Der Steinacker - Tove Jansson - E-Book
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Der Steinacker E-Book

Tove Jansson

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Beschreibung

Der pensionierte Journalist Jonas verbringt auf Einladung seiner erwachsenen Töchter einen Teil des Sommers mit ihnen im Schärengarten. Er soll an der Biografie eines Zeitungsmagnaten weiterarbeiten, den er einfach nur ›Y‹ nennt. Jonas sammelt Fakten, ringt um Worte und Wahrheit – und scheitert wiederholt. Dazu verschwimmen die Grenzen zwischen dem verhassten Y und ihm selbst. Ein nahe gelegener Steinacker wird ihm zur Metapher seiner Arbeit. Und doch gelingt es ihm schließlich, ein neues Verhältnis zu seinen Töchtern zu finden. Tove Jansson skizziert in ›Der Steinacker‹ die Hauptfigur Jonas unverblümt und schonungslos. Ihr gelingt ein bissig-humor­voller Miniaturroman – und ein zeitlos tiefsinniges Werk über den Umgang mit Worten.

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Seitenzahl: 93

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Für Åke

Die Originalausgabe erschien erstmals 1984 unter dem Titel Stenåkern bei Albert Bonniers, Stockholm, aktuell bei Förlaget M Oy AB, Helsinki.

Die Übersetzung dieses Buches wurde von

FILI – Finnish Literature Exchange gefördert.

ISBN 978-3-8251-6271-9 (epub)

Erschienen im Verlag Urachhaus

www.urachhaus.de

 auch als eBook erhältlich.

© 2024 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart

© 1984 Tove Jansson, Moomin Characters™

Die Veröffentlichung in deutscher Sprache

wurde mit Rights & Brands vereinbart

Umschlagkonzept: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlaggestaltung: Bianca Bonfert | Klaus H. Pfeiffer

Satz: Klaus H. Pfeiffer

Umschlagfoto: © shutterstock | Stefan Holm

Inhalt

VORWORT

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

VORWORT

Tove Jansson hat nie als Journalistin gearbeitet. Wenn man Der Steinacker liest, ist das schwer vorstellbar, denn es ist imponierend, wie sie den Ton trifft.

»Wer zu oft losgeschickt wird, um Leute zum enthemmten Reden zu bringen, verliert irgendwann das Interesse«, sagt die Hauptfigur Jonas bei der Abschiedsfeier von seiner Zeitung. Danach fährt er aufs Land, um Zeit mit seinen erwachsenen Töchtern zu verbringen, die kennenzulernen er sich nie die Mühe gemacht hat.

Jonas ist mal scharfsinnig, mal armselig, er pendelt zwischen kreativen Schüben von Schaffensdrang und dumpfen Zuständen von Depression und Selbstmitleid. Die Schilderung ist zeittypisch – ein Mann, der es sein Leben lang gewohnt war, zu Hause bedient zu werden, der seine Frau verachtet und abschätzig behandelt, zu seinen erwachsenen Kindern eine rein äußerliche Beziehung hat und sich nur mit sich selbst und seinem Schreiben beschäftigt. Nachts wacht er schweißgebadet aus Albträumen auf, in denen es – wie indirekt angedeutet wird, um den Krieg geht. In den 1950er- und 1960er-Jahren lebte eine ganze Generation kriegsgeschädigter Männer in Finnland. Viele tranken – wie Jonas, der seine Flaschen in der Unterwäsche versteckt.

Die Hauptfigur ist jedoch zu einer gewissen Selbsteinsicht fähig. Er sieht ein, dass er sich schlecht benimmt, dass er seine Töchter kennenlernen müsste. Er kämpft mit seinem Manuskript, seinem überhandnehmenden Gefühl, dass seine Wörter »abgenutzt und überanstrengt« sind. Dass es in seinem Manuskript um einen erfolgreichen Mann geht, versteht sich in dem Zusammenhang von selbst.

Jonas ist gezwungen, sich mit seinem Scheitern auseinanderzusetzen, genial beschrieben in Form seines Missgeschicks mit der Petroleumlampe, das er zu vertuschen versucht, indem er die schwarzen Flecken auf dem Glas wegwischt.

Das Resultat ist, dass sie nur verschmieren und danach auch die Waschschüssel, die Seife und alles andere schwarz ist.

»Jetzt haben sie etwas zu putzen«, denkt er.

Es gibt Einschläge von Dostojewskij in dieser Schilderung, wie nichts, was im Leben getan wird, wieder rückgängig gemacht werden kann. Aber in Jonas’ Geschichte geht es auch um das, was man zu tun unterlässt. Man kann im Nachhinein nicht alle Mängel und Versäumnisse kompensieren. Dazu gehört die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern.

»Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich mit diesen Töchtern nie ein einziges vernünftiges Wort gewechselt«, denkt Jonas, als er auf »Sommerfrische« in seiner Saunakammer sitzt und von dem starken Sonnenlicht rundherum Kopfschmerzen bekommt.

Sein Leben lang hat Jonas mit Worten gearbeitet. Als er im Rentenalter eine Biografie schreiben soll, entfliehen sie ihm.

Jonas strebt nach Klarheit. Er fordert von allen, exakt zu erklären, was sie meinen. »Präzisiere!«, mahnt er seine Frau und seine Töchter, die sich alle die Strategie zu eigen gemacht haben, ihre Sätze nicht zu beenden, Konflikte zu vermeiden und ihn wie ein großes Kind zu behandeln.

Dem »Wort« kommt in diesem Roman eine zentrale Bedeutung zu. Tove Jansson schreibt über die »lebensgefährliche Neigung der Wörter, sich verzerren zu lassen«. Fünfzig Jahre später, in Zeiten von Fake-News, Hasskampagnen und systematisierter Verbreitung von Halbwahrheiten und Lügen im Netz wirken ihre Formulierungen wie ein Omen.

In sozialen Medien ist es üblich, Wörter zu benutzen, ohne ihre eigentliche Bedeutung zu reflektieren. Eine Debatte kann in Nullkommanichts ausarten, marktschreierisch und aggressiv werden. Die Wörter werden, wie Jansson behauptet, abgenutzt. Sie verlieren ihre Bedeutung und werden nur in der Absicht benutzt, gewisse Effekte zu erzielen.

Ein großer Teil meiner Arbeit als Journalistin zielt darauf, Klischee-Barrieren in Bezug auf Wörter aus dem Weg zu räumen. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben, denen sich jeder schreibende Mensch gegenübergestellt sieht: nach Klarheit zu streben. Zu wissen, was man sagen will, und das richtige Instrument dafür zu finden.

Man kann sich ausdrücken, wie man will, und die stilistischen Mittel anwenden, die man will. Aber es ist trotzdem nichtig, wenn man das, was man sagen möchte, nicht ohne Umwege sagen kann. (Und Umwege gibt es viele.)

Es hat mich Jahre gekostet einzusehen, dass das Wichtigste bei allem Schreiben ist, einfach zu schreiben. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Einfach zu schreiben ist nicht dasselbe, wie mit wenig Worten zu schreiben. Einfach zu schreiben heißt, ohne Umwege in die Tiefe zu gehen. Den Leser an neue Orte mitzunehmen, deren Existenz er als selbstverständlich erlebt, wenn er einmal dorthin gelangt ist.

Literatur ist ein Handwerk, das Gedankenträgheit nicht verzeiht. Sie wird unbarmherzig entlarvt.

Ich habe mir oft überlegt, selber Belletristik zu schreiben. Der Hauptgrund dafür, dass ich es bis heute nicht getan habe, ist eben dieser: Ich weiß, dass der Leser es innerhalb von fünf Sekunden merken würde, wenn ich auf Irrwege gerate. Belletristik verzeiht einem nicht, wenn man nicht weiß, was man tut. Es ist eine grausame, kompromisslose Kunstform.

Tove Jansson weiß, was sie schreiben will. Mit einer leichten Berührung am Ellbogen führt sie ihre Leser an neue Orte, ohne mit der ganzen Hand zu zeigen. Die Leser dürfen ihre Schlussfolgerungen selber ziehen. Im Steinacker ist diese Fähigkeit Janssons deutlicher spürbar als je zuvor. Die Stimme nicht zu erheben, keine Moralpredigten zu halten, sondern auf den Verstand des Lesers zu vertrauen. Sie schildert Figuren und deren Charaktere, indem sie mit feinen Mitteln ihre Nuancen, Schatten und Tiefen zeichnet. Sie legt ihren Finger in Wunden und bedient sich dabei ihres vollkommen unnachahmlichen, wehmütigen Humors – des janssonschen Klangkörpers, der in ihrem ganzen Werk gegenwärtig ist und sie zu einer weltberühmten Schriftstellerin machte.

Es gibt keine schwarz-weißen Figuren in Tove Janssons Büchern. Auch Jonas ist keine. Er ist ein klassisch auf sich selbst bezogener älterer Mann, der spürt, wie das Scheitern und die Misserfolge seines Lebens ihn einholen.

In seinem Privatleben war er immer von beschützenden Frauen umgeben, Frauen, die er als gegeben nahm. Nun sieht er sie zum ersten Mal und will sich ihnen nähern. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll, weil es sein erster Versuch ist.

Als Jonas versucht, sein Scheitern im nahe gelegenen Steinacker zu vergraben, und die Steine, die er rollt, aneinanderschlagen, riecht es nach Phosphor und Knallfröschen. Er fragt seine Tochter: »Hast du daran gedacht, wie schrecklich wichtig und schwer es ist, die Worte zu finden, die dafür nötig sind, um etwas vollkommen klar und gerecht auszudrücken?«

Jeder Versuch zu formulieren ist wie das Rollen eines Steins im Steinacker: Man wird niemals fertig. Aber das einzig Ehrenhafte ist, es zu versuchen.

Anna-Lena Laurén

1.

Das erste Grün des langen Frühlings hatte im Esplanade-Park ausgeschlagen. Nach dem Regen waren die Baumstämme glänzend schwarz, das frische Laubwerk wurde von Straßenlaternen illuminiert, jetzt gerade war es sehr schön in Helsinki. Im Esplanade-Kapelli hatte man begonnen, die Stühle für die Nacht auf die Tische zu stapeln, nur ein paar vereinzelte Gäste hockten noch in ihren Ecken. Die Zeitung hatte den ganzen westlichen Teil des Restaurants reserviert, hier hatten sie seit neunzehn Uhr Jonas und seine Pensionierung gefeiert.

»Du bist so still«, bemerkte Ekka. Er hatte die Aufgabe gehabt, sich um den Ehrengast zu kümmern. »Sollten wir uns vielleicht allmählich auf den Heimweg machen?«

Über ihrem Tisch war die Deckenlampe noch an, im übrigen Lokal war es schon dunkel, demnächst würden sie schließen.

»Ja, ich bin still«, sagte Jonas. »Und weißt du auch, warum ich still bin? Weil ich im Laufe dieses Jobs zu viele Wörter zerstört habe. Meine Worte sind alle abgenutzt und überanstrengt. Sie sind müde, wenn du verstehst, was ich meine, sie können nicht mehr verwendet werden. Man müsste sie waschen und von vorn anfangen. – Genehmigen wir uns noch einen?«

»Ich glaube nicht«, sagte Ekka.

»Worte«, fuhr Jonas fort, »Millionen von Worten, die ich für deine Zeitung geschrieben habe. Begreifst du, was es heißt, viele Millionen Worte zu schreiben und nie sicher zu sein, die richtigen gewählt zu haben; irgendwann wird man dann stiller und stiller, nein, will sagen, immer stiller, und hört nur noch zu, du brauchst nicht nach ihm Ausschau zu halten, der wird die Rechnung schon noch bringen. Ekka, begreifst du denn nicht, wie es ist, wenn man die Leute immer nur ausfragen muss, man fragt und fragt … Der aktuelle Nachrichtenwert!«, rief Jonas aus und beugte sich vor über den Tisch. »Aktuelles Nachrichtenmaterial, und so weiter und so weiter …«

»Ich weiß«, sagte Ekka freundlich. »Dein spezieller Gag, deine Signatur: und so weiter und so weiter …«.

Ekka war müde, er musste am nächsten Morgen früh aufstehen, jetzt fing er den Blick des Kellners ein, und während er die Rechnung unterschrieb, sagte er zu Jonas:

»Das ist für uns alle gleich. Worte, Worte und Worte, und jetzt gehen wir.«

Er sammelte Jonas’ Zigaretten ein, das Feuerzeug, die humorvollen Geschenke der Kollegen und den Vertrag für die Biografie, keine Brille.

»Hast du keine Brille?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Jonas. »Seltsamerweise habe ich keine Brille. Um zu begreifen, was ich eigentlich treibe, brauche ich zwar alles, was es nicht gibt, aber eine Brille brauche ich nicht.« Sie gingen in den Empfang hinaus, und während sie auf das Taxi warteten, fragte Ekka Jonas, wie es seinen Töchtern denn gehe, er habe doch zwei Töchter, nicht wahr?

»Ich weiß nicht«, antwortete Jonas, »ich habe sie nicht gefragt. Jetzt machst du Konversation, weil du müde bist. Sie sind groß und schön und haben mich auch nicht gefragt.

Na, so was, Aspirin. Fantastisch! Das erste Mal, dass die Zeitung daran gedacht hat, mir Aspirin zu schenken. Ekka, wie war meine Dankesrede? Hab ich mich anständig bedankt? Darüber hast du gar nichts gesagt. Habe ich zu viele Worte gemacht, habe ich mich wiederholt?«

»Deine Rede war gut«, sagte Ekka. »Sehr gut. Da kommt das Taxi.«

2.

Gegen Herbst rief Ekka an und sagte: »Hallo, ich bin’s, Ekka. Wie geht’s? Ich meine, mit dieser Biografie?«

»Das geht total den Bach runter«, sagte Jonas. »Jetzt hör mir gut zu: Ich kann deinen Zeitungskönig nicht ausstehen! Du weißt genau, was er getan hat – er hat den gesamten Konzern aufgekauft, in dem dieses unsägliche Schundblatt erscheint, ein schlauer Kerl, ja, schlau wie ein Fuchs, und so weiter und so weiter, aber je mehr man in dieser Suppe herumrührt, umso übler stinkt sie. Ekka, du weißt genau, worauf er spekuliert hat, dieser Dreckskerl hat sämtliche Dreckskerle eingesammelt – tut mir leid, das war eine Wiederholung – jedenfalls jeden einzelnen Dreckskerl, der auf Sensationen und sentimentales Zeug spezialisiert war, und hat sie loslegen lassen, verstehst du, Leute, die noch nicht einmal anständig sprechen können, und hat sie ausdrücklich dazu ermuntert, die Sprache zu zerstören! Unachtsam mit Worten umzugehen! Bist du noch da?«