Der Sohn des Alchemisten - Matthias Morgenroth - E-Book

Der Sohn des Alchemisten E-Book

Matthias Morgenroth

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Beschreibung

Ein Abenteuer auf dem Jakobsweg Nicholas Flamel? Von dem berühmten Alchemisten hat die Magd Marie noch nie gehört, als sie dessen Sohn Jakob aus der Patsche hilft und dafür aus der Mühle gejagt wird. Doch Marie ist eine, die ihr Schicksal in die Hand nimmt. Und so begleitet sie Jakob kurzerhand auf der Suche nach seinem Vater. Bald schon verdichten sich die Gerüchte, dass der in die Hände des berüchtigten Grafen Gonzalo gefallen ist – um für ihn Gold herzustellen. 

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Matthias Morgenroth

Der Sohn des Alchemisten

Mit Illustrationen von Peter Knorr und Doro Göbel

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2011

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

eBook ISBN 978-3-423-40648-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423–71438-9

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/​ebooks

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Nachwort

[Informationen zum Buch]

[Informationen zum Autor]

Pages

Ich verirrte mich derartig in einem Berg, dass ich nicht wusste, wohin ich mich wenden sollte, denn das war ein sehr unheilvoller Berg von großer Höhe und mit dichten Wäldern, die immer im Nebel liegen, einem Nebel, der so schrecklich ist, dass man vom Weg nicht mehr als zehn oder zwölf Schritte sieht. Auch trifft man keinen Menschen unterwegs, nur den einen oder anderen Pilger, der nach Santiago geht oder von dort kommt. Dazu kommt, dass das verdächtige Plätze für Banditen sind . . .«

(Aus den historischen Berichten des Jakobspilgers Nicola Albani)

Erschrocken starrte Marie auf die flatternden Blätter. Bewegte sich da nicht etwas im Holunderbusch? Aus den Augenwinkeln hatte sie ein kleines Huschen wahrgenommen. Und in den Ästen hatte es geknackt.

Hoffentlich keine Hollergeister, dachte sie und stellte den Korb mit den Eiern ab, die sie gerade hinter dem Misthaufen bei den Hühnern gesammelt hatte. Holunderbüsche waren schließlich bekannt dafür, dass in ihnen die Hollergeister hausten, die die Menschen neckten und narrten. Aber am helllichten Tag? Merkwürdig.

Vielleicht hat sich ja ein Huhn verlaufen und sein Ei unter den Busch gelegt, dachte sie und trat näher zum Busch. Nein. Kein Gackern war zu hören.

Da passierte es. Die Zweige hoben sich. Jemand gab ein grunzendes Geräusch von sich.

Marie schrie leise auf.

Vor ihre Füße purzelte ein Junge, der weder wie ein Huhn noch wie ein Hollergeist aussah, sondern ziemlich wie aus Fleisch und Blut.

»So ein Mist«, hörte sie ihn schimpfen, »auch das noch!«

Marie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Junge versuchte verzweifelt, seine Beine zu entwirren, die sich in seinem Beutel und in einer Brombeerranke verfangen hatten. Seine Füße steckten in groben ledernen Stiefeln, an seinem Gürtel hing eine Kürbisflasche und in der Hand hielt er einen Wanderstab.

»Lach bloß nicht«, schimpfte er, während er die stachelige Brombeerranke vorsichtig von seiner Hose zupfte. »Immer passiert mir so etwas! Letzte Nacht bin ich schon in einem Sumpf stecken geblieben, habe mich auf einen Ameisenhaufen gesetzt und bin gegen einen Baum gerannt. Ganz zu schweigen von dem Sturz von meinem Maultier! Und jetzt kugle ich auch noch dir vor die Füße, wie ein Idiot! Es ist zum Mäusemelken!«

Marie betrachtete den fremden Jungen von oben bis unten. Seine wollene Jacke war von Schlamm überkrustet, seine Arme sahen ziemlich zerkratzt aus und auf der Stirn hatte er eine dick geschwollene Beule.

»Was machst du auch nachts im Wald!«, war alles, was ihr schließlich einfiel. »Da liegt jeder anständige Mensch im Bett!«

»Was denkst du wohl, wie gern ich das auch gemacht hätte!«, erwiderte der Junge. »Aber leider kamen mir Räuber dazwischen!«

»Räuber?« Marie sah sich erschrocken um. »Bei uns im Wald?«

Der Junge grinste. »Nein, nicht direkt. Es liegen mindestens ein Sumpf, ein Ameisenhaufen und fünf Stunden Fußmarsch dazwischen.«

»Was wollten denn die Räuber von dir?«, fragte Marie weiter und half dem Jungen auf die Füße.

»Wegezoll«, sagte er und blickte sie an.

»Wegezoll?«, fragte Marie verständnislos zurück.

»Geld! Kohle! Pinkepinke! Das wollten sie!«, erklärte er. »Ich bin ein Pilger! Ein Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela, zu den Gebeinen des heiligen Jakobus! Kapiert?«

Pilger? Dieser Junge sollte ein Pilger sein? Marie hatte schon einige Pilger gesehen, denn auf den Anhöhen verlief die Straße Richtung Santiago de Compostela, wohin seit Menschengedenken Leute aus aller Herren Länder pilgerten. Aber die Pilger, die sie dort oben entlangwandern gesehen hatte, waren ehrwürdige Herrschaften gewesen, wohlgekleidet, mit langen Mänteln und breiten Hüten. Und mit Packpferden.

»Pilger auf dem Weg nach Galizien müssen immer damit rechnen, überfallen zu werden«, sagte der Junge und strich sich über seine Beule an der Stirn. »Bei mir war es schon der dritte Überfall. Pah! Aber wenn du denkst, die Räuber hätten mich eingeschüchtert, dann täuschst du dich! Räuber wollen ja immer nur ein paar Münzen, dann lassen sie dich wieder laufen, das weiß jeder echte Jakobspilger. Wenn sie die Pilger abmurksen würden, dann würden sie ja alle andern vergraulen und verschrecken. Und die Pilger brauchen sie ja, denn wem sollten sie sonst das Geld abknöpfen?«

Dass es irgendwo auf der Welt Räuber geben sollte, das konnte man sich an diesem Morgen kaum vorstellen, so freundlich lag die Sonne über der Mühle im Erlenschlag. Gleichmäßig drehte sich das große Rad im Bachlauf und die ganze Welt duftete nach Sommer.

»Wenn du ein Pilger bist«, fragte Marie neugierig, »was bitte schön machst du dann bei uns im Gebüsch? Da führt kein Weg nach Santiago! Da liegt unser Misthaufen!«

»Ich weiß, ich weiß«, knurrte der Junge mürrisch. »In den bin ich auch schon getreten.«

Er blickte sehnsüchtig auf die Eier im Korb.

»Hunger hatte ich eben«, fügte er schließlich kleinlaut hinzu. Er rutschte ein wenig näher zu dem Eierkorb. Dann räusperte er sich. »Hättest du – vielleicht – bitte – ich meine, hättest du vielleicht ein Ei? Ein klitzekleines Ei?«

Marie überlegte. Sie war schließlich nur die Magd auf der Mühle und der Müller war ein harter Mann. Sie wollte keine Schläge riskieren. Aber andererseits sollte man ja den Armen helfen und Almosen geben. Und dieser Junge kam ihr ziemlich arm vor. Schließlich hatte er schon drei Überfälle hinter sich und war recht zerkratzt.

»Gut, ein Ei bekommst du«, entschied sie.

Der Junge griff gierig danach.

»Halt«, bremste ihn Marie und hielt das Ei in die Luft. »Bevor du es isst, musst du mir erst einmal sagen, wie du heißt!«

»Jakob natürlich«, sagte Jakob ungeduldig, dann schnappte er sich das Ei, pikste es an und schlürfte es aus.

Jakob natürlich? Marie musste lachen. Der Kerl meinte wohl, alle Welt müsste ihn kennen!

»Jakob Flamel«, sagte Jakob, wischte sich den Mund ab und blickte Marie erwartungsvoll an. »Aus Paris. Du weißt schon!«

»Nein«, antwortete Marie, denn sie wusste weder etwas von Paris noch hatte sie jemals von einer Familie namens Flamel gehört.

»Paris! Die große Stadt! Da komm ich her! Hast du noch ein Ei?«

Marie zögerte, dann reichte sie diesem Jakob Flamel aus Paris noch ein zweites Ei hinüber. Der Müller konnte ja nicht wissen, wie viele Eier seine Hühner heute gelegt hatten. Hoffte sie zumindest.

»Gehst du allein als Pilger nach Santiago?«, fragte Marie vorsichtig, denn immer noch kam ihr die ganze Geschichte ziemlich komisch vor.

Jakob zog ein sorgenvolles Gesicht. »Nein«, sagte er zwischen zwei Schlucken aus dem Ei, »natürlich nicht. Ich begleite meinen Vater. Mensch, der macht sich jetzt sicher wahnsinnige Sorgen, weil er nicht weiß, wo ich stecke. Vielleicht glaubt er, die Räuber hätten mich verschleppt! Dabei bin ich doch nur vom Maultier gefallen, als sie kamen. Und dann ist mir alles schwarz vor Augen geworden. Als ich wieder zu mir kam, waren alle weg! Mein Vater auch!«

»Das ist ja furchtbar!«, sagte Marie.

Jakob nickte und griff sich noch ein drittes Ei, diesmal ohne zu fragen. Marie blickte ängstlich nach der Mühle. Wenn der Müller sie erwischte, würde es Ärger geben! Sie war doch sowieso kaum geduldet!

»Ja, wirklich furchtbar!«, schmatzte Jakob. »Und mindestens genauso viel Sorgen wie um mich wird er sich auch um unser Buch machen, denn das steckt bei mir in der Tasche! Er wird denken, dass die Räuber es geschnappt haben, und dann wäre unsere ganze Reise umsonst! Und nicht nur das, seine ganze Arbeit! Aber das Buch ist nicht verloren! Ich habe es! Nur – davon darf natürlich keiner wissen–« Jakob hielt erschrocken inne. »Ich Idiot! Jetzt hab ich dir von dem Rindenbuch erzählt!«

»Das bei dir in der Tasche steckt?«, fragte Marie.

»Hab ich das etwa auch noch gesagt?«, rief Jakob aufgeregt. »Vergiss es! Vergiss es einfach! Es ist ein Geheimnis. Zeig mir lieber, wie ich wieder auf den richtigen Weg Richtung Santiago de Compostela komme, dann kann ich mich auf die Suche nach meinem Vater machen!«

In diesem Augenblick drang ein Gebrüll aus der Mühle zu den beiden Kindern herüber: »Marie! In drei Teufels Namen, wo bleiben die Eier!«

Das war er, der Müller! Jakob schaute erschrocken auf, schließlich konnte er als weit gereister Pilger aus dem fernen Paris nicht wissen, wie es in der Mühle im Erlenschlag zuging. Der Müller war für seine Wutausbrüche im ganzen Tal bekannt, und für seine harten Schläge auch. Marie hatte er nur als Magd aufgenommen, weil sie die Tochter seiner Cousine war, die in dem Hungerwinter vor zwei Jahren gestorben war, genau wie ihr Vater.

»Schnell!« Eilig schob Marie Jakob in den Schatten des Holunderbuschs. »Der Müller bekommt dich besser nicht zu Gesicht! Ich muss jetzt schleunigst in die Küche, aber danach zeige ich dir den Weg hinauf zu den Dörfern, wo öfter Pilger vorbeikommen. Versteck dich inzwischen!«

»Bin schon weg«, nickte er folgsam und setzte sich mit Schwung. Kracks! Es gab ein eigenartiges Geräusch, eine Mischung aus Knacksen, Knirschen und Blubbern.

Marie hielt den Atem an. Wo die frischen Eier im Korb gelegen hatten, war jetzt nur noch Rührei! Und mittendrin saß Jakob.

»Hoppla«, war alles, was ihm einfiel. Vor lauter Erstaunen blieb er erst einmal sitzen. »Jetzt kann ich’s bald nicht mehr an einer Hand abzählen! Erst bin ich vom Maultier gefallen, dann hab ich mich in einen Ameisenhaufen gesetzt, der Sumpf, der Misthaufen und jetzt auch noch das–«

»Wo ist denn dieses Luder von einer Magd!« Der Müller schien näher zu kommen.

»Oh! Hintern aus dem Korb«, zischte Marie. Ihr war zum Weinen zumute.

Immerhin. Zwei Eier waren wie durch ein Wunder heil geblieben.

Sie nahm wortlos den Korb und eilte zur Mühle. Vor dem Haus stand schon der Müller, die Hände in die Hüften gestemmt, und erwartete seine Magd. Aber wenn sie gedacht hatte, er würde glauben, die Hühner hätten an diesem Tag nur zwei Eier gelegt, dann hatte sie sich gründlich getäuscht. Nein, er nahm die restlichen zwei Eier und warf sie Marie wutschnaubend an den Kopf, nannte sie eine ungeschickte Ziege und schickte sie zur Strafe noch einmal hinaus zum Misthaufen. Um den stinkenden Mist umzugraben und um dabei zu schauen, ob sie nicht doch noch Eier fände.

Das kam Marie allerdings heute sehr gelegen und sie musste sich ein Grinsen verdrücken, als sie an den merkwürdigen Pilger aus Paris dachte.

»Jakob?« Sie schaute sich nach allen Seiten um. Aus Trotz und weil sie auch nicht so schnell klein beigab, hatte sie aus der Speisekammer einen halben Laib Brot und eine Handvoll Oliven mitgehen lassen. Damit dieser Jakob Flamel nicht nur rohe Eier, sondern auch etwas Anständiges zu essen bekam.

»Jakob?«, wiederholte sie zögernd.

Da hörte sie ein leises Schnarchen, und als sie hinters Gebüsch am Mühlenbach spähte, sah sie Jakob friedlich in der Sonne liegen und schlafen. Den Kopf hatte er auf sein Bündel gelegt und mit seinen Händen hielt er ein merkwürdig aussehendes Buch umklammert.

»Jakob Flamel aus Paris«, sagte Marie laut und stupste ihn mit den Zehenspitzen an. »Ich habe dir etwas zum Frühstücken mitgebracht.«

Mit einem Satz sprang Jakob auf die Beine. »Wie? Was? Du kriegst mich nicht, du elender Räuber!«, rief er und schlug wild um sich.

Marie lachte auf. »Hände hoch! Es gibt Frühstück!«

Als Jakob erkannte, wo er war und wer vor ihm stand, wurde er rot. »Geh du mal die ganze Nacht durch Sümpfe und Misthaufen, da schläft jeder irgendwann mal ein«, murmelte er und nahm dankbar das Brot, das Marie ihm reichte.

»Du heißt also Marie«, sagte er mampfend.

»Woher weißt du das?«, fragte Marie erstaunt.

»Das habe ich kombiniert!«, sagte er und freute sich über ihr verdutztes Gesicht. »Na – es war ganz einfach! Der Müller hat dich so genannt, als er nach dir gerufen hat.«

»Ach so.« Marie lachte. »Ja, ich heiße Marie, ich bin elf Jahre alt und bin hier die Magd.«

»Ich bin schon zwölf!«, sagte Jakob und kaute zufrieden sein Brot. »Deshalb durfte ich ja auch mit auf Pilgerfahrt!«

Marie setzte sich neben ihn auf die Steine und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Kalt strömte es zwischen ihren nackten Zehen hindurch.

»Wie lange seid ihr denn schon unterwegs nach Santiago, dein Vater und du?«, fragte sie neugierig.

»Schon vier Wochen«, antwortete Jakob und spuckte einen Olivenkern aus. »Ein echtes Abenteuer! Wir gehen zwar nicht wegen eines Gelübdes, wir gehen ja nur wegen des Buchs–«

Er schlug sich auf den Mund. »Vergiss es, vergiss es! Mein Vater ist ein Forscher, ein Schreiber und ein ziemlich bekannter Buchhändler in Paris und da hat er natürlich mit Büchern zu tun und weiter nichts.« Jakob unterbrach sich und aß stumm weiter. »Eine Schande, dass du noch nie von ihm gehört hast«, hörte Marie ihn schließlich murmeln.

Das wurde ja immer spannender! Sie wusste, dass die meisten Pilger aus Dank oder wegen eines Gelübdes nach Santiago de Compostela aufbrachen, nach Galizien, im äußersten Norden Spaniens, und wer weiß, vielleicht wären ihre Eltern, wenn sie von ihrer Krankheit wieder genesen wären, auch zum Grab des heiligen Apostels Jakobus in Santiago gepilgert, um Jakobus oder Gott oder beiden zu danken. Manche Pilger, das hatte Marie auch gehört, gingen auch, um für etwas zu bitten, für ihre Stadt oder Burg oder für ihr Seelenheil. Was sollte also diese Geheimniskrämerei? Was wollten Jakob und sein Vater in Santiago?

Es blieb ihr keine Zeit zu fragen, denn in diesem Augenblick raschelte es hinter den beiden.

»Du bist mir ja ein schönes Früchtchen!«, hörte sie den Müller bellen. Breitbeinig und groß stand er über ihnen.

»Nennst du das Misthaufenumgraben?« Marie spürte, wie sich Jakob erschrocken an sie drückte. »Ha! Eine hinterhältige dreckige Diebin ist meine Magd, mehr nicht! Hast deinem kleinen Liebhaber was aus der Speisekammer geholt, ha?«

Marie brachte kein Wort heraus.

»Überleg einmal, wem diese Speisekammer gehört! Na? Hast du eine Idee? Dann kommst du sicher auch darauf, wem das Brot und die Oliven darin gehören? Etwa einer kleinen dreckigen dahergelaufenen Magd? Nein? Richtig! Mir gehört die Speisekammer und auch jeder Brotkrumen darin!«

Jetzt kamen auch noch die beiden Knechte herbeigerannt. Marie wollte dem Müller alles erklären, aber Jakob kam ihr zuvor und fing an, irgendetwas von Räubern, Bäumen und Maultieren zu stottern.

»Maul halten!« Der Müller hörte gar nicht hin. »Weißt du was, du verstocktes Miststück? Jetzt ist Schluss!«

Marie ahnte, was jetzt gleich kommen würde. Jetzt würde der Müller einen Strick holen und sie schlagen. Aber das tat er nicht. Schnaufend stand er da und starrte sie an. Dann sagte er, und seine Stimme klang bedrohlich ruhig: »Du bist ab jetzt nicht mehr meine Magd. Du kannst gehen, wohin du willst!«

Marie riss die Augen auf. Sie sollte keine Magd mehr sein? Nicht mehr Dienstbotin auf der Mühle? Aber – was dann?

»Bitte nicht!«, flüsterte sie.

»Geh!«, sagte der Müller, »ich will dich nie wieder sehen!«

Damit drehte er den Kindern den Rücken zu. Seine zwei Knechte folgten ihm bedrückt zur Mühle. Marie spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen schossen. Jetzt hatte sie nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihr zweites Zuhause verloren!

»So ein Mist«, hörte sie da Jakob hinter sich. »Erst falle ich vom Maultier, dann der Ameisenhaufen und der Sumpf und dann mache ich dir auch noch solche Probleme!«

Marie sagte nichts. Stumm starrte sie ins Wasser.

»Aber andererseits«, hörte sie Jakob weiterreden, »andererseits scheint mir diese Mühle sowieso nicht ein Ort zu sein, an dem man sein Leben lang bleiben möchte. Das Paradies sieht anders aus. Hör mal, Marie, hör auf zu weinen, ich will mit dir reden!«

Sie spürte, wie er sie an den Schultern packte.

»Lass doch den dummen Müller brüllen, so lange er will. Komm mit mir auf den Pilgerweg!«

Marie schluckte. Sie hatte doch bisher kaum das Tal verlassen!

»Santiago muss wunderbar sein«, fügte Jakob hinzu, als sie schwieg. »Und wenn wir meinen Vater finden, dann weiß er auch Rat, wo du bleiben kannst. Er weiß meistens Rat, glaub mir!«

Dann hielt er inne und fügte leise hinzu: »Und wenn wir meinen Vater nicht finden, dann sind wir immerhin zu zweit unterwegs, und zu zweit zu sein ist besser als allein.«

Einen Moment war alles still. Nur eine Amsel sang ihr Lied oben in den Erlen.

»Sind wir jetzt Gefährten?« Jakobs Frage klang fast bittend.

Marie wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht, hob den Kopf und lächelte.

»Ich gehe keinen Schritt mehr weiter!« Jakob stöhnte und ließ sich schwer atmend in den Schatten einer Scheune fallen. »Ich habe fünf Blasen an jedem Fuß, wahrscheinlich bluten mir schon die Zehen! Ich will mein Maultier! Und was zu essen!«

Marie lehnte sich erschöpft neben ihn an die Mauer. Die Steine waren warm von der Sonne. Den ganzen Tag waren sie gelaufen, jetzt lagen die Schatten schon tief in den Hügeln. Längst kannte sie die Namen der Höfe und der kleinen Weiler am Weg nicht mehr. Die Mühle im Erlenschlag hatten sie schon weit hinter sich gelassen.

»Meine Zunge ist ein trockener Lappen«, jammerte Jakob weiter und versuchte, den letzten Tropfen Wasser aus seiner Kürbisflasche zu saugen. »Mist. Leer.«

Marie blickte ihn verstohlen von der Seite an. Hatte Jakob nicht heute früh die Pilgerfahrt nach Santiago in den höchsten Tönen gepriesen, Räuber hin, Räuber her? Er tat ja gerade so, als sei er den ersten Tag auf Wanderschaft!

»An meinem Maultier waren Satteltaschen«, fuhr Jakob sehnsüchtig fort, während er sich die Stiefel von den Füßen riss, »und darin waren Würste und Schinken und Ziegenkäse. Und Rosinen!«

»Würste kann ich dir auch bieten«, sagte Marie und musste über sein verdutztes Gesicht lachen. Schnell öffnete sie ihr Bündel. »Meinst du, ich gehe von der Mühle fort, ohne den Müller um ein paar Dinge zu erleichtern? Brot und Äpfel hab ich auch. Und sein Messer. Man weiß ja nie, wann uns die nächsten Räuber über den Weg laufen.«

Jakob starrte sie an. »Du hast Würste? Jetzt? Hier? Für mich?«

»Für uns!« Marie warf ihm drei herrlich duftende Würste und ein kleines Messer zu. »Hier, solange keine Räuber da sind, kannst du probieren, wie gut man mit dem Messer Wurst schneiden kann!«

Jakob wollte gerade nach den Würsten greifen, da hörten die beiden eine Stimme hinter sich: »Nicht übel, eure Verpflegung!«

Die Kinder sprangen auf. Jakob packte das Messer.

»Na, na, na, wer wird denn gleich zur Waffe greifen!« Aus dem Dunkel der Scheune löste sich eine hagere Gestalt. Die beiden Kinder blickten in ein graues, bärtiges Gesicht. »Auf dem Jakobsweg teilt man, was man hat! He, he, he!«

»Hoppla«, sagte Jakob erschrocken, während ihm das Messer aus der Hand glitschte und im hohen Gras verschwand.

»Das sind unsere Würste«, rief Marie und stellte sich schützend vor Jakob und ihre Bündel. »Was wollt Ihr von uns?«

»Immer langsam, Schätzchen«, sagte die hagere Gestalt und humpelte auf sie zu. »Du wirst doch keine Angst vor dem armen Brabanter Iwein haben. Siehst du nicht meinen Stab? Und hier meinen Hut? Dann wirst du erkennen, dass du einen armen Pilger vor dir hast, einen Sünder vor dem Herrn. Und dann wirst du deine Würste geschwisterlich teilen, oder etwa nicht?«

Marie sah zwar den Stab und auch den Hut, aber sie hatte auch noch etwas anderes gesehen. Das Gesicht des Mannes war gezeichnet. Seine Backen waren unter dem grauen Bart mit tiefen Malen gebrandmarkt und um seinen rechten Fuß lief ein rostiger eiserner Ring. So sahen verurteilte Verbrecher aus.

Iwein folgte ihrem Blick. »Schlau, schlau, mein Schätzchen. Ja, die Brabanter haben mich verurteilt und gezeichnet, damit ich die Schande meines Vergehens nicht verbergen kann. Aber der Mensch soll niemals nach dem Äußeren urteilen, weißt du das nicht, he?«

»Komm, lass uns abhauen«, hörte Marie Jakob murmeln, während er verzweifelt das Gras neben sich nach dem Messer abtastete. Erschrocken sprangen einige Grashüpfer um ihn herum, das Messer aber blieb verschwunden.

»Abhauen?« Der Fremde hatte offenbar gute Ohren. »Barfuß? Ohne Messer? Ohne Würste? Das würde ich mir an eurer Stelle lieber zweimal überlegen. Wohin wollt ihr schon gehen? Pilger wie mich trefft ihr in der nächsten Herberge wieder.«

»Pilger wie dich!« Jakob schnaubte verächtlich. »Wir sind Pilger! Ich komme aus Paris, jawohl! Hast du schon einmal von Nicholas Flamel gehört? Das ist mein Vater, der berühmte Gelehrte! Wir sind Pilger. Und wer bitte schön bist du? Ein Gezeichneter!«

Iwein sah Jakob scharf an. »Meinst du, nur die reichen Gelehrten haben ein Recht, Pilger zu sein? Meinst du das wirklich? Glaubst du nicht, der heilige Jakobus segnet auch alle anderen, die sich zu ihm auf den Weg machen?«

Jakob schaute nervös von Marie zu dem Fremden und Marie empfand plötzlich Mitleid mit der hageren Gestalt, gezeichnet hin oder her.

»Seid Ihr denn wirklich ein Pilger?«, fragte sie.

Iwein trat noch näher an sie heran. »Mir hat der Rat der Stadt Brabant auferlegt, zur Buße nach Santiago zu marschieren, mit der eisernen Schelle dort am Bein. Jeder soll sehen, dass ich auf dem Markt falsche Gewichte verwendet habe. Und ich soll keinen Tag meiner Pilgerfahrt vergessen, dass ich bereuen muss, bis der Rost und mein Schweiß die Schelle sprengen. Und ich bereue auch, jawohl, das tue ich . . .«

Iwein stand jetzt direkt vor ihnen. Marie sah, wie er sich die Lippen leckte. »Solch feine Würste habe ich mindestens seit den Pyrenäen nicht mehr gesehen, oben in den Bergen.«