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»Ich weiß nicht, ob das Universum mit seinen unzähligen Galaxien, Sternen und Planeten irgendeinen besonderen Zweck erfüllt, aber zumindest eines ist klar: Wir Menschen, die wir auf dieser Erde leben, sind vor die Aufgabe gestellt, auf glückliche Weise zu leben.« Die eindrucksvollsten Reden und Schriften des Dalai Lama sind in diesem Buch versammelt. Der weltbekannte spirituelle Meister des Buddhismus und Weisheitslehrer gibt Antworten auf die Grundfragen des Lebens und erklärt die zentralen Elemente der Lehre Buddhas. Die Botschaft des Buddhismus lautet: Gewaltlosigkeit und Mitgefühl sind die Schlüssel zu einem sinnvollen, verantwortlichen Leben auf der Erde, zusammen mit allen Lebewesen. Seine Vision verbindet moderne wissenschaftliche Erkenntnis mit traditionellem Weisheitswissen. Seine Worte sind Wegweiser zu spirituellem Wachstum und einem glücklichen Leben.
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Seitenzahl: 200
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel: In My Own Words: An Introduction to My Teachings and Philosophy, übersetzt von Thomas Schmidt.
Copyright © 2008 Tenzin Gyatso, HH The Dalai Lama with the Foundation for Universal Responsibility of HH The Dalai Lama English language publications 2008 by Hay House Publications (India) Pvt. Ltd.
Neuausgabe 2025
Titel der deutschen Erstausgabe:
Der Sinn des Lebens.
Herausgegeben von Rajiv Mehrotra.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2009
Hermann-Herder-Str. 4, 79104 Freiburg
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Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder, Freiburg im Breisgau
Umschlagmotiv: © kynny / GettyImages, © Svitlana Buzina / GettyImages
Satz: Arnold & Domnick, Leipzig
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print 978-3-451-03570-8
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83682-4
Dieses Buch ist allen fühlenden Wesen gewidmet,auf dass wir frei sein mögen von Leiden.
Und es ist all den großen Lehrern aller Traditionen gewidmet,die uns den Weg zur Befreiung weisen.
Vorwort
Erstes Kapitel
Was ist Glück?
Zweites Kapitel
Was ist Buddhismus?
Drittes Kapitel
Grundlegende buddhistische Lehren
Viertes Kapitel
Das Gesetz von Karma
Fünftes Kapitel
Den Geist transformieren
Sechstes Kapitel
Einführung in die Meditation
Siebtes Kapitel
Das Erwachen des Geistes
Achtes Kapitel
Acht Strophen zur Schulung des Geistes
Neuntes Kapitel
Sinnvoll leben und sterben
Zehntes Kapitel
Leerheit verstehen
Elftes Kapitel
Universelle Verantwortung
Zwölftes Kapitel
Wissenschaft am Wendepunkt
Danksagung
Quellenverzeichnis
Über den Dalai Lama
Über den Autor
Über das Buch
Die von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama (Tenzin Gyatso) ins Leben gerufene Foundation for Universal Responsibility ist erfreut, glücklich und fühlt sich geehrt, diese kurze Einführung in seine Ideen, seine Lehren und seine Botschaft für unsere zerrissene und Not leidende Welt präsentieren zu dürfen, die Seine Heiligkeit hier in seinen eigenen Worten vorträgt.
Tenzin Gyatso, dessen Eltern Bauern waren, bezeichnet sich selbst als »einfachen buddhistischen Mönch«. Er wird von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt für seine tiefen Einsichten in das Wesen des Menschen, in die Ursachen unserer Erfahrung des Leidens und in die Methoden, mit deren Hilfe sich Glück finden lässt, verehrt. Dies ist das Ergebnis seiner tiefen und fortwährenden Bemühungen und Erfahrungen mit einigen der höchstentwickelten und vielschichtigsten spirituellen Techniken und Praxisformen in der Geschichte der Menschheit.
Für Buddhisten auf der ganzen Welt verkörpert er das Wesen ihres Glaubens, ein Sinnbild des höchsten menschlichen Strebens; er ist für sie ein Bodhisattva, ein Wesen, das sich bewusst dafür entschieden hat, als Mensch wiedergeboren zu werden – mit dem unvermeidlichen Leiden des Alters, von Krankheit und Tod –, um die Menschheit zu unterweisen und ihr zu dienen.
Ungeachtet des fortwährenden Genozids, der durch die chinesische Regierung verübt wird, repräsentiert der Dalai Lama für über sechs Millionen Tibeter die Hoffung auf eine Zukunft in Tibet, um dort eine alte Zivilisation wiederzubeleben, die altes und neues Denken miteinander verbindet und die Vision des Dalai Lama zur Realität werden lässt. In Übereinstimmung mit den buddhistischen Lehren setzt er seine Bemühungen für eine Demokratisierung der Exiltibeter fort. Er hat vielfach betont, dass es bei der Tibetfrage nicht um die Zukunft des Dalai Lama geht, sondern um die Rechte und die Freiheit aller Tibeter innerhalb und außerhalb Tibets. Heute gibt es eine gewählte, selbstständige Exilregierung, einen Premierminister und ein Gerichtswesen. Er hat wiederholt darum gebeten, sich aus der Führung der weltlichen Angelegenheiten Tibets zurückziehen zu dürfen; aufgrund seiner herausragenden weltweiten Bedeutung und der Liebe seines Volkes steht er aber weiterhin für diese zentrale Aufgabe zur Verfügung. Für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt ist er einfach »Seine Heiligkeit«, berühmt für sein Lächeln und seine Botschaft von Mitgefühl, Uneigennützigkeit und Frieden.
Wie alle großen Lehrer verkörpert der Dalai Lama das, was er lehrt, und übt sich in dem, was er predigt. Obwohl er über 70 Jahre alt ist, praktiziert er regelmäßig eine feste Reihe von Übungen, die um vier Uhr morgens beginnen und mehrere Stunden dauern, und er empfängt weiterhin Unterweisungen und Einweihungen durch andere Lamas. Es existiert für ihn kein einzelner Gipfelpunkt, kein herausragender Moment der Offenbarung, in dem allumfassende Erleuchtung stattfindet. Obwohl er von anderen als lebender Buddha betrachtet und verehrt wird, nimmt er dies für sich selbst nicht in Anspruch. Wie der Buddha betrachtet er sich als »gewöhnliches« menschliches Wesen, wie wir es alle sind. Indem wir die Stufen des Weges praktizieren, kann jeder von uns glücklich werden und Leiden vermeiden.
Seine Heiligkeit fühlt sich der Idee der Vielfalt verpflichtet und erkennt die Einzigartigkeit jeder einzelnen Person an – ihre individuellen Bedürfnisse, Herkunft und Sichtweisen. Er lädt uns nicht nur ein, sondern ruft uns dazu auf, so viel wie möglich von anderen Traditionen zu lernen; er rät uns aber auch, unseren eigenen Weg des Lernens und persönlichen Wachstums zu gehen. Der Dalai Lama bestärkt uns, jeden Lehrer beziehungsweise jede Lehre einer gründlichen Prüfung zu unterziehen und große Sorgfalt walten zu lassen, bevor wir uns für eine Richtung entscheiden. Es ist ihm ein Anliegen, spirituellen Dilettantismus zu verhindern. Auf dem Weg zum Glück und zur Erleuchtung gibt es keine Abkürzungen; kein Kurz-, Wochenend- oder Wochenseminar reicht dafür aus. Der Weg ist das Ziel, und der Zeitpunkt, sich auf den Weg zu machen, ist die sich stets aufs Neue entfaltende Gegenwart.
Seine auf Integration unterschiedlicher Sichtweisen beruhende, allumfassende Vision hat den Dalai Lama dazu veranlasst, der ganzen Welt die Hand zu reichen, und damit geht sein Einsatz weit über sein Einstehen für die Rechte der Tibeter sowie über seine Stellung als einer der großen spirituellen Meister unserer Zeit hinaus. Mit seiner Philosophie, dass alle einbezogen werden sollten, erreicht er ein breites Spektrum an Menschen und Gruppen; ihm geht es um einen echten Dialog zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen und um einen intensiven Austausch mit Wissenschaftlern, Politikern, Akademikern, Unternehmern und Aktivisten. Auf diese Weise können wir gemeinsam ein bloß synkretistisch gemeintes Hochhalten der »Einheit in der Vielfalt« hinter uns lassen und zu einem tieferen Verständnis gelangen, wie wir in Frieden und Harmonie mit uns selbst, mit anderen, der Erde und dem Universum leben können. Dieses Buch lädt Sie ein, diese Reise mit einem der größten spirituellen und religiösen Lehrer aller Zeiten zu beginnen.
Was ist Glück?
Hinter allen Erfahrungen, die wir machen, steht eine große Frage, auch wenn wir sie vielleicht nicht bewusst stellen: Worin besteht der Sinn des Lebens? Ich habe über diese Frage nachgedacht und möchte meine Überlegungen weitergeben, weil ich hoffe, dass sie für die Leser eine direkte, praktische Hilfe sind.
Ich bin überzeugt, dass der Sinn des Lebens darin besteht, glücklich zu sein. Vom Moment seiner Geburt an sehnt sich jedes menschliche Wesen danach, glücklich zu sein und Leiden zu vermeiden. Weder gesellschaftliche Normen noch Erziehung oder eine Ideologie können diesen Wunsch zerstören. In unserem tiefsten Innern sehnen wir uns schlicht nach Zufriedenheit. Ich weiß nicht, ob das Universum mit seinen unzähligen Galaxien, Sternen und Planeten irgendeinen besonderen Zweck erfüllt, aber zumindest eines ist klar: Wir Menschen, die wir auf dieser Erde leben, sind vor die Aufgabe gestellt, auf glückliche Weise zu leben. Darum ist es wichtig, herauszufinden, was uns wirklich glücklich macht.
Zunächst einmal lässt sich jede Form von Glück und Leiden in zwei Hauptkategorien einteilen: geistiges Glück beziehungsweise Leiden und körperliches Glück beziehungsweise Leiden. Von diesen beiden hat der Geist den größten Einfluss auf die meisten von uns. Sofern wir nicht entweder schwer krank sind oder es uns an elementaren Grundbedürfnissen mangelt, spielt unsere körperliche Verfassung im Leben eine untergeordnete Rolle. Wenn unsere körperlichen Bedürfnisse befriedigt sind, schenken wir dem Körper nahezu keine Beachtung. Der Geist dagegen registriert jedes Ereignis, gleichgültig wie klein es ist. Daher sollten wir all unsere Anstrengung darauf richten, unseren Geist friedlich werden zu lassen.
Aus meiner eigenen begrenzten Erfahrung habe ich geschlossen, dass man das größte Maß an innerer Ruhe erlangt, indem man Liebe und Mitgefühl entwickelt. Je mehr wir uns um das Glück anderer bemühen, desto stärker wächst in uns ein Gefühl des Wohlbefindens. Indem wir ein inniges, warmherziges Gefühl für andere entwickeln, wird unser Geist automatisch in einen entspannten Zustand versetzt. Dies hilft, alle möglichen Ängste oder Unsicherheiten zu beseitigen, unter denen wir leiden, und es verleiht uns die Kraft, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden, mit denen wir konfrontiert sind. Liebe und Mitgefühl sind die eigentlichen Ursachen für ein erfolgreiches Leben.
Solange wir in dieser Welt leben, stoßen wir unvermeidlich auf Probleme. Wenn wir in solchen Situationen die Hoffnung verlieren und entmutigt sind, schwindet unsere Fähigkeit, Schwierigkeiten zu meistern. Rufen wir uns dann aber in Erinnerung, dass nicht nur wir allein, sondern jeder Leiden durchstehen muss, dann wird diese realistischere Sichtweise unsere Entschlossenheit und die Fähigkeit, Schwierigkeiten zu überwinden, stärken. Tatsächlich kann man mit dieser Haltung sogar jedes neu auftauchende Hindernis als wertvolle Gelegenheit betrachten, unseren Geist zu schulen! So können wir uns allmählich darum bemühen, mitfühlender zu werden; das heißt nicht nur, echtes Verständnis für das Leiden anderer zu entwickeln, sondern auch, unseren Willen zu stärken und ihnen zu helfen, sich von ihrem Leiden zu befreien. Als Folge werden unsere Gelassenheit, Heiterkeit und innere Stärke wachsen.
Letztlich ist der Grund, warum Liebe und Mitgefühl uns das größtmögliche Glück bescheren, schlicht der Tatsache geschuldet, dass wir sie unserem Wesen nach über alle anderen Dinge stellen. Das Bedürfnis nach Liebe bildet das Fundament unserer menschlichen Existenz. Es resultiert aus der tiefen wechselseitigen Abhängigkeit, die wir alle miteinander gemeinsam haben. Es spielt keine Rolle, über wie viele Fähigkeiten oder welches Geschick ein Einzelner verfügt, allein wird er oder sie nicht überleben können. Es spielt keine Rolle, wie stark und unabhängig sich jemand in den erfolgreichen Zeiten seines Lebens fühlt, wenn er krank, sehr jung oder alt ist, muss er sich auf die Hilfe und Unterstützung anderer verlassen.
Natürlich, wechselseitige Abhängigkeit stellt ein fundamentales Naturgesetz dar. Nicht nur höhere Lebensformen, sondern auch viele äußerst kleine Insektenarten sind soziale Wesen, die – ohne eine Form von Religion, Gesetzgebung oder Erziehung – deshalb überleben, weil sie aufgrund einer angeborenen Einsicht ihre wechselseitige Verbundenheit erkennen und miteinander kooperieren. Selbst auf der Ebene kleinster physikalischer Phänomene herrscht das Gesetz wechselseitiger Abhängigkeit. Tatsächlich sind alle Phänomene, seien es Meere, Wolken oder die uns umgebenden Wälder, abhängig von feinsten Energiemustern. Ohne deren korrektes Ineinandergreifen lösen sich die Erscheinungen auf und zerfallen.
Weil wir auch als Menschen vollkommen auf die Hilfe und Unterstützung von anderen angewiesen sind, bildet unser Bedürfnis nach Liebe die elementare Grundlage unserer menschlichen Existenz. Deshalb brauchen wir wirkliches Verantwortungsgefühl und aufrichtige Sorge um das Wohlergehen anderer.
Wir sollten darüber nachdenken, worin unser menschliches Wesen eigentlich besteht. Wir sind keine maschinell hergestellten Gegenstände. Wären wir bloße Maschinen, dann könnten Maschinen all unser Leiden mindern und unsere Bedürfnisse und Sehnsüchte erfüllen. Da wir jedoch nicht bloß materielle Kreaturen sind, ist es ein Fehler, zu hoffen, äußerliche Neuerungen und Entwicklungen könnten uns glücklich machen. Stattdessen sollten wir über unseren Ursprung und unsere Natur nachdenken, um herauszufinden, wer wir sind und was wir wirklich brauchen.
Wenn wir einmal die komplexe Frage nach dem Ursprung und der Entwicklung des Universums beiseitelassen, können wir zumindest darin übereinstimmen, dass jeder von uns das Produkt seiner Eltern ist. Im Allgemeinen ist der Moment der Zeugung nicht nur das Ergebnis sexueller Wünsche, sondern entspringt auch der Entscheidung der Eltern für ein Kind. Eine solche Entscheidung basiert grundsätzlich auf Verantwortungsgefühl und Uneigennützigkeit – dem tiefen Wunsch der Eltern, für ihr Kind zu sorgen, bis es selbständig ist. Also ist die Liebe unserer Eltern unmittelbar mit unserer Zeugung verbunden – vom ersten Moment der Zeugung an. Außerdem hängen wir nach unserer Geburt vollkommen von der Fürsorge unserer Mütter ab. Einigen Wissenschaftlern zufolge hat die jeweilige psychische Verfassung einer Schwangeren, zum Beispiel Zufriedenheit oder Aufgeregtheit, direkte körperliche Auswirkungen auf ihr ungeborenes Kind.
Das Gefühl von Liebe ist auch nach der Geburt sehr wichtig. Weil wir als Erstes damit beginnen, Milch aus der Brust unserer Mutter zu saugen, fühlen wir uns ihr natürlicherweise nah und verbunden, und sie muss ein Gefühl der Liebe für uns empfinden, um uns richtig nähren zu können; würde sie Ärger oder Groll empfinden, könnte die Milch nicht frei fließen. Danach folgt die kritische Phase der Gehirnentwicklung, die bis zum dritten oder vierten Lebensjahr andauert und in der ein liebevoller körperlicher Kontakt der wichtigste Faktor für die normale Entwicklung des Kindes ist. Wenn das Kind nicht getragen, umarmt, gestreichelt und liebevoll umsorgt wird, beeinträchtigt dies seine allgemeine Entwicklung und die Reifung des Gehirns kann nicht ordentlich verlaufen.
Sobald die Kinder älter werden und in die Schule kommen, muss ihr Bedürfnis nach Unterstützung von den Lehrern erfüllt werden. Wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer nicht nur akademisches Wissen vermittelt, sondern sich auch dafür verantwortlich fühlt, Schüler auf das Leben vorzubereiten, werden diese Vertrauen und Respekt entwickeln, und was ihnen beigebracht wurde, wird einen unauslöschlichen Eindruck bei ihnen hinterlassen. Umgekehrt wird ein Schüler das, was ihm von einem Lehrer beigebracht wurde, der nicht wirklich Fürsorge für das Wohlergehen seiner Schülerinnen und Schülern zeigt, nicht lange behalten.
Heutzutage wachsen viele Kinder in einem unglücklichen Zuhause auf. Wenn sie keine richtige Zuneigung erfahren, werden sie im späteren Leben ihre Eltern kaum lieben können und nicht selten Schwierigkeiten haben, andere Menschen zu lieben. Das ist sehr bedauerlich. Daraus folgt also, dass Liebe der wichtigste Nährstoff für ein Kind ist, weil es ohne die Fürsorge anderer Menschen nicht überleben kann. Eine glückliche Kindheit, das Zerstreuen der vielen Ängste eines Kindes und die gesunde Entwicklung seines Selbstbewusstseins sind unmittelbar abhängig von der erfahrenen Liebe.
Ähnlich ist es, wenn man krank ist und im Krankenhaus von einem Arzt behandelt wird, der ein warmes, menschliches Gefühl ausstrahlt; man fühlt sich wohl, und die Motivation des Arztes, die bestmögliche Behandlung zu leisten, hat für sich genommen schon eine heilsame Wirkung, ungeachtet seiner oder ihrer beruflichen Fähigkeiten. Fehlt es dem Arzt dagegen an Menschlichkeit, legt er ein unfreundliches Verhalten an den Tag, ist ungeduldig oder unaufmerksam, wird man sich fürchten, selbst wenn er der führende Spezialist auf seinem Fachgebiet ist, die Krankheit korrekt diagnostiziert und das richtige Medikament verschreibt. Die Gefühle eines Patienten haben unausweichlich Einfluss auf die Qualität und die Vollständigkeit des Heilungsprozesses.
Selbst während einer gewöhnlichen, alltäglichen Unterhaltung haben wir Freude daran, zuzuhören, und antworten gerne, wenn der andere auf eine Weise spricht, in der sich Menschlichkeit und Wärme ausdrücken; die ganze Unterhaltung wird interessant, auch wenn das Gesprächsthema eigentlich unwichtig ist. Ist der andere dagegen kalt und barsch, fühlen wir uns unwohl und wünschen uns, das Gespräch rasch beenden zu können. Von der kleinsten bis zur wichtigsten Handlung sind Zuneigung und der Respekt von anderen wesentlich für unser Glück.
Vor Kurzem besuchte ich eine Gruppe amerikanischer Wissenschaftler, die berichteten, dass der Anteil geistiger Erkrankungen in ihrem Land äußerst hoch sei – ungefähr 12 Prozent der Gesamtbevölkerung. Während unserer Diskussion wurde klar, dass die Hauptursache nicht die mangelhafte Befriedigung materieller Bedürfnisse ist, sondern fehlende Zuneigung von anderen. Das belegt, was ich oben erläutert habe, nämlich dass uns mit dem Tag unserer Geburt das Bedürfnis nach menschlicher Zuneigung und Liebe, bewusst oder unbewusst, im Blut liegt. Sogar wenn die Zuneigung von einem Tier oder von jemand kommt, den wir unter normalen Umständen als unseren Gegner betrachten, wird sich ein Kind oder Erwachsener ganz natürlich von ihm angezogen fühlen.
Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der ohne dieses Bedürfnis nach Liebe geboren wird. Und dies beweist, auch wenn uns moderne Denkrichtungen etwas anderes glauben machen wollen, dass sich Menschen nicht bloß als materielle Wesen definieren lassen. Kein materieller Gegenstand, wie schön oder wertvoll er auch sein mag, kann uns das Gefühl vermitteln, geliebt zu werden, denn unser eigentliches Wesen und unser wahrer Charakter liegen in der subjektiven Natur unseres Geistes.
Einige meiner Freunde sagten mir, dass Liebe und Mitgefühl zwar wunderbar und gut, aber nicht wirklich allzu sehr von Bedeutung seien. Unsere Welt, so meinen sie, sei kein Ort, an dem diese Eigenschaften sehr viel Einfluss und Macht hätten. Sie behaupten, Ärger und Hass seien so tief in unserem menschlichen Wesen verwurzelt, dass die Menschheit auf ewig von ihnen beherrscht werde. Ich bin nicht ihrer Meinung.
Wir Menschen existieren seit ungefähr 100 000 Jahren in der gegenwärtigen Form. Ich bin überzeugt, dass die Gesamtbevölkerung abgenommen hätte, wäre der menschliche Geist in erster Linie von Wut und Hass beherrscht worden. Aber heute, trotz all der Kriege, ist die Weltbevölkerung größer als jemals zuvor. Dies ist für mich der schlagende Beweis, dass Liebe und Mitgefühl in der Welt mächtiger sind. Und dies ist auch der Grund, wieso vor allem über unerfreuliche, unangenehme Ereignisse berichtet wird; mitfühlendes Verhalten ist so sehr Teil unseres täglichen Lebens, dass wir es als gegeben voraussetzen und aus diesem Grund weitgehend unbeachtet lassen.
Bis jetzt habe ich hauptsächlich über die positiven Auswirkungen des Mitgefühls auf unseren Geist gesprochen. Darüber hinaus trägt er aber auch zu einer guten körperlichen Gesundheit bei. Nach meiner persönlichen Erfahrung stehen mentale Stabilität und physisches Wohlergehen in enger Wechselbeziehung. Ohne Frage machen uns Ärger und Aufregung anfälliger für Krankheiten. Ist der Geist jedoch ruhig und angefüllt mit positiven Gedanken, wird der Körper nicht so leicht zum Opfer einer Erkrankung.
Natürlich ist es aber auch zutreffend, dass wir alle eine angeborene Selbstbezogenheit besitzen, die unserer Liebe zu anderen im Weg steht. Wenn wir uns also nach wirklichem Glück sehnen, dessen Hauptbedingung ein ruhiger Geist ist, und dieser Frieden des Geistes allein durch eine von Mitgefühl geprägte Geisteshaltung erreicht werden kann, wie können wir diese dann entwickeln? Offensichtlich reicht es nicht aus, wenn wir lediglich darüber nachdenken, wie nett Mitgefühl ist! Wir müssen uns entschlossen darum bemühen, es zu entwickeln; alles, was in unserem Alltag geschieht, müssen wir dazu verwenden, unser Denken und Handeln zu verwandeln.
Als Erstes ist es wichtig, dass wir uns klarmachen, was wir meinen, wenn wir von Mitgefühl sprechen. Viele Formen mitfühlenden Verhaltens oder einer mitfühlenden Haltung sind mit Sehnsüchten, Wünschen oder Anhaftungen vermischt. Beispielsweise ist die Liebe, die Eltern für ihr Kind empfinden, häufig eng mit ihren eigenen emotionalen Bedürfnissen gekoppelt, sodass sich nicht wirklich von mitfühlendem Verhalten sprechen lässt. In gleicher Weise beruht die eheliche Liebe zwischen Mann und Frau – vor allem in der Anfangszeit, wenn die beiden Partner den genauen Charakter des anderen noch nicht gut kennen – eher auf einem Gefühl des Hingezogenseins und des Begehrens als auf wirklicher Liebe. Unser Verlangen kann so stark sein, dass uns die Person, an der wir hängen, ausschließlich in einem positiven Licht erscheint, auch wenn sie über sehr negative Eigenschaften verfügt. Darüber hinaus neigen wir dazu, kleine positive Charakterzüge übertrieben wahrzunehmen. Wenn daher ein Partner seine Einstellung ändert, ist der andere Partner häufig enttäuscht und seine oder ihre Einstellung ändert sich ebenfalls. Dies ist ein Zeichen, dass diese Liebe mehr auf persönlichen Bedürfnissen und Wünschen beruhte als auf echter Sorge für den anderen.
Wahres Mitgefühl ist im Grunde genommen keine bloße emotionale Reaktion, sondern eine stabile, tiefe innere Verpflichtung, die auf Einsicht und Verstehen basiert. Deshalb ändert sich eine wirklich mitfühlende Haltung anderen gegenüber nicht, selbst wenn diese ein negatives Verhalten an den Tag legen.
Natürlich ist es alles andere als einfach, diese Form von Mitgefühl zu entwickeln! Lassen Sie uns zu Beginn die folgenden Tatsachen vergegenwärtigen: Gleichgültig ob Menschen schön und freundlich oder hässlich und Unruhestifter sind, letzten Endes sind sie menschliche Wesen, genau wie wir. Wie wir wünschen sie sich Glück und wollen nicht leiden. Überdies haben sie das gleiche Recht wie wir, ihr Leiden zu überwinden und glücklich zu sein. Dann, wenn wir beides – den Wunsch aller Wesen, nach Glück zu streben, und ihr Recht, sich dafür einzusetzen – anerkennen, entsteht in uns automatisch ein Gefühl der Empathie und Nähe. Indem wir unseren Geist mit diesem Gefühl der allumfassenden Uneigennützigkeit vertraut machen, entwickeln wir ein Gefühl der Verantwortung für andere: den Wunsch, anderen aktiv dabei zu helfen, ihre Schwierigkeiten zu überwinden. Dabei ist dieser Wunsch nicht selektiv; er gilt allen in gleicher Weise. Denn es gibt keinen logischen Grund, zwischen menschlichen Wesen, die genau wie wir Freude und Schmerz erfahren, zu unterscheiden oder unsere positive Grundhaltung ihnen gegenüber zu verändern, selbst wenn sie sich negativ verhalten.
Lassen Sie mich betonen, dass es – Geduld und Zeit vorausgesetzt – in Ihrer Macht steht, dieses Mitgefühl zu verwirklichen. Natürlich, unsere Selbstbezogenheit, unser für uns charakteristisches Festhalten an einem unabhängigen, eigenständig existierenden »Ich« sperrt sich grundsätzlich dagegen, Mitgefühl entstehen zu lassen. In der Tat lässt sich echtes Mitgefühl nur dann erfahren, wenn diese Form der Selbstfixierung beseitigt wird. Aber das heißt nicht, dass wir nicht jetzt damit beginnen und Fortschritte machen können.
Wir sollten beginnen, indem wir die größten Hemmnisse, die unserem Mitgefühl im Weg stehen, beseitigen: Ärger und Hass. Wie wir alle wissen, handelt es sich um äußerst starke Gefühle; sie sind in der Lage, unseren gesamten Geist zu beherrschen. Trotzdem lassen sie sich kontrollieren. Tun wir dies jedoch nicht, quälen uns diese negativen Emotionen – ihre bloße Anwesenheit reicht dazu aus. Darüber hinaus hindern sie uns daran, wahres Glück zu finden, indem wir einen liebevollen Geist entwickeln.
Aus diesem Grund ist es als Erstes hilfreich, zu untersuchen, ob Ärger oder Wut für sich genommen nützlich sind oder nicht. Manchmal, wenn wir uns durch eine schwierige Situation entmutigt fühlen, scheint Ärger hilfreich zu sein, da er uns offenbar mehr Energie, Sicherheit und Entschlossenheit gibt. An dieser Stelle müssen wir jedoch den Zustand unseres Geistes sehr genau prüfen. Obgleich es stimmt, dass Ärger Energie mit sich bringt, entdecken wir, dass diese Emotion blind ist; wir können nicht sicher sein, ob das Ergebnis positiv oder negativ sein wird. Der Grund dafür ist, dass Ärger und Wut den wertvollsten Bereich unseres Gehirns in gewisser Weise verfinstern, nämlich die Fähigkeit zu denken. Deshalb ist die aus Ärger gewonnene Energie fast immer unzuverlässig. Sie kann eine beispiellose Menge destruktiven, bedauerlichen Verhaltens verursachen. Darüber hinaus kann jemand, dessen Wut sich ins Extreme steigert, eine Art Wahnsinn entwickeln, sein Handeln schadet dann nicht nur ihm selbst, sondern auch anderen.
Es ist jedoch möglich, eine ebenso kraftvolle, aber weit besser beherrschbare Energie zu entwickeln, mit der sich schwierige Situationen bewältigen lassen. Diese kontrollierte Energie beruht nicht nur auf einer mitfühlenden Einstellung, sondern auch auf Vernunft und Geduld, den beiden wirkungsvollsten Mitteln gegen Ärger und Wut. Leider sehen viele Menschen diese Qualitäten irrtümlicherweise als Zeichen von Schwäche an. Ich dagegen glaube, dass das Gegenteil der Fall ist: Sie sind Zeichen echter innerer Stärke. Mitgefühl ist seinem Wesen nach sanft, friedlich und weich, gleichzeitig aber auch sehr machtvoll. Jene, die leicht die Geduld verlieren, sind dagegen unsicher und schwankend. Sich zu ärgern ist in meinen Augen deshalb ein unmittelbares Zeichen von Schwäche.
Versuchen Sie darum, gelassen zu bleiben, sobald ein Problem auftritt, bewahren Sie Ihre Offenheit und bemühen sie sich um eine gerechte Lösung. Natürlich werden einige vielleicht versuchen, aus Ihrer Haltung Vorteile zu ziehen, und wenn Ihre Ausdauer ungerechtfertigterweise Aggression hervorruft, sollten Sie einen festen Standpunkt einnehmen. Dies sollte jedoch mit Mitgefühl geschehen. Falls notwendig, legen Sie Ihre Auffassung dar und wirken Sie der Aggression bestimmt, aber ohne Zorn oder böse Absichten entgegen.
Sie sollten erkennen, dass, obwohl Ihre Gegner Ihnen Schaden zufügen wollen, deren destruktives Verhalten letzten Endes allein ihnen selbst schadet. Um Ihre eigenen selbstsüchtigen Impulse, sich rächen zu wollen, unter Kontrolle zu halten, sollten Sie sich an Ihren Wunsch, Mitgefühl zu praktizieren, erinnern und sich dafür verantwortlich fühlen, der anderen Seite dabei zu helfen, nicht das Opfer der eigenen Handlungsweisen zu werden. So wird Ihr Handeln, wenn es ruhig und überlegt erfolgt, effektiver, angemessener und wirksamer. Rache und Vergeltung treffen selten ihr Ziel, weil sie auf der blinden Energie beruhen, die aus Ärger und Wut resultiert.