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Diktierte Lust und manipulierte Wünsche. Ingelore Ebberfeld beschreibt eine Sexualisierung, die alles Bisherige in den Schatten stellt. Dabei wird ihr Buch zum Zeitzeugen, und steigt tief hinab in die Abgründe der öffentlichen Sexualität. Auf der Strecke bleiben Scham, ein gesundes Selbstwertgefühl, und schließlich ist nicht mehr auszumachen, ob unsere sexuellen Wünsche von uns kommen oder gemacht wurden. Wo man hinschaut und hinhört: Sex, Sex, Sex - kein Tag ohne. Der öffentliche Raum ist voll davon. Abschottung ist nicht möglich. Ob Kunst, Theater oder Medien, sie alle bombardieren uns mit nackten Tatsachen. Aus Erotik wurde Porno, aus dem kurzen Rock das nackte Hinterteil, mehr noch, der Blick in den Schritt. Wer es zu etwas bringen will, muss sexy sein. Wer es zu etwas gebracht hat, geizt nicht mit seinen Reizen. Und last but not least beginnt der geliebte Tatort mit einer heißen Sexszene, Moderatoren laden Pornostars ein, und in der Schule machen es minderjährige Mädchen für eine Handykarte. Unser Leben wird durch diese Tatsachen bestimmt, und vieles ist zur Selbstverständlichkeit geworden, aber - und das ist ganz wesentlich - wir werden dadurch auch in Frage gestellt und maßlos verunsichert.
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Seitenzahl: 544
Ebook Edition
Ingelore Ebberfeld
Der sexuelle Supergau
Wo bleiben Lust, Scham und Sittlichkeit?
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ISBN 978-3-86489-094-9
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2015
Umschlag: Buchgut Berlin unter Verwendung einer Zeichnung von Karl-Heinz Schrörs
Illustrationen: Karl-Heinz Schrörs
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Für Beate
»Symbolisierte (freier) Sex in den sechziger und siebziger Jahren noch die anti-bürgerliche Freiheit, symbolisiert er heute vor allem die Marktwirtschaft; die ununterbrochene Jagd nach Geld einerseits und das unersättliche Verlangen nach sofortiger Befriedigung andererseits.«
Myrthe Hilkens1
Ob Analsex normal sei, fragt mich eine Vierzehnjährige vor mehr als zweieinhalb Jahren. Ein Fünfzehnjähriger kann mir erklären, was FF bedeutet. Und nicht nur das. Er weiß, was Gangbang ist und auch Bukkake. Ich kenne weder das eine noch das andere, deshalb lass ich es mir von ihm erklären. Was er mir etwas schüchtern mitteilt, macht mich sprachlos, und ich bin auch entsetzt und frage daher: »Woher weißt du das?« Er entgegnet im Brustton der Überzeugung: »Ey Mann, das weiß doch jeder!«
Diese Jugendlichen vertrauen mir, sie sind sehr offen mir gegenüber, mit anderen würden sie nicht über Derartiges sprechen, das haben sie mir jedenfalls versichert. Und natürlich musste ich versprechen, nicht mit ihren Eltern darüber zu reden. Es sind die Kinder von Freundinnen. Ich habe sie als Säugling auf den Armen ihrer Mütter gesehen und sie selbst als Kleinkinder auf dem Schoß gehabt. Sie sind gut erzogen und gehen auf gute Schulen. Nichts an ihnen ist auffällig. Es sind ganz normale Teenager.
Diese Frage der Vierzehnjährigen und das Gespräch mit dem Fünfzehnjährigen haben mich seither nicht mehr losgelassen. Ich begann mit meinen Forschungen zu diesen Themen, halte seither meine Augen und Ohren weit offen, habe recherchiert und mit Dutzenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen über Sexuelles gesprochen, insbesondere über Sexuelles, das im öffentlichen Raum stattfindet. Rasch wurde mir klar: Wo immer man genauer hinsieht, stoßen wir auf Sexuelles, es ist allgegenwärtig, ja, Sex ist alles, und alles ist Sex.
Vieles von dem, was ich erfuhr, war schockierend, besonders meine Nachforschungen im Internet,* weshalb ich zwei Mal kurz davor stand, mein Vorhaben, dieses Buch zu schreiben, abzubrechen. Wer wirklich aufmerksam ist, wird überrascht sein, was uns alltäglich sexuell serviert wird, ungefragt, versteht sich.
Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass Sexuelles überall präsent ist, dass wir gelernt haben, es zu übersehen. Ironischerweise sei Pornographie durch die blanke Allgegenwart praktisch unsichtbar geworden, schreibt die Soziologin Gail Dines.2 Recht hat sie. Gleiches gilt allemal für das Sexuelle, das uns täglich rund um die Uhr begegnet.
Nehmen wir einen ganz frühen Morgen im Februar des Jahres 2015. Ich lese meine Tageszeitung. Nach ein paar Seiten findet sich ein nahezu halbseitiger Artikel inklusive Bild mit dem Titel »Baumpflege am Limit«. Ganz klar, das ist für den einen interessant, ein anderer blättert vielleicht rasch weiter und sieht doch gleich schräg darunter, nicht unwesentlich kleiner, ebenfalls mit Bild und mit gleich fetter und großer Überschrift eine Anzeige: »Ungetrübtes Liebesglück statt Scheidentrockenheit«. Zehn Seiten weiter folgen die Mietangebote, Angebote für Nebenbeschäftigungen, Gastronomie und Hotelgewerbe. Nicht zu übersehen im Dschungel dieser Offerten, die Rubrik »Erotik – Clubs – Kontakte«. Unter anderem bieten »reife Damen« Tantra an, aber es gibt auch erotische Massagen zu dritt, und eine »Bildhübsche Farbige, 23 J., mit Konfektionsgröße 36« preist ihre Vielseitigkeit an »auch Hs/Htl.«, also Haus- oder Hotelbesuche. Sämtliche Damen sind mit Telefonnummern versehen.
Das ist harmlos gegenüber dem, was im Netz los ist? Das kann sein. Oder besser gesagt, es stimmt, und das ist keineswegs tröstlich. Auch was im Laufe des Tages noch auf uns zukommt, ist nicht ohne, im Fernsehen, auf Plakaten, im Radio, in Musikvideos, auf der Straße, im Urlaubsprospekt, im Supermarkt, in der Apotheke und, und, und ...
Unverblümt wird über Sexuelles berichtet, die Medien sind regelmäßig voll damit. Noch nicht einmal das Ökoheft, das im Ökoladen ausliegt, oder das Krankenkassenheft, das in einem bestimmten Turnus in meinem Briefkasten landet, ist frei davon. Zwar geht es in den letztgenannten Printmedien gezügelter zu, doch anderswo zeigen Menschen ohne Scheu intime Körperpartien, spreizen ihre Beine, als wären sie beim Gynäkologen. Sie erzählen delikate Dinge aus ihrer sexuellen Praxis, machen damit Intimstes öffentlich, als berichteten sie über neutrale Themen, zum Beispiel über die Lebensgewohnheiten von Koalabären, oder sie führen so selbstverständlich Koitusbewegungen vor, als trainierten sie ihre Hinterbacken in einem Fitnesskurs. Kurzum: Es wird bei der intimsten Sache der Welt so getan, als sei nichts dabei, es auch vor aller Welt zu machen.
Was wir zu sehen und zu hören bekommen, geht weit über die Schmerzgrenze und Vorstellungskraft hinaus. Manches ist wahr, manches erlogen, who cares? Hauptsache, Aufmerksamkeit, Hauptsache, am Ende hat es sich gelohnt – für wen auch immer. Da erzählt ein 26-Jähriger des Nachts in einer Telefon-Talkradio-Sendung, er treibe regelmäßig Sex mit 60 Kilogramm Hackfleisch, das er zuvor zu einer Frau formte. Über einen Fünfzehnjährigen wird im selben Sendeformat erzählt, er würde es mit einem Dackel machen. Wo ist die Grenze dessen, was man senden sollte? Vielleicht erst bei dem angehenden Gerichtsmediziner, der gestand, er habe sich bereits an einer Toten auf dem Obduktionstisch vergriffen?
Wer glaubt, nach diesen Dingen müsste gesucht werden, der irrt, ein Klick, und schon ist es geschehen. Geben Sie einmal die harmlosen Wörter »Pferdschwanz» und «reiten« zusammen in ihren Computer ein, und ich verspreche Ihnen, eins, zwei, drei sind Sie bei kostenlosen Sexvideos. Danach geht es richtig los. Und ja, Kinder und Jugendliche kommen durch Zufall auf noch ganz andere Internetseiten, und selbstverständlich sind sie im Aufsuchen von perversen Dingen im Netz um einiges gewiefter als etwa eine Wissenschaftlerin meines Formats, für die das alles Neuland ist beziehungsweise war. Auch gibt es kein Vertun, dass jene Kinder, die das Netz nach solchen Dingen bewusst abgrasen, auf Unvorstellbares stoßen. Ebenfalls liegt auf der Hand, dass Kinder sich jeden Tag auf unseren Schulhöfen ihre abartigen Fundstücke gegenseitig zeigen oder zuschicken, »echt krasse Sachen«, wie sie es nennen.
Es gibt genügend Menschen, die behaupten, sexuelle Bilder, die uns auf diesem Weg, durch den Fernseher und über Kinofilme übermittelt würden, hätten keinen Einfluss auf uns. Wie es auch genügend Wissenschaftler gibt, die Pornographie, auch das Pornoschauen von Kindern, für nicht besonders wirksam hinsichtlich der Psyche einschätzen, ja, eine Beeinflussung etwa hinsichtlich der eigenen sexuellen Praktiken gänzlich verneinen. Nach meinen Studien bezweifle ich, dass man das generell so sagen kann. Wenn das wirklich stimmte, wenn Bilder also keinen Einfluss auf uns hätten, würde kein Unternehmen dieser Welt Werbung betreiben. Und ich möchte erinnern, für Werbung werden Milliarden ausgegeben.3
Ich komme in der Tat zu anderen Befunden: So mancher wird völlig gefühllos gegenüber sexueller Gewalt, die er auf der Mattscheibe, der Kinoleinwand oder dem PC-Monitor sieht. Sie rauscht an ihm vorbei, als sei das gar nichts. Andere wieder werden von sexuellen Szenen traumatisiert, ganz gleich, ob sie für die Kamera gestellt waren oder nicht. Dabei ist die Spannweite weit gefasst. Sie reicht von Vergewaltigungsszenen bis hin zu Beiträgen, die eine stöhnende Asiatin zeigen, in der ein Hengstpenis steckt, oder von Berichten über Kotorgien bis hin zu Schilderungen von Kindesmissbrauch. Von all dem zu wissen, ist das eine, das andere, es zu sehen.
In dem einen wie in dem anderen Fall hinterlassen sexuelle Informationen und Darstellungen Spuren in uns. »Ohne mein Wollen kommen Bilder in den Kopf, die einen nicht mehr loslassen, dauernd«, erzählt mir ein Vater zweier Kinder, der auch nichts mehr über Pädophilie in der Zeitung lesen will. Er geht hin und wieder in einen Swingerclub, quasi in der Mittagspause, aber wenn es um brutale sexuelle Darstellungen geht, rastet er aus. Als ich ihm vom schrecklichen Fall eines kleinen Mädchens erzählen will, stoppt er mich in einem harschen Ton: »Hör auf damit, das will ich nicht wissen, das soll nicht in meinen Kopf!«
Ich kann ihn gut verstehen. Vor zwei Jahrzehnten gab eine Studentin einen Praktikumsbericht bei mir ab, den ich zu bewerten hatte. Sie hatte mehrere Wochen in einem Kindergarten gearbeitet. Dort war sie auf den Fall eines kleinen Mädchens gestoßen, das schon als Säugling von einem Mann sexuell missbraucht worden war. Wie es zur Aufdeckung des Missbrauchs kam, hatte die Studentin in dem Bericht geschildert. Als sie ihre korrigierte Arbeit abholte, machte ich einen verhängnisvollen Fehler. Ich fragte: »Wie denn um alles in der Welt kann man ein Baby penetrieren?« Bei der Antwort schossen mir sogleich Tränen in die Augen, auch jetzt wieder, wo ich dies niederschreibe. Bis heute habe ich dieses Bild, das damals in mir hochstieg, nicht verkraftet.
Nichts bleibt ungesagt, nichts ungezeigt. Keine Facette der Sexualität ist zu entdecken, die nicht kommerzialisiert wäre, und es gibt nichts, aber auch gar nichts Sexuelles, was im Netz nicht zu finden wäre. Erobert wurde auch der sexuelle Markt der Quickies und One-Night-Stands. Beides ist en vogue und salonfähig geworden. Das Zauberwort heißt schneller Sex per Handy mit Hilfe von Dating-Apps. Sie sind der Renner. »Tinder« ist eine der bekanntesten Apps und äußerst erfolgreich. Täglich werden hier eine Milliarde Wischer4 verzeichnet. Christian, ein Student, hat großen Erfolg mit Tinder. »Seitdem ich Tinder benutze, hab ich drei- bis viermal so oft Sex wie vorher«, erzählt der 25-Jährige vor laufender Kamera. Und er ist sich sicher, wenn er jetzt auf der App wäre, könnte er für den Abend oder fürs Wochenende was klarmachen.5 Ist das die neue sexuelle Freiheit, von der wir alle geträumt haben?
Jeden Tag werden wir bombardiert mit Bildern, die uns sagen, wie wir zu sein und wie wir auszusehen haben. Mehr noch: Wie lustvoll wir Sex erleben könnten, wenn wir nur wollten. Wer keine Lust auf Sex hat, der gerät in den Verdacht, nicht ganz normal zu sein. Abhilfe gegen diese »Fehlfunktion« versprechen neue Sexualpraktiken, Sexspielzeug, Pornos, Sadomaso samt Partnervertrag, auch Stimulationsmittel jeglicher Couleur und natürlich die Pille davor, die ihre Lust anheizen soll und seinen »Jadestiel«6 – das chinesische Wort für Penis – hundertprozentig hart macht.
Alles kann ohne Scheu im Onlineshop diskret bestellt werden. Das war früher anders, denn einstmals musste man sich noch auf den Weg machen, sollte es was Verruchtes sein, ein Dildo, »versaute Bücher« oder ein Porno. Nur die ganz Verwegenen schauten sich nicht um, bevor sie einen Pornoladen betraten. Frauen gingen, wenn überhaupt, höchstens zu zweit. Eine 61-Jährige erzählt: »Es war so Mitte der 1980er Jahre, da hat mich eine Freundin gebeten, mal mitzugehen. Sie wollte ein anregendes Buch. Ich hab dann gesagt, na gut, aber hingegangen sind wir nie.« Und wer noch Pornographisches aus den 1960ern oder 1970ern besitzt, der kann alles getrost in den Müll schmeißen, heute geben Hardcore XXL oder Selbstgedrehtes »mit Mutti« den richtigen Kick.
Längst sind jene Tage vorbei, als man sich schämte, wenn bestimmte Wörter ausgesprochen wurden. Da gab es zum Beispiel die Single der Rolling Stones, die sie im Mai 1965 veröffentlichten. Der Titel: »Satisfaction«. Die meisten Jugendlichen in Deutschland verstanden damals kein Englisch. Trotzdem wurde mitgesungen, eben das, was man glaubte zu verstehen. So entstanden Wörter, die es gar nicht gab. Späterhin nannte man diese Art Englisch »Joghurtenglisch«. Allerdings brüllte Mick Jagger den Satz »I can’t get no satisfaction« so sauber, dass wirklich jeder eins zu eins mitsingen konnte.
Es folgte Ernüchterung, denn nach wenigen Wochen sickerte durch, was »satisfaction« bedeutete. Befriedigung. Irritation war das eine, Beschämung war das andere, »weil man hemmungslos und bis zum Umfallen ›I can’t get no satisfaction‹ mitgesungen hatte«, erinnert sich eine 63-Jährige. »Ich war ja damals gerade einmal dreizehn, und das Wort Befriedigung wurde nur im sexuellen Sinne gebraucht. Man schämte sich, dieses Wort überhaupt in den Mund zu nehmen. Überhaupt waren bestimmte Wörter verpönt. Sex, das Wort gab’s ja noch gar nicht. Und das Wort ficken, nun ja, als ich damit nach Hause kam, ich hatte keinen blassen Schimmer, was das überhaupt bedeutete, jedenfalls als ich meiner Mutter sagte: ›Bärbel hat gesagt, die Kühe ficken!‹, bekam ich gleich eine gelangt. Dann, ein paar Tage später, wurde ich von meinen Eltern aufgeklärt. Ich glaube, da war ich ungefähr neun Jahre. Anschließend wusste ich auch nicht viel mehr, nur dass die Kühe angeblich Liebe gemacht hatten, eben das, was meine Eltern auch getan hatten, um mich zu zeugen.«
Von »Liebe machen« spricht heute kaum einer mehr, wenn es um den sexuellen Akt geht. Die Zeiten scheinen allemal vorbei. Doch um die Geschichte des ersten erfolgreichen Songs der Rolling Stones abzuschließen. Das Lied »Satisfaction« hatte nichts mit Sex zu tun, das war nämlich keineswegs die Intention der Rolling Stones gewesen, als sie den Text verfassten. Vielmehr hatten sie in dem Lied die Erfahrungen verarbeitet, die sie auf ihrer USA-Tour gemacht hatten, dass nämlich alles, wirklich alles vermarktet wurde und diese Vermarktung zur Unzufriedenheit führt. Die Stones hatten von diesem Zustand die Faxen dicke. Die Textzeile meint also: Ich kann (unter diesen Bedingungen) einfach keine Zufriedenheit erlangen.
An diesem gesellschaftlichen Zustand hat sich bis heute nichts geändert, auch und gerade in der sexuellen Sphäre. Wer spezifisch fragt: Kann ich als sexuelles Wesen »satisfaction« erlangen, und zwar in einer Lebenswelt, die mir beständig vorpredigt, was Sex ist, wie Sex zu sein hat, was Sex noch sein kann und könnte, die mir vorschreibt, wie oder was sexy ist und wie sexy ich sein könnte? Was, meinen Sie, kommt als Antwort dabei heraus? Lassen Sie uns eine Bestandsaufnahme machen.
* Einiges von dem findet sich in diesem Buch, weshalb dieses Buch auch nicht in Kinderhände gehört und erst ab achtzehn gelesen werden sollte. Meiner Lektorin erging es wie mir. Sie musste gleichfalls öfters kräftig durchatmen, bevor sie ihr Lektorat fortsetzen konnte. Dabei habe ich mir noch nicht einmal jene Videos angesehen, die mit dem Vermerk versehen waren: »Melde dich an, um dein Alter zu bestätigen«, wohl aber sind einige Internetbeiträge, die zum Zeitpunkt meiner Recherche frei zugänglich waren, mittlerweile mit diesem Vermerk versehen.
Sonntag, 20 Uhr 15, Tatortzeit. Die halbe »Nation« sitzt vor dem Fernseher. Tatort ist Kult. Es sind vielleicht fünf Minuten vergangen, da sieht ebendiese halbe Nation, wie ein junger Mann vor dem Badezimmerspiegel onaniert. Vom Kopf bis zu den Kniekehlen ist er von hinten nackt zu sehen, dazu kommt das frontale Spiegelbild seines Oberköpers. Die Schlaggeräusche seiner masturbierenden Faust, die gegen seinen Leib schlägt, sind zu hören. Sein konzentriertes Gesicht ist angespannt und verzerrt, bis es sich nach dem erreichten sexuellen Höhepunkt entspannt.
Einige Wochen sind vergangen, wir haben März 2015, es ist wieder Sonntag, wieder 20 Uhr 15 und wie immer Tatortzeit. Manch einer sitzt mit einem Bierchen oder Knabbereien vor der Mattscheibe, oder die gesamte Familie hat es sich vor der »Glotze« gemütlich gemacht. Am nächsten Tag ist Alltag, da geht es in die Schule oder zur Arbeit. Seit genau zwei Minuten läuft Das Muli. Das Besondere an dieser Tatortserie: Meret Becker hat ihre Premiere als neue Kommissarin. Sie ist es, die jetzt auf dem Bildschirm zu sehen ist. Nach einer Party geht sie in einen Biergarten. Es ist dunkel, ein Mann folgt ihr, sie ohrfeigt ihn, er schlägt zurück. Es kommt zu einem Gerangel, dann reißt er ihr die Unterhose runter. Man glaubt an eine Vergewaltigung, doch es kommt anders. Auch sie will eine »schnelle Nummer«. Dafür legt sie sich auf eine Tischtennisplatte, »er macht es ihr im Stehen«. Es ist alles genau so, wie es sich der Drehbuchautor und der Regisseur vorgestellt haben. Für die Schauspielerin Meret Becker muss sich »diese Nummer« wohl auch richtig angefühlt haben, mehr noch, es schien allen beteiligten Machern ein adäquater Debüteinstieg.1
Sex im Tatort war beim Start der Fernsehkriminalreihe 1970 gleich null. Heute ist er zur Normalität geworden. Mancherorts werden Wetten abgeschlossen, wann die erste Sexszene kommt, nach fünf, zehn oder mehr als zwanzig Minuten. Wenn es dann losgeht, ist die Frage: Sitzt sie auf ihm drauf, oder ist er mit dem Kopf zwischen ihren Beinen? Beides sind gängige Einstellungen. Die erstere ist, seitdem nackte Sexszenen in Filmen fester Bestandteil sind, äußert beliebt, die zweite galt zunächst als sehr gewagt und gehört inzwischen zum sexuellen Filmrepertoire.
Nastassja Kinski im Tatort, 19772
Junges Paar im Tatort, 25. Januar 2015: Erst ist sie oben, dann er3
Nackte Tatsachen oder sexuelle Anspielungen im Fernsehen gibt es praktisch rund um die Uhr. Frühmorgens geht es los, besonders auf den privaten Sendern, und sei es, dass lediglich ein Film für den nächsten Abend angekündigt wird. Im Trailer ist dann unter anderem ein kurzer Liebessakt zu sehen: eine Frau, die nackt und leidenschaftlich »auf ihm reitet«. Ab 7 Uhr laufen auf Pro7 Serien, die ebenso im Nachmittagsprogramm zu sehen sind. Sie bieten unter der Woche einiges an Sexuellem. Dabei ist Pro7 ein Programm, das gerne von Hausfrauen, Müttern, Jugendlichen und Kindern gesehen wird. Der Markanteil um diese Zeit kann sich sehen lassen, um die 14 Prozent sind normal. Was läuft, sind US-amerikanische Fernsehserien, etwa »New Girl« (seit 2011/2012). Darin schließt schon einmal eine junge Frau einen Sexvertrag ab, von Liebe hält sie so ganz und gar nichts. In »Two and a Half Men« (seit 2003/2005) geht es ausschließlich um Sex, eine Folge ohne Anzügliches ist nicht denkbar. Schlüpfrigkeit ist oberstes Gebot, dazu zotige Sprüche. Der »Half Man«, also der kleine Kerl der Drei-Mann-WG, ist etwa zehn Jahre alt, als die Serie startet. Selbst die eher harmlos anmutende Serie »The Big Bang Theory« (seit 2007/2009) kommt nicht ohne sexuelle Anspielungen aus, und natürlich landen die Protagonisten irgendwann auf die eine oder andere Weise im Bett. Daran schließt sich nicht zuletzt »How I Met Your Mother« (seit 2005/2008) übergangslos an und greift gern Begriffe auf wie: Flachlegen, Titten und Eier. Derbe Sprüche gehören ebenfalls zum Textbestand, etwa: »Morgen Abend solltest du eine Plane anschaffen, denn es wird so etwas von schmutzig.« Natürlich soll diese Vorkehrung nicht getroffen werden, weil Maler ins Haus kommen: Frauen werden erwartet.4
Vermutlich wären frühere TV-Sendungen wie beispielsweise die bekannten US-amerikanischen Serien »Fury« (1955–1960), »Lassie« (1954–1973) und »Bonanza« (1959–1973) allesamt mit Sexanteilen gespickt, würden sie heute von Drehbuchautoren geschrieben. Entsprechend würde bei »Fury« Teenie Joe(y) auf der »Broken Wheel Ranch« nicht von dem alten Pete umsorgt werden, sondern sein Adoptivvater Jim wäre ein Frauenheld, um Bettszenen möglich zu machen. Und auch in Lassies Zuhause gäbe es Sex. Erst recht bei den vier Cartwrights und ihrem chinesischen Koch Hop Sing, denn wären Abenteuer diese Männerbande heutzutage ohne jedwede sexuelle Handlung denkbar?
Wer meint, nur auf den Privatsendern ginge es derart locker zu, der irrt. Von 2001 bis 2004 läuft im Südwestrundfunk (SWR) der Fernsehfilm Papa in drei Folgen. Sie werden bis ins Jahr 2015 mehrmals ausgestrahlt, auch auf anderen Sendeplätzen, auch am Mittag oder frühen Nachmittag. Es ist eine betuliche und harmlose Familiengeschichte fürs Herz, und so nennt sich auch die dritte Folge »Herzenswünsche« (2004). Doch selbst in dieser Folge darf Sexualität nicht fehlen. Hier und da ein Spritzer Sex, unüberhör- und unübersehbar. Der Spruch, der dann selbst den eingeschlafenen Opa im Fernsehsessel am späten Nachmittag weckt: »Weißt du, was das Problem ist bei unseren Alten? Die kennen nur Geschlechtsverkehr und keinen Sex.«
3sat hat gleichfalls einiges zu bieten. Handfestes sozusagen. Am 28. März 2015 läuft »Kulturpalast«. Es ist 19 Uhr 30. Das Thema: Sex in der Kunst. Am Anfang stellt die Moderatorin Sina Sonnenberg die Frage »Was ist eigentlich ›guter‹ Sex?« Im Hintergrund sieht man dazu ein griechisches Gefäß, einen Volutenkrater, aber das tut nichts zur Sache. Auf dem Gefäß ist ein Paar beim »Koitus von hinten« dargestellt. Das reicht dem Sender nicht, er setzt die Figuren in Aktion, und so sind die beiden dargestellten Figuren in »comicartiger« Beischlafaktion zu sehen. Dazu der Kommentar: »Schon auf griechischen Vasen wurde geknattert, was das Zeug hält.« Das soll lustig sein, besonders für Kinder, die gegebenenfalls mit ihren Eltern zu dieser Zeit vor dem Fernseher sitzen. Die Ankündigung, was gleich folgen wird, verspricht denn auch für die Kleinen und Großen ein besonderes Leckerli: Es wird »ein Haufen großartiger Künstler und Künstlerinnen« vorgestellt, darunter: der Performer Mischa Badasyan, der jeden Tag mit einem anderen schläft; eine nackte eierlegende Malerin – das macht sie mit der Vagina – und Orgasmussängerinnen.5
Die Sendung bietet einiges: viel Nacktes und unglaubliche sexuelle Selbstdarstellungen. Nach etwa zwanzig Minuten – um genau zu sein: um zehn Minuten vor 20 Uhr – kommt es zum Höhepunkt, einem sexuellen. Zu sehen ist ein Mann, der einen Samenerguss hat. Und zwar einen gewaltigen! Ein schier unendlicher »Schuss Ejakulat« spritzt von unten nach oben über die Mattscheibe. Es sind Bilder aus dem Trailer zum neuesten Roman von Sibylle Berg (geboren 1962): Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. Die Autorin sitzt in der Sendung und wird zu ihrem Buch befragt. Ganz locker und selbstverständlich kommt der jungen Moderatorin dabei das Wort »supergeil« über die Lippen, und die Interviewte, um einiges älter, antwortet an einer Stelle: »... wann soll man denn da noch ficken, wollte ich sagen«.6 Wollte sie sagen? Nein, hat sie gesagt.
Samenerguss (aus dem Trailer zum Buch von Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand, 2015)7
Was Ausstrahlungen vor 20 Uhr anbelangt, bliebe für den Sender 3sat noch nachzutragen: In »Kulturzeit« (von montags bis freitags ab 19 Uhr 20) geht es, sexuell gesehen, auch immer gerne konkret zu. Wird beispielsweise von Theateraufführungen berichtet, in denen es »direkt zur Sache geht«, werden nackte und anzügliche Bilder auch dann herangezogen, wenn sie lediglich ein Teil des Ganzen, etwa einer Theaterinszenierung, sind.
Auf Arte, dem Kultursender mit Niveau, ist Sex ebenfalls zu haben, und zwar bereits am Sonntagvormittag. So geschehen am 28. September 2014, um 11 Uhr. Es lief die Kultursendung »Abgedreht«. Die Vorankündigung verhieß: »Diese Woche ist unsere Sendung sexy, unanständig und manchmal skandalös. Wir legen unserer Kleidung ab für die vierte Episode unserer Reihe der Todsünden: Die Wollust.«8 Im Beitrag ging es unter anderem um den französischen Erotikfilm Emanuela (1974), um Samantha, eine Figur aus der US-amerikanischen Serie »Sex and the City« (1998–2004) und um den pornographischen Film Im Reich der Sinne (1976).
Außerdem immer auf der Programmkarte von Arte: Sex am Abend. Nach 20 Uhr gemäßigt, gegen 23 Uhr harter Tobak. Am 17. Januar 2015, um 20 Uhr 15, läuft beispielsweise der Film In der Haut von Venice (2010), vom neuseeländischen Regisseurin Miro Bilbrough. Gleich zu Anfang geht es »in die Vollen«. Es wird mit einem Orgasmus gestartet. Zu sehen ist nicht viel, nur zu hören, und zwar die Hauptdarstellerin. Der Zuschauer vernimmt ein eindeutiges Stöhnen, und je mehr er hört, desto klarer wird es: Gleich kommt sie – und sie kommt. Danach sieht man die Dame erstmals von Kopf bis Fuß. Mit einem Kleid bekleidet lag sie auf dem Sofa, nun steht sie auf und zieht sich den Slip an. Der Zuschauer begreift, sie hat soeben onaniert.
Einige Wochen später, am 13. Februar 2015, gleichfalls um 20 Uhr 15 auf demselben Sender, läuft der deutsche Fernsehfilm von Rainer Kaufmann Ich will Dich (2014). Die dazugehörige Geschichte: Die verheiratete Marie verliebt sich in Ayla, und die beiden können bald nicht mehr ohne einander. Nach etwa fünfzig Minuten Film kommt es zwischen den beiden zum Cunnilingus. Die dazugehörige Geräuschkulisse des sexuellen Aktes macht die Leidenschaft und die Orgasmen hörbar. Als weitere zehn Minuten vergangen sind, kommt es zum Beischlaf zwischen Marie und ihrem Ehemann. Er greift ihr unters Kleid und dann in den Schritt. Nachdem sie den Slip heruntergezogen hat, geht er zum »Angriff« über. Als besondere Würze des Beischlafs lässt die Regie seine ansonsten bekleidete Hauptdarstellerin in schwarzen, halterlosen Strümpfen agieren.
Aus dem Film Ich will Dich, 201411
Wer mehr und härteren Sex mit pornographischen Sequenzen sehen will, der muss den Fernsehapparat ab 23 Uhr einschalten. Zu sehen ist zum Beispiel Im Reich der Sinne (1976) von dem japanischen Regisseur Nagisa Ōshima. »Der ungeheuerlichste Film über erotische Besessenheit, den die Filmgeschichte kennt«, schrieb Der Spiegel 1978.9 Der besagte Film lief auf Arte das letzte Mal 2013, wurde zuvor allerdings schon auf anderen öffentlich-rechtlichen Sendern gezeigt, etwa im ZDF. Die gleichen Rahmenbedingungen gelten für Intimacy (2001), einen Film, der den Goldenen Bären gewann. Eine »mutige Entscheidung« fand das Der Spiegel, und »völlig zu Recht« meint Die Zeit 2001. Dies nicht zuletzt, weil »dessen energische Handkamera den Figuren ihre Unruhe direkt von der Haut abzulesen« scheint.10 Tatsächlich wird alles gezeigt, »in echt«, denn das, was die Kamera aufnahm, ist echter Geschlechtsverkehr. Nur eines macht die Kamera nicht, sie geht nicht zwischen die Beine der Hauptdarstellerin, dafür vor das Gemächt des Hauptdarstellers, in beiderlei Zustand, wenn es wach und schlaff ist. Das scheint der Unterschied zwischen Porno und Kinofilm zu sein: Die Kamera zeigt nicht nur die Geschlechtsteile, wenn es ums »Liebemachen« geht. Ausgespart wird zudem der Samenerguss, zumindest der echte, oder? Hardcore fehlt auch noch. Aber schlimme Vergewaltigungsszenen, wie sieht es damit aus?
Auf weiten Strecken haben sich das Kino und das Fernsehen auf die Seite von Pornoherstellern geschlagen. Gezeigt werden Frauen, die bis zur Lende des Mannes »abtauchen« und deren Kopfbewegungen keinen Zweifel aufkommen lassen, was da läuft. Üblich ist gleichfalls der Anblick von Männern, die vor dem weiblichen Venushügel verharren, während die dazugehörige Frau der Welt immer mehr stöhnend entrückt. Endete früher ein Film mit einem heißen Kuss, fragte der Zuschauer sich nicht selten: Haben die beiden sich wirklich geküsst? Heutige Fernsehzuschauer stellen sich nach manchen Sexszenen inzwischen die Frage: Machen sie oder er es wirklich? Intim sind die gezeigten Berührungen allemal, da gibt es kein Vertun.
Damit ist im Fernsehen mit Sex noch lange nicht Schluss, schließlich gibt es neben den bewegten Bildern rund um die Uhr Teletext. Die entsprechende Fernbedienungstaste gedrückt, schon erscheint eine erste Textseite des entsprechenden Senders. RTL verspricht den ganzen Tag über Dating-Spaß, und auf der entsprechenden Seite gibt es: »Gay-Sofort-Kontakt«, ein »schnelles Treffen« oder »Sofortkontakt zu Single-Männern«, nicht zu vergessen »attraktive Blondinen« und »scharfe Omas«. Auf der ersten Seite von VOX-Teletext wird auf »Erotische Lebensberatung« hingewiesen, während auf Pro7 auf entsprechenden Seiten »heiße Hausfrauen«, »Latex-Vamp« und »Fetisch XXX« angepriesen werden.
Bereits sehr früh, so gegen 7 Uhr 30, kann auf dem letztgenannten Sender und der entsprechenden Seite eine »heiße Dusche mit NS« genommen werden, sprich Natursekt, was Urin meint. Derweil warten »schamlose Landgirls 20+« oder eine »Bäuerin im Stall«. Warten könnten möglicherweise auch die »heiße unrasierte Oldy«, das »schüchterne Mauerblümchen«, »SM-Göttinnen« oder »offene Ehefrauen«. Wem das alles nicht gefällt, der wähle die »heiße Nr.«, gerne auch »durch [den] Hintereingang«. Richtig los geht es bei den privaten Textseiten allerdings ab 22 Uhr. Wobei manch einer auf diesen Seiten durchaus aus Versehen landen kann, wie mir eine 79-Jährige gestand, die von mir wissen wollte, was XXX bedeutet. Sie hatte lediglich eine falsche Zahl eingegeben. Wer also bewusst oder aus Versehen dort landet, findet zum Beispiel folgende Angebote:
Bei mir geht es direkt zur Sache! Liebe OV, AV, FF!12 Bin sexy und bereit. Ruf einfach an.
Reife Mutti ... ich stöhne ...
Geile 20. Saftig, eng. Mundspiel bis zum Anschlag
Maus 20 Sex von hinten
Heiße Milf13
Willige Amateure
Ordinäre Hausfrauen
Geile nasse Frau
Billige (42) Biete Life-X14
Meine Stiefel auf deinen Juwelen
Über 30, nur AV
Mein Po gehört deinem Stängel
Lesben Trio, Transsexuelle, Gaylover
Geile Sau. In 3 Minuten kommen
Heiße Maus 20 – offen und nass
Kim 49, schlucke alles
Cindy 20, reite die Eier leer
Schlampe 69, rasiert und heiß
Asia-Muschi 20, eng und sturmfrei
Teletext, Sexangebote von RTL und Pro7 im April 2015, vormittags15
Viele dieser Angebote erschließen sich einem Laien erst, wenn er eine Suchmaschine zur Hilfe nimmt. Es ist ein leichtes Unternehmen – auch für Kinder. Nach ein paar Klicks kommt jeder dahinter, was FF ist oder eine Milf. Wer allerdings allgemeinere Fragen sexueller Art hat, benötigt nicht unbedingt ein Internet. Vieles beantwortet der Teletext oder Sexberater via Mattscheibe. Was heute die Sexualtherapeutin Ann-Marlene Henning (geboren 1964), die in der SWR- und MDR-Reihe »Make Love – Liebe machen kann man lernen« »alles« erklärt, war früher Erika Berger (geboren 1939). Die selbsternannte Sexberaterin begann 1987 auf RTL mit der Sendung »Eine Chance für die Liebe«, in der sie Publikumsfragen beantwortete. 1991 folgte ihre Talk-Show mit dem sinnigen Titel »Der flotte Dreier«. VOX zog 1993 mit »Liebe Sünde« nach, und ab diesem Zeitpunkt folgen immer wieder gleiche oder ähnliche Formate, auch auf den öffentlich-rechtlichen Sendeplätzen.
Was es nie bei ARD & Co. gab, war so etwas wie die Sendung »Tutti Frutti«. RTL plus startete damit im Jahr 1990, und zum ersten Mal in der Fernsehgeschichte waren nackte Brüste und noch weitere süffisante Tatsachen Dreh- und Angelpunkt einer Quizshow. Italien hatte es mit dieser Sendung zwei Jahre zuvor vorgemacht. Der Quotenbringer, am späten Abend ausgestrahlt, brachte in Deutschland vier Millionen Zuschauer vor die »Kiste«. Männliche Fernsehzuschauer waren entzückt, wenn die nach Obstsorten benannten und sehr knapp bekleideten jungen Damen ihre Brüste entblättern mussten, sofern ein Quizkandidat die Möglichkeit dazu hatte, dieses zu fordern. Die jungen Models, ob blond, ob braun und an der Leiste gut rasiert, damit die Härchen auf keinen Fall vorwitzig aus dem »mordsmäßig« hohen Beinausschnitt hervorlugten, waren ebenfalls begeistert bei der Sache. Sie zeigten, was sie hatten, bekleidet nur mit String-Tanga16 und Strapsen. Der Clou: Um zusätzliche Punkte zu erreichen, konnten die Kandidaten beiderlei Geschlechts selbst strippen. Einzige Auflage: die Unterwäsche mussten sie anlassen. Die Kandidaten taten, wie ihnen geheißen, und entblätterten sich gerne.
Mangel an Models und Kandidaten gab es während der 143 Folgen nie, und die Kasse stimmte immer. Beschimpfungen über die »niveaulose und pornographische Fleischbeschau« legten sich relativ rasch, und Klagen »aufgebrachter Hausfrauen«, die sich an den Sender mit den Worten wandten: »Meinem Alten fallen gleich die Augen aus dem Kopf«, sind lange passé.17 »Tutti Frutti« war zu jener Zeit das eine, das andere Softpornos und Werbeblöcke, in denen splitterfasernackte Frauen eindeutige Zeichen gaben und »wähle 06 66666« in Richtung Fernsehzuschauer hauchten. Das hatte auch Folgen, etwa für eine heute 63-Jährige. Sie verliebte sich in jenen Jahren in einen Mann, es war ihr Traummann, wie sie mir erzählte, und sie war seine Traumfrau. Sie heirateten ganz romantisch, zogen zusammen und waren glücklich. Eines Tages bemerkte sie, er kam nicht später ins Bett, weil er noch nicht müde war, sondern weil er »Softpornos und so ’n Zeugs« schaute. »Es war erniedrigend für mich, ich ahnte, was er vor dem Fernseher trieb. Mein Gezeter half nichts, er schaute weiter und stritt es auch noch ab.« Nach elf Ehejahren kam das Aus, nicht wegen einer anderen, nein, sie hatte einen Verehrer gefunden, der nur sie wollte.
Im Osten schienen die erotischen Fernsehausstrahlungen andere Folgen nach sich zu ziehen. »Das DDR-Staatsfernsehen bringt mit Softpornos Schwung in die Ehebetten der Brüder und Schwestern«, fasste Der Spiegel 1988 zusammen und bekundete: »Wenn Papi (West) am Samstagabend die Ehepflicht vollzieht, muß er wie eh und je auf Beistand aus der öffentlichrechtlichen Fernsehröhre seines Landes verzichten. Höchstens flackert ohne Ton das Wort zum Sonntag ins Schlafgemach. [...] Da hat es Papi (Ost) jetzt besser.«18
Wie war das möglich? Die ansonsten nicht gerade fortschrittliche Führung der Deutschen Demokratischen Republik hatte ihren Genossen und Genossinnen einen »erotischen Bonbon« auf DDR 1 zur Verfügung gestellt. Eine lockere Serie mit dem Titel »Erotische Nacht«, die das dritte französische Programm (FR 3) produziert hatte. Die Franzosen wiederum waren um einiges weiter, sie boten auf ihrem Privatsender Canal Plus »harten Striptease« an.19
Heute schauen Männer keine Softpornos mehr im Fernsehen, heute gehen sie ins Internet, um sich, wie es eine 67-jährige ehemalige Pädagogin ausdrückt, »aufzugeilen«, andere wollen vom Alltag runterkommen. »Ich kann dann von allem abschalten«, gesteht mir ein vierzigjähriger Familienvater. Mit dieser Methode steht er nicht alleine da. Eine 38-jährige Frau aus Chicago beschreibt ihre häusliche Situation in etwa so: »Mein Mann kommt von der Arbeit nach Hause, isst, spielt etwa eine halbe Stunde mit den Kindern, dann geht er in sein Arbeitszimmer, schließt die Tür und surft stundenlang im Internet und sieht Pornos. Ich weiß es, er weiß, dass ich es weiß.« Sie hat ihn darauf angesprochen, war zornig, hat geschrien, geweint. Hat gesagt, wie es sie verletzt. Nichts hat sich geändert, er schaut weiter, und irgendwann kam die Zeit, da entschuldigte er nichts mehr, und sie nahm es hin und fragt: »Was willst du dagegen machen?«20 Ja, was will man dagegen machen?
Und was will man machen, wenn Kinder, kleine Kinder, US-amerikanische Zeichentrickserien sehen, die vollgespickt sind mit anzüglichen Sprüchen und pikanten Darstellungen? Da gibt es zum Beispiel »Family Guy« (Familienmensch), eine US-amerikanische Zeichentrickserie (seit 1999/2002), ähnlich wie »Die Simpsons« (seit 1989/1991), bei denen es im Übrigen der Hund der Familie schon einmal mit einem gebratenen Truthahn treibt.21 Die Serie »Family Guy« läuft unter anderem im Nachmittagsprogramm und wird gerne von Kindern und Jugendlichen geschaut. Einige Staffeln sind ab zwölf, andere ab sechzehn Jahren freigegeben. Der neunjährige Sohn einer Bekannten darf sie bereits seit längerem schauen, »ist ja nur Zeichentrick«. Sexuelle Anspielungen werden bei »Family Guy« nicht ausgespart. Da sagt etwa der Familienhund Brain: »Ich hab’ ne Überraschung, sieh mal unter den Tisch.« Es geht um das männliche Geschlechtsteil, natürlich begreift auch mein junger Zuschauer genau, worum es geht.22 Nach einer anderen Szene, die ich ebenfalls mit dem Neunjährigen ansehe, kommt folgendes Zwiegespräch zwischen ihm und mir zustande:
»Weißt du, was da eben mit gemeint war, als er sagte, der ist schwul?«
»Ja.«
»Und schwul, was ist das?«
»Na anders.«
»Wie anders, anders als ich?«
»Ne, anders als Papa.«
»Und, was ist da eben im Bett passiert?«
»Na, die haben’s gemacht, und dann war da nicht mehr die Frau, sondern der Mann.«
Selbst in einer mehr als kindlich erscheinenden Zeichentrickserie wie die US-amerikanische »South Park« (seit 1997) hagelt es Süffisantes, und man glaubt, nicht richtig zu hören, wenn es zu folgendem Dialog in einer Schulklasse von Erstklässlern kommt.
Lehrer: »Gibt’s ein Problem, Talkin?«
Schüler Eric: »Ach, er fühlt sich nur grad ein wenig unwohl, er hat ’ne Versteifung. Hab ich recht?«
Lehrer: »Darf ich um Aufmerksamkeit bitten!«24
Vielleicht überrascht diese süffisante Stelle weniger, wenn man weiß, diese Serie ist erst ab sechzehn Jahren freigegeben, geschaut wird sie jedoch auch von den Jüngsten, weil die Figuren so harmlos erscheinen.
In westlichen Gesellschaften ist Fernsehen vollgespickt mit sexuellen Dingen, wir sind einer »ständig wachsenden Flut sexueller Stimuli ausgesetzt«.26 Dabei wird die Reizschwelle immer niedriger und der Reizfaktor immer höher. Dazu ein Beispiel: Zu den ersten Filmen, die je gedreht und gezeigt wurden, gehört The Kiss in the Tunnel. Gerade einmal sechzig Sekunden dauert der Stummfilm in Schwarz-Weiß, und er zeigt einen der ersten Zelluloidküsse der Filmgeschichte. Als dem Publikum 1899 dieser Filmstreifen vorgeführt wurde, blieb so manchem das Herz stehen. Was man sieht, ist ein Zug, der in einen dunklen Tunnel einfährt, dann ein Paar allein in einem Eisenbahnabteil. Die Gunst der Stunde nutzend, neckt er sie, und schließlich gibt er ihr einen kurzen, sehr kurzen Kuss neben dem Mund und weitere kurze auf die Wangen.27 Das ist alles.
Und heutzutage? War noch in den 1940er Jahren der schüchterne Kuss im Kino ein emotionales Highlight für die Zuschauer, eroberte der Zungenkuss in den 1960er Jahren den Zelluloidstreifen und riss das Kinopublikum fast aus seinen Sesseln. Das ist lange vorbei. Jetzige Küsse sehen im Kino und Fernsehen anders aus. Das Zungenspiel zu zeigen ist keine Seltenheit, Genitalküsse sind fester Bestandteil des sexuellen Filmrepertoires. Küsse die früher das Blut des Fernsehzuschauers in Wallung brachten, lassen heute den einen oder anderen völlig kalt, rasch das Fenster zum Lüften öffnen oder kurz zum Kühlschrank gehen. Befragungen zeigen immer wieder, es sind andere Filmküsse, die im Gedächtnis bleiben. Merkwürdigerweise jene, bei denen nicht viel zu erkennen ist, wie sie in Titanic (2012), Mit Dir an meiner Seite (2010), Vom Winde verweht (1939) oder in Casablanca (1942) geküsst wurden. »Wir haben uns früher geschämt, wenn sich Leute im Film küssten, da hat man verlegen weggeschaut, natürlich nur, wenn Erwachsene dabei waren«, erinnert sich ein 68-Jähriger, den ich vor ein paar Jahren zu seinem ersten Kuss interviewte.
Aus der Serie »Family Guy«23
Das Fernsehprogramm speist sein Angebot in großen Teilen aus Filmen, die für die Kinoleinwand produziert und gedacht sind. Im Hinblick auf sexuelle Szenen wurden diese Filme immer reißerischer, und der Zuschauer bekommt immer mehr zu sehen. Reißerischer werden auch die Vorschauen für derartige Filme. Sexuelles wird, wenn möglich, immer in einen Trailer aufgenommen, denn es soll beim Zuschauer »knallen«, sich sozusagen im Kopf verankern, und Sexuelles »knallt« immer. Es macht eben einen großen Unterschied, ob die geographische Lage von Langeoog gezeigt wird oder der wollüstige Beischlaf von zwei Menschen.
Aus »South Park«: »... er hat ’ne Versteifung«25
Nachtrag: »Musst du dir ja nicht anschauen, kannst ja umschalten«, erwidert ein Neunzehnjähriger seinem Vater, als wir mit mehreren Personen über das Thema Sex und Fernsehen sprechen. Besteht diese Möglichkeit wirklich, wenn es nach ein paar Minuten Tatort mit einer Onanieszene losgeht? Welche Chancen hat der Fernsehzuschauer, nicht in intime Handlungen hineingezogen zu werden? Sind sie nicht ebenso gering wie jene, die Reisende und Bahnhofsbesucher hatten, als sie an einem Montagabend im September 2013 einen 27-Jährigen sahen, der seinen Penis aus der Hose holte und onanierte?28
Im Januar 2015, um genau zu sein: am 27. um 15 Uhr 15, bringe ich meiner 76-jährigen Nachbarin einen geliehenen Topf zurück. Sie bittet mich auf einen Tee herein, der Fernseher läuft, Pro7, »The Big Bang Theory«. Verwundert, dass sie sich das in ihrem Alter anschaut, frage ich: »Sie mögen diese Serie?«
Sie erklärt, ihre Enkel hätten sie darauf gebracht und sie stelle dann gleich um auf »Shopping Queen«. Auch das wundert mich, aber was soll’s. Kaum hat sie das gesagt, läuft Werbung, und wir beide müssen hinschauen. Am Schluss des Spots sind wir etwas verlegen, dennoch fragt sie mich: »Was ist denn das wohl für ’n Ding?«
Ich erkläre, es handele sich um einen Dildo, der früher Massagestab genannt wurde.
»Na, hören Sie mal, da sind doch zwei Stöpsel dran«, kontert meine jung gebliebene und äußerst wache Nachbarin.
»Das ist so die neueste Entwicklung«, erkläre ich weiter, »der dickere Teil wird in die Vagina eingeführt, der kleine soll die delikate Stelle außerhalb der Scheide anregen.«
Sie schaut mich streng an und sagt: »Ja, muss so etwas zu dieser Zeit und überhaupt im Fernsehen gezeigt werden?«
Ich erwidere: »Gute Frage!«
Zu sehen war ein 37 Sekunden langer Werbespot für Sexspielzeug und Sexaccessoires der Firma Beate Uhse. Der Spot begann mit einer sehr jungen Frau, die einen Mann küsst und ihn dadurch einer anderen Frau wegschnappt. Der Text zu diesem Geschehen: »Trau dich, dich selbst zu überraschen!« Und indem es weiter heißt »und die anderen!«, küsst diese junge Frau just diejenige, die eben noch pikiert über so ein dreistes Verhalten war. Und es geht weiter im Werbetext, jetzt heißt es: »Trau dich, spontan zu sein« – soll heißen: Kauf dir einen heißen BH – »und die Spielregeln zu ändern!« – meint: sehr sexy vor dem Bett zu stehen und dem Partner, der normal gekleidet ist, Handschellen mit rosa Plüsch entgegenzuhalten.1
Sexartikel werden auch mit umgekehrten Vorzeichen beworben. Das vermeintlich harmlos Angepriesene soll dadurch einen selbstverständlichen Touch erhalten, so als ginge es um etwas ganz Selbstverständliches wie Matratzenschoner. Allerdings ist Sexspielzeug keineswegs selbstverständlich, ansonsten würde es nicht in die Schublade gelegt oder in den Schrank verfrachtet, bevor die Putzfrau kommt. In einem TV-Werbespot eines Onlineshops heißt es: »Wenn es sich gut anfühlt, kann’s dann falsch sein? Wer ist eigentlich diese Vernunft, von der alle reden? Und wie süß schmeckt die Versuchung. Und den Nachtisch ess ich jetzt immer zuerst. Auf den Geschmack gekommen? Exklusive Produkte für noch mehr Liebesleben ...«
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