Der sixtinische Himmel - Leon Morell - E-Book
SONDERANGEBOT

Der sixtinische Himmel E-Book

Leon Morell

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Historischer Roman, Künstlerbiografie und Thriller zugleich – und damit dreifach gut.« Freundin Der große historische Roman über den bedeutendsten Künstler der Renaissance: Michelangelo Bologna, 1508: Es ist die Zeit der Renaissance. Der achtjährige Aurelio erblickt in einer Kirche in Bologna einen Engel aus Marmor. Beeindruckt von dessen Schönheit, will auch er Bildhauer werden. Er beschließt, beim größten Künstler seiner Zeit in die Lehre zu gehen: Michelangelo Buonarroti. In Rom erwartet ihn eine Welt, wie er sie bisher nicht kannte: Kunst und Kultur stehen in höchster Blüte, das Leben pulsiert in den Straßen und auf den Plätzen, herrschaftliche Paläste und prächtige Kirchen zieren das Stadtbild. Doch es gibt auch Schattenseiten: Die Pest wütet unter der Bevölkerung, Bettler und Kurtisanen bevölkern die Straßen. Tatsächlich nimmt Michelangelo den Jungen als Gehilfen in seiner Werkstatt auf. Gerade hat er vom Papst den Auftrag bekommen, die Decke der Sixtinischen Kapelle neu auszumalen. Widerwillig macht sich der Bildhauer ans Werk, schließlich gilt seine Leidenschaft dem Marmor. Doch je weiter das Fresko voranschreitet, desto mehr kostet es seinen Meister an Lebenskraft. Denn in der Nacht erschafft er an einem geheimen Ort, in weißen Marmor gehauen, die Frau, die es nicht geben darf: die Kurtisane des Papstes. »Wirklich himmlisch! Ein wunderbarer Renaissance-Roman über Michelangelo, das berühmte Deckenfresko und die Macht der Liebe.« Petra

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 719

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Leon Morell

Der sixtinische Himmel

Historischer Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Italien, Anfang des 16. Jahrhunderts. Der junge Argiento kommt nach Rom, um dort beim größten Bildhauer seiner Zeit in die Lehre zu gehen: Michelangelo Buonarotti. Gerade hat der Papst diesen gegen seinen Willen mit einem Deckenfresko für die Sixtinische Kapelle beauftragt. Missmutig macht sich der Künstler ans Werk. Nachts jedoch erschafft er – nackt, in weißen Marmor gehauen – das Bildnis der Frau, die keiner jemals sehen darf: die Kurtisane des Papstes. Argiento verliebt sich unsterblich in die geheimnisvolle Schöne. Doch seine Liebe wird nicht nur ihm zum Verhängnis…

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Leon Morell ist ein Pseudonym. Der Autor zahlreicher Romane und Sachbücher wurde 1967 in Alsfeld/Hessen geboren. Er studierte Musik- und Literaturwissenschaften in Marburg und Berlin. Seine große Begeisterung für Italien und die Kunst der Renaissance inspirierte ihn zu diesem Roman, an dem er ebenso lange arbeitete wie Michelangelo an den Fresken der Sixtinischen Kapelle. Heute lebt der Vater von drei Kindern in Berlin.

Inhalt

[Widmung]

[Zitat]

Prolog

Teil I

I

II

III

IV

V

VI

Teil II

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

Teil III

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

Teil IV

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

XXXIV

XXXV

XXXVI

XXXVII

XXXVIII

Teil V

XXXIX

XL

XLI

XLII

XLIII

XLIV

XLV

XLVI

XLVII

Teil VI

XLVIII

XLIX

L

LI

LII

LIII

LIV

LV

LVI

Teil VII

LVII

LVIII

LIX

LX

LXI

LXII

LXIII

LXIV

Epilog

Nachwort

Danksagung

Für Leoni, Moritz und Nelly

Flieht, Liebende, die Liebe! flieht das Feuer!

Wild ist der Brand, die Wunde führt zum Tod;

nichts hilft, nachdem die erste Glut geloht;

nicht Kraft, Vernunft noch Flucht erbarmt sich euer.

 

Flieht! Vielfach ist die Tat und immer neuer des scharfen Pfeils, dem starker Arm gebot; in meinem Antlitz lest, was euch bedroht, wie enden wird dies grause Abenteuer.

 

Flieht schon beim ersten Blick! Daß ich gewänne die Harmonie für immer, wähnt ich einst.

Nun fühl ich, und ihr seht’s, wie ich verbrenne.

 

(unvollendet)

 

Michelangelo Buonarroti

Prolog

Januar 1495

Ihm gegenüber kniete ein Engel, ein leibhaftiger Engel, mit Armen, Beinen und Schultern, so stark wie die seines Vaters. Zudem jedoch hatte er Flügel, zarte, zerbrechliche, weich gefiederte Flügel, mit denen er sich jederzeit mühelos in den Himmel aufschwingen konnte. Sein linkes Knie berührte den Boden, das rechte Bein hatte er aufgestellt, so dass der nackte Fuß unter seinem Gewand hervorkam. Er trug einen Kandelaber, halb so groß wie er selbst, und je nachdem, wie der Schein der Kerze seine Konturen erhellte, konnte er abwechselnd einen gütigen oder drohenden Ausdruck annehmen. Aurelio verharrte reglos in ehrfürchtigem Abstand und betrachtete das knabenhafte Gesicht des Engels. Weder spürte er die Kälte, die ihm seit einiger Zeit die Beine hinaufkroch, noch sah er den feinen, weißen Nebel, den er mit jedem Atemzug ausstieß.

Doch er begann, hinter seinem Rücken Geräusche wahrzunehmen. Der Engel und er waren nicht allein. Manchmal war es nur das Knacken einer Holzbank, das sich in den Seitenschiffen der Basilika verlor, doch immer wieder glaubte Aurelio, ein Zischen zu vernehmen, als hätten die Säulen des Mittelschiffs zu flüstern begonnen. Verstohlen blickte sich der Junge um. Die Kirche lag im Halbdunkel, die Seitenschiffe ließen sich nur mehr erahnen. Nie zuvor hatte Aurelio ein Gebäude von solchen Ausmaßen betreten, eines, in dem man sich aufzulösen schien und verloren fühlte und dessen Größe sein Verstand nicht zu erfassen vermochte.

Da war es wieder. Ein kaum vernehmbares Schnaufen, wie von einem Tier. Aurelio fühlte es herannahen, wagte aber nicht, sich ein weiteres Mal umzudrehen. Inzwischen war es ganz dicht bei ihm. Ein Wolf, schoss es ihm durch den Kopf. Am zweiten Tag ihrer Reise war ihnen einer begegnet. Er hatte auf der Via Aemilia gestanden, als habe er dort auf sie gewartet. Tommaso hatte vom Karren steigen und einen Stein nach ihm schleudern müssen, bevor das Tier die Straße wieder freigegeben hatte und in Richtung der Berge im Wald verschwunden war.

Aurelio wollte davonlaufen, doch seine Beine rührten sich nicht von der Stelle. Sein Herz trommelte wild gegen die Brust. Verzweifelt blickte er zu dem Engel empor.

»Gefällt er dir?«

Ein heiseres Krächzen entrang sich der Kehle des Jungen. Kein Wolf. Ein Mann. Aurelio hielt den Blick stur nach vorne gerichtet.

»Also?«, fragte die Stimme.

Erst jetzt wagte der Junge einen Blick aus den Augenwinkeln. Besonders groß war der Mann nicht, kaum größer als Aurelios Bruder Matteo, und der war erst vierzehn. Aurelios Atem beruhigte sich ein wenig.

»Was ist«, drängte die rauchige Stimme, »hat es dir die Sprache verschlagen?«

Aurelio sah den Engel an und suchte nach den richtigen Worten. Gefällt er dir?, hatte der Mann gefragt, doch gefallen war ein viel zu schwaches Wort, um die Demut zu beschreiben, die Aurelio beim Anblick der Statue überkam.

»Kann er wirklich fliegen?«, fragte er schließlich.

»Pah!«, entfuhr es dem Mann, »dieses plumpe Ding wäre nicht in der Lage, sich vom Boden zu lösen, wenn es über ein Dutzend Flügel verfügte.«

Entsetzt starrte Aurelio den Mann an. Wie konnte er so abfällig über ein Geschöpf von solcher Erhabenheit sprechen?

Der Mann hatte einen Akzent, wie ihn Aurelio noch nie gehört hatte, und seine Kleidung war die eines Armen – ein Umhang aus grobem Stoff, der eher einer Soutane glich als einem Mantel und durch den sich die sehnigen Schultern abzeichneten. Beinkleider schien er keine zu tragen, und seine nackten Füße steckten in geschnürten Sandalen – wo es doch geschneit hatte und die Piazza vor der Basilika von einem dicken, weißen Teppich überzogen war. Jetzt begriff Aurelio auch, woher das Schnaufen rührte. Die Nase des Mannes saß eigentümlich schief in dessen Gesicht und gab mit jedem Atemzug ein leises Zischen von sich.

»Hier.« Der Mann trat an die Statue heran. Er war tatsächlich nicht alt, wie der Junge im Schein der Kerze erkannte. »Sieh dir diesen Fuß an.« Aurelio zuckte zusammen, als der Mann den Engel ohne zu zögern am Knöchel ergriff. »Viel zu breit«, erklärte er. »Und die Wölbung müsste ausgeprägter sein. Dann die Hand: Diese unförmigen Griffel sind die Finger eines Schmieds, nicht die eines Engels. Am unverzeihlichsten aber sind die Proportionen. Weißt du, was Proportion bedeutet?«

Aurelio schüttelte stumm den Kopf.

»Proportion meint das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander. Und das Verhältnis dieses Oberschenkels zu dem dazugehörigen Unterschenkel«, er legte seine Hand auf das Gewand des Engels, als wolle er es anheben, »ist missraten zu nennen. Schließlich sind die Falten des Gewandes nicht weit genug ausgehöhlt. Allerdings …« Er holte Luft, wobei seine Nase abermals ein Zischen ausstieß. Seine energische Stirn schien sich für einen Moment zu glätten. »Allerdings erkennt man die Möglichkeit, das Talent, die Gabe. Ein Mann mit solchen Fähigkeiten trägt eine große Verantwortung. Er könnte Ungeheures erschaffen. Für dieses Ding aber sollte er den Allmächtigen um Verzeihung bitten.«

Aurelio starrte noch immer die halbverhüllte Gestalt an, deren Worte wie Hagelkörner auf ihn niederprasselten, als sich Schritte näherten. Zwei Männer kamen durch das Seitenschiff. Die Silhouette des größeren erkannte Aurelio sofort.

»Vater!«

Aus seiner Starre erlöst, rannte der Junge über die Steinplatten und klammerte sich erleichtert an Tommaso.

»Hier also steckst du.«

Zwei Hände ergriffen ihn unter den Achseln und hoben ihn mühelos empor. Unwillkürlich ertastete die Hand des Jungen die Stelle an Tommasos Hals, die immer warm war und wo unter der Haut das Blut pulsierte.

»Da ist ein Engel«, setzte Aurelio an, »ein echter Engel … Und dieser Mann, der …«

Die Worte waren schneller aus ihm herausgesprudelt, als seine Gedanken zu folgen vermochten. Jetzt wusste er nicht mehr, was er hatte sagen wollen.

»Was für ein Mann?«, fragte Tommaso ruhig.

»Da!«

Aurelio deutete in Richtung der Statue, doch der Fremde war verschwunden.

»Sicher der junge Buonarroti«, sagte Tommasos Begleiter.

Er trug einen schweren, edlen Umhang, und seine Schnürstiefel waren mit goldenen Spangen verziert, die im Halbdunkel glänzten wie polierte Münzen.

»Der junge Buonarroti?«, wiederholte Tommaso.

»Ein Günstling der Medici«, erklärte der Mann mit den Spangen an den Schuhen. »Letztes Jahr, bevor es zum Aufstand kam, ist er aus Florenz geflohen. Er hatte Angst, seine Nähe zu Piero könnte ihm gefährlich werden. Er nennt sich Bildhauer. Ein komischer Kauz, der viel von sich reden macht. Noch kein halbes Jahr ist er in Bologna und nimmt sich heraus, Aufträge abzulehnen, nach denen sich jeder andere Künstler in der Stadt die Finger lecken würde. Dabei ist er gerade einmal zwanzig Jahre alt. Wahren Geschmack, sagt er, könne man nur an drei Orten in Italien finden: Venedig, Rom und Florenz.«

»Aber was hat er gegen den Engel?«, fragte Aurelio.

Tommasos Begleiter warf Aurelio einen fragenden Blick zu. »Weshalb sollte er etwas gegen den Engel haben?«

»Er hasst ihn.«

Der Mann betrachtete nachdenklich den Kandelaberengel. »Dann hasst er vermutlich sich selbst. Schließlich hat er ihn aus dem Marmor gemeißelt.«

* * *

Am nächsten Morgen kehrten Tommaso und Aurelio Bologna den Rücken und fuhren auf der Via Aemilia, der alten Römerstraße, zurück Richtung Forlì. Die Ausläufer des Apennin lagen zu ihrer Rechten, die schneebedeckten Kuppen steckten in einem Band aus dichten Wolken. Der Karren war leicht, jetzt, wo er die Last der Fässer nicht mehr tragen musste. Die frisch beschlagenen Räder drehten sich knirschend im Schnee. Aurelio saß, umhüllt von zwei Decken, neben seinem Vater. Tommaso hatte ihn eingewickelt wie in einen Kokon. Lediglich die obere Gesichtshälfte seines Sohnes war noch zu sehen. Aurelios Ohren glühten vor Wärme. Tommaso war zufrieden. Wie jedes Jahr hatte sich die lange Reise nach Bologna gelohnt. Die Familie Aldrovandi hatte ihm für den Wein und das Öl einen Preis bezahlt, den er in Forlì niemals erzielt hätte.

Nach und nach schläferten das gleichmäßige Ruckeln des Karrens und das Klappern der Hufe Aurelio ein. Er legte sich auf die Seite, den Kopf auf dem Bein seines Vaters. Das ist der schönste Tag meines Lebens, dachte er bei sich. Tommasos Hand ruhte auf der Schulter seines Sohnes. Aurelio schloss die Augen, dachte an die merkwürdigen Worte des seltsamen Herrn Buonarroti und an den Engel, der sich ihm für den Rest seines Lebens ins Gedächtnis gebrannt hatte.

Teil I

I

März 1508

Sie kamen, ohne viel Aufhebens zu machen, gegen Mittag. Italienische Söldner. Gelangweilt schlenderten sie zwischen den beiden Zypressen hindurch, die die Grenze des Lehens markierten, und folgten dem Weg in die Senke mit den Olivenbäumen. Wie Krähen ließen sie sich nieder, lautlos, einer nach dem anderen, bis plötzlich die Wiese von ihnen übersät war.

Aurelio kniete neben dem Trog, als er den Ersten von ihnen bemerkte. Zwischen seinen Beinen hielt er Trotula eingeklemmt – die Ziege, die sie sich nach dem Einfall der Franzosen von ihrem damals letzten Geld gekauft hatten. Ihr Horn war besonders hell und wuchs schneller als das der anderen, weshalb man ihr häufig die Klauen schneiden musste. Und genau das hatte Aurelio gerade vorgehabt, als er die Söldner am Horizont bemerkte.

»Mutter!«, rief er. Er war froh, die widerspenstige Trotula bezwungen zu haben, und wollte sie nicht leichtfertig freigeben.

Antonia trat vor das Haus. Stumm und mit einer tiefen Falte zwischen den Augen blickte sie in die Senke. Den ersten Söldnern folgten weitere. Schon kamen die nächsten über den Hügel. Antonia verschränkte die Arme vor der Brust. Wieder tauchten zwei von ihnen zwischen den Zypressen auf.

»Komm rein«, sagte Antonia, »beeil dich.« Sie wandte sich um.

»Aber Trotula …«

»Sofort!«

* * *

Schon einmal hatte Aurelio miterlebt, wie ihr Hof von Söldnern heimgesucht worden war – als der Winter das neue Jahrhundert auf eisigen Händen vor sich hergetragen hatte. 1500. Das Heilige Jahr. Zehn Jahre war Aurelio damals alt gewesen. In Rom hatte Papst Alexander die heiligen Pforten geöffnet. Die Zukunft sollte Großes bereithalten, besser werden. Tommaso hielt nicht viel davon. Er glaubte nicht daran, dass ein Jahr heiliger war als ein anderes. Auch strebte er nicht nach Höherem. Es war so, wie es war. Und so, wie es war, hatte man es zu nehmen.

In Forlì hatte das Heilige Jahr mit viel Getöse Einzug gehalten. Angekündigt von dem dumpfen Gepolter zahlloser Trommeln und dem tausendfachen Klirren eiserner Rüstungen, war es durch den kalten Morgennebel herangewallt. Der Horizont hatte sich verdüstert, statt sich zu erhellen. Franzosen, Tausende. Ein ganzes Heer hatte Cesare Borgia, der Sohn Alexanders, angeheuert, um Caterina Sforza zur Aufgabe von Forlì zu zwingen.

Tommaso hatte den Kompanieführer vor der Tür seines Steinhauses empfangen. Antonia saß an der Feuerstelle und hielt Aurelio an sich gedrückt. Das hatte sie lange nicht mehr gemacht. Matteo, der schon siebzehn war, stand am Fenster und blickte durch den Spalt. Aurelio hätte auch gerne durch den Spalt geguckt. Er fand, er war viel zu groß, um noch von seiner Mutter umklammert zu werden.

»Auf welcher Seite steht Ihr?«, fragte der Söldner in gebrochenem Italienisch.

»Auf der Seite des Lebens«, entgegnete Tommaso mit fester Stimme.

Die Antwort schien den Kompanieführer zufriedenzustellen. Er war Söldner. Er stand auf der Seite dessen, der ihn bezahlte. Etwas anderes interessierte ihn nicht. Als sie vier Tage später weiterzogen, waren bis auf die Katze alle Tiere gegessen, die Felder verwüstet, das letzte Korn gemahlen und verspeist. Doch sie hatten Tommaso unbehelligt gelassen und weder Antonia noch Matteo oder Aurelio ein Haar gekrümmt.

* * *

Jetzt jedoch versammelten sich die eisenbewehrten Krähen in der Senke, und Tommaso war nicht mehr da. Vor drei Monaten, am kürzesten Tag des Jahres, war er gestorben – an einer Krankheit, für die niemand einen Namen gehabt hatte. Seitdem versuchten sie, den Hof alleine zu bewirtschaften. Es ging. Sie würden zurechtkommen, auch ohne Tommaso. So wie es war, hatte man es zu nehmen.

»Du schnürst ein Bündel mit dem Nötigsten«, befahl Antonia Matteo, »auf der Stelle. Aurelio, du spannst den Ochsen vor den Karren. Ihr verlasst den Hof zur anderen Seite. Giovanna, mach den Kleinen fertig.«

Matteo blickte aus dem Fenster in die Senke hinunter. »Das sind Soldaten des Papstes, Italiener. Die sind auf dem Weg nach Rom. Warum geben wir ihnen nicht einfach etwas zu essen und lassen sie durchziehen?«

»Ihr tut, was ich sage«, beharrte Antonia.

Matteo neigte den Kopf zur Seite. »Gefährlich sehen die nicht aus.«

»Das tun Wölfe auch nicht. Beeilung!«

»Wölfe sind Wölfe«, meinte Matteo.

»Söldner sind Söldner«, entgegnete Antonia. »Und Söldner ohne Krieg sind gefährlicher als Wölfe ohne Fressen. Manche töten schon aus Langeweile.«

»Was ist mit dir?«, fragte Aurelio, dem nicht entgangen war, dass Antonia bisher nur von »ihr« gesprochen hatte.

»Ich bin alt. Mir werden sie nichts tun.«

»Du willst alleine auf dem Hof bleiben?«, schaltete sich Giovanna ein, die dabei war, Luigi in eine Decke zu wickeln.

»Wenn wir ihnen einen unbewohnten Hof überlassen, wird am Ende nichts mehr davon übrig sein.«

Matteo und Aurelio warfen sich einen Blick zu. Ihre Mutter war noch störrischer als Trotula, die alte Ziege. Sie zum Mitkommen zu bewegen, wäre ein sinnloses Unterfangen.

»Wenn du bleibst, bleibe ich auch«, sagte Aurelio.

»Kommt nicht in Frage«, antwortete seine Mutter.

»Dann bleiben wir alle«, drohte Matteo.

»Also schön«, knurrte Antonia, »Aurelio kann bleiben. Du aber, Matteo, bringst deine Familie in Sicherheit. Darauf bestehe ich.«

Der Abschied gab sich den Anschein, ein gewöhnlicher zu sein. Matteo fuhr mit seiner eigenen, kleinen Familie zu Giovannas Eltern. Bereits gegen Abend würden sie ihr Ziel erreicht haben. In drei oder vier Tagen wären sie zurück.

Matteo klopfte seinem kleinen Bruder auf die Schultern. »Pass gut auf Mama auf«, sagte er.

Aurelio blickte in die Senke hinab. Sie sahen wirklich nicht gefährlich aus. »Keine Sorge«, antwortete er.

Als Matteo und Giovanna den kleinen Hügel hinauffuhren, der zum Apennin hin die Grenze des Lehens markierte, saß Giovanna an ihren Mann gelehnt und hielt den eingewickelten Luigi an sich gedrückt. Oben angekommen, drehte sie sich noch einmal um und winkte Antonia und Aurelio zu. Von Süden kommend strich ein erster, warmer Frühlingshauch über die Felder.

* * *

Antonia hatte sich getäuscht. Sie war alt, doch für ein Rudel gelangweilter Wölfe war sie nicht alt genug. Sie kamen näher, umkreisten das Haus, rochen das Fleisch. Keine zwei Stunden nachdem Matteo, Giovanna und Luigi sich auf den Weg gemacht hatten, schlug der Erste von ihnen mit der Faust gegen die Tür.

Es waren sechs. Auf der Wange desjenigen, der als Erster das Haus betrat, prangte eine schlecht verheilte Narbe, die seinen linken Mundwinkel nach oben zog, wodurch er andauernd ein schiefes Lächeln zur Schau trug. Die Männer, die hinter ihm in den Wohnraum drängten, waren von ähnlichem Schlag: erfahrene Söldner, die nie etwas anderes gemacht hatten, als anderen gegen Geld die Schädel einzuschlagen. Der Geruch nach lehmiger Erde, altem Schweiß und kaltem Eisen breitete sich aus.

Der Bart des einen war bereits ergraut, sein Kettenhemd gleich an mehreren Stellen ausgebessert worden. Die zwei, die als Letzte das Haus betraten, waren hingegen sehr jung, kaum älter als Aurelio und jünger als sein Bruder. Einer hatte ein glattes, kindlich-rundes Gesicht, dessen Blick verriet, dass er sehr viel lieber Viola da Gamba gespielt als das Schwert geführt hätte, das von seinem Gürtel baumelte. Für ihn war der Feldzug gegen Bologna sicher sein erster gewesen. Der andere war blond, trug einen gestutzten Bart und hatte wässrige, gleichgültige Augen, die Aurelio betrachteten, als sei er ein Insekt. Seine Schulterpanzer hingen an einem Lederriemen von seinem Hals herab.

»Meine Männer brauchen frisches Wasser«, sagte der Narbige.

Aurelio und seine Mutter wechselten einen Blick. Antonia nickte. Aurelio nahm die beiden Holzeimer und ging zur Tür, die von dem Blonden mit den leeren Augen verstellt wurde.

Da er keine Anstalten machte, die Tür freizugeben, sagte Aurelio: »Frisches Wasser gibt es im Brunnen, und der ist hinter dem Haus.«

Der Söldner trat ein Stück zur Seite.

Bis Aurelio mit den gefüllten Eimern zurückkehrte, hatten es sich die Männer wie selbstverständlich am Tisch bequem gemacht. »Kein Wort«, mahnte Antonias Blick. Aurelio befüllte einen Krug und stellte ihn in die Mitte. Antonia hatte sich in die Nische zurückgezogen, die zum Schlafplatz führte, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Die Furche zwischen den Brauen war auf ihre Stirn zurückgekehrt.

»Wie steht’s mit Wein?«, fragte der Narbige.

Sie aßen, was an Vorräten im Haus war. Ohne ein Widerwort stellte Antonia auf den Tisch, was sie an Essbarem finden konnte. Wann immer Aurelio einschreiten wollte, brachte ihr Blick ihn zum Schweigen. Gegen eine Meute, der ein Menschenleben nicht mehr bedeutete als ein warmer Platz zum Schlafen und ein voller Magen, begehrte man nicht auf. Nicht wegen etwas, das ersetzbar sein würde.

»Auch die anderen werden Hunger haben«, warf der Dickste in die Runde, der die Stimme eines Kastraten hatte.

Sein Kettenhemd, das beinahe bis auf die Knie herabreichte, spannte über dem Bauch und an den Oberschenkeln. Zwei Jahre in Bologna ohne einen Feldzug hatten ihn fett werden lassen.

»Ein Stück Fleisch würde ihnen guttun«, meinte der Alte.

Der Narbige strich sich über den zottigen Bart und blickte zu Antonia hinüber, die wieder den Platz in der Nische eingenommen hatte und sich unsichtbar zu machen versuchte. »Was habt ihr an Tieren auf eurem Hof?«

»Ich könnte Euch die Tiere in meinem Stall aufzählen«, antwortete Antonia, »am Ende aber würdet Ihr doch selbst nachsehen.«

Er tunkte das letzte Stück Brot in die Soße, lachte in die Runde und deutete mit dem Kinn zur Nische hinüber, als wolle er sagen: Gar nicht dumm, die Alte.

Nachdem er ohne zu kauen den letzten Bissen hinuntergeschlungen hatte, lehnte er sich zurück. »Dein Stall? Ich dachte, dein Mann sei nur eben in die Stadt gefahren?«

Antonia presste die Zähne aufeinander. Die ganze Zeit über hatte sie geschwiegen, und jetzt hatte sie sich doch verraten.

Der Anführer ließ die Hände auf den Tisch fallen und erhob sich: »Wenn das so ist, dann zeig ihn mir doch mal, deinen Stall.«

Aurelio trat hinzu: »Ich werde Euch den Stall zeigen«, beeilte er sich zu sagen.

»Du, mein schöner Jüngling«, der Narbige legte ihm lachend eine Hand in den Nacken und steuerte ihn an den frei gewordenen Platz, »darfst solange meinen Platz einnehmen.«

Er drückte Aurelio auf den Schemel. Die anderen lachten, ausgenommen die beiden Jungen.

Aurelio wollte sofort wieder aufspringen, doch der Dicke zu seiner Rechten hielt ihm bereits einen Dolch an die Kehle. Einen scharfen Dolch. Aurelio fühlte die Klinge kaum, dennoch rannen bereits erste Blutstropfen seinen Hals hinab. Mit diesem Dolch ließe sich mühelos jede Kehle durchtrennen. Und Aurelios wäre sicher nicht die Erste. Er spürte eine zweite Klinge – auf seinem Handrücken. Der Söldner links von ihm, dessen Schweißgeruch alle anderen Gerüche an ihm erstickte, hatte ebenfalls unbemerkt seinen Dolch gezogen und hielt ihn quer über Aurelios Handrücken. Eine kurze Bewegung würde ausreichen, ihm die Sehnen sämtlicher Finger zu durchtrennen.

»Tranquillo«, sagte der Anführer gedehnt. »Du wirst doch wohl den Platz in unserer Mitte nicht ausschlagen?«

Aurelio verstummte.

Die Pranke auf seiner Schulter bohrte sich schmerzhaft in Aurelios Muskeln. Er bemerkte, dass dem Daumen des Anführers der Nagel fehlte und die übrigen Nägel schwarz umrandet waren. Antonia konnte es nicht leiden, wenn man sich mit Erde unter den Nägeln zu Tisch setzte.

Der Dolch des Dicken drückte sich in Aurelios Kehle. »Du bist etwas gefragt worden«, sagte er mit seiner Fistelstimme.

»Nein«, presste Aurelio heraus.

»Na bitte.« Die Finger mit den verdreckten Nägeln ließen von seiner Schulter ab. »Komm, meine hübsche Stute«, sagte der Anführer zu Antonia.

Wieder lachten alle außer den Nachwuchssöldnern.

Als er Antonia vor sich her aus der Tür schob, legte der Narbige ihr seine Hand auf den Hintern und drückte seine Finger hinein – dieselben Finger, die sich einen Moment zuvor in Aurelios Muskeln gebohrt hatten. Sie wich seinem Griff aus, blieb aber stumm. Aurelio warf sie einen Blick zu, der sich ihm ins Gedächtnis einbrannte: warm und voller Mitgefühl. Sie glaubte zu wissen, was sie im Stall erwartete, doch für ihre Familie hätte sie jedes Schicksal auf sich genommen. Ihr Blick sollte Aurelio ein Trost sein. Er sollte sich nicht um sie sorgen. Was immer jetzt kam: Sie würde es erdulden.

Verzweifelt wandte Aurelio den Blick ab. Plötzlich schien der Raum seine Gestalt zu verändern, die Deckenbalken sich zu biegen, die Wände sich nach außen zu wölben – als wolle sich das Haus von innen nach außen stülpen. Sogar der Tisch bog sich unter einer unsichtbaren Last. Er hatte das Gefühl, sein Herz bliebe stehen.

Bevor er die Tür hinter sich schloss, warf der Anführer über die Schulter hinweg ein verschwörerisches Lächeln in die Runde. »Kann ein Weilchen dauern.«

* * *

Aurelios Herz blieb nicht stehen. Nicht, als er die ersten unterdrückten Schreie aus dem Stall vernahm; nicht, als der Anführer zurückkehrte, mit schweißglänzender Stirn, und dem Dicken mit einem Kopfnicken bedeutete, dass die Reihe an ihm war; nicht, als dem Dicken der Alte folgte und dem Alten der Stinkende. Antonia versuchte, die Qualen möglichst lautlos über sich ergehen zu lassen. Dabei war die Stille für Aurelio noch unerträglicher, als es die unterdrückten Schreie waren. Er wusste, dass sie ihr Leid von ihm fernhalten, ihn schonen wollte. Er spürte Tränen auf seiner Wange. Nie hatte er sich so geschämt, sich so sehr verachtet, eine solche Ohnmacht empfunden – als kreise siedende Galle statt Blut in seinen Adern.

Nach den Alten kamen die Jungen an die Reihe. Zunächst der Blonde mit den Fischaugen. Er sah Aurelio lange an, bevor er sich erhob. Aurelio bemerkte die bläulichen Adern unter seiner milchigen Gesichtshaut, die wie aufgemalt aussahen. Er hängte seinen Schulterpanzer über die Stuhllehne und verließ den Wohnraum, als folge er einer unhörbaren Stimme. Der andere Junge, der mit dem weichen Gesicht und den warmherzigen Augen, hielt seinen Blick zu Boden gerichtet. Seine Finger kratzten nervös am Tischbein herum.

Antonias Schrei fuhr Aurelio bis in die Spitzen seiner Finger und Zehen hinein. So hatte sie bei keinem der anderen geschrien. Dies war kein Schmerzensschrei, dies war Panik, Entsetzen, Flehen. Ein Ruck durchfuhr ihn, doch bevor er aufspringen und seiner Mutter zu Hilfe eilen konnte, brachte ihn die Klinge an seinem Hals bereits an den Tisch zurück. Aurelio wünschte sich, der Dicke würde ihm mit seinem Dolch das Herz durchbohren, damit es endlich zu schlagen aufhörte. Doch es schlug unbarmherzig weiter. Die anderen blickten unbeteiligt in die Gegend, während das Kinn des jungen Söldners noch weiter auf die Brust sank.

Als der Blonde zurückkehrte, um wieder seinen Platz gegenüber dem von Aurelio einzunehmen, ließ er die einzige menschliche Regung erkennen, die Aurelio an ihm sehen sollte: Er lächelte. Seine Augen jedoch waren Stein gewordenes Eis. Der Geruch von Blut klebte an ihm.

»Was ist?«, murrte der Anführer in Richtung des anderen Nachwuchssöldners.

Widerstrebend stand der Junge mit den braunen Augen auf, mied den Blick seiner Mitstreiter und verließ gesenkten Hauptes das Haus. Nur wenig später kehrte er mit schweren Schritten zurück, setzte sich an seinen Platz und starrte wieder auf die Stelle zwischen seinen Füßen.

»Du kannst jetzt gehen«, sagte der Narbige mit dem schiefen Lächeln.

Er musste seine Aufforderung wiederholen, ehe Aurelio begriff, dass er gemeint war.

»Und lass dir nicht einfallen, noch einmal herzukommen. Heute Nacht gehört das Haus uns.«

Das Letzte, was Aurelio wahrnahm, bevor er das Haus verließ, waren die blutigen Finger, mit denen der Blonde seinen, Aurelios, Lieblingsbecher zum Mund führte.

* * *

Einer der Söldner hatte die Pferdedecke über Antonia gebreitet. Es war nicht schwer zu erraten, welcher. Aurelio konnte den Sanftmütigen mit den dunklen Augen vor sich sehen, wie er zögerlich den Stall betrat, seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt fand, die alte Decke vom Gatter nahm, sie über Antonias leblosen Leib breitete und sich schnellstmöglich von ihr abwand. Was brachte jemanden mit einem so weichen Herzen dazu, Söldner zu werden?

Aurelio verharrte vor der steinernen Schwelle wie vor einer unsichtbaren Schranke. Wäre da nicht das viele Blut gewesen, das das Stroh, auf dem seine Mutter lag, braun gefärbt hatte, hätte man glauben können, sie schliefe. Aurelio wusste, dass sie tot war, noch ehe er den Stall betrat. Der Geruch ihres Blutes kroch ihm unter die Haut. Schließlich trat er über die Schwelle und schloss die Tür. Ein eiserner Reif legte sich ihm um die Brust, und er musste sich gewaltsam aufrichten, um Atem zu holen. Ihre Worte vom Mittag kamen ihm in den Sinn: Manche töten schon aus Langeweile. Aurelio kauerte sich neben Antonia auf den gestampften Lehmboden. Dort blieb er. Wenigstens im Tod wollte er ihr beistehen.

Nach und nach senkte sich die Dämmerung auf den Stall herab. Die Ritzen zwischen den Brettern verdüsterten sich, aus Blau wurde Grau, der Raum zog sich in die Dunkelheit zurück und löste sich schließlich auf. Aus der Senke drangen Geräusche zu Aurelio herauf. Geräusche aus einer anderen Welt. Die Söldner brieten ihre Schweine, tranken ihren Wein, verfeuerten ihr Holz, pissten zigfach gegen jeden Olivenbaum, füllten die Senke mit ihren Exkrementen. Nur Trotula hatten sie am Leben gelassen. Anders als Aurelios Mutter war ihnen die Geiß tatsächlich zu alt gewesen. Jetzt lag sie zu Antonias Füßen und leckte ihr von Zeit zu Zeit die Zehen, die unter der Decke hervorlugten. Wie bei einem Lämmchen. Aurelio spürte weder Hunger noch Durst, noch die Kälte um sich herum – nur eine schwarze Leere von solcher Kraft, dass er gar nicht erst den Versuch unternahm, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Falls er in dieser Nacht an irgendetwas dachte, so wusste er später nichts mehr davon.

* * *

Im Morgengrauen erhob sich Gemurmel. Harnische wurden geschnürt, Befehle gerufen, die nächtliche Steife aus den Gliedern vertrieben. Die Söldner zogen weiter, wie sie gekommen waren: unaufgeregt, gleichgültig. Für sie unterschied sich dieser Tag durch nichts von tausend anderen. Nach und nach entfernte sich das Geklirr ihrer Rüstungen Richtung Süden. Gegen Mittag wurde es still. Die ersten Schwalben, die vor zwei Tagen begonnen hatten, ihre Nester zu bauen, flatterten aufgeregt im Giebel umher.

Aurelio hatte sich aufgesetzt. Irgendwann in der Nacht war unbemerkt sein Tränenfluss versiegt. Ein einziges Mal nur hatte er seine Mutter berührt – um ihre erloschenen Augen zu schließen. Ihre Haut schimmerte wie Marmor. Nichts in ihrem Gesicht deutete auf die Qualen ihres letzten Tages hin. Trotula wurde unruhig. Sie verlangte nach Futter. Aurelio hätte nicht sagen können, was schwerer wog: der Schmerz oder die Scham. Ein Gewicht, das ihn niederdrückte wie ein bleiernes Joch. Er hatte es nicht verhindert, hatte reglos am Tisch gesessen, inmitten der Söldner, hatte mit angehört, wie sie sich reihum an seiner Mutter vergingen. Wäre Tommaso noch am Leben gewesen, er hätte sie zu beschützen gewusst. Wie er es schon einmal getan hatte. Noch immer wünschte sich Aurelio, sein Herz möge ihn erlösen und aufhören zu schlagen. Doch es weigerte sich, schlug weiter, mit der Beharrlichkeit eines Steins. Eine wohltuende Vorstellung. Ein Stein. Zu Stein werden. Nicht mehr atmen, nie wieder fühlen oder denken müssen. Kein Schmerz. Kein Leid. Keine Schuld. Doch er würde nicht zu Stein werden. Es gab nur Fühlen, Denken, Leiden. Solange sein Herz schlüge, würde es keine Chance geben, nicht zu sein.

Es begann bereits zu dämmern, als Aurelio endlich aufstand. Er nahm Trotula und führte sie nach draußen. Niemals brächte er es über sich, seine tote Mutter anzurühren, ihren Körper zu entblößen, ihren nackten, entstellten, misshandelten Leib anzusehen, die tödlichen Wunden, die der blonde Söldner ihr mit seinem Dolch zugefügt hatte. Und Matteo sollte sie auch nicht sehen. Nicht so – auf einem Lager aus blutgetränktem Stroh. Aurelio trug nach draußen, was von Nutzen war, und scheuchte die beiden Katzen aus dem Stall. In der Tür stehend, warf er einen Blick zurück auf Antonia, deren milchig schimmernde Füße und das halb unter ihren Haaren verborgene Gesicht im Zwielicht des Stalls seltsam entrückt anmuteten.

Gefolgt von Trotula stieg Aurelio in die Senke hinab, wo ihn ein Geruch aus verkohltem Fleisch, Kot und Urin empfing. Er betrachtete die zertrampelte Wiese, die abgenagten Knochen, richtete seinen Blick hinauf zur Scheune, die neben dem Haus stand wie ein Kalb neben seiner Mutterkuh, zog einen noch glühenden Scheit aus der Asche und ging zurück. Der Wind kam von Osten. Das Feuer würde nicht auf das Haus überspringen. In der Tür stehend, betrachtete er seine Mutter zum letzten Mal. Im selben Augenblick quollen neue Tränen hervor. Diese Schuld würde er für den Rest seines Lebens mit sich herumtragen. Schnell schleuderte er den glühenden Scheit ins Stroh, schlug die Tür zu und sank vor dem Stall in sich zusammen.

Das Stroh fing sofort Feuer. Aurelio hörte das zornige Knistern durch die Tür hindurch. Die Nächte waren kalt und feucht, das Holz noch klamm. Es dauerte einige Zeit, bis auch die dicken Balken das Feuer an sich heranließen und schließlich das Dach zu brennen anfing. Dann allerdings brachen sich die Flammen ungehindert Bahn, und in kürzester Zeit ragte eine alles verschlingende Feuersäule in den farblosen Himmel empor. Die Schwalben kreisten ungläubig um den träge aufsteigenden Rauch. Sie würden sich einen neuen Ort für ihr Nest suchen müssen.

* * *

Am dritten Tag kehrten Matteo, Giovanna und der kleine Luigi auf den Hof zurück. Statt des Stalls und seines Bruders fand Matteo Reste schwelender Asche und einen auf dem Trog kauernden, teilnahmslos vor sich hin blickenden Aurelio vor, der ihn ansah, als kenne er ihn nicht. Noch nicht einmal das verkrustete Blut hatte er sich vom Hals gewaschen. Aurelio musste nicht viel sagen. Sein Bruder und er hatten sich stets ohne viele Worte verstanden.

»Im Stall«, gab er nur zur Antwort, als Matteo wissen wollte, wo ihre Mutter zu finden sei.

Matteo verstand. Gut genug jedenfalls, um seinem Bruder keine Vorwürfe zu machen.

»Ich werde gehen«, sagte Aurelio jetzt wie zu sich selbst.

»Nach Rom«, antwortete Matteo, »ich weiß. Vater hat es mir gesagt.«

* * *

Es ist Zeit zu gehen. Das waren die Worte gewesen, die Tommaso seinem jüngsten Sohn mit auf den Weg gegeben hatte, letztes Jahr, auf dem Sterbelager. Für beide von uns. Aurelio hatte es den anderen verschwiegen. Er hatte den Tod seines Vaters nicht benutzen wollen, um seiner Familie den Rücken zu kehren. Vielleicht aber, so dachte er jetzt, hatte Tommaso recht gehabt. Es war wohl an der Zeit, zu gehen. Nachdem die Söldner weitergezogen waren, war ihm die Rückkehr ins Haus unmöglich gewesen. Der Anblick der achtlos vom Tisch abgerückten Schemel, die erloschene Feuerstelle, das Schlaflager von Tommaso und Antonia, sein Lieblingsbecher … Er hatte sich gerade noch schnell genug abwenden können, um sich nicht in den Wohnraum zu übergeben.

»Er hat mir aufgetragen, dich fortzuschicken, wenn du nicht von selbst gehst«, erklärte Matteo. »Ich bin froh, dass du es nicht so weit hast kommen lassen.«

Aurelio zweifelte daran, dass sein Bruder ihm die Wahrheit sagte. Doch er hielt ihm zugute, dass er ihm den Abschied erleichtern wollte.

»Was wird aus dir?« Fragend sah er ihn an. »Und aus Giovanna und Luigi?«

»Ich werde einen neuen Stall bauen. Was sollte ich wohl sonst tun?«

Giovanna kam aus dem Haus. Wie immer hielt sie Luigi auf dem Arm, der schon jetzt wie ein kleiner Matteo aussah. Sie hatten Saatgut und frisches Mehl mitgebracht.

»Hier«, mit ihrem freien Arm drückte sie Aurelio an sich und reichte ihm ein verschnürtes Tuch.

Aurelio ertastete drei frische, noch warme Brotlaibe.

»Für den Weg«, sagte Giovanna fast entschuldigend.

Aurelio betrachtete das, was ihm von seiner Familie geblieben war: seinen Bruder, Giovanna, Luigi. Sie würden zurechtkommen. Es stimmte, was ihm Tommaso auf dem Sterbelager gesagt hatte: Matteo war ein guter Bauer, und Giovanna alles, was man sich von einer Frau wünschen konnte. Er und sein Bruder sollten einander nicht im Weg stehen.

II

Der Wind hatte gedreht. Er kam jetzt aus Westen und blies die kalte Luft von den Bergen herunter. Bereits in der Nacht hatte Aurelio, der in Decken gehüllt hinter dem Brunnen geschlafen hatte, ihn durch die Ritzen des Hauses pfeifen hören. Er zog seinen Umhang enger, schulterte den Sack mit seinen Habseligkeiten und folgte dem Weg hinunter in die Senke mit den Olivenbäumen. Bei den Bauern in der Gegend hatte der Olivenhain seiner Familie den spöttischen Beinamen »i nebulosi« eingetragen, »die Umnebelten«, weil sich dort manchmal ganze Tage lang der Nebel hielt. Dann wurden aus den Bäumen geisterhafte Fabelwesen, die aus dem Nichts kommend plötzlich ihre Arme nach einem ausstreckten und Aurelio bis in die Träume seiner Kindheit hinein verfolgt hatten. Dafür gediehen in dieser Senke, wie Tommaso stets behauptet hatte, die saftigsten und aromatischsten Oliven zwischen Imola und Bologna.

Heute Morgen jedoch war die Luft von schneidender Klarheit. Der Westwind hatte jeden Rest von Nebel vertrieben, und die Tautropfen an den Grashalmen glitzerten im ersten Tageslicht wie Diamanten. Kaum hatte Aurelio die Senke durchquert und die beiden Zypressen passiert, sah er auch schon in der Ferne den Umriss des hochaufragenden Campanile von Forlì sich gegen den blassrosa Himmel abzeichnen. Bei Ostwind hätten sie die Glocken bis zu ihrem Hof hin läuten hören. Als später die mächtige Zitadelle, von einem rötlichen Strahlenkranz umgeben, in Aurelios Blickfeld rückte, hielt er kurz inne. Noch heute sprachen die Leute, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, in ehrfürchtigem Ton davon, wie Caterina Sforza ein ums andere Mal die Armee Cesare Borgias zurückgeschlagen hatte – bis jeder Widerstand zwecklos geworden war.

Die Piazza Saffi war bereits von morgendlichem Leben erfüllt. Zwei Männer wurden von einer belustigten Menge dabei beobachtet, wie sie versuchten, einen störrischen Bullen über den Platz zu zerren; vor der noch verschlossenen Werkstatt des Scherenmachers peitschten drei Kinder einen Holzreifen über das Pflaster; eine Gruppe von Frauen stand, ihre Waschkörbe vor sich auf dem Boden, am Brunnen und schwatzte. Aurelio hatte diesen Ort immer gemocht: die Menschen, die Geräusche der Stadt, das Leben, das so viel größer war als er selbst. Doch heute, das spürte er, würde er hier nicht einmal für die Dauer eines Ave Maria zur Ruhe kommen. Als die Glocken zur Tertia läuteten und der halsstarrige Bulle sich losriss, um schnaufend über den Platz zu galoppieren und unter den Flüchen seiner Verfolger in einer Seitenstraße zu verschwinden, ging Aurelio zur Gruppe der Wäscherinnen. Dort erkundigte er sich nach dem Weg zur alten Römerstraße, schulterte seinen Sack und eilte aufrecht dem Stadttor, der Sonne und seinem neuen Leben entgegen.

Alles um ihn herum roch nach Aufbruch. Pflanzen, die ihn sein ganzes Leben umgeben hatten, verströmten einen Duft, der ihn schwindeln machte. Der Geruch der violett blühenden Rosmarinsträucher etwa oder die in der Morgensonne schwellenden Piniennadeln. Selbst das alte Straßenpflaster, das erst seine feuchte Haut abstreifte, um sich anschließend so schnell zu erhitzen, dass Aurelios Füße bald von unten gewärmt wurden, verbreitete einen Geruch, der ihm wie eine Verheißung erschien und ihn unwiderstehlich vorwärtszog.

* * *

Am Nachmittag des ersten Tages begegnete er einem verwitweten Vinattiere, einem verängstigten Mann mit Trinkernase, der durch seinen Buckel noch kleiner wirkte, als er ohnehin war. Er stand neben seinem mit Fässern überladenen Wagen, betrachtete ratlos die gebrochene Deichsel und hielt Aurelio zunächst für einen Wegelagerer. Der jedoch besah sich den Schaden und verschwand im Gebüsch, um kurz darauf mit einem Ast von der Dicke eines Unterarms zurückzukehren.

Der Vinattiere näherte sich wie ein scheues Tier. »Was habt Ihr vor?«, fragte er, als Aurelio begann, den Ast mit seinem Messer zu bearbeiten.

»Ich schnitze Euch eine neue Anze«, gab Aurelio zurück.

Der Vinattiere reckte seinen Hals, als werde er Zeuge eines Wunders: »Ah.«

Sobald er seine Fahrt fortsetzen konnte, hatte sich das Selbstbewusstsein des Mannes plötzlich vervielfacht, und er schien um eine Handbreit gewachsen zu sein. »Ihr seid heute mein Gast«, erklärte er, »keine Widerrede.«

Den folgenden Tag verbrachte Aurelio mit einem Kopf, der ihm mit jedem Schritt schmerzhaft die ungezählten Sester Wein in Erinnerung rief, die der Vinattiere ihm aufgenötigt hatte, kaum dass sie dessen Haus erreicht hatten.

Umso größer war die Erleichterung, als am Nachmittag endlich die Silhouette von Rimini in der Ferne auftauchte. Sobald er sich innerhalb der Stadtmauern befand, kehrte er im ersten Gasthof ein, den er fand. »Die Ähre« bestand im Wesentlichen aus zwei Räumen. Im vorderen wurde den Gästen an langen Tischreihen das Essen vorgesetzt, im hinteren schliefen sowohl Mensch als auch Tier, wobei die Pferde, Ochsen und Maultiere in der Mitte des Raumes an Tröge angebunden wurden, während ihre Besitzer auf einem die Wände säumenden Podest nächtigten, eine Armeslänge von ihren Tieren entfernt.

Der schwere Geruch von lebendem und gebratenem Fleisch füllte beide Räume bis in den letzten Winkel. Während des Essens konnte Aurelio kaum die Augen aufhalten. Die Gespräche um ihn herum schlugen wie Wellen über ihm zusammen. Als er mit erschöpftem Lächeln zum wiederholten Male den Wein ablehnte, den die Wirtin stets vor seinem Platz abstellte, zwinkerte sie ihm zu, als teilten sie eine stumme Übereinkunft. Später, die Müdigkeit drückte ihm bereits die Lider zu, zeigte sie ihm sein Lager. Da er kein Tier bei sich führte, wies sie ihm eine Stelle in der hinteren Ecke zu, abseits der Tiere. Anschließend rollte sie eine frische Matte für ihn aus, damit er, wie sie mit einem zweiten Zwinkern erklärte, keine »ungebetenen Besucher« fürchten müsse. Auf die Frage, was er ihr schuldig sei, erhielt Aurelio ein weiteres Augenzwinkern sowie die Antwort, seine Schuld sei bereits von höherer Stelle beglichen worden. Ihrer. Er schlief bis zum Morgen und hatte nicht die geringste Erinnerung an die Nacht.

* * *

Am Morgen des dritten Tages ließ Aurelio Rimini hinter sich. Er ging jetzt auf der alten Via Flaminia, die, so viel konnte er auf den römischen Meilensteinen entziffern, von Arminium nach Roma führte. Bis zum Ziel seiner Reise würde er diese Straße nicht mehr verlassen. Er tastete nach dem Beutel mit den Münzen, den er sich unter seinem Hemd um die Brust geschnürt hatte. Noch keinen einzigen Grosso hatte er ausgegeben, obwohl er zwei bequeme Nachtlager erhalten hatte und gut bewirtet worden war.

Der Meilenstein, eine Säule aus übereinandergeschichteten Steintrommeln, die früher um die sechs Ellen hoch gewesen sein musste, lag umgestürzt im Graben, die einzelnen Teile durcheinandergewürfelt. Eine Eidechse verkroch sich träge zwischen den Blöcken, als Aurelio sich auf einer der Trommeln niederließ. Er setzte den Sack im Gras ab, zog seine Schuhe aus und bewegte die Zehen in der Mittagssonne. Als Kind hatte Tommaso ihm erklärt, was es mit den Inschriften auf sich hatte, die in die Säulen eingraviert waren. Auf jedem Meilenstein stand der Name seines Erbauers, von wo nach wo die Straße führte und wie weit es bis nach Rom war. Tommaso hatte ebenso wenig lesen können wie Aurelio, doch er kannte das römische Zahlensystem und erklärte seinem Sohn, wie man es entzifferte.

Die Inschrift der Trommel war verwittert. Aurelio erkannte Buchstaben, die sich zu Wörtern zusammensetzten, andere standen für Ziffern. Er musste halb unter den Stein kriechen, um sie vollständig aneinanderzureihen. CCIII. Zweimal hundert und drei. Zweihundertdrei Meilen. Aurelio überlegte: Wenn er pro Tag zwanzig Meilen zurücklegte, wäre er in zehn Tagen in Rom. Er schloss die Augen und spürte die Wärme auf seinem Gesicht. Nur zehn Tage noch! Er nahm seine Schuhe aus dem Gras und stellte sie auf den Stein.

Neben seinem Messer und den zehn Dukaten und sechs Grossi, die ihm noch verblieben waren, stellten die Schuhe Aurelios kostbarsten Besitz dar. Er hatte lange gezögert, ehe er sie nach Tommasos Tod beim Calzolaio in Forlì in Auftrag gegeben hatte. Dabei wäre er beinahe der Versuchung erlegen, sich ein Paar Kuhmaulschuhe anfertigen zu lassen, wie sie in der Stadt seit einiger Zeit immer häufiger zu sehen waren. Aurelio gefielen die modischen Schuhe sehr, auch wenn Matteo meinte, sie sähen aus, als sei ihren Besitzern der Campanile auf die Füße gefallen. Doch dann erinnerte er sich der Worte seines Vaters, dass er niemals vergessen solle, wer er war und woher er kam, und er entschied sich für ein Paar Bauernschuhe – allerdings nicht ohne beim Schuhmacher eine doppelte Sohle in Auftrag zu geben und ein besonders dickes, aber geschmeidiges Leder sowie eine Schnalle auszuwählen, wie sie auch bei den modischen Schuhen zu finden war. Um sie zu bezahlen, hatte Aurelio beim Geldwechsler in Forlì die kostbaren zwölf Fiorini, die Tommaso ihm auf dem Sterbelager gegeben hatte, in Dukaten umgetauscht und dem Schuhmacher mit schweißnassen Händen die vereinbarte Summe von einem Dukaten und vier Grossi auf die Werkbank gezählt.

Er nahm einen Schuh und drehte ihn in den Händen. Die Schnalle funkelte stolz in der Sonne. Mit diesen Schuhen, dessen war er sich sicher, würde er den Weg nach Rom in nur acht Tagen bewältigen.

»Er wird dich doch wohl nicht vergessen haben?«

Aurelio musste eingenickt sein. Er hatte den Wagen nicht kommen hören. Im Gegenlicht erkannte er den Umriss einer Frau, die keine Kopfbedeckung trug und deren nachlässig hochgesteckte Haare leuchteten wie ein brennender Helm. Ihre Stimme war fest und freundlich. Und sie war allein.

Aurelio nahm seinen Schuh aus dem Schoß und stellte ihn zu dem anderen zurück. »Wer?«

»Der Engel, der dich abholen sollte.«

Aurelio war zu überrascht für eine Antwort.

»Du siehst aus, als wartetest du auf einen Engel, der dich abholt«, erklärte die Frau.

Noch immer fiel Aurelio keine Antwort ein. Was sollte er schon sagen? Dass er verstanden hatte, was sie meinte, aber nichts zu erwidern wusste?

»Wie wär’s mit deinem Namen, kleiner Engel?« Sie schien seine Gedanken zu lesen. »Oder hast du keinen?«

»Doch«, gab Aurelio zurück.

»Und?« Eines ihrer Maultiere wackelte geduldig mit den Ohren. »Gibst du ihn auch preis?«

Aurelios Befangenheit verstärkte sich noch, als sie ihre Arme über den Kopf nahm, um ihren Haarknoten zu lösen. Das blonde Haar ergoss sich in sanften Wellen über ihre Schultern. Hätte sie das auf dem Markt in Forlì gemacht, wäre kein Mann auf dem Platz gewesen, der sich nicht den Hals verreckt hätte. Er selbst eingeschlossen.

»Aurelio«, stieß er hervor.

»Aurelio also, schön, schön«, sagte sie, als sei der Name ganz zu ihrer Zufriedenheit.

Aurelio überlegte, was sie wohl als Nächstes von ihm würde wissen wollen. Er musste nicht lange warten, um es herauszufinden.

»Und wohin wird seine Reise ihn wohl führen, den Herrn Aurelio?«

»Nach Rom«, gestand er. Sein Plan erschien ihm nach wie vor anmaßend.

»Hört, hört. Nach Rom also.«

Aurelio schwieg. Ihre Fragen waren keine richtigen Fragen, jedenfalls wusste er nichts auf sie zu antworten. Und irgendwie schien die Frau an Antworten auch nicht interessiert zu sein.

»Und wie gedenkt er, dorthin zu gelangen? Auf Schusters Rappen?«

Aurelio schirmte seine Augen ab, um sie besser erkennen zu können. Sie hatte ein ovales Gesicht und einen herausfordernden Blick, mit dem sie ihn unverhohlen musterte. »Certo«, antwortete er, sicher.

Wieder hob sie ihre Arme und führte die Hände hinter den Kopf. Das konnte kein Zufall sein. Sie wusste um die Wirkung dieser Geste, musste darum wissen. Eine Strähne glitt über ihre Schulter.

»Hör zu«, sagte sie nach einer Pause, »du und ich, wir haben … nun, wir haben vermutlich nicht dasselbe Ziel«, sie ließ ein helles Lachen hören, »aber wir haben denselben Weg. Fünf Grossi, und der Platz neben mir ist deiner.«

Fünf Grossi! Beinahe die Hälfte dessen, was er dem Schuhmacher in Forlì gezahlt hatte. Aurelio nahm einen Schuh und zeigte ihn vor. »Aber ich hab doch meine Schuhe«, sagte er.

Die Frau ließ die Arme sinken. »Aber er hat doch seine Schuhe«, wiederholte sie.

»Mit denen brauche ich keine zehn Tage«, bekräftigte Aurelio.

»Zehn Tage.«

»Höchstens.«

Die Frau richtete sich auf. Danach war auch der letzte Rest Freundlichkeit aus ihrer Stimme gewichen. »Na, dann laufe er eben!« Sie wandte ihren Blick nach vorn und ließ die Zügel schnalzen, worauf sich die Maultiere pflichtschuldig in Bewegung setzten.

Aurelio wartete, bis der Wagen aus seinem Sichtfeld entschwunden war, dann zog er seine Schuhe an und folgte ihm.

III

Ihr Wagen stand zwischen denen der anderen Gäste auf dem gestampften Platz neben dem Gasthaus. Für einen Moment erwog Aurelio, an »La Campana«, der Glocke, vorbeizugehen. Die Begegnung vom Mittag hatte ihn in einen Zustand nervöser Erregung versetzt, der ihn noch Stunden später nicht verlassen hatte. Ohne es erklären zu können, hatte er sich in Gegenwart der Frau wie ein Kind gefühlt, das bei etwas Verbotenem ertappt worden war. Doch Hunger und Müdigkeit waren größer als der Wunsch, ihr nicht noch einmal zu begegnen. Außerdem brach bereits die Dunkelheit herein, und der Wind trug eine kalte, salzige Luft vom Meer herüber. Den Weg fortzusetzen hieße womöglich, unter freiem Himmel schlafen zu müssen und Knoten in der Lunge oder gar die Skrofulose zu riskieren, die man davon angeblich bekommen konnte.

Aurelio hörte sie, bevor er sie sah. Ihr helles Lachen übertönte mit Leichtigkeit die Rufe und das Gemurmel der übrigen Gäste. Vorsichtig wagte er einen Blick in das Zimmer hinter der Feuerstelle. In diesem Raum saßen zumeist eine Frau und ein Mann zusammen. Sie hatte ihre Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die sich kunstvoll um ihren Kopf schlangen. Ihr überlebensgroßer Schatten tanzte an der Wand. Hier, im hinteren Gastraum der »Glocke«, irgendwo zwischen Porto del Colombarone und Pesaro, war sie unbestreitbar die Königin. Der Mann zu ihrer Rechten saß auf der Bank wie auf einem Pferderücken und redete mit den weit ausholenden Gesten eines Lehnsherren auf sie ein.

Aurelio zog sich in den Vorraum zurück und bat um Essen und ein Nachtlager. Er hatte noch nicht viel von der Welt gesehen, aber genug, um zu wissen, dass er nicht fürchten musste, ihr heute noch im Schlafsaal für das einfache Volk zu begegnen.

* * *

Er lag auf dem Rücken, den Blick auf die Deckenbalken über sich gerichtet, und lauschte dem Gesang der Vögel. Die ersten Stunden des Tages waren ihm stets die liebsten: das Erwachen, das erste Licht, die zarten Gerüche, der Beginn des Neuen. Er hatte den Geschmack von Salz auf der Zunge. Das Meer konnte nicht weit sein. Doch sein Ziel lag in einer anderen Richtung: im Süden. Lautlos packte er seine Sachen und verließ den Gasthof.

Ihr Wagen nahm in der Dämmerung gerade erst Gestalt an, und als Aurelio eine Viertelmeile gegangen war und sich noch einmal umdrehte, war die »Glocke« nicht mehr als die Erinnerung an einen bereits verblassten Traum.

Drei Meilen später begann die Sonne, seinen Nacken zu kitzeln und seinen Rücken zu wärmen. Wie jeden Morgen war Aurelio in Gedanken bei seinem Vater. Keiner von ihnen, nicht einmal Tommaso selbst, hatte seinen Tod begreifen können. Zunächst hatte er sein Augenlicht verloren. Aurelio war es als Erstem aufgefallen. Sein Vater wollte die Leiter zum Schlaflager hochsteigen, die Matteo mittags nach draußen getragen hatte, um eine undichte Stelle im Dach zu reparieren. Seine Hand tastete in der Nische nach der Leiter, und plötzlich wurde Aurelio klar, was ihm an seinem Vater seit einiger Zeit so merkwürdig erschienen war.

»Vater, du siehst nicht mehr richtig.«

Der gesamte Wohnraum erstarrte. Lediglich das brennende Holz in der Feuerstelle ließ weiter Schatten über die Wände tanzen. Antonia hielt die Schüssel von sich gestreckt, als erwarte sie, dass jemand sie ihr aus den Händen nahm, Matteos Miene versteinerte, Giovanna, Matteos schöne Frau mit dem kleinen Luigi auf dem Arm, zog sorgenvoll die Stirn in Falten.

»Unsinn«, gab Tommaso zurück.

Aurelio ließ sich nicht beirren. »Aber die Leiter steht da nicht.«

»Das sehe ich auch«, erwiderte sein Vater.

»Nein, das tust du nicht.«

Von da an verschlechterte sich Tommasos Zustand von Tag zu Tag. Er klagte nicht über Schmerzen, auch behauptete er, sich nicht krank zu fühlen. Und dennoch: Nach der Ernte hatte er noch wie jedes Jahr mit eiserner Hand den Acker gepflügt und mit sicherem Tritt den Ochsen über das Feld getrieben, bis dieser vor Erschöpfung stehengeblieben war. Jetzt schwanden seine Kräfte wie an einem Spätsommertag, wenn die Sonne eben noch heiß und senkrecht vom Himmel herunterbrannte und im nächsten Moment bereits die Dämmerung hereinbrach. Bis der Winter den Herbst ablöste, konnte er sich nicht mehr von seinem Lager erheben.

Am Abend, als er starb, wachte Aurelio an seinem Bett. Tommasos Augen waren zur Decke gerichtet. Im Gegenlicht betrachtete Aurelio die verschleierten Pupillen. Es war, als hätten sich die Augäpfel mit einer grauen Flüssigkeit gefüllt. Die Finger seines Vaters tasteten suchend auf dem Lager umher. Es dauerte eine Weile, ehe Aurelio begriff, dass sie auf der Suche nach seiner, Aurelios, Hand waren. Tommaso wollte die Hand seines Sohnes halten. Oder von ihr gehalten werden. Vorsichtig ergriff er die Hand seines Vaters, die Finger dünn wie Krähenfüße.

Tommaso schloss die Augen. »Du warst mir immer das Liebste auf dieser Welt, das weißt du.«

Ja, das wusste Aurelio, wenngleich es ihm unangenehm war. Er wollte nicht mehr oder anders gemocht werden als sein Bruder.

»Das weißt du«, wiederholte Tommaso.

»Ja, Vater.«

»Ich glaube, es ist, weil du so anders bist als ich, während mir Matteo so ähnlich ist. Deine Talente sind mir fremd. Und diese Schönheit … Keiner, der sich nicht nach dir umdrehte, wenn wir in die Stadt fahren.«

Aurelio betrachtete die Stelle am Hals seines Vaters – wo sich das Blut seinen Weg durch die Adern bahnte.

»Matteo ist ein guter Bauer«, fuhr Tommaso fort, »und Giovanna ist alles, was man sich von einer Frau wünschen kann. Ihr solltet euch nicht im Weg stehen.«

Aurelio erschrak. Forderte sein Vater ihn etwa auf, den Hof zu verlassen?

»Da war immer dieser Blick in die Ferne«, fuhr Tommaso fort, »immer die Sehnsucht nach dem, was auf der anderen Seite der Berge auf dich wartet.«

»Aber hier ist mein Zuhause!«, protestierte Aurelio.

»Unterbrich mich nicht. Meine Atemzüge sind gezählt.« Tommaso schluckte schwer. »Weißt du bereits, wohin es gehen soll?«

»Rom«, antwortete Aurelio und biss sich gleich darauf auf die Lippen.

Tommaso stöhnte auf. »Ich wünschte, ich hätte nicht gefragt. Rom. Der größte Sündenpfuhl der Welt. Was zieht dich ausgerechnet dorthin?«

Aurelio zögerte, aber dann sagte er es doch: »Ich möchte in die Dienste von Michelangelo Buonarroti treten.«

Tommaso überlegte. »Ist das nicht dieser Bildhauer?«

»Er ist der Bildhauer, Vater. In Florenz hat er eine Statue geschaffen, die nirgends in der Welt ihresgleichen hat. Sie ist neun Ellen hoch, aus einem einzigen Stein gehauen, und jeder, der an ihr vorbeigeht, verneigt sich vor ihr.«

»Der David, ich weiß. Hab davon gehört. Neun Ellen … Wenn das wahr wäre, würde sie unser Haus überragen. Die Leute auf dem Markt in Forlì reden viel, Aurelio, und sie übertreiben gerne.«

»Es ist wahr, Vater! Die Florentiner nennen ihn ›Il Gigante‹. Und jetzt hat Papst Julius ihn nach Rom kommen lassen, weil er für ihn ein Grabmal mit vierzig Statuen bauen soll.«

»Und du willst ihm dabei helfen, dem Herrn Buonarroti?«, folgerte Tommaso.

Die Vermessenheit seines Wunsches ließ das Blut in Aurelios Kopf pulsieren. »Wenn ich kann«, flüsterte er.

»Wie auch immer …« Tommaso versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, doch der Faden entglitt ihm. »Es ist Zeit zu gehen«, sagte er schließlich, »für beide von uns.«

Aus seinen Fingern wich die Anspannung. Ein letzter Hauch strich über die Stelle an seinem Hals. In den Adern stockte das Blut. Kurz darauf benetzten Aurelios warme Tränen den Handrücken seines Vaters.

* * *

Diesmal hörte er ihren Wagen bereits aus der Ferne. Er erkannte ihn am Klang der frisch beschlagenen Räder, deren noch neues Eisen hart auf das Pflaster hämmerte. Bald hatte sie ihn eingeholt. Sie drosselte das Tempo und fuhr neben ihm her, ohne etwas zu sagen. Aurelio richtete seinen Blick geradeaus. Wieder fühlte er sich ertappt.

»Gut geschlafen?«, fragte sie schließlich.

Offenbar war ihr doch nicht entgangen, dass er und sie die Nacht wenn schon nicht im selben Raum, so doch unter demselben Dach verbracht hatten. Aurelio ersparte sich eine Antwort.

»Schleicht sich davon im ersten Tageslicht wie ein Dieb«, fuhr sie fort. »Bist du etwa auf der Flucht, Aurelio?«

Er blieb stehen, sie hielt den Wagen an. Sie befanden sich inmitten eines kleinen Kiefernwaldes. Der Boden war von leuchtenden Flecken überzogen.

»Ich bin kein Dieb«, gab er zurück.

Ein Lächeln umspielte ihren Mund. »Das hatte ich auch nicht angenommen.«

Zum ersten Mal hatte Aurelio Gelegenheit, sie aus der Nähe zu betrachten. Sie war jünger, als sie gestern auf ihn gewirkt hatte, womöglich nur wenig älter als er selbst. Auf jeden Fall aber viel jünger, als seine Mutter Antonia gewesen war. Ihr Körper schien das Leben im Sturm erobern zu wollen.

»Weshalb fragt Ihr mich dann, ob ich auf der Flucht sei?«

»Irgendwie muss man dich ja zum Reden bringen.« Sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Hör zu, mein kleiner Adonis, ich mache dir einen Vorschlag: Du kannst ohne Bezahlung auf meinem Wagen mitfahren. Strenggenommen ist es gar nicht meiner. Dafür gibst du dich als mein Mann aus, sofern einer vonnöten ist. In Zeiten wie diesen ist es für eine Frau nicht ratsam, ohne Begleitung zu reisen. Auf Schritt und Tritt laufen einem diese Söldner über den Weg, die meinen, sich einfach nehmen zu können, was sie begehren. Und wenn es gerade keine Schlacht zu schlagen gibt, begehren sie fast alles.«

In den vergangenen Tagen hatte Aurelio nach Kräften versucht, die Bilder der Söldner zu verdrängen. Meist war es ihm gelungen. Jetzt jedoch traten sie mit Gewalt vor seine Augen: der Narbige, der Warmherzige, der Blonde mit dem leeren Blick. Er wechselte seinen Sack von der rechten auf die linke Schulter. Ihn nicht länger tragen zu müssen, würde eine große Erleichterung bedeuten. Doch die Frau täuschte sich, wenn sie glaubte, er könne sie vor einem Rudel Söldner beschützen. Nicht einmal seine eigene Mutter hatte er ihren Fängen entreißen können.

Entschuldigend blickte er zu ihr auf. »Ich danke Euch. Aber ich komme zu Fuß schnell genug voran.«

»Störrisch wie ein Esel«, schnaufte sie. Dann ließ sie mit derselben Bewegung wie am Vortag die Zügel schnalzen, woraufhin sich die Maultiere mit demselben Gleichmut in Bewegung setzten.

Unschlüssig betrachtete Aurelio die Lichtflecken, die über ihre Schultern und ihr Haar strichen, dann schloss er eilig zu ihr auf. Jetzt war er es plötzlich, der neben ihr herging.

Aurelio sah ihr Schmunzeln, gab jedoch vor, es nicht zu bemerken. »Warum ich?«

Die Frau musterte ihn, als überlege sie, ob sie es wirklich sagen sollte. »Du hast ein gutes Herz.«

»Woher wollt Ihr das wissen? Vielleicht bin ich ja doch ein Dieb und raube Euch aus?«

Sie lachte ihr helles Glockenlachen. »Worauf wartest du dann noch?«

Als sie das Ende des Kiefernwäldchens erreichten, in das blendende Mittagslicht traten und sich das Meer vor ihnen auftat, sagte sie zu ihm: »Auch wenn du es vorziehst, neben dem Wagen herzulaufen, statt bei mir zu sitzen – vielleicht möchte es sich dein Sack so lange neben meiner Truhe bequem machen?«

Aurelio antwortete nicht, doch nach etwa einer Meile nahm er unauffällig den Sack von der Schulter und warf ihn mit beiläufigem Schwung zu dem hölzernen Koffer auf den Wagen. Nach einer weiteren Meile, die Sonne spiegelte sich in unzähligen, gleißenden Scherben auf dem Meer, und in der Ferne nahmen die mächtigen Stadtmauern von Fano Gestalt an, stieg er zu ihr auf die Bank.

»Ihr täuscht Euch, wenn Ihr glaubt, ich könnte den Lauf des Schicksals beeinflussen«, sagte er.

»Den Lauf des Schicksals …« Sie lachte auf. »Keine Sorge, den bestimme ich selbst.«

IV

Margherita war auf der Flucht vor ihrem Mann. Jedenfalls behauptete sie das. Ihr wirklicher Name war gar nicht Margherita, aber, so sagte sie, ihren früheren Namen habe sie bei ihrem Mann in Rimini gelassen. Ceffo war Chiavaiolo, Schlüsselmacher, und als solcher hatte er es zu einigem Ansehen und Wohlstand gebracht. In Rimini gab es keinen Zweiten, der so kunstvolle Schlösser und Schlüssel zu fertigen verstand. Aurelio solle sich nur einmal Margheritas Koffertruhe ansehen. An den Scharnieren hätte sich Cesare Borgia die Zähne ausgebissen.

Ceffo hatte sie um jeden Preis zur Frau haben wollen. Doch Margherita war die vierte von fünf Töchtern, zudem war ihre Familie völlig mittellos. An eine Aussteuer war nicht zu denken. Ceffo löste das Problem, indem er Margheritas Vater unter der Hand das Geld für die Aussteuer zuschob. Außerdem ließ er die Koffertruhe fertigen, die er anschließend in seiner Werkstatt mit einem ebenso komplizierten wie effektiven System aus Schlössern versah und die jetzt auf der Ladefläche des Wagens stand und Margheritas Aussteuer bewachte. Margherita war froh gewesen, der heimischen Enge und einem Vater entfliehen zu können, der keinen Tag verstreichen ließ, ohne sich über den Fluch seiner fünf Töchter zu beklagen. Ihr Vater wiederum dankte dem Allmächtigen, dass er ihn wenigstens von der Last einer Tochter befreit hatte.

Wie sich herausstellte, war Ceffo nicht nur verrückt nach Margherita, sondern auch verrückt vor Eifersucht. Noch in der kleinsten Mauerritze wähnte er einen Nebenbuhler, und wenn sie das Haus verließen, verlangte er von Margherita, dass sie stets zwei Schritte hinter ihm gehen und auch dann noch den Blick gesenkt halten sollte, wenn er stehenblieb, um sich zu unterhalten. Obgleich er sich ihr mit leidenschaftlicher Hingabe unterwarf, hielt er Margherita gleichzeitig vor, ein verderbtes, lasterhaftes Weib von teuflischer Lüsternheit zu sein. Am schlimmsten aber war es, wenn er alleine fortging. Dann verrammelte Ceffo sämtliche Fenster und sicherte jedes einzelne mit einem Schloss, das dem Castell Sant’Angelo zur Ehre gereicht hätte. Begab er sich auf Geschäftsreise, saß Margherita tagelang bei Kerzenschein in ihrem Verlies, und lediglich der Schimmer, der durch die Spalten der Verschläge drang, sowie die Geräusche auf der Straße verrieten ihr, ob es Tag war oder Nacht.

Aurelios Neugier war entfacht. »Wie ist es dir dann gelungen, zu fliehen?«

Margheritas Lächeln haftete etwas Spöttisches an, als sie sich die Begebenheit in Erinnerung rief. »Man könnte wohl sagen, dass ich ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen habe.«

»Du hast ihn eingeschlossen?«

»Ich habe ihn mit einer lasterhaften Liebesnacht beschenkt – eine von denen, für die er sich stets mit Freuden verachtet hat. Danach schlief er wie ein Kleinkind. Der Ring mit den Schlüsseln liegt irgendwo bei Riccione im Straßengraben. Ich bin sicher, Ceffo wird einen Weg finden, sich zu befreien. Aber einfach wird es nicht.«

»Und dann?«

»Dann wird er mich suchen.«

* * *