Der Spurenleser - Domingos de Oliveira - E-Book

Der Spurenleser E-Book

Domingos de Oliveira

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Beschreibung

Ein Mord geschieht und ausgerechnet ein blinder Detektiv soll den Fall aufklären.

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Seitenzahl: 84

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Inhaltsverzeichnis

ZusammenstoßBegegnungenBürogemeinschaftDer erste FallAtemnotEinsichtenTrefferAuf Abwegen

Zusammenstoß

Einen Zug zu führen hat wenig Romantisches, dachte Horst Müller und starrte ins Dämmerlicht des verstreichenden Tages, während er den Regionalexpress von Koblenz nach Bonn steuerte. Er hatte es in den letzten dreißig Jahren häufig gedacht, aber in letzter Zeit kamen ihm diese Gedanken immer häufiger. Früher, ja, da war das noch was. Aber wenn man den Job so lange macht, fühlt man sich nur noch leer. Der Druck hatte enorm zugenommen, für jede Minute Verspätung gab es Ärger. die Taktung war so eng, dass es keinen Freiraum mehr gab. Und jüngere Kollegen warteten nur darauf, dass Horst endlich abtrat, um Platz für sie zu machen. Nun, sie würden bald bekommen, was sie wollten, noch fünf Jahre und Horst wäre Rentner. Und was dann?

Ich habe diesen Job wohl zehn Jahre zu lange gemacht, dachte Horst und griff nach seiner Wasserflasche. Na, scheißdrauf.

Die Schicht am späten Abend hat zumindest einen Vorteil, es war weniger stressig. Um diese Zeit fahren weniger Züge, die Zahl der Fahrgäste ist überschaubar und im Großen und Ganzen ist es okay. Nichts ist vergleichbar mit dem Gefühl, ein tonnenschweres Gefährt zu lenken und es gab immer einmal Stunden, wo Horst sich nicht vorstellen könnte, jemals etwas anderes zu tun.

Plötzlich erwachte er aus seinem leichten Dämmerzustand. War da etwas im Lichtkegel des Scheinwerfers? Ein Vogel oder ein herabhängender Ast? Horst hob den Fuß, um wenn nötig auf die Bremse zu treten. Ein sinnloses Unterfangen, was immer es war, der Zug würde nicht rechtzeitig zum Stoppen kommen, so ein tonnenschweres Gefährt hat einen sehr langen Bremsweg.

Oh Scheiße, brüllte Horst plötzlich und trat mit aller Kraft auf die Bremse. Die Räder kreischten auf, Nein, nein, nein schrie er. Im Lichtkegel sah er einen baumelnden menschlichen Körper auf sich zu rasen. Es schien ihm, als ob alles in Zeitlupe passierte, in Wirklichkeit kam der Körper jede Sekunde näher. Inzwischen stand Horst auf der Bremse, obwohl er wusste, wie sinnlos sein Tun war. Keine Kraft der Welt hätte den Zug noch rechtzeitig stoppen können. Der Schweiß rann ihm in Bächen das weiße Hemd herab, sein Herz schien ihm aus der Brust springen zu wollen. Dann der Aufprall, Horst meinte, den dumpfen Aufschlag zu spüren. Der Körper wurde vom Zug mitgerissen und flog in die Nacht. Blut und Gewebe hatten die Scheibe der Fahrerkabine bespritzt, doch der Zug fuhr noch mehrere Dutzend Meter weiter,

bevor er endlich zum Stehen kam. Wie in Trance griff Horst zum Funkgerät:

Begegnungen

Ich war gerade in meinem Lieblings-Club dem Nightmare mitten in Tannenbusch, dem Compton von Bonn. Am schönsten ist es hier um 3.30 morgens, die Alkoholleichen sind eingeschlafen oder weitergezogen und es wird beinahe familiär.

Von unserer Gruppe waren nur noch drei übrig geblieben, Tina, Sophie und ich. Wir hatten uns abgewechselt und jetzt war ich dran mit den Drinks. Im Nightmare gibt es keine Kellner, man holt sich die Getränke selbst. Ich ging zur Theke und störte Mitch, der mit einem Typen plauderte. Mitch ist ein tätowierter Riese, der es nicht besonders eilig hat, Bestellungen zu erledigen, wahrscheinlich arbeitet er deshalb in der Nachtschwärmer-Schicht, wo die Zeit langsamer zu vergehen scheint. Trotz seiner Langsamkeit war er auf Zack. Einmal hatte ich gesehen, wie er zwei Typen, die im Club rumgepöbelt hatten rauswarf. Er hatte sich die Typen mühelos gekrallt, einen unter jeden Arm geklemmt und im hohen Bogen aus der Tür geworfen. Danach war er seelenruhig hinter die Theke zurückgekehrt, ohne eine Miene zu verziehen oder das Geschehe weiter zu kommentieren.

Während ich Mitch mit der Bestellung von drei Screwdrivern aufscheuchte, sah ich mir seinen Kumpel an. Etwas schien mit ihm nicht zu stimmen, er sah mich nicht an, sondern schien ins Leere zu schauen. Auf einmal blickte er auf: Gefällt dir, was du siehst? fragte er.

Du bist nicht ganz mein Typ, meinte ich. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Er schien nicht allzu betrunken zu sein, er sah mich direkt an, aber etwas stimmte mit seinen Augen nicht.

Ich bin blind, sagte er und beantwortete eine Frage, die ich gar nicht laut gestellt hatte.

Echt? Wie ist das so?

Nicht besonders aufregend sagte er.

Wie kann jemand alleine herumlaufen, wenn er blind ist?

Meistens setze ich einen Fuß vor den anderen, manchmal mache ich es aber auch umgekehrt.

Blind und lustig kann eine gefährliche Mischung sein, sagte ich und drohte ihm mit der Faust.

Er lächelte und zog unter seinen Hocker ein unterarmlanges weißes Ding hervor, das aus zusammengebundenen Röhren zu bestehen schien. Das ist ein Blindenstock, sagte Er steckte die Röhren zusammen und tatsächlich, ein langer weißer Stab.

Interessant, sagte ich und da kam schon Mitch mit den Drinks.

Na Ramon, beeindruckst du Mädels mit deinem langen Stab? fragte Mitch in seiner nervtötenden Langsamkeit und grinste.

Ich versuche es, aber sie scheint auf die Blinden-Nummer nicht abzufahren, sagte Ramon und grinste mir zu.

Ich warf einen Zehner auf die Theke, schnappte mir die Drinks und nickte den beiden zu.

Normalerweise habe ich nichts gegen sinnfreies Geplauder, aber heute war meine Stimmung am Tiefpunkt. Um ehrlich zu sein war ich zu dieser Zeit ziemlich abgebrannt. Meine Arbeit als freischaffende Autorin kam nicht in Schwung und würde es vielleicht nie. An der Uni hatte ich zumindest gelernt, mit wenig Geld auszukommen, aber auf Dauer konnte ich mir selbst meinen kargen Lebensstil nicht leisten. Unser gemeinsamer Cocktail-Abend und mein alter Fiat Panda waren der einzige Luxus, den ich mir gönnte, aber den gemeinsamen Abend würde ich bald absagen müssen. Der Mini-Job als Verkäuferin an der Fleischteke in einem Supermarkt warf einfach nicht genug ab. Heute würde der letzte Cocktail-Abend für lange Zeit sein und mir war noch nicht eingefallen, wie ich es meinen Mädels verklickern sollte.

Ein paar Stunden später, Montag morgens, ich war immer noch leicht verkatert, riss mich das Trimmellim meines Handys aus dem Schlaf. Ich murmelte etwas, was Hallo oder Grmm lauten könnte und hörte eine mir unbekannte Stimme.

Hallo Kiki, bist du wach oder halbwegs aufnahmefähig?

Ich murmelte etwas, was halbwegs wie Wer ist da? klang.

Mein Name ist Ramon, wir haben uns vor ungefähr einem Tag im Nightmare kennengelernt. Um präzise zu sein vor genau 6 einhalb Stunden.

Ich dachte nach. In meiner Studentenzeit war es mir öfter passiert, dass ich von komischen Typen angerufen wurde, denen ich offenbar in Vollrausch meine Nummer gegeben hatte. Aber diese Zeiten waren vorbei und den Typen kannte ich eindeutig nicht.

A ja?

Der Blinde, der nicht dein Typ ist.

Es machte Bing Bing Bing und ich erinnerte mich. Ich griff nach einer Tasse mit abgestandenem Kaffee, die auf meinem Couchtisch stand und nahm einen Schluck.

Ja? Ich war mittlerweile halbwegs ansprechbar, wusste aber immer noch nicht, was der Typ von mir wollte.

Ich denke, es ist in deinem Sinne, wenn ich mich kurz halte. Ich weiß, dass deine finanzielle Situation schwierig ist und ich kann dir einen Job anbieten.

Einen Job?

Das waren schon zwei Worte, du steigerst dich, bald schaffst du einen ganzen Satz. Ja, einen Job. Und bevor du fragst, es hat nichts mit Sex oder etwas in der Art zu tun. Check einfach deine Mails, da findest du alle Infos. Entweder kommst du oder du lässt es bleiben.

Warum sollte ich einen Job brauchen?

Elementar, Madame. Du bist gerade mit dem Germanistikstudium fertig und hast wie so viele Menschen mit exotischen Karrierewünschen nur wenig Geld. Du kannst zwar mit wenig Geld auskommen, aber die völlige Askese eines indischen Saddu liegt dir fern. Ich nehme auch mal an, dein Job im Supermarkt wirft auch nicht allzu viel ab.

Ich wunderte mich. Eigentlich hätte ich sauer sein sollen, weil er so viel über mich wusste. Aber ich war eher neugierig. Woher weißt du das alles über mich?

Ich hörte, wie er auf einer Tastatur tippte: Jemand, der sein Leben so offen auf Facebook auslebt, sollte solche Fragen nicht stellen. Außerdem habe ich einiges von Mitch gehört.

Mitch?

Ja, er wirkt träge, aber gerade die stillen Wasser sind oft die wichtigsten Quellen. Leute wie Barkeeper, Putzfrauen und Obdachlose werden häufig übersehen, auch wenn sie vor einem stehen. Dann braucht man nur eine Runde lauter angetrunkener Mädels und die Infos fliegen mir nur so zu. Wenn du einen Rat hören willst und auch wenn du ihn nicht hören willst, es ist ein Fehler, so viel Zeug an Orten auszuplaudern, die öffentlich sind. Ich weiß nicht, ob Facebook oder das Nightmare schlimmer sind, aber am Ende kommt es wohl aufs Gleiche raus.

Ich weiß nicht, was mir mehr auf die Nerven ging, seine Besserwisserei oder seine Angewohnheit, Fragen zu beantworten, die ich nicht ausgesprochen hatte. Ich sah auf die Uhr, grade mal 09.00 Uhr, ich fragte mich ob sich das Ganze lohnte, Aufstehen, Duschen, Anziehen für - ja, für was eigentlich?

Die Sache ist recht einfach, entweder stehst du um Punkt 12 bei mir auf der Matte oder du arbeitest weiter an der Fleischtheke. Es ist deine Wahl.

Drei Stunden später stand ich frisch gewaschen und durch reichlich Koffein aufgeputscht in einem Duisdorfer Büro. Ich hatte keine guten Erinnerungen an diesen Stadtteil, hier war irgendwo das Arbeitsamt, Arge oder Job-Center oder wie sich das Ding gerade schimpfte. Mein Sachbearbeiter oder heißen die Typen jetzt Kundenbetreuer wollte mir einen Bürojob aufs Auge drücken. Ich sagte ihm, dass ich als Bürostute ebenso untauglich sei wie er in einem Kunstatelier. Seine Antwort bestand darin, mir das Arbeitslosengeld zu streichen.

In meinem Postfach fand ich die Nachricht eines Ramon Andras, Consultant. Es war nicht viel mehr als die Nachricht, dass er ein Jobangebot für mich hätte und mich gerne in sein Büro einladen wollte. Ich glaube, ich wäre nicht gegangen, wenn nicht eine Sache meine Neugier geweckt hätte. Er schrieb:

Ich habe ein paar Sachen von dir gelesen. Sie sind gut geschrieben, aber was dir fehlt, sind praktische Erfahrungen, um deinem Plot den letzten Schliff zu geben. Wenn du mit mir zusammenarbeitest, wirst du genügend Stoff für dein ganzes Leben bekommen.

Ich war kurz davor, eine scharfe Antwort zu schreiben, aber meine Neugier siegte über meinen Stolz. Es war ja wirklich so, wenn auch nichts dabei rauskommen würde, ein blinder Akteur könnte eine gute Geschichte abgeben. Und so stand ich ein paar Stunden im Büro dieses blinden Consultants.

Ramon erhob sich und reichte mir die Hand. Willkommen in meinem Reich, Nimm Platz.

Das Büro war schlicht ausgestattet, bis auf den Schreibtisch, der fast so groß wie meine Wohnung war und einen Haufen Geräte, Kabel und anderen Wust enthielt. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch mit vier Stühlen, der wohl für Besucher gedacht war.

Ich sah überrascht, dass Ramon sich ohne seinen Stab bewegte und dennoch so lief, als ob er sehen könnte. Im Nightmare hatte ich es nicht erkennen können, aber im Tageslicht war es deutlich sichtbar, seine beiden Augen waren aus Glas.

Glasaugen, nickte er.