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Barrierefreiheit ist ein komplexes Thema. In diesem Buch erfahren Sie, wie Sie die Zugänglichkeit für behinderte Menschen in die Praxis umsetzen. Es spielt keine Rolle, ob Sie ein Angebot oder gleich Ihre gesamte Organisation barrierefrei umgestalten wollen. In diesem Buch erfahren Sie, was Sie in den einzelnen Phasen des Projektes beachten sollten. Die dargestellten Konzepte sind problemlos auf Ihre speziellen Anforderungen anwendbar.
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Seitenzahl: 107
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Für meine Eltern Alzira und José de Oliveira
Einleitung
Teil I
Behinderung und Barrierefreiheit
Das Verständnis von Behinderung
Der moderne Begriff von Behinderung
Die Konvention über die Rechte behinderter Menschen
Was heißt Barrierefreiheit?
Der Begriff Barrierefreiheit
Barrierefreiheit ist ein Prozess
Ein universelles Verständnis von Barrierefreiheit
Universal Design/Design für Alle
Mythen über Barrierefreiheit
Die Prinzipien der Barrierefreiheit
Diskriminierung durch Gestaltung
Nichtbenutzbarkeit als Barriere
Die gesetzliche Lage
Auch nicht behinderte Menschen profitieren
Inklusion ist auch Schutz von Minderheiten
Die verschiedenen Einschränkungen
Sinnes- und Körper-Behinderungen
Kognitive Behinderungen
Weitere Einschränkungen
Spät- und Mehrfachbehinderte
Hilfsmittel und Strategien
Fazit: Erfahrung ist entscheidend
Teil II
Vorbereitende Maßnahmen
Barrierefreiheit als Einstellung
Vorgesetzte und Kollegen überzeugen
An strategische Themen anknüpfen
Sensibilisierung und Schulungen
Interne Kommunikation
Wer muss informiert werden?
Betriebswirtschaftliche Argumente
Produkte und Dienstleistungen für alle
Barrierefreiheit als Qualitätsmerkmal
Barrierefreiheit als Unique Selling Point
Höhere Mitarbeiter-Zufriedenheit
Erfüllung künftiger Anforderungen
Öffentliche Auftraggeber und Förderer
Exkurs: Die IT-Branche als Beispiel
Das Instrument Zielvereinbarung
Teil III
Kompetenz finden und aufbauen
Dienstleister und Berater finden
Behinderte Experten
Interne Expertise aufbauen
Exkurs: Beschaffung von barrierefreien Produkten und Dienstleistungen
Teil IV
Projektsteuerung
Warum wollen Sie barrierefrei werden?
Barrierefreiheit von Anfang an einplanen
Barrierefreiheit mit anderen Maßnahmen kombinieren
Neugestaltung oder fortlaufende Verbesserung
Einbindung der beteiligten Parteien
Einbindung von behinderten Menschen
Finanzielle Förderung
Bestandsaufnahme
Informationen zur Barrierefreiheit sammeln
Die SWOT-Analyse
Prioritäten festlegen
Steuerung der Prozesse
Barrierefreiheit als fortlaufende Maßnahme
Anforderungsmanagement
Exkurs: Personas im Anforderungsmanagement
Die Maßnahmen festlegen
Zeit- und Ressourcenplanung
Projektdurchführung
Prüfung nach Projektende
Praxis-Tests mit Betroffenen
Teil V
Nach dem Projekt
Qualitätsmanagement nach Projektende
Kommunikation von Barrierefreiheit
Erklärung zur Barrierefreiheit
Konkrete Informationen zur Barrierefreiheit
Spezielle Bedarfe beim Kunden abfragen
Feedback und Beschwerdemanagement
Kompetent Auskünfte geben
Umgang mit Kritik
Zum Schluss
Zum Weiterlesen
Sie möchten Ihre Organisation barrierefrei umgestalten? Oder wollen Sie Ihre Angebote einer möglichst großen Anzahl an Menschen zugänglich machen? Dann sollten Sie diesen Leitfaden studieren.
In diesem Leitfaden geht es nicht um einzelne Maßnahmen der Barrierefreiheit. Informationen zu speziellen Maßnahmen finden Sie in themenspezifischen Publikationen. Vielmehr möchte ich Ihnen die Bausteine einer Strategie an die Hand geben, mit der Sie Barrierefreiheit strukturiert, ganzheitlich und langfristig umsetzen können.
Es ist nicht möglich, eine für alle Organisationen und Produkte passende, allgemeine Strategie zu entwickeln. Die Gegebenheiten sind in jeder Organisation anders. Deswegen liefert Ihnen dieser Leitfaden vor allem Hinweise, worauf Sie bei der Umsetzung von Barrierefreiheit achten sollten.
Es werden in diesem Leitfaden lediglich die Aspekte behandelt, die im Zusammenhang mit Barrierefreiheit von Bedeutung sind und der Schwerpunkt wird dabei auf vorbereitende Maßnahmen gelegt. Da das eigentliche Projektmanagement sich bei dem Thema Barrierefreiheit nicht wesentlich von dem Vorgehen bei anderen Projekten unterscheidet, werde ich darauf lediglich themenbezogen eingehen.
Der Leitfaden richtet sich an Projektverantwortliche, Behindertenbeauftragte, Betriebsräte und alle anderen Personen, die in Organisationen an Prozessen der Barrierefreiheit mittelbar oder unmittelbar beteiligt sind. Dabei möchte ich staatliche Einrichtungen, nicht profitorientierte Organisationen und Privatunternehmen gleichermaßen ansprechen. Da viele Publikationen sich allein an staatliche Organisationen richten, lassen sie betriebswirtschaftliche Faktoren häufig außer Acht. Diese Lücke möchte ich schließen.
Ich verwende den allgemeinen Begriff Organisation, um die Sektoren öffentlicher Bereich, Nicht-Regierungsorganisation und Privatunternehmen mit einem Wort abzudecken. Des Weiteren spreche ich der Einfachheit halber von Angebot. Darunter verstehe ich alles, was barrierefrei gestaltet werden könnte: ein Gebäude, eine Umgebung, ein Handelsprodukt oder eine Dienstleistung.
Da das Projektmanagement in jeder Organisation anders aufgebaut und zudem vom konkreten Angebot abhängig ist, biete ich keine Schritt-für-Schritt-Anleitung an. Vielmehr erfahren Sie, was Sie in den einzelnen Phasen des Projekts Barrierefreiheits-Umsetzung beachten sollten.
Ich unterscheide in diesem Leitfaden nicht immer zwischen internen und externen Maßnahmen. In einer großen Organisation gibt es da kaum einen Unterschied. Vor allem bei der Kommunikation der Maßnahmen können Sie praktisch mit den gleichen Kommunikationsmethoden arbeiten.
Die Begriffe Behinderung, psychische und chronische Erkrankung sowie Einschränkung werden in diesem Leitfaden synonym verwendet. Leider hat sich noch kein anderer Sammelbegriff für Personen etabliert, die allgemein von Barrieren betroffen sind. Wie bei vielen Minderheiten sind auch bei behinderten Menschen die Begrifflichkeiten selbst ein Politikum. Wenn ich also von Behinderten spreche, ist eigentlich eine von Barrieren betroffene Person gemeint.
Die einzelnen Maßnahmen sind als Vorschläge zu verstehen. Sie müssen und können nicht alle vorgeschlagenen Vorgehensweisen buchstabengetreu umsetzen. Vielmehr sollten Sie die dargestellten Konzepte darauf hin prüfen, ob sie in Ihrer Situation anwendbar sind. Die Konzepte müssen gegebenenfalls an die eigenen Bedürfnisse angepasst werden.
Der erste Teil »Behinderung und Barrierefreiheit« dreht sich um die Frage, warum Sie sich mit Barrierefreiheit beschäftigen sollten. Im zweiten Teil »Vorbereitende Maßnahmen« erfahren Sie, wie Sie sich und Ihre Organisation auf die Barrierefreiheit vorbereiten können. Im dritten Teil »Kompetenz aufbauen und Berater finden »erhalten Sie Tipps, wie und wo Sie Unterstützung für das Projekt finden und internes Knowhow aufbauen. Im vierten Teil »Projektsteuerung« geht es darum, was Sie beachten sollten, wenn Sie ein Barrierefreiheitsprojekt umsetzen möchten. Der fünfte Abschnitt »Nach dem Projekt« behandelt die Themen Qualitätssicherung und Kommunikation von Barrierefreiheit.
Zu mir selbst: Von Geburt an blind und schwerhörig hat mich das Thema Barrierefreiheit schon früh beschäftigt. Vor einigen Jahren lernte ich, wie Websites gestaltet werden und eignete mir Grundwissen über barrierefreies Webdesign an. Seit dem Jahr 2010 berate und schule ich Verantwortliche in diesem Bereich. Zu meinen Kunden gehören unter anderem die Aktion Mensch, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der Zoll oder die Konrad-Adenauer-Stiftung. Ich habe mehr als 100 Personen in Workshops geschult. Der Kontakt zur Praxis ist mir sehr wichtig und ich möchte das erlangte Wissen in diesem Leitfaden an Sie weitergeben.
Im ersten Abschnitt dieses Themenbereichs geht es um die Frage, warum Inklusion und Barrierefreiheit heute so stark öffentlich diskutiert werden. Diese Informationen sind zum Verständnis der inhaltlichen Kapitel sinnvoll, aber nicht notwendig und können übersprungen werden. Im zweiten Abschnitt geht es um die theoretischen und praktischen Grundlagen der Barrierefreiheit und im dritten Abschnitt möchte ich Ihnen zeigen, wie vielfältig die Barrieren sein können.
Die Wahrnehmung von Behinderung hat sich in den letzten Jahren stetig gewandelt. Wir befinden uns in einem Transformationsprozess, der bereits einige Jahrzehnte andauert und noch weitere Jahrzehnte andauern wird. In diesem Abschnitt möchte ich zeigen, wie und warum sich die Vorstellungen zu Behinderung gewandelt haben.
Das Bild von Behinderung hat sich im Laufe der Zeit stetig verändert. Bis zu den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurden behinderte Menschen vor allem als Belastung betrachtet. Sie wurden in ihren Familien oder in speziellen Einrichtungen untergebracht, wo sie vor der Außenwelt und die Außenwelt vor ihnen geschützt wurde. Zumindest war das die Absicht hinter diesen Maßnahmen.
Das änderte sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Gesellschaft begann, einige Teilgruppen von Behinderten als eingeschränkt arbeits- und leistungsfähig zu betrachten. Im ganzen Land entstanden spezielle Einrichtungen wie Sonderschulen, Ausbildungs- und Berufsförderungsstätten sowie Behindertenwerkstätten. In diesem Zusammenhang wurde von Integration gesprochen. Behinderte Menschen sollten so darauf vorbereitet werden, in die bestehende Gesellschaft integriert werden zu können. Wer hingegen nicht als integrationsfähig galt, sollte durch Werkstätten oder Tagesförderstätten zumindest die Möglichkeit zu einem würdigen Leben erhalten. Zu den wenig bis kaum integrierbaren Personen wurden vor allem lernbehinderte Menschen gezählt.
Wir befinden uns aktuell in einer Übergangsphase von der Integration zur Inklusion. Heute gilt eine möglichst geringe Trennung von behinderten und nicht behinderten Menschen als erstrebenswert. Behinderte Menschen müssen sich nicht vollständig an die Gesellschaft anpassen. Vielmehr findet ein Prozess statt: Behinderte Menschen gestalten die Gesellschaft gemeinsam mit nicht behinderten Menschen, um eine für alle Menschen geeignete und lebenswerte Gesellschaft zu erschaffen.
Es gibt, angelehnt an diese Weltbilder, drei Modelle von Behinderung und Erkrankung.
Das älteste Modell ist rein biologisch orientiert: Der Mensch wird nach seiner Leistungsfähigkeit gemessen. Da es zur Zeit seiner Entstehung nur einfache Hilfsmittel und kaum Barrierefreiheit gab, war es den behinderten Menschen kaum möglich, an der Gesellschaft teilzuhaben. Es lag im Wesentlichen beim Individuum, seine Einschränkungen auszugleichen. Dieses Modell war lange Zeit vorherrschend und ist es in vielen Weltregionen nach wie vor.
Das bio-soziale Modell geht davon aus, dass die Gesellschaft dafür verantwortlich ist, dass Barrieren entstehen. Diese Sichtweise drückt sich in dem Slogan »Ich bin nicht behindert, die Gesellschaft behindert mich« aus. Dieses Modell ist aktuell beliebt bei großen Teilen der Behindertenbewegung. Doch schlägt dieses Modell, im Vergleich mit dem rein biologischen Modell, stark ins andere Extrem aus. Das rein biologische Modell bürdet dem Individuum sämtliche Verantwortung auf wohingegen das bio-soziale Modell der Gesellschaft die gesamte Verantwortung aufbürdet, während das Individuum als ein handlungsunfähiges Objekt der Gesellschaft erscheint.
Das sich heute allmählich etablierende Modell ist das bio-psycho-soziale Modell. Es geht von einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft aus. Der Mensch hat Einschränkungen und die Gesellschaft schafft zusätzliche Barrieren. Durch spezifische Maßnahmen können die Einschränkungen ausgeglichen und die Barrieren reduziert werden. Behinderte Menschen werden unterstützt und nicht allein gelassen, behalten jedoch den Einfluss auf ihr Schicksal.
Vor allem bei den jüngeren behinderten Menschen werden sich voraussichtlich das dritte Modell und das entsprechende Selbstbild durchsetzen. Sie werden selbstverständlich davon ausgehen, dass sie Teil der Gesellschaft sind und diese mitgestalten wollen. Sie werden sich jedoch nicht als Opfer der Gesellschaft betrachten, da ihr Selbstverständnis als handlungsfähiges Subjekt das nicht widerspiegelt.
Wie bei vielen Minderheiten entwickelte sich auch bei behinderten Menschen der Wunsch, selbstbestimmter zu sein und die eigenen Interessen selbst zu vertreten. Lange Zeit war es üblich, dass die Interessen behinderter Menschen durch Nichtbehinderte vertreten wurden. Obwohl das teilweise heute noch so ist, entspricht dies nicht mehr dem Selbstverständnis der neuen sozialen Bewegungen. Lebendiger Ausdruck dieser Veränderungen ist die Konvention über die Rechte behinderter Menschen der Vereinten Nationen (UN-BRK).
Mit der UN-BRK sind Konzepte, wie der ressourcenorientierte Ansatz, eingeführt worden. Dieser Ansatz ist stärkenorientiert. Man betrachtet die Fähigkeiten des Einzelnen und nicht seine Schwächen. Tatsächlich ist das vielleicht der revolutionärste Ansatz der UN-BRK. In allen Bereichen unserer Gesellschaft zeigt sich die Fixierung auf mögliche Probleme und Schwächen. Denken Sie einmal an Bewerbungsverfahren. Die Verfahren zielen, vor allem in der Sichtungsphase, darauf ab, die Schwächen von Bewerbern zu ermitteln. Eine einzige dieser Schwächen, wie z. B. eine schlechte Schulnote, reicht bereits aus, um den Bewerber auszusortieren.
Inklusion und Barrierefreiheit werden häufig in einem Atemzug genannt. Es sind aber verschiedene Konzepte. Inklusion heißt, dass behinderte und nicht behinderte Menschen die Gesellschaft gemeinsam gestalten und gleichberechtigt miteinander leben. Barrierefreiheit ist die Voraussetzung für gelungene Inklusion. Aber sie ist bei Weitem nicht die einzige. Barrierefreiheit ist also ein Unterthema oder Querschnittsthema der Inklusion.
Wenn Sie Inklusion in Ihrer Organisation umsetzen möchten, ist der Aktionsplan ein sinnvolles Instrument. In Aktionsplänen entwickeln Sie Strategien, um Ihre Organisation umfassend inklusiv zu gestalten. Wie auch die Barrierefreiheit ist dies ein langfristiges Projekt. Auch einige Privatunternehmen, wie z. B. das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim, haben sich der Inklusion verpflichtet.
Ebenso wie das Verständnis von Behinderung hat sich auch der Blick auf die Barrierefreiheit gewandelt. In diesem Abschnitt werbe ich für ein breites und universelles Verständnis.
Die Begriffe Barrierefreiheit, Barrierearmut und Zugänglichkeit werden in diesem Leitfaden synonym verstanden.
Unter Experten und Betroffenen wird diskutiert, ob Barrierefreiheit überhaupt ein angemessener Begriff dafür ist, was wir erreichen wollen und können. Ich halte Barrierefreiheit generell nicht für den optimalen Begriff für das, worum es in diesen Leitfaden hauptsächlich geht. Zum einen suggeriert Barrierefreiheit einen Zustand, der, wie wir später sehen werden, nicht erreichbar ist. Zum anderen setzt er sich aus dem negativ besetzten Begriff »Barriere« und dem positiv besetzten Begriff »Freiheit« zusammen. Der Begriff beschreibt mit dem Wort Barriere etwas zu Vermeidendes anstelle eines positiven Zieles. Ein positiv besetzter Begriff wie »Zugänglichkeit« passt hier besser. Zugänglichkeit ist außerdem nicht so stark auf den Bereich Behinderung fokussiert, sondern schließt auch weitere Einschränkungen ein. Der Begriff Barrierearmut besteht aus gleich zwei negativ besetzten Begriffen. Er ist zwar ein wenig schärfer und vielleicht auch ehrlicher als »Barrierefreiheit«, dennoch ist er zu unspezifisch, um wesentlich aussagekräftiger zu sein. Ich werde später zeigen, dass es nicht sinnvoll ist, von Barrierefreiheit an sich zu sprechen. Barrierefreiheit steht immer in Bezug entweder zu einer Personengruppe oder zu einem Sachverhalt. Da sich aber der Begriff Barrierefreiheit etabliert hat, werde ich diesen Begriff trotz seiner Schwächen verwenden. So viel sei an dieser Stelle verraten: Die Aussage, etwas sei »barrierefrei« oder »nicht barrierefrei« ist in dieser allgemeinen Form immer falsch.