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»Mrs. Quinn spürt ein Kribbeln, als läge in diesem Jahr etwas Besonderes über allem.« Jennifer Quinn hätte nie gedacht, dass in ihrem Leben noch etwas Aufregendes passiert. Seit fast sechzig Jahren ist sie glücklich mit Bernard verheiratet, und die beiden genießen ihre beschaulichen Tage in einem kleinen englischen Dorf. Mrs. Quinns Leidenschaft ist das Backen, die vielen Familienrezepte gehören zu ihren wertvollsten Erinnerungen, und sie liebt es, Freunde und Familie mit ihren Köstlichkeiten zu verwöhnen. Doch kurz vor dem großen Hochzeitstag mit Bernard ist auf einmal alles anders. »Mit einem Mal war sie sich der Dringlichkeit ihrer schwindenden Existenz mehr als bewusst. Der Tatsache, dass sie einen Punkt erreicht hatte, an dem der größte Teil ihres Lebens bereits hinter ihr lag.« Sie fühlt, dass sie noch etwas wagen muss, bevor es zu spät ist. Heimlich bewirbt sie sich für eine beliebte TV-Backshow und erfüllt sich dadurch nicht nur einen großen Traum, sondern setzt auch alles aufs Spiel. Denn was niemand ahnt: In Mrs. Quinns Leben gibt es ein dunkles Geheimnis, das sie jahrzehntelang gut gehütet glaubte, und dem sie sich nun endlich stellen muss. Ein bewegender Roman über eine lebenslange Liebe, das Älterwerden und den Mut, etwas Neues zu wagen. Ein Wohlfühlbuch für das Herz, die Sinne und die Seele. »Perfekt zubereitet, köstlich und wohltuend. Mrs. Quinn wird alle bezaubern.« CLARE POOLEY, Autorin von >Montags bei Monica
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Seitenzahl: 477
Eigentlich wollte Mrs. Quinn nur den besten Kuchen des Landes backen. Und dann verändert sich ihr ganzes Leben.
Jennifer Quinn hätte nie gedacht, dass in ihrem Leben noch etwas Aufregendes passiert. Seit fast sechzig Jahren ist sie glücklich mit Bernard verheiratet, und die beiden genießen ihre Tage in einem kleinen englischen Dorf. Mrs. Quinns Leidenschaft ist das Backen, die vielen Familienrezepte gehören zu ihren wertvollsten Erinnerungen. Dennoch spürt sie, dass sie etwas wagen muss, bevor es zu spät ist. Heimlich bewirbt sie sich für eine beliebte TV-Backshow und erfüllt sich dadurch nicht nur einen großen Traum, sondern setzt auch alles aufs Spiel. Denn was niemand ahnt: In Mrs. Quinns Leben gibt es ein dunkles Geheimnis, das sie jahrzehntelang gut gehütet glaubte, und dem sie sich nun endlich stellen muss.
Olivia Ford
Roman
Aus dem Englischen von Sonja Rebernik-Heidegger
Für Granny und Grandpa, deren Liebe diesen Roman inspiriert hat.
Und für Noll, für alles.
Der Körper altert, die Seele nicht.
Delia Smith, britische Fernsehköchin und Autorin
Es war ein Abend im Dezember und einer dieser Tage, an denen man sich im warmen Zimmer herrlich geborgen fühlte, aber heute war das anders. Die Bäume vor dem Fenster wirkten düster und morsch, und die fremdartigen Silhouetten erinnerten sie daran, dass sie weit fort von zu Hause war. Sie griff nach ihrem neuen Rezeptbuch, strich über den hellblauen Einband und öffnete es so weit, dass der Buchrücken widerwillig nachgab. Ihr Bleistift schwebte über den unberührten Seiten, während sie den Duft des frischen Papiers aufsaugte.
Das erste Rezept. Das sollte unbedingt ihre Lieblingsgeburtstagstorte sein, mit der sie sich in ihrer Familie bereits einen Namen gemacht hatte. Ganz oben schrieb sie Jennys Schwarzwälder Kirschtorte in ihrer schönsten, mit zusätzlichen Schwüngen verzierten Handschrift hin und unterteilte die Seite in Zutaten und Zubereitung. Sie spürte den feuchten Stoff des mit Sahne gefüllten Spritzbeutels in ihrer Hand und sah, wie der Aufsatz auf magische Weise perfekte Röschen formte. Sie dachte an den bitteren Geruch des Kakaopulvers, das man unvermeidlich einatmete, wenn man es zu schwungvoll in den Teig gab, und daran, wie die Schokolade den zarten Geschmack der Kirschen abrundete.
Sie blätterte weiter. Das zweite Rezept sollte etwas Alltäglicheres sein. Ein Regentag, der erst aufregend wurde, wenn man die Rührschüssel zur Hand nahm. Sie ging in Windeseile ihre Lieblingsfamilienrezepte durch und blieb schließlich bei Grandma Audreys Schoko-Cornflakes-Küchlein hängen, deren Rezept von Generation zu Generation weitergewandert war, bis es schließlich bei ihr gelandet war. Cornflakes, Kakao und Zuckersirup, verschmolzen zu knusprigen Nestern reinster Wonne. Als kleines Kind hatte sie immer gebannt zugesehen, wie ihr Vater die reich in Gold und Grün verzierte Dose aus dem Schrank holte, den Deckel wie von einer Farbdose abhob und sich zähe Fäden der klebrig süßen Masse bildeten. Wenn sie ganz nah heranging, schien das Innere der Dose sie in einen bernsteinfarbenen Strudel zu ziehen, und das Ablecken des Löffels war stets purer Genuss gewesen.
Das letzte Rezept sollte etwas Weihnachtliches sein. Nur was? Sie stellte sich vor, wie sie die Teigdeckel der Mince Pies mit der Gabel anstach und Unmengen an Trockenfrüchten für den Weihnachtskuchen abwog. Es machte nichts, dass alles Jahr für Jahr denselben Abläufen folgte, wie bei einem eingespielten Theaterstück, denn es fühlte sich jedes Mal aufs Neue magisch an.
Doch dieses Jahr war alles anders. Dieses Mal blickte sie dem, worauf sie sich sonst so freute, mit schwerem Herzen entgegen. Sie hoffte, dass sich ihr angespanntes Lächeln eines Tages wieder natürlich anfühlen würde.
Während sie den Bleistift zwischen ihren Handflächen rollte, dachte sie an den Schoko-Tiffin ihres Vaters. An das befriedigende Geräusch, wenn die dicken Butterplätzchen unter dem Nudelholz zerbröselten und daraus schließlich durch die Zugabe von kandierten Früchten, Kakao, Sirup und Rosinen eine feste, buttrige Masse und somit etwas vollkommen Neues entstand.
Sie stellte sich vor, wie ihr Kind eines Tages am Weihnachtsmorgen aufwachen und aufgeregt zu dem von Geschenken ausgebeulten Strumpf laufen würde. Würde sie am anderen Ende des Knallbonbons ziehen? Würde sie die Freude in dem kleinen Gesicht sehen, wenn es das sehnlich erhoffte Geschenk öffnete? Und am allerwichtigsten: Würde sie miterleben, wie es voller Vorfreude in Vaters Schoko-Tiffin biss, so wie sie selbst es früher getan hatte?
Sechzig Jahre später
Jennifer Quinn hätte nicht gedacht, dass sie im Alter von siebenundsiebzig Jahren zu einer Berühmtheit werden würde.
Es war ein grauer Winternachmittag, und sie hatte sich die unbedeutende, aber befriedigende Aufgabe gestellt, englischen Teekuchen zu backen. Das dazugehörige Rezept war vermutlich älter als sie selbst. Es lag sicher verwahrt in der verblassten Ausgabe eines Delia-Smith-Kochbuches aus den späten 1970ern und war in der Handschrift ihrer Großmutter auf einem vergilbten Blatt Papier notiert, das, den zahlreichen goldbraunen Ringen in verschiedensten Größen nach zu schließen, schon vielen Teetassen als Untersetzer gedient hatte. Majarine, wenn keine Butter vorrätig, hatte ihre Großmutter in Klammern hinzugefügt – eine Erinnerung an deren lebenslangen Kampf mit der Rechtschreibung. Es ist schon seltsam, dachte Jennifer bei sich, wie Rezepte die Menschen überleben, die sie aufgeschrieben haben, und wie sie dabei diese Menschen in gewisser Weise wieder zum Leben erwecken, als würde ein winziges Stück ihrer Seele in den Anweisungen weiter bestehen.
Sie leerte die Rosinen in die Messingschale ihrer gusseisernen Küchenwaage, und die Gewichte hoben sich, bis sie zu einem fragilen Gleichgewicht fanden. Sie verzog das Gesicht, als sie an die digitale Alternative dachte, die Bernard ihr ständig aufschwatzen wollte, und sie fragte sich, warum die Gesellschaft andauernd das Bedürfnis hatte, Dinge besser zu machen, die bereits gut genug waren.
Als Nächstes riss sie die Tüte mit den Sultaninen auf und ließ sich von dem satten, zuckersüßen Geruch gefangen nehmen, der sie daran erinnerte, wie sie als Kind beim Backen des Weihnachtskuchens geholfen hatte. Sie sah vor sich, wie sie die in Brandy eingeweichten Trockenfrüchte in die dicke, klumpige Masse gerührt und immer wieder einen kleinen Happen stibitzt hatte, wenn ihre Tante nicht hingesehen hatte.
»Hallihallo!«, rief Bernard von der Eingangstür aus und schloss sie hinter sich.
Sie warf einen prüfenden Blick in die Teekanne. Der Earl Grey hatte so lange gezogen, dass er fast schon bitter schmeckte, und auf der Oberfläche hatte sich eine zarte Haut gebildet.
»Hallo, Darling«, sagte Bernard. »Ist dir etwas in den Tee gefallen?«
»Nein«, erwiderte sie, legte den Deckel zurück auf die Kanne und goss den Tee großzügig über die Früchte. Feuchter Dampf überzog ihre Wangen. »Ich mache Teekuchen. Wie ist es gelaufen?«
Er stellte eine Tüte auf die mit Zucker und Mehl bestäubte Arbeitsplatte.
»Sieht so aus, als hätte ich auf meine alten Tage auch noch Asthma bekommen.« Er öffnete das Küchenschränkchen über ihrem Kopf und fügte seiner Medikamentensammlung eine neue Schachtel hinzu. »Sie haben mir einen Inhalator verschrieben.«
Sie wandte sich um und sah ihn besorgt an. »Asthma?«
»Entweder das, oder es ist eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung, du weißt schon, dieses COPD. Auf jeden Fall müssen wir es im Auge behalten.«
»Das klingt ziemlich ernst.« Ihr entging nicht, wie schwer er atmete und wie sich sein knochiger Rücken unter dem Wollpullover abzeichnete.
»Natürlich wäre es nicht gerade toll, wenn es sich tatsächlich als COPD entpuppt, aber ich hoffe, dass der Inhalator seinen Zweck erfüllt.«
»Und wie kommen die Ärzte zu dieser Diagnose?«
»Sie glauben, dass die jahrelange Arbeit als Tischler und der Staub meiner Lunge zugesetzt haben. Mir wurde geraten, es langsam anzugehen, und ich meinte, das wäre kein Problem. Schließlich planen wir in nächster Zeit keine großen Abenteuer, nicht wahr?« Er schloss das Küchenschränkchen. »Außerdem sind wir mittlerweile mehr als glücklich mit einer Zeitung in der Hand und Hausschuhen an den Füßen.«
Sie presste die Lippen aufeinander und nickte zögerlich.
»Es war und wird nie selbstverständlich für mich sein, mit dir zusammen alt werden zu dürfen«, erklärte er und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.
»Niemals«, stimmte sie ihm zu und stellte die Schale mit den getränkten Früchten auf das Fensterbrett, wo sie bleiben würden, bis sie aussahen wie Fingerkuppen nach einem zu langen Bad. Normalerweise standen sie über Nacht dort, aber heute mussten ein paar Stunden genügen.
»Aber jetzt verabschiede ich mich zu meiner Nachmittagszeitung, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Natürlich nicht«, erwiderte sie und wartete, bis seine Schritte verklungen waren, ehe sie in das Küchenschränkchen griff, um sich den Inhalator anzusehen, damit sie mit allen wichtigen Maßnahmen vertraut war, falls er einmal in Schwierigkeiten geriet.
»Deine Sendung beginnt gleich!«, rief Bernard aus dem Wohnzimmer. Der Fernseher hatte ihn einen Moment von seiner Zeitung abgelenkt.
»Komme schon!«, antwortete Jenny, während sie weiter in der Schublade neben dem Backofen wühlte. Sie enthielt eine Mischung der nützlichsten und nutzlosesten Dinge im Haus, je nachdem, wer gerade in ihr kramte. Ein Sammelsurium an Gegenständen, die sie in ihrem gemeinsamen Leben angehäuft hatten. Ein kleines Schraubenzieherset, das 1995 in einem Knallbonbon gesteckt hatte, eine Muschel mit Wackelaugen, die ihre Großnichte Poppy gebastelt hatte, und – am allerwichtigsten – das Backpapier, nach dem sie suchte. Sie legte in Windeseile die Backform damit aus, füllte den Teig ein und schob alles in den heißen Ofen, bevor sie sich zu Bernard ins Wohnzimmer gesellte.
Seine buschigen Augenbrauen lugten gerade noch über dem Rand der Zeitung hervor, und er wippte mit seinen abgetragenen Hausschlappen im Takt der Titelmelodie von Das Backduell – Backen auf der Insel. Er gab sich gleichmütig und blieb hinter der Zeitung verborgen, aber sie hatte schon oft beobachtet, wie sein Gesicht über der Zeitung aufgetaucht war, weil das Drama um ein in sich zusammengefallenes Schaumgebäck seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Diese Woche stand die Weihnachtsausgabe auf dem Programm, und eine Gruppe ehemaliger Kandidaten und Kandidatinnen hatte die Aufgabe bekommen, eine Festtagstorte zu backen. Jenny drehte sich die feinen silbernen Haare hoch und fixierte sie mit einer kleinen Klammer, während sie mit wachsendem Unbehagen zusah, wie die Jury die Santa Claus im Kamin-Torte von Graham, einem warmherzigen, sympathischen Lkw-Fahrer, als trocken bezeichnete. Jennys Eindruck nach hatte er sich zu sehr bemüht, etwas Ausgefallenes mit zu vielen verschiedenen Zutaten zu zaubern. Normalerweise gewannen Kandidaten, die etwas Vertrautes mit einem zusätzlichen Twist in etwas Neues verwandelten. Am Ende bekam die Geschichtslehrerin Laura den goldenen Kochlöffel für ihre Neuinterpretation eines klassischen Weihnachtskuchens mit Schokolade, Kirschen und Mandeln. Die Juroren lobten den hervorragenden Geschmack, aber Jenny hätte wohl eher die altbewährte Mischung bevorzugt. Sie warf einen Blick auf Bernard, doch der schien ähnlich unbeeindruckt, denn die Zeitung bedeckte mittlerweile sein Gesicht und hob und senkte sich im Rhythmus seines zufriedenen Schnarchens.
Während des Abspanns dachte Jenny an das bevorstehende siebenundsiebzigste Weihnachtsfest ihres Lebens und an das näher rückende Ende eines weiteren Jahres. Sie sah Bernard beim Schlafen zu und lauschte seinem Atem, der langsam dieses typische, seltsame Pfeifen annahm. Der Sopran zum Tenor seines Schnarchens. Sie ließ zu, dass ihre Gedanken eine ernstere Richtung einschlugen, und fragte sich, wie viele Weihnachten sie wohl noch zusammen erleben würden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er allein in seinem Sessel saß und ihn niemand weckte und ihm sagte, dass es Zeit fürs Bett war. Sie dachte an die andere Möglichkeit, nämlich, dass sie allein zurückblieb und auf seinen leeren Sessel starrte, in dessen dunklem Samt noch sein Abdruck zu sehen war. Der Abdruck eines Menschen, der diese Welt bereits verlassen hatte. Mit einem Mal war sie sich der Dringlichkeit ihrer schwindenden Existenz mehr als bewusst. Der bitteren Wahrheit ihres Alters und der Tatsache, dass sie einen Punkt erreicht hatte, an dem der größte Teil ihres Lebens bereits hinter ihr lag.
Sie nahm die Fernbedienung, die neben Bernards Sessel lag, und richtete sie auf den Fernseher, als könnte sie damit auch ihre Gedanken abstellen, aber als sie gerade den Knopf drücken wollte, wurde der Abspann von einer Ankündigung unterbrochen.
»Sie backen gern? Sie wollen im kommenden Jahr Teil unserer Show werden? Dann gehen Sie jetzt auf unsere Homepage und bewerben Sie sich!«
Mit einem Mal war sie hellwach, und ihre Angst trat in den Hintergrund, als sie die Schlagzeilen in der Regionalzeitung vor sich sah: 77-Jährige aus Kittlesham gewinnt Das Backduell – Backen auf der Insel!und Juroren begeistert von Jenny Quinns Teekuchen!
»Ist es schon vorbei?«, fragte Bernard blinzelnd.
»Ja, ist es. Zeit fürs Bett!«, sagte sie und schob ihre Gedanken eilig beiseite. Peinlich berührt, als hätte er sie beim Lesen in einem fremden Tagebuch erwischt.
Am darauffolgenden Morgen wurde Jenny wie immer früh von Bernards Pfeifen geweckt, der unten in der Küche Tee für sie beide kochte. Das Geräusch hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt, und sie fragte sich, ob sie es wohl auch noch hören würde, wenn er nicht mehr da war.
Während sie gemächlich den Schlaf hinter sich ließ, hörte sie das Klappern der Arzneifläschchen, gefolgt von mehreren keuchenden Atemzügen, als Bernard den neuen Inhalator benutzte. Dann kamen das Rumpeln des Wasserkochers, kurz bevor das Wasser aufwallte, das schmatzende Geräusch der Kühlschranktür, als er die Milch herausholte, und der dumpfe Aufschlag der Zeitung, die auf der Fußmatte landete. Pünktlich wie die Uhr trat er kurz darauf mit zwei Tassen Earl Grey und der Zeitung unter dem Arm ins Schlafzimmer, und die weißen Haare standen ihm nach einer erholsamen Nacht in liebenswerten Büscheln ab.
»Guten Morgen, Darling«, sagte er und öffnete die Vorhänge, sodass fahles Winterlicht auf die Steppdecke fiel. Die Bäume vor dem Haus waren nur noch Schatten ihrer selbst, denn langsam fielen auch die letzten Blätter, und die Vögel plusterten sich auf vor Kälte.
»Ich habe da eine Idee«, verkündete er, und seine Augen funkelten. »Ich werde Poppy als Weihnachtsgeschenk ein Puppenhaus bauen, eines dieser traditionell viktorianischen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, schon klar, aber ich glaube, ich könnte es noch schaffen.«
»Das ist eine wunderbare Idee«, meinte Jenny und nippte an ihrem heißen Tee. »Aber bist du dir sicher, dass du das tun solltest? Es klingt nach jeder Menge Staub.«
»Ich glaube nicht, dass das jetzt noch einen Unterschied macht«, erwiderte er.
»Sie wird sich auf jeden Fall sehr darüber freuen«, erklärte Jenny, während sie bei sich dachte, was für ein wundervoller Vater er doch gewesen wäre.
Nachdem Bernard mit der Aussicht auf einen geschäftigen Vormittag in seiner Werkstatt verschwunden war, dachte Jenny an seine Feststellung, dass keine Abenteuer mehr vor ihnen lagen und sie mit ihrem beschaulichen Leben mehr als glücklich waren. Aus einem stillen Protest heraus beschloss sie, einen Abstecher ins Büro zu machen. Es war ein kastenförmiger Raum, in dem sich alle möglichen unwichtigen Briefe mit durchsichtigem Fenster und gedruckter Adresse stapelten. Den Mittelpunkt bildeten ein Computer und ein Drucker. Ihr Herz schlug ein wenig schneller, als sie sich vor den Bildschirm setzte. Sie war sich sicher, dass der Computer genau beobachtete, wie sie sich beim Bedienen anstellte.
Sie bewegte die Maus, und er sprang unter dem lauten Getöse zahlreicher Gebläse an. Das Leben eines Computers schien Schwerstarbeit. Im Drucker lagen einige vergessene Seiten mit der Überschrift DIY Puppenhaus, und sie lächelte, als sie sich vorstellte, wie Bernard eifrig für sein nächstes Projekt recherchiert hatte. Sie tippte mit dem Zeigefinger Das Backduell – Backen auf der Insel in die Suchmaschine und klickte auf Jetzt bewerben.
Sie überflog das Bewerbungsformular. Die Anzahl der Fragen war überwältigend, und sie musste Fotos von ihr und ihren schönsten Kreationen hochladen oder einschicken. Ihr Blick blieb an der Frage Warum und für wen backen Sie?, hängen. Sie überlegte. Darüber hatte sie noch nie richtig nachgedacht. Wenn das Leben sie zu sehr forderte, bot ihr die Einfachheit des Backens Zuflucht, und es gab eine Zeit lang bloß Eier, Zucker, Butter und Mehl. Backen war ihre stärkste Verbindung zur Vergangenheit, und die Rezepte gehörten zu ihren wertvollsten und liebsten Erinnerungen. Sie dachte an die selbst gemachten Reiswaffeln ihrer Schwiegermutter, die genauso schlicht und bodenständig waren, wie die Köchin es gewesen war. Backen machte die Menschen, die Jenny am meisten geliebt hatte, wieder lebendig.
Die nächste Frage lautete: Was war Ihre beeindruckendste Kreation? Sie dachte an die Geburtstagstorten, die sie in all den Jahren für Bernard gebacken hatte und die jedes Mal seine gerade aktuellen Interessen widerspiegelten. Ein besonderer Hit war der Sportwagen aus Lebkuchen gewesen, den sie gebacken hatte, weil sie sich im echten Leben keinen leisten konnten. Und ihre Hochzeitstorte! Die war bis heute ihr ganzer Stolz. Auf dem obersten Stockwerk der Etagere hatte sie eine Torte aus klassischem Rührkuchenteig mit Früchten platziert, die sie mit Zuckerguss überzogen hatte, darunter folgten zwei Ebenen mit Fondantpralinen. Obwohl es mittlerweile sechzig Jahre her war, wusste sie noch, wie aufgeregt sie gewesen war, als sie den Rand mit weißem Zuckerguss verziert, jede Praline mit einem Q versehen und dabei in einem fort in Gedanken ihren neuen Namen wiederholt hatte. Mrs.Jennifer Quinn. Die All-Saints-Kirche, in der sie geheiratet hatten, stand auf einem Hügel, inmitten von Feldern, und es roch nach Kerzenwachs, Weihrauch und Eichenholz. Ihr Vater führte sie zum Altar, wo ihr Bernie auf sie wartete. Ein hochgewachsener Mann, der die Hände nervös hinter dem Rücken umklammerte und dessen braune Augen sie zu verschlingen schienen. Er hatte die dunklen, widerspenstigen Haare penibel zur Seite frisiert, was seine großen Ohren betonte, derentwegen er oft Demütigungen einstecken musste, für die Jenny allerdings mittlerweile eine große Schwäche zeigte.
Mit den Gedanken wieder zurück im Büro, wanderte ihr Blick weiter zu einem Teil des Formulars, in dem sie ihre Fähigkeiten in bestimmten Bereichen benoten sollte. Plätzchen, Tartes, gefüllte Kuchen, süße Desserts, Torten und … Brot. Sie hatte noch nie einen Laib Brot gebacken, auf den sie stolz gewesen wäre. Bei ihrem letzten Versuch war das Brot derart versalzen gewesen, dass nicht einmal die Vögel es fressen wollten, trotzdem glaubte sie, ins Rennen um den Titel »größter Backchampion Großbritanniens« gehen zu können. Sie erkannte ernüchtert, wie albern der Gedanke war, sie wäre mehr als eine alte Lady, die gern den Backlöffel schwang. Genau wie Millionen andere auch.
Sie scrollte nach unten und spürte, wie sie langsam der Mut verließ. Im stolzen Alter von siebenundsiebzig sollte sie glücklich sein mit dem, was sie hatte, trotzdem fragte sie sich unwillkürlich, was sie in all den Jahren erreicht hatte. Was hatte sie ohne Bernard? Das schlechte Gewissen stieg wie dunkler Nebel in ihr hoch, als sie sich vorstellte, er könnte ihre Gedanken hören, und ihre eigene Undankbarkeit ließ sie erschaudern.
Sie wollte das Formular gerade schließen, als sich ihre Brust zusammenzog. Ganz unten stand der Einsendeschluss: 11. Januar, unterstrichen und fett hervorgehoben, wie um sie zu verhöhnen. Drei Wochen. Sie schloss die Website, machte den Computer aus und verließ das Zimmer. War es ein Zeichen oder bloß ein schmerzhafter Zufall?
Es war immer der Traum der beiden Quinns gewesen, sich in Kittlesham zur Ruhe zu setzen, nachdem sie während eines Urlaubs an der Küste in den Anfangsjahren ihrer Ehe zufällig auf das Dorf gestoßen waren. Es lag am River Huckmere, und bei ihrem ersten Besuch war es, als hätten sie etwas lange Verborgenes entdeckt, als wären sie in einen verwunschenen Garten oder durch die Rückseite eines Kleiderschrankes getreten. Schon nach kurzer Zeit waren sie sich einig, dass sie hier ihren Lebensabend verbringen wollten. Es war der Inbegriff eines kleinen, englischen Dorfes mit reizenden, alles andere als makellosen Häuschen und mittelalterlichen Pubs, deren Türen so niedrig waren, dass Bernard sich bücken musste, um hindurchzukommen – allerdings jedes Jahr ein bisschen weniger. Der Dorfladen sah aus wie die Vorratskammer eines Wohnhauses, und obwohl sich die Kunden über die Jahrzehnte veränderten, blieb der Laden selbst gleich.
Es war ein kalter, klarer Morgen, und Jenny und Bernard gingen die Hauptstraße entlang in Richtung Kirche, die unter der Frostschicht aussah, als hätte sie jemand mit Zuckerguss überzogen.
»Gib Acht, dass du nicht ausrutschst«, warnte Jenny Bernard und umfasste seine Hand ein wenig fester. Ihre Hand lag in seiner, und sie wärmten einander. Zwei Hände, die zusammen alt geworden waren, mit geschwollenen Fingerknöcheln und Altersflecken, die aber immer noch perfekt ineinander passten.
»Sind das dort mit dem Kinderwagen etwa Ann und Fred?«, fragte Bernard, und sein warmer Atem bildete Wolken, die sich in der eisigen Luft auflösten.
Jenny sah lediglich zwei miteinander verschmolzene Mäntel und die dazugehörigen Hüte, die immer deutlicher wurden, je näher sie kamen.
»Ja, ich glaube schon«, erwiderte sie.
Ann war eine gepflegte Frau mit dem Gebaren eines Terriers und durchdringendem Blick, der genauso kalt war wie ihr Auftreten. Sie gehörte zu den bedauernswerten Menschen, die schon vom ersten Eindruck an unsympathisch waren, aber Jenny hatte sie über die vielen Jahre lieb gewonnen und mochte sie vielleicht sogar gerade deswegen. Sie war unerschütterlich loyal, und man wusste immer, woran man bei ihr war. Ihr Mann Fred traf niemals eine Entscheidung allein und schien durchaus glücklich mit dieser Dynamik.
»Hallo!«, rief Ann und schob den Kinderwagen so schwungvoll über die Pflastersteine, dass er kräftig ins Wanken geriet, während Fred und ihre beiden Enkelkinder hinterherhasteten. Es schien, als wäre der Kinderwagen ein Einkaufswagen und Jenny und Bernard zwei weitere Punkte auf ihrer Einkaufsliste.
»Toby, Isabelle, das sind unsere Freunde Jenny und Bernard«, erklärte sie.
Isabelle versteckte sich prompt hinter Freds Beinen, während Toby zu ihnen aufsah, die Nase rot vor Kälte.
»Schön, euch kennenzulernen«, sagte Jenny und beobachtete Bernard, der sich über den Kinderwagen beugte.
»Das ist meine Schwester Ellie«, erklärte Toby mit stolzgeschwellter Brust. »Sie ist neu.«
»Gratulation«, sagte Bernard. »Sie ist wunderhübsch.«
»Wie ihr seht, haben wir dieses Wochenende alle Hände voll zu tun. Großelternpflichten!«, verkündete Ann.
»Wie schön«, meinte Jenny. »Was macht ihr denn so?«
»Wir waren im Süßigkeitenladen!«, tat Freds Bein kund, das Isabelle fast vollständig verbarg.
Ann verdrehte die Augen und schloss Tobys obersten Mantelknopf, sodass es aussah, als würde der Mantel den Jungen tragen und nicht umgekehrt. »Fred war mit ihnen im Süßigkeitenladen, da ist der Besuch im Museum natürlich schnell vergessen.«
»Wie geht es euch?«, fragte Fred etwas lauter als nötig, denn er hörte schon ein wenig schlecht.
»Gut, danke«, antwortete Jenny. »Bernard war die ganze Woche in der Werkstatt mit Poppys Puppenhaus beschäftigt, und ich backe für Weihnachten.«
»Der Luxus uneingeschränkter Freizeit«, meinte Ann, zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und wischte Isabelles Nase mit einer einzigen geübten Bewegung sauber. »Mit fünf Enkelkindern ist man rund um die Uhr beschäftigt, nicht wahr, Fred?«
Fred lächelte abwesend, ein Gesichtsausdruck, der zu jeder Situation passte und den er über die Jahre perfektioniert hatte.
»Dann halten wir euch am besten nicht länger auf.« Jenny betrachtete eingehend Bernards Schuhspitzen, um Anns Blick zu entgehen.
»Wir sehen uns!«, verabschiedete sich Ann und fuhr im Zickzack mit dem Kinderwagen davon. »Komm, Isabelle!«
Sie gingen weiter, und es wurde immer eisiger.
»Was für nette Kinder«, sagte Bernard, dessen Ohren bereits rot vor Kälte waren. »Und alle haben rote Haare, sogar das Baby.«
»Gehen wir doch schnell mal in den Laden«, schlug Jenny vor und steuerte Bernard Richtung Tür. »Ich brauche Brotmehl und Hefe.«
Die Küche war seit dem Tag ihres Einzugs unverändert geblieben, und obwohl klein und altmodisch, war sie ihr wunderbar vertraut. Alles hatte seinen Platz, und Jenny betrieb sie wie ein Auto, das nur sie allein fahren konnte. Die einst modischen und neuen Schranktüren hingen schwer in den Angeln und klemmten, und sie wusste genau, wie sie die Schubladen öffnen und schließen musste, damit sie nicht aus den Schienen gerieten.
Sie hatte sich für ein Rezept ihrer Mutter entschieden, weil es den Titel Einfaches Sandwichbrot trug, und folgte den Buchstaben mit dem Finger. Die Handschrift war kritzelig und übereilt, und sie erinnerte Jenny an den ständigen Kampf ihrer Mutter gegen die Uhr, was gleichzeitig ihre liebenswerteste und auch ihre frustrierendste Eigenschaft gewesen war. Sie erinnerte sich, dass ihre Schuhe kaum den Boden berührt hatten, wenn ihre Mutter sie als kleines Kind die Straße hinuntergezerrt hatte, um sie zehn Sekunden nach dem Klingeln der Glocke durch das Schultor zu schieben. Und an die unzähligen Gottesdienste, bei denen ihre Mutter unauffällig in die letzte Reihe gehuscht war und versucht hatte, nicht zu laut zu atmen, damit niemand bemerkte, dass sie den ganzen Weg gelaufen und trotzdem fünf Minuten zu spät gekommen war. Vielleicht war Jenny gerade deshalb so stolz auf ihr Zeitmanagement, weil ihre Mutter ständig und überall zu spät gekommen war.
Sie schlug die Luft mit den Fäusten aus dem Teig und wurde wieder einmal an ihr Alter erinnert, als sie die Knöchel in die elastische Masse drückte. Sie breitete sich vor ihren Augen aus wie ein lebendiger Organismus.
»Nachdem ich die Luft herausgedrückt habe, braucht der Teig einige Zeit, um zu gehen«, erklärte sie und sah lächelnd ins Fenster, als wäre es eine Kamera und sie eine der Jurorinnen von Das Backduell, deren weiße Zähne aus dem Fernseher blitzten.
»Nach einer Stunde ist er so weit, dass er in den …«
»Darling? Ist alles in Ordnung?«
Bernard sah besorgt zur Tür herein, woraufhin sie vor Schreck den Teig über ihre Schulter und auf den kalten Fliesenboden schleuderte, wo er mit einem unangenehmen Klatschen aufkam.
»Großer Gott!«, rief sie und hob den Teig so schnell es ging hoch, um ihn vielleicht doch noch zu retten. »Ich habe nur das Rezept laut vorgelesen. Das hilft mir manchmal, mich daran zu erinnern.«
»Es sah aus, als würdest du durch das Fenster mit jemandem reden«, sagte er und warf prüfend einen Blick hinaus, während sie den Teig in eine Brotbackform legte.
»Du willst ihn backen, obwohl er auf dem Boden gelandet ist?«, fragte er verwirrt.
»Bernard, was sollen die vielen Fragen?« Sie fächerte sich mit dem fadenscheinigen Ofenhandschuh Luft zu. »Ich will einfach sehen, ob er noch aufgeht. Ich brauchte mal eine Herausforderung, wir müssen das Brot ja nicht essen.«
Er nickte und verzog sich wieder in seine Werkstatt.
Es dauerte weitere zwei Stunden, bis ihr Brot fertig war, was bedeutete, dass sie insgesamt fünf Stunden damit beschäftigt gewesen war, und das ohne den Genuss, die Rührschüssel bis auf den letzten Klecks auszuschlecken, wie es bei einer Torte der Fall war. Als sie das Brot anschnitt, fiel die Scheibe mit einem dumpfen Rums auf den Teller. Der Teig war zu fest und trocken, und nach einem Bissen war sie sich sicher, dass sie nicht noch einen probieren wollte.
»Einfaches Sandwichbrot?!«, schnaubte sie verächtlich, dann ging sie mit dem Brot unter dem Arm in den Garten, riss es achtlos in Stücke und legte sie ins Vogelhaus.
Jenny spülte die Rührschüssel, und heißes Wasser schwappte über ihre Handgelenke, während sie zusah, wie die Sonne hinter den Bäumen verschwand. Eine Amsel landete im Vogelhaus und pickte hektisch auf den Brotstücken herum.
»Na also, zumindest einem scheint es zu schmecken«, sagte Bernard und schob ein gedrehtes Geschirrtuch in ein Wasserglas, während er Jenny beobachtete. »Diesmal gehen die Vögel dran, das ist doch ein Anfang!«
Die Amsel schleuderte die Rinde in die Luft, sodass sie auf dem Boden landete, dann hüpfte der Vogel über den Rasen davon.
»Zu früh gefreut«, seufzte Jenny, und ihr Lächeln wurde von Schuldgefühlen getrübt.
Wenn sie sich wirklich bewerben wollte, hatte sie noch jede Menge Arbeit vor sich. Sie würde es vorerst für sich behalten und Bernard erst davon erzählen, wenn es ernst wurde. Es war besser so.
In den neunundfünfzig Jahren ihrer Ehe war das erst das zweite Geheimnis, das sie vor ihm hatte. Das erste lag sicher verwahrt, tief in ihrem Inneren. Es gehörte zu einem anderen Leben, und sie würde es für alle Ewigkeit fest verschlossen halten.
Heiligabend war die perfekte Gelegenheit, um Torten und Kuchen für das Bewerbungsverfahren zu backen, ohne dass jemand fragte, weshalb sie süße Köstlichkeiten für eine ganze Kompanie zubereitete. Der Weihnachtsbaumstamm nach dem hochgeschätzten Familienrezept von Bernards verstorbener Schwester war beinahe fertig. Margot hatte das Leben geliebt und sowohl das Schicksal als auch die Menschen mit solcher Freude in die Arme geschlossen, dass in ihrer Gegenwart stets die Sonne aufgegangen war. Ihr Leben war von Freigiebigkeit erfüllt gewesen, als hätte sie schon immer gewusst, dass ihre Zeit begrenzt war. Jenny folgte Margots Tradition seit deren Tod jedes Jahr, weil es Bernard eine Menge bedeutete und Margot auf diese Weise immer noch ein Teil ihrer Weihnachtsfeierlichkeiten war.
Jenny stach vorsichtig mit der Gabel in die Mitte des Schokobiskuits und lobte sich im Stillen selbst, als nichts daran haften blieb. Sie stellte das Kuchenblech zum Auskühlen zur Seite und breitete ein Geschirrtuch darüber, das mit Selbstporträts von Poppys Freunden aus der Vorschule bedruckt war. Poppy hatte keinen Körper, sondern nur ein großes, vor Freude grinsendes Gesicht, aus dem Arme und Beine ragten und das von einem Bob aus wenigen Strichen umrahmt wurde. Der Junge neben ihr hieß Oliver und wirkte wie ein Wesen von einem anderen Stern, ungewöhnlich klein, mit kleeförmigen Händen und allen wichtigen Körperteilen.
Es war faszinierend, wie viel Persönlichkeit in den Zeichnungen lag. Der kleine Oliver etwa war mit Sicherheit besonnen und aufmerksam. Poppy hingegen war eine Quasselstrippe und trat damit direkt in die Fußstapfen ihrer Großmutter Margot. Das große, grinsende Gesicht auf zwei Beinen zeigte ein kleines, unbeschwertes und selbstbewusstes Mädchen.
Sobald der Biskuit abgekühlt war, griff sie nach dem Spachtelmesser und trug Schokoladenganache und flaumige Schlagsahne auf, während sie sich vorstellte, das köstlichste Sandwich der Welt zuzubereiten. Danach rollte sie den Teig Zentimeter um Zentimeter ein und hielt den Atem an, während sie ihn mit größter Sorgfalt in die richtige Richtung drückte. Ein Riss im Teig wäre eine Katastrophe gewesen, auch wenn es Margot nichts ausgemacht hätte. Sie hätte Jenny vielmehr erklärt, dass der Geschmack doch trotzdem gleich blieb und es unter dem darüber gestreuten Puderzucker ohnehin niemandem auffiel.
»Du liebe Zeit, wie sollen wir denn das alles ins Auto bekommen? Wir haben ja auch noch das Puppenhaus …«
Bernard war in die Küche gekommen, wo auf sämtlichen Oberflächen Süßspeisen thronten und die warme Luft nach Schokobiskuit duftete. Auf den Kuchengittern reihten sich lieb gewonnene alte Familientraditionen aneinander: Mince Pies, Tiffin und die knusprigen Reiswaffeln, die Bernards Mutter immer gebacken hatte und die jedes Weihnachten einen besonderen Auftritt hatten. Dazu kamen jedoch auch einige neue und recht extravagante Kreationen, darunter ein Napfkuchen, der mit glasierten Beeren garniert war und aussah wie vom Cover eines Backmagazins.
»Das wird schon klappen, ich nehme einfach einen Teil auf den Schoß«, sagte Jenny und genoss den befriedigenden Anblick, wie der Puderzucker aus dem Sieb auf den Weihnachtsbaumstamm fiel. Nur echter Schnee war schöner.
»Margots Weihnachtsbaumstamm«, freute sich Bernard, als würde er einen alten Freund willkommen heißen.
»Er war noch jedes Weihnachten dabei«, meinte Jenny. »Also, wo ist Ernie?«
Sie öffnete die Schublade neben dem Backofen, kramte darin herum und holte schließlich eine etwas derangierte Rotkehlchenfigur heraus, die sie auf den Baumstamm setzte. Der Schnabel hing nur noch an einem dünnen Draht.
»Wenigstens einer, dem das Alter noch mehr zugesetzt hat als mir«, bemerkte Bernard und schloss die ersten Behälter mit den Leckereien.
»Warte«, sagte Jenny und klang dabei, als wäre ihr der Gedanke gerade erst gekommen. »Würdest du ein Foto von den Sachen machen? Jetzt, wo alles so hübsch hier steht?«
Bernard nickte und ging nach oben, um die Kamera zu holen. Als er zurückkam, hatte Jenny ihr bestes rotes Karotischtuch ausgebreitet und dekorierte ihre Kreationen gerade mit Stechpalmenblättern aus dem Garten.
»Ein wahres Festmahl«, schwärmte Bernard. Seine Brille saß auf der Nasenspitze, während er versuchte, auf dem Display etwas zu erkennen. »Ich mache auch eines mit dir.«
Sie steckte sich die feinen silbernen Haare hinters Ohr, trug eine frische Schicht rosafarbenen Lippenstift auf und lächelte unnatürlich in die Kamera.
»Wie sehe ich aus?«
»Umwerfend«, antwortete Bernard, dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Aber jetzt sollten wir lieber los. Bei dem Verkehr dauert es womöglich Stunden, bis wir angekommen sind.«
Es war Tradition, dass sie Weihnachten mit Bernards Nichte Rose, ihrem Mann Jeremy und den Kindern Poppy und Max verbrachten. Poppy war mittlerweile acht und Max vierzehn, und die Ankunft der Quinns läutete jedes Jahr den Beginn des Weihnachtsfestes ein.
Bernard packte den Kofferraum mehrmals um und klappte die Sitze nach vorn, um das Puppenhaus zwischen den Taschen zu verstauen. Als er es endlich geschafft hatte, warf er schwer atmend den Kofferraumdeckel zu.
»Hast du deinen Inhalator eingepackt?«, fragte Jenny, die unter den vielen Behältern mit ihren Kreationen kaum zu sehen war.
»In meinem Koffer«, antwortete er und startete den Wagen. »Wir können nur hoffen, dass wir keinen Unfall bauen, Jenny. Die denken sonst, ein lebendiger Kuchen wäre mit dem Auto gefahren!«
Sie fuhren von Weihnachtsmusik aus dem Radio begleitet die Fernstraße entlang, und Jenny sah aus dem Fenster und beobachtete die anderen Fahrer und Mitfahrer, die auf dem Weg zu ihren Weihnachtsfeierlichkeiten waren. Da war ein besorgt wirkender Mann, der – wie sie vermutete – von seiner panischen Frau losgeschickt worden war, um die vergessene Brandybutter zu besorgen. Er wusste wohl nicht, dass man sie ganz einfach selbst herstellen konnte und sie dann sogar noch besser schmeckte. Auf dem Rücksitz eines Familienvans saßen zwei kleine Jungen und hatten den Blick in den dunkler werdenden Himmel gerichtet. Offenbar hofften sie, einen frühen Blick auf den Weihnachtsmann zu erhaschen. Einer der kleinen Jungen wandte sich um, deutete auf ihr Auto und drückte sich seine Nase an der Fensterscheibe platt. Einen Moment lang dachte Jenny, er hätte sie mit jemandem verwechselt, aber dann wurde ihr klar, dass der Junge Interesse an Maurice, dem kleinen, müde aussehenden Bären auf dem Armaturenbrett, gefunden hatte.
Maurice hatte zwei Glasaugen, von denen eines nur noch an einem dünnen Faden hing und in eine andere Richtung blickte. Außerdem hatte er mittlerweile mehrere kahle Stellen. Er hatte in jedem ihrer Autos gewohnt, und er war nach ihrem allerersten Wagen, einem Morris Minor 1000, benannt worden. Jenny erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie ihn gekauft hatten. Es war Bernards fünfundzwanzigster Geburtstag gewesen, und er hatte strahlend die gewölbte, graublaue Motorhaube gestreichelt. Jenny war anfangs nicht wohl dabei gewesen, so viel Geld auszugeben, aber Bernard hatte monatelang einen Teil seines Lohns für das Auto gespart und war nicht davon abzubringen. Denk doch nur an all die Abenteuer, die wir damit erleben werden, hatte er gesagt, und er hatte recht behalten.
Sie sah von Maurice zu Bernard, der sich auf die Straße konzentrierte. Die Falten um die Augen und um den Mund wiesen ihn als gutmütigen Mann aus, der gern lachte. Sie bewunderte seine ungewöhnlich dichten Wimpern, um die sie ihn seit mehr als einem halben Jahrhundert beneidete, und dachte an die vielen Stunden, die sie neben ihm auf dem Beifahrersitz verbracht hatte. Manchmal unterhielten sie sich, dann wieder genossen sie einfach schweigend die Gesellschaft des anderen. Ein Leben ohne ihn konnte sie sich nicht vorstellen.
Jenny stand auf einem Stuhl, die mehrmals übergeschla-gene Schürze ihrer Mutter um die Mitte gewickelt, und sah zu, wie Schmalz und Margarine in kleine Würfel geschnitten wurden, die schließlich lautlos ins Mehl fielen.
»Du musst die Mischung zerreiben«, erklärte ihre Mutter, während sie ihre Ringe von den Fingern zog und aufs Fensterbrett legte.
»So.« Sie stellte sich hinter Jenny und summte vor sich hin, während sie das Fett und das Mehl zwischen ihre Handflächen nahm und diese aneinander rieb, als müsste sie ihre Hände warm rubbeln. Das Gemisch rieselte wie Schnee zurück in die Schüssel.
Jenny nickte und spürte den weichen Faltenrock ihrer Mutter an der Hinterseite ihrer Beine, als sie versuchte, es ihr nachzumachen, wobei ihre kleinen Hände es nicht ganz hinbekamen.
»Genau so«, lobte ihre Mutter, strich ihr die Haare hinter die Ohren und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Du musst nur Geduld haben. Irgendwann sieht es aus wie Brotkrumen.«
Das Fett klebte zwischen ihren Finger, und sie musste immer wieder aufhören, um es abzulösen und in die Schüssel zurück fallen zu lassen, und noch einmal von vorn zu beginnen. Es hatte etwas Befriedigendes, die eigenen Hände zu benutzen und das kitzelnde Mehl zwischen den Fingern zu spüren.
Plötzlich schnappte ihre Mutter nach Luft.
»Es ist schon zwei Uhr nachmittags!«, rief sie und beugte sich über Jenny, um in rasendem Tempo den Rest zu erledigen, bevor sie etwas kaltes Wasser hinzufügte. »Wir sollten längst bei Großmama sein. Wo ist die Zeit nur hin?«
Sie vermengte alles mit dem Messer, und ihr ganzer Körper bewegte sich dabei, sodass der Anhänger ihrer Kette gegen ihre Brust schlug. Schließlich formte sie den Teig mit ihren zarten Händen zu einer Kugel, bestäubte das Nudelbrett mit Mehl und legte die Kugel in die Mitte.
»Jetzt musst du den Teig etwa einen halben Zentimeter dick ausrollen«, erklärte sie und zeigte Jenny mit den Fingern die ungefähre Dicke, bevor sie ihr das Nudelholz reichte.
Jenny legte die Hände auf die Griffe und drückte das Nudelholz in den Teig, um es mit ganzer Kraft vor und zurück zu rollen, doch es entstand lediglich eine große Mulde.
»Deshalb nehme ich eine Hälfte Schmalz«, erklärte ihre Mutter und legte die Hände sanft auf Jennys, um ihr behilflich zu sein. »So geht es einfacher.«
Am Ende lag der Teig wie ein kaltes, glattes Blatt Papier vor ihnen, und Jenny konnte nicht anders, als die Hand über die Oberfläche gleiten zu lassen. Mehl bestäubte ihre Fingerspitzen.
»Jetzt kommt das Beste«, verkündete ihre Mutter und legte einen Ausstecher auf den Teig, der einen zarten Abdruck hinterließ. »Versuche, so viele wie möglich auszustechen. Schön genau und nahe beieinander.«
Jenny drückte den Ausstecher fest in den Teig, und er sank hindurch, bis er auf dem Nudelbrett auftraf. Sie drückte den ausgestochenen Teig mit dem Finger heraus und bewunderte die symmetrische Form auf ihrer Handfläche.
»Wunderschön«, lobte ihre Mutter.
Irgendwann blieb lediglich ein durchlöcherter Teigrest übrig. Ihre Mutter formte ihn eilig erneut zu einer Kugel, und sie wiederholten die einzelnen Schritte, bis nur noch ein würfelgroßes Stück Teig vor ihnen lag.
»Darf ich das essen?«, fragte Jenny.
Ihre Mutter nickte, und auf ihrer rechten Wange erschien ein Grübchen. »Er ist nicht sonderlich süß, oder?«
»Nein«, antwortete Jenny und drückte den faden Teigklumpen mit der Zunge an den Gaumen. »Aber ich mag ihn trotzdem.«
Sie legten die ausgestochenen Kreise in die Formen, drückten die Ränder fest und gaben jeweils einen Teelöffel der Fruchtfüllung hinein.
»Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«, fragte ihre Mutter und beugte sich so nahe heran, dass Jenny ihr Parfüm riechen konnte. »Wenn ich noch etwas Mandelpaste übrig habe, verstreiche ich eine dünne Schicht auf der Füllung, bevor ich den Deckel aufsetze. Deshalb mag dein Vater meine Mince Pies am liebsten.«
Jenny bestrich den Teigrand mit Wasser und drückte den Deckel am Rand fest, sodass in der Mitte eine kleine Wölbung entstand, die ihre Mutter mit der Gabel anstach.
Enttäuschung stieg in ihr hoch, weil nun schon alles vorbei war, doch dann fiel ihr Blick auf ein übrig gebliebenes rundes Teigstück.
»Wenn du dich beeilst, kannst du daraus noch ein Marmeladentörtchen machen«, schlug ihre Mutter vor und holte ein Glas Konfitüre aus der Vorratskammer.
»Ich glaube, das Törtchen bekommt der Weihnachtsmann«, beschloss Jenny. »Falls er schon zu viele Mince Pies hatte.«
Ihre Mutter schob alles in den heißen Ofen, und Jenny setzte sich davor und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihre Wangen glühten, während ein süßer Duft das Haus erfüllte.
»Mummy«, fragte Jenny und runzelte besorgt die Stirn. »Wird es dieses Jahr eine Weihnachtsansprache geben? Jetzt, wo wir keinen König mehr haben?«
»Ich schätze, das wird Elizabeth übernehmen, immerhin ist sie jetzt unsere Königin«, erwiderte ihre Mutter. »Du ulkiges kleines Ding. Möchtest du ein Marmeladenlöffelchen?«
Jennys Gesicht hellte sich auf, als ihre Mutter ihr den Teelöffel wie einen Lolli überreichte.
Sie drückte das kalte, gewölbte Metall auf ihre Zunge, während sie in der erdbeerigen Süße schwelgte. Es gab keinen Ort, an dem sie glücklicher gewesen wäre.
Der Mond leuchtete vom Nachthimmel, und sie saßen vor dem Kamin, aßen in Scheiben geschnittenen Schinken, Scotch Eggs und Waldorfsalat und nippten an ihrem Glühwein, während sie lachten und sich unterhielten und dabei strahlten, wie es nur an Heiligabend möglich war.
Der erdige Geruch von Tannennadeln erfüllte den Raum, und der Weihnachtsbaum stand stolz im Fenster und trug die Erinnerungen an unzählige Weihnachten im Kreise der Familie. Es gab alten Baumschmuck aus den Vierzigern, der Margot gehört hatte, und ausgebleichte bunte Reflexkugeln mit einem goldenen Innenleben. Einen Stern aus Salzteig an einem roten Band, den Poppy ausgiebig mit Metalliclack bepinselt hatte und auf dessen Rückseite ihre Initialen eingeritzt waren. Und einen Schneemann, der etwas zerzaust, aber immer noch hoch geschätzt auf einem der unteren Äste saß und aus Krepppapier und denselben Wattebäuschen bestand, die Rose vermutlich zum Abschminken verwendete.
Jeremy erzählte Bernard von seinen Abenteuern auf dem Fahrrad. Er war ein drahtiger Mann, der die Woche über als Anwalt sein Geld verdiente und die Wochenenden in enger Sportkleidung verbrachte, während ihn seine gut trainierten Beine kurvenreiche Landstraßen entlang und auf Hügel trugen. Poppy platzte beinahe vor Aufregung und versuchte immer wieder, Bernards Aufmerksamkeit mit Unterbrechungen wie »Onkel Bernie, willst du mitkommen und dir mein Zimmer ansehen?« von ihrem Vater wegzulenken.
Jenny verstand, warum Poppy Bernard so abgöttisch liebte. Er hatte eine wundervolle Art, mit Kindern umzugehen, denn er sprach mit ihnen, als wären sie ihm ebenbürtig. Er klang nie herablassend, täuschte nie Begeisterung vor oder gab Kommentare zu ihrem Auftreten ab, sondern hörte ihnen mit derselben Aufmerksamkeit zu wie den Erwachsenen.
Während Poppy Bernard durchs Haus führte wie einen gutmütigen, aber müden Labrador, versuchte Rose, Max wenigstens ein paar Worte zu entlocken. Der Junge war seit dem letzten Weihnachtsfest offenbar zu einem Teenager herangewachsen.
»Erzähl Tante Jenny doch von dem Preis, den du in der Schule gewonnen hast«, schlug Rose vor und strich sich die dicken blonden Haare hinter die Ohren, von wo sie unweigerlich sofort wieder nach vorn sprangen, wie es Haare in der Familie Quinn so an sich hatten.
Max wippte mit den Knien und vermied jeden Blickkontakt. »Ich habe den Mathepreis für die höchste Jahresbewertung gewonnen«, erklärte er, als stünde darauf die Todesstrafe. Seine Stimme klang seltsam, wie eine falsch gestimmte Trompete.
»Das ist ja wunderbar, Max«, sagte Jenny und erinnerte sich, wie er als kleiner Junge in der Küche auf einem Stuhl neben ihr gestanden hatte, während sie Marmeladentörtchen zubereitete, und wie er aus dem restlichen Teig Roboter gebastelt hatte.
»Dann gefällt es dir also in der Schule?«
Max ließ die Haare noch weiter ins Gesicht fallen und zog unauffällig sein Handy aus der Hosentasche.
»Ja, schon«, antwortete er, grinste über etwas auf dem Display und antwortete in atemberaubendem Tempo auf eine Nachricht.
»Er muss jetzt bald die Fächer für die Mittlere Reife wählen«, fügte Rose hinzu, um seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch zu lenken. »Nicht wahr, Max?«
Er nickte. »Geschichte, Tontechnik, Spanisch und Fotografie.«
»Fotografie?« Rose richtete sich auf. »Seit wann?«
»Seit meine Freunde sich dazu entschieden haben …«
»Du solltest deine Zukunft aber nicht auf den Entscheidungen deiner Freunde aufbauen …«
»Spanisch«, meinte Jenny eilig, während Max an seinen ohnehin kurzen Fingernägeln zupfte. »Das ist eine tolle Sprache. Es ist sicher gut, so unterschiedliche Fächer zu wählen.«
»Genau«, erwiderte Max und warf seiner Mutter unter den Haaren hervor einen bösen Blick zu. Auf seiner Oberlippe zeichnete sich bereits der Schatten eines ersten Bartes ab.
Jenny hatte miterlebt, wie Rose in die Mutterrolle geschlüpft war, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Es hatte Weihnachten gegeben, an denen Max sich an ihr Bein geklammert hatte, während sie das Weihnachtsessen vorbereitet hatte, obwohl sie sich nebenbei noch ein winziges Baby vor den Bauch gebunden hatte. Jenny hatte gesehen, wie Rose eine Salzstange wie einen Zauberstab aus ihrer Tasche zog, wenn Max kurz davor stand, in Tränen auszubrechen, oder wie sie wie aus dem Nichts ein Malbuch hervorzauberte, um ihn zu bestechen, damit sie in Ruhe essen konnten. Jenny fragte sich, ob alle Mütter diese Fähigkeiten derart mühelos entwickelten und ob Jeremy Rose deshalb vielleicht noch mehr zu lieben gelernt hatte.
Nach dem Abendessen kam der Moment, auf den alle gewartet hatten: die Enthüllung von Jennys Weihnachtsleckereien. Poppys Augen leuchteten auf, und als sie den Tiffin sah, klatschte sie in die Hände wie ein aufgeregter Seehund. Jenny sah glücklich und zufrieden zu, wie Poppy zuerst den Boden wegknabberte, bis nur noch die oberste Schokoschicht übrig war, von der sie offensichtlich jeden Bissen genoss.
»Du hast ja dieses Jahr noch mehr gebacken als sonst, das reicht für Wochen!«, erklärte Jeremy und konnte gar nicht genug bekommen vom Anblick all der Köstlichkeiten.
»Oh, seht nur!« Rose deutete begeistert auf den Weihnachtsbaumstamm. »Poppy, Max – das hier war Granny Margots Lieblingskuchen.«
»Schön«, meinte Max, schnitt sich eine großzügige Scheibe ab und machte sich darüber her, als hätte er noch nie etwas Süßes gegessen. Er schien nicht einmal Luft zu holen.
»Du bist die beste Bäckerin der Welt, Tante Jenny«, erklärte Poppy, den Mund voller Schokolade.
»Das ist ihre Superkraft«, erwiderte Bernard.
Jenny starrte in den riesigen amerikanischen Kühlschrank. Die Küche war das genaue Gegenteil ihrer eigenen. Gerade Linien, Halogenspots in der Decke und nichts, das schief in den Angeln hing oder aus den Führungsschienen sprang.
»Brauchen wir Milch?«, fragte Poppy und holte eine Karotte aus dem Gemüsefach. »Vielleicht ist der Weihnachtsmann durstig.«
»Ich glaube, er trinkt lieber Sherry«, meinte Bernard, der unbehaglich auf einem Barhocker an der Kücheninsel balancierte. »Was meinst du, Darling?«
»Ja, das glaube ich auch«, erwiderte Jenny. »Milch bekommt er überall.«
Sie begleitete Poppy zum Kamin. Der Glaube des Mädchens war unerschütterlich, und sie spürte, wie etwas von der Magie auch auf sie übergriff, als sie den Deckel von dem Behälter mit den selbst gemachten Mince Pies hob und eine Zuckerwolke aufstieg. Sie beobachtete, wie Poppys Hand über den Törtchen schwebte, während sie überlegte, welches sie nehmen wollte.
»In den Mince Pies befindet sich eine Geheimzutat. Sie schmecken ihm sicher.«
»Was denn?«, fragte Poppy, während Bernard mit dem Sherryglas ins Wohnzimmer trat.
»Eine dünne Schicht Mandelpaste unter dem Deckel, das macht den entscheidenden Unterschied.«
»Seid ihr wach?« Poppys Stimme drang durch den Türspalt, und auch wenn sie flüsterte, war es klar, dass sie sie wecken wollte.
»Gerade mal so, Pops«, murmelte Jenny und sah benommen auf die Uhr. Dreiviertel sechs. Das war früh, sogar für sie.
»Frohe Weihnachten, Darling«, sagte Bernard mit tiefer, rauchiger Stimme und griff nach seiner Brille. »Ich glaube, wir stehen besser auf.«
Jenny zog sich ihren Morgenmantel über und folgte Poppy die Treppe hinunter, im Schlepptau Bernard, Rose und Jeremy, wie bei einer etwas aus dem Tritt geratenen, schlaftrunkenen Polonaise. Max war inzwischen offenbar in einem Alter, in dem das Verlangen, im Bett zu bleiben, größer war, als der Wunsch, sich im Morgengrauen einen Strumpf vom Kamin zu holen. Draußen war es noch dunkel, und eisiger, im Licht der Straßenlaternen glitzernder Nebel hing über dem Boden. Jenny war siebenundsiebzig, doch selbst sie spürte das Kribbeln und die Magie, als läge am Weihnachtsmorgen ein Zauber über allem.
Poppy hielt vor der Wohnzimmertür inne und wandte sich mit vor Aufregung geweiteten Augen um. »Soll ich reingehen?«, fragte sie.
Die Erwachsenen nickten, und sie öffnete die Tür. Es roch heimelig nach Tannennadeln, und der Raum wurde lediglich von den Lichtern des Weihnachtsbaums erhellt, unter dem sich bunte Geschenke in verheißungsvollen Formen stapelten. Vor dem Kamin war ein großes Etwas zu erkennen, verborgen unter einem Tuch im Schottenmuster und viel zu groß für den prall gefüllten Strumpf, der daneben hing.
»Er war da!«, rief Poppy und huschte auf den geheimnisvollen Gegenstand zu.
Jenny beobachtete Bernard, als Poppy das Tuch herunterzog. Die Augen hinter den Brillengläsern glänzten im Schein der unzähligen Lichter.
»Ein Puppenhaus!« Poppy schnappte nach Luft und blickte in die kleinen Zimmer, in denen es nach frischer Farbe und gehobeltem Holz roch. Es war ein viktorianisches Puppenhaus mit Sprossenfenstern und einem Dach, das sich nach hinten klappen ließ, um den Blick auf die Schlafzimmer darunter freizugeben.
Bernard drückte den Lichtschalter, und die zierlichen Deckenleuchter flammten auf und erweckten das Haus zum Leben. Poppy zappelte vor Freude über ihre kleine Welt. Bald würde sie sie mit Bewohnern füllen, die für sie genauso real waren wie der Weihnachtsmann.
»Schloss Margot«, las sie und deutete auf das handgemalte Schild über der Eingangstür.
Rose und Jeremy traten näher und bückten sich, um es zu begutachten.
»Danke, Weihnachtsmann«, sagte Rose, warf einen Blick auf Bernard und legte sich ergriffen eine Hand aufs Herz. Der Raum schien in diesem Moment vor Liebe überzugehen.
Der sechsundzwanzigste Dezember begann mit einem Durcheinander aus Wanderstiefeln und Wintermänteln, nachdem Jeremy beschlossen hatte, die Familie für ihren alljährlichen Weihnachtsspaziergang nach draußen zu befördern. An jedem anderen Tag des Jahres geschah dies ohne viel Aufregung, doch heute war es ein Ereignis. Rose wickelte vorgeschnittene Stücke des Weihnachtskuchens in Alufolie und füllte Tee in eine Thermoskanne, während Max halbherzig seine langen Strümpfe suchte, die auf geheimnisvolle Weise verschwunden waren.
»Ich weiß nicht, ob ich mitkommen kann«, erklärte er und strich sich die Haare aus der Stirn, sodass man einen seltenen Blick auf seine vor Müdigkeit verquollenen Augen erhaschen konnte. »Ich kann meine Strümpfe nicht finden.«
»Sei nicht albern, du kannst welche von mir haben«, meinte Jeremy und warf ihm ein Paar zusammengerollte Strümpfe zu, die daraufhin den Flur entlangrollten, sodass Max ihnen mürrisch hinterherschlurfen musste.
Irgendwann hatten sie es alle geschafft, und das gefrorene Gras knirschte unter ihren Schuhen, während ihre Nasen nach den ersten Atemzügen in der eisigen Morgenluft bereits blau gefroren waren. Jenny drehte sich zu Bernard um, der Poppys Hand hielt und ihr gerade von den Geheimkräften der Ampferblätter erzählte, die hervorragend gegen das Jucken von Brennnesseln halfen. Im Kreise der Familie wurde ihr wieder einmal klar, dass er als Mitglied einer Meute geradezu aufblühte, sein Leben allerdings nur als Teil eines Paares verbracht hatte.
»Ich weiß noch, wie Onkel Bernard mir genau dasselbe erklärt hat, als ich noch ein kleines Mädchen war«, sagte Rose. »Auf einem unserer Campingurlaube in Devon.«
»Daran erinnerst du dich?«, fragte Jenny.
»Natürlich.« Rose klatschte in die behandschuhten Hände. »Es sind einige meiner schönsten Erinnerungen. Eiscreme, Kricket am Strand, Fish and Chips …«
Jenny dachte an die Jahre zurück, in denen sie Rose im Sommer mit zum Campen genommen hatten. Vordergründig, um Margot und John zu entlasten, aber vor allem, weil es ihnen unheimlich Spaß gemacht hatte. Jenny hatte das Auto mit Dosen voller Plätzchen, Feldflaschen voller Suppe, Brot und gebackenen Bohnen gefüllt, und Bernard hatte jedes Mal liebevoll gescherzt, dass sie doch nur sechs Tage und nicht sechs Wochen unterwegs sein würden. Sie erinnerte sich, wie sie zu dritt nachts im Zelt dem Rufen der Eulen und dem Rascheln der Bäume gelauscht hatten, wie Bernard Rose von der Meeresfee erzählt hatte, die er angeblich gesehen hatte, und wie aufgeregt Rose gewesen war. Am Morgen hatte das Mädchen dann oft eine kleine Muschel im Zelt gefunden, die von der Meeresfee zurückgelassen worden war.
»Erinnerst du dich an das Jahr, in dem es so viel geregnet hat?«, fragte Rose und schlug sich immer noch entsetzt eine Hand vor den Mund. »Und dann hatten wir auch noch ein Loch im Zelt!«
»Ja!«, meinte Jenny. »Wir haben im Auto geschlafen, nicht wahr?«
Rose nickte. »Außer Onkel Bernie. Der ist im Zelt geblieben, damit wir mehr Platz hatten.«
Sie gingen einen Moment schweigend weiter, beide in Gedanken versunken, während ihre Schritte sich einander anpassten.
»Also, was hält das nächste Jahr für euch bereit?«, fragte Rose.
Jenny dachte an den Einsendeschluss für die Bewerbung, und die in ihr aufsteigende Begeisterung wurde sofort von der Erinnerung an das Datum erstickt. Der 11. Januar.
»Keine Ahnung, ehrlich gesagt«, antwortete sie und war froh, dass sie spazieren gingen und Rose ihr Gesicht nicht sehen konnte. »Obwohl es auf jeden Fall ein großes Jahr für Bernard und mich wird. Im Oktober sind wir sechzig Jahre verheiratet.«
»Aber natürlich!«, erwiderte Rose, deren Arme beim Gehen vor und zurück schwangen. »Werdet ihr groß feiern?«
»Ich glaube schon, aber zuerst müssen wir es bis dahin schaffen.«
Rose lachte. »Du hast es neunundfünfzig Jahre ausgehalten, da schaffst du doch sicher noch ein paar Monate mit ihm, oder?«
Jenny beschloss, das Missverständnis nicht aufzuklären. Sie wollte nicht trübsinnig klingen.
»Was ist mit euch? Habt ihr Pläne?«
»Ich werde mich wohl hauptsächlich auf die Arbeit konzentrieren«, antwortete Rose, deren Gummistiefel bereits feucht glänzten. »Ich hoffe, ich werde dieses Jahr zur Partnerin ernannt.«
»Das ist toll«, sagte Jenny, zog ein zerknülltes Taschentuch aus dem Ärmel und schnäuzte sich. »Ich drücke dir die Daumen, obwohl ich sicher bin, dass du das gar nicht brauchst.«
»Danke.« Rose senkte die Stimme. »Meine größte Sorge ist, dass ich keine Balance zwischen der beruflichen Herausforderung und Poppy und Max finde.«
Jenny nickte, als würde sie es verstehen.
»Poppy ist noch so klein, und Max braucht mich mehr, als er zugeben will, vor allem jetzt, vor der Mittleren Reife.«
Jenny suchte nach ein paar weisen Worten oder Erfahrungen, die sie Rose mitgeben konnte, aber stattdessen spürte sie, wie sie immer weiter und weiter in sich zusammenschrumpfte und sich der Schmerz über ihre Unzulänglichkeit wie ein Messer in ihre Brust bohrte.
»Ich habe alles, was du tust und leistest, nie selbst erlebt«, erklärte sie, denn sie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, »also ist meine Meinung wohl nicht von Belang, aber du hast zwei wundervolle Kinder und eine herausragende Karriere, also trau einfach deinem Instinkt. Er hat dich weit gebracht.«
Sie warf einen Blick zurück auf Bernard und Poppy, die sich gerade über einen Zaun beugten und einen Maulwurfshügel begutachteten.
»Danke, dass du uns an deiner Familie teilhaben lässt, Rose.«
»Ach, Tante Jenny«, erwiderte Rose und streichelte mit der behandschuhten Hand ihren Arm. »Du weißt, dass wir uns glücklich schätzen, euch beide zu haben.«
»Wartet mal, ihr zwei!«, rief Jeremy ihnen nach und schloss winkend zu ihnen auf. »Machen wir lieber etwas langsamer. Bernard kommt sonst nicht hinterher.«
»Es ist mir schon aufgefallen, dass er etwas unsicherer auf den Beinen ist als beim letzten Mal«, meinte Rose, legte die Stirn in Falten und senkte die Stimme. »Er ist zweiundachtzig, Jeremy. Ich glaube, wir hätten den kürzeren Weg nehmen sollen.«
Jenny spürte einen Stich. Roses Worte waren nur allzu wahr.
»Warum halten wir an?«, fragte Max, der nach vorn gebeugt, die Hände tief in den Taschen, auf sie zuschlurfte.
»Wir warten auf Onkel Bernie«, antwortete Rose. »Damit wir zusammen weitergehen können.«
Als Bernard schließlich kam, klang sein Atem angestrengt.
»Ist alles in Ordnung, Darling?«, fragte Jenny und bemerkte, wie er die Hand nach einem Baumstumpf ausstreckte, um sich erschöpft daran abzustützen.
»Sicher«, antwortete Bernard und wandte den Blick ab, damit ihn nicht alle anstarrten. Er holte seinen Inhalator aus der Tasche, nahm ihn zwischen die Lippen und atmete keuchend ein, wobei er klang wie eine menschliche Ziehharmonika.
»Onkel Bernie hat einen Inhalator!«, rief Poppy beinahe genauso aufgeregt wie am Weihnachtsmorgen. »Ich möchte auch so gerne einen haben. Wie meine Freundin Jessica.«
»Wie wäre es mit einer Teepause?«, fragte Rose, womit die anderen sofort einverstanden waren. Sie bildeten einen Kreis um den Baumstumpf und blickten gemeinsam auf die Felder hinaus.
»Wer möchte ein Stück Weihnachtskuchen?« Rose bemühte sich, die Alufolienpäckchen mit den dicken Handschuhen an den Fingern auszupacken.
»Tante Jenny!«, flüsterte Poppy plötzlich aufgeregt, zog Jenny am Arm und deutete in Richtung der Bäume.
Jenny ließ den Blick wandern und entdeckte einen Hirsch, der sein Geweih wie eine Krone auf dem Haupt trug. Er trat aus dem Nebel wie ein Wesen aus einer magischen Welt, und mehrere Spaziergänger hielten inne. Die Gruppe der Zuschauer wuchs, und die Hirschherde wurde ebenfalls größer. Die Eleganz der Tiere unterstrich die Plumpheit der menschlichen Beobachter, die ihnen dümmlich aus ihren Mänteln und Schals entgegenstarrten. Zwei Spezies aus unterschiedlichen Welten, die sich staunend gegenseitig beäugten.
Jenny entdeckte einen kleinen Jungen. Er war nicht älter als zwei, und seine feinen Haare kringelten sich in seinem Nacken.
Rose hatte es endlich geschafft, den Kuchen auszupacken, und verteilte die Stücke. Sie reichte die Thermoskanne mit dem dampfenden Tee herum, doch Jenny lehnte höflich ab. Getränke aus der Thermoskanne schmeckten immer ein wenig salzig, als hätte die Suppe, die sie irgendwann enthalten hatte, einen bleibenden Geschmack hinterlassen.
Der Junge schob sich durch die umstehenden Erwachsenen und wurde immer schneller. Jenny beobachtete die Körpersprache der Leute ringsum, um herauszufinden, zu wem er gehörte.
»Der schmeckt köstlich, Rose«, bemerkte Bernard und ermunterte Jenny, doch auch zu probieren.
Schon beim ersten Bissen war ihr klar, dass er nur höflich sein wollte. Der Kuchen war zu lange im Ofen gewesen. Der Rand war zu dunkel, und das Ganze fiel auseinander wie Sand. Die Trockenheit war aber nicht das Schlimmste. Es waren vielmehr die unerwartet harten Rosinen, die sich wie Kieselsteine zwischen ihren Zähnen anfühlten.
»Danke, Onkel Bernie, das war Mums Rezept, es gelingt praktisch immer«, sagte Rose, und Jenny hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Gott sei Dank konnte hier niemand Gedanken lesen.
»Ich esse nur den oberen Teil«, erklärte Poppy, löste die Eiweißglasur und biss hinein wie in ein Stück Kreide.
»Das ist aber nicht nett, Poppy. Mummy hat sich solche Mühe gegeben«, meinte Rose mit hochgezogenen Augenbrauen.
Der kleine Junge hatte sich inzwischen von der Gruppe gelöst und lief direkt auf die Hirsche zu, die bedrohlich die Köpfe hoben. Jenny spürte ihr Herz in der Brust pochen, während sie zusah, wie die kleinen Beine schneller und schneller wurden, als hätte die Gefahr den Jungen vollkommen in den Bann gezogen.
»Ich esse dein Stück, Pops«, erklärte Max, der seinen eigenen Kuchen hinuntergeschlungen hatte, und streckte die Hand aus.
In diesem Moment sprang Jenny ohne Vorwarnung auf und stürzte hinter dem kleinen Jungen her. Ihre Beine bewegten sich wie von selbst. Als sie nahe genug war, griff sie nach seiner Kapuze und zog ihn zurück, sodass er mit einem Rumms nach hinten fiel.
Es folgte eine dreisekündige Stille, dann stieß er einen gellenden Schrei aus.