt. Aber Freiheit hat eben immer zwei Seiten: Sie muss nicht nur „von oben“ gewährleistet sein, man muss sie „von unten“ aus auch zu gebrauchen wissen. Das entsprechende – und bis heute anhaltende – Versagen der Medien hat zu einem massiven Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in Politik und Medien geführt, der auf absehbare Zeit nicht mehr zurückgewonnen werden wird.

Die politische Kultur in der Bundesrepublik ist mangels publizistischen Gegenwinds massiv beschädigt worden – mit dem ebenso bedauerlichen wie unvermeidlichen Ergebnis, dass jetzt die Populisten Konjunktur haben. Und denen geht es eben gerade nicht um erfrischende Luftstöße für eine etwas selbstgefällig gewordene Demokratie. Sondern darum, einen politischen Sturm zu entfachen, der alles wegwehen könnte, was aufrechten Demokraten lieb sein sollte. Um das zu vermeiden, ist eine offene politische und mediale Debatte zur Migration entscheidend.

Das Dilemma der Asylpolitik.Das Herz ist weit, doch die Mittel sind begrenzt

VON THOMAS MAYER

In einer Rede zum Festakt der Interkulturellen Woche am 27. September 2015 brachte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck das Dilemma der Asylpolitik auf den Punkt: „Unser Herz ist weit, doch unsere Mittel sind endlich.“ Er könnte diese Rede heute wieder halten, und sie hätte auch zu den Problemen vor einem Jahrhundert gepasst. Damals stieß das Dilemma eine Entwicklung an, die in den Abgrund führte. Wie wohl kaum ein anderer hat Hannah Arendt die Gründe dafür analysiert. Auch wenn heute viele Umstände anders sind, sollten wir aus ihrer Analyse lernen.

Das Paradoxon der Menschenrechte

Laut Arendt haben Aufklärung und Säkularisierung der Schaffung von „universellen Menschenrechten“ den Weg bereitet. War davor Gott oder der Lauf der Geschichte als Quelle der Rechte betrachtet worden, so kamen sie nun in Menschenhand. Da man ihrer nicht mehr sicher sein konnte, mussten sie von den Menschen selbst bewahrt werden. Menschenrechte wurden zu Rechten von und für Menschen, die immer und überall gelten sollten. Doch die von konkreten Gesellschaftsordnungen abstrahierende Idee war nicht umsetzbar.

Traditionelle Stammesgesellschaften oder Despotien waren mit der Idee der Menschrechte inkompatibel. Dazu brauchte es demokratisch legitimierte Rechtsstaatlichkeit, wie sie nur im modernen Nationalstaat existierte. Es entstand ein Paradoxon: Wo Menschenrechte dringend nötig waren – in den Stammesgesellschaften oder Despotien –, konnten sie nicht durchgesetzt werden, und wo sie durchgesetzt werden konnten – im Rechtsstaat –, waren sie nicht nötig.

Die Idee war nach Arendt folglich nur haltbar, wenn man annahm, dass sich alle Gesellschaftsordnungen zum demokratisch legitimierten Rechtsstaat hin entwickeln würden. Solange der universelle Rechtsstaat nicht erreicht war, bestand aber die Gefahr, dass Menschen ihrer Menschenrechte beraubt wurden, wenn sie ihre Zugehörigkeit zu ihrem Nationalstaat verloren, der ihnen diese Rechte garantiert hatte.

Chaos nach dem Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg stellte die europäische Ordnung der Nationalstaaten auf den Kopf. Die Inflation zerstörte die untere Mittelschicht, während der Kollaps der österreich-ungarischen Doppelmonarchie und des zaristischen Russlands zusammen mit den Grenzverschiebungen zwischen Ländern der Sieger und Besiegten nationale Minderheiten und staatenlose Menschen schuf. Diese Gruppen hatten den Schutz ihres Nationalstaats verloren und genossen allenfalls Minderheitenrechte oder waren ohne rechtlichen Schutz.

Arendt sieht in der Aberkennung der nationalen Zugehörigkeit ein machtvolles Instrument totalitärer Politik. Damit konnten gewissenlose Politiker Minderheiten die Wertestandards der Mehrheit aufzwingen und bestimmte Minderheiten wie die Juden zum Abschaum der Menschheit erklären. Weder Minderheitenverträge noch der Völkerbund halfen. „Der Begriff ‚Menschenrechte‘ selbst wurde für alle Beteiligten – Opfer, Verfolger und Zuschauer gleichermaßen – zum Beweis für hoffnungslosen Idealismus oder schwachsinnige Heuchelei.“ (Hannah Arendt (1951), The Origins of Totalitarianism. Peguin Classics 2017, S. 352. Eigene Übersetzung aus dem Original.)

Die Flucht von Minderheiten und Staatenlosen vor Unterdrückung brachte die letzte Bastion der Menschenrechte, das Recht auf Asyl, zum Einsturz. Obwohl sie die Verbindung zu ihrem Herkunftsland verloren hatten, zeigten die Zuwanderer oft wenig Interesse an der Integration in die Gesellschaft des Aufnahmelandes und wurden von der verarmten heimischen Mittelschicht als Belastung oder sogar Bedrohung empfunden.

Die Rückführung in die Herkunftsländer war schwierig, weil diese die Rücknahme ihrer früheren Staatsangehörigen verweigerten. Die Folge davon war, dass die Flüchtlinge zum Teil illegal zurückgeschleust wurden. Um Rückführungen zu vermeiden, erklärte sich eine zunehmende Zahl als „staatenlos“, auch wenn damit weitgehende Rechtlosigkeit einherging. „Alle Diskussionen über Flüchtlingsprobleme drehten sich um diese eine Frage: Wie kann der Flüchtling wieder abschiebbar gemacht werden?“ (Arendt, S. 371) Wo alle Lösungen vergeblich erschienen, wurden Flüchtlinge in Lagern interniert.

Aufstieg des Polizeistaats

Der staatenlose Mensch hatte meist kein Aufenthaltsrecht und keine Arbeitserlaubnis und war daher zum latenten Rechtsbruch verurteilt. Aber mit dem offenen Rechtsbruch, mit kriminellen Taten, erlangte er wieder einen Rechtsstatus, wenn auch als Krimineller. Die andere Möglichkeit, anerkannt zu werden, bestand darin, auf die eine oder andere Art berühmt zu werden, um durch die Erregung von Aufmerksamkeit rechtsstaatlichen Schutz zu erlangen. Aber das war nur für wenige möglich.

Die Überforderung der Staaten mit den Flüchtlingsproblemen führte dazu, dass auch die westlichen Demokratien der Polizei immer größeren Spielraum gaben, eigenmächtig zu handeln. Da die Natur der Probleme grenzüberschreitend war, kam es zur Zusammenarbeit der Polizei der demokratischen mit den totalitären Staaten, einschließlich Nazideutschlands. „Wenn die Nazis eine Person in ein Konzentrationslager steckten und ihr die Flucht, beispielsweise nach Holland, gelang, steckten die Holländer sie in ein Internierungslager.“ (Arendt, S. 377)

Nationale Verankerung des Asylrechts

Heute ist das Recht auf Asyl im nationalen und europäischen Recht verankert. Laut Deutschem Grundgesetz haben politisch Verfolgte ein Recht auf Asyl. Die Genfer Flüchtlingskonvention geht weiter. Dort soll Schutz genießen, wer aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugungen verfolgt wird. Und in Deutschland bekommt „subsidiären“ Schutz, wer stichhaltige Gründe dafür anführen kann, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht und er den Schutz seines Herkunftslands nicht in Anspruch nehmen kann.

Doch ist die Immigration aus dem Nahen Osten und Afrika für viele heute beinahe so besorgniserregend wie die Migration vor einem Jahrhundert. Wieder regt sich vor allem in der unteren Mittelschicht Widerstand, der Raum für nationalistische Politik schafft. Man hofft, sich durch die Betonung der Nationalität Rechtsansprüche bewahren zu können, die bei Entnationalisierung aufgrund der Überforderung staatlicher Sozialsysteme verloren gehen könnten.

Auch die Regierungen erscheinen so hilflos wie damals. Sie geben vor, die universellen Menschenrechte hochzuhalten – auch um die lautstarken Anwälte dieser Rechte zu befriedigen –, und bezahlen autoritäre Nachbarstaaten für die möglichst unauffällige, aber wirksame Zurückhaltung von Flüchtlingen. Die Warnung Arendts, dass die Furcht vor der Bedrohung des sozialen und politischen Lebens durch unkontrollierte Immigration schließlich „Barbaren“ aus dem Inneren unserer Zivilisation schaffen werde, die Millionen Menschen die „Lebensbedingungen von Wilden“ aufzwingen, erscheint auch heute noch aktuell. Wer nicht will, dass aus einem weiten ein sehr enges Herz wird, muss daher die Begrenztheit der Mittel bei der Asylpolitik respektieren.

Versuch der Neuordnung

Die jüngst erzielte Einigung des EU-Ministerrats auf eine neue Ordnung für Asylverfahren und Steuerung der Migration ist daher ein Schritt in die richtige Richtung. Abgesehen von einer Vereinheitlichung nationaler Verfahren, soll sie dazu dienen, Menschen, die sich auf die im Asylrecht definierten Fluchtgründe beziehen können, von anderen, die ihre wirtschaftliche Lage verbessern wollen, zu trennen. Diese Trennung ist nötig, wurden in Deutschland doch im Jahr 2023 knapp die Hälfte aller Asylanträge abgelehnt, obwohl die Definition der Fluchtgründe recht weit ist.

Bisher wurden aber nur wenige abgelehnte Asylbewerber in ihre Herkunftsländer oder Drittländer zurückgeführt. Der Ministerrat hofft, dass bei einer Prüfung der Asylberechtigung an den Außengrenzen weniger unberechtigte Einreisen erfolgen und illegale Aufenthalte durchgesetzt werden können als gegenwärtig.

Allerdings soll die Prüfung in der Regel nur für Antragsteller nach einem illegalen Grenzübertritt und für Antragsteller aus als sicher geltenden Herkunftsländern an der Grenze erfolgen. Außerdem ist zu befürchten, dass die Neuordnung nur in verwässerter Form oder überhaupt nicht kommen wird. Eine Minderheit von EU-Ländern, unter anderem Polen und Ungarn, widersetzt sich der Verteilung anerkannter Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedsländer und lehnt Kompensationszahlungen für die Verweigerung der Aufnahme ab.

Eine andere Minderheit, darunter vor allem Deutschland, möchte weitere Ausnahmen für die Prüfung von Asylanträgen an der Grenze, zum Beispiel für Familien mit Kindern. Im Europäischen Parlament, dessen Zustimmung erforderlich ist, opponieren Abgeordnete aus den Fraktionen der Grünen und der Sozialdemokraten gegen die Verschärfung des Asylverfahrens.

Der Kreis schließt sich

Nach den schlimmen Erfahrungen der früheren Jahre wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Asylrechte weit gefasst und im nationalen Recht verankert. Damit wurden die Menschenrechte zwar von einer abstrakten Idee zu einem einklagbaren Anspruch. Aber es blieb weiterhin ungeklärt, wie diese Ansprüche aufrechterhalten werden können, wenn der liberale Rechtsstaat nicht als Ziel aller gesellschaftlichen Entwicklung akzeptiert wird, und wie die Ansprüche erfüllt werden können, wenn sie massenhaft gestellt werden. Gegenwärtig ist das Modell des liberalen Rechtsstaats nur in einer Minderheit der Staaten verwirklicht, und die Ansprüche auf Asyl aus anderen Ländern drohen die liberalen Rechtsstaaten zu überwältigen.

Laut dem Demokratieindex des britischen Magazins The Economist hatten im Jahr 2022 nur 24 von 167 Ländern der Welt die Staatsform der vollständigen Demokratie. Weitere 48 Länder brachten es auf eine unvollständige Demokratie. Folglich hatten rund 57 Prozent der Länder eine mehr oder weniger autoritäre Staatsform. Als Garanten für die Menschenrechte – und damit auch für das Recht auf Asyl – standen nur 14 Prozent aller Staaten zur Verfügung. In diesen Staaten leben nur 15 Prozent der Weltbevölkerung. Weder haben es die Bewohner dieser Staaten geschafft, ihre Staatsform als das erstrebenswerte Ideal in der Welt zu verankern, noch sind sie dazu in der Lage, die Ansprüche auf universelle Menschenrechte der in den anderen Staaten lebenden 85 Prozent der Menschheit durch die Gewährung von Asyl zu sichern.