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Was der Goldene Schnitt ist oder wie ein Wald gemalt werden muss, wie man Künstlerfeste feiert und was man einen Künstler unter keinen Umständen fragen darf - über all das weiß die Tochter des Bildhauers haargenau Bescheid. Kein Wunder - nicht umsonst schläft sie in der elterlichen Atelierwohnung auf dem Schlafregal und behält den Überblick. Sogar im Sommer auf der Schäreninsel sieht das Künstlerauge immer mit, selbst wenn sich die Familie ausgiebig dem Angeln, Pilzesammeln oder dem Toben der Elemente hingibt. Eine faszinierende, eigenwillige Welt tut sich auf. Tove Jansson erzählt die Geschichte ihrer fantastischen Kindheit, von Bürgertum und Bohème, Geborgenheit und Abenteuer gleichermaßen geprägt.
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Seitenzahl: 156
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Tove Jansson
Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer
Das goldene Kalb
Das Dunkel
Der Stein
Feste
Anna
Der Eisberg
Die Meeresbuchten
Das Seerecht
Albert
Hochwasser
Jeremiah
Theater
Haustiere und Frauenzimmer
Die Tante, die eine Idee hatte
Der Tüllrock
Der Schnee
Röteln
Die Kunst des Fliegens
Weihnachten
Mein Großvater war Pfarrer. Er pflegte vor dem König zu predigen. Einst, bevor seine Kinder, Kindeskinder und die Kinder der Kindeskinder die Erde bevölkerten, kam Großvater an eine lange grüne Wiese, die war von Wäldern und Bergen gesäumt und erinnerte an das Tal im Paradies. Am unteren Ende öffnete sich die Wiese zu einer Meeresbucht hin, in der Großvaters Nachkommen dereinst würden baden können. Da dachte Großvater, hier werde ich wohnen und mich vermehren, denn dies ist wirklich das Land Kanaan.
Dann bauten Großvater und Großmutter ein großes Haus mit einem Mansardendach und einer Menge Zimmer und Treppen und Terrassen und einer gewaltigen Veranda und stellten drinnen und draußen weiß gestrichene Holzmöbel auf, und als das erledigt war, begann Großvater zu pflanzen. Und alles, was er pflanzte, schlug Wurzeln und vermehrte sich, sowohl Blumen als auch Bäume, bis die Wiese in einen himmlischen Lustgarten verwandelt war, den Großvater mit seinem großen schwarzen Bart zu durchwandeln pflegte. Kaum zeigte er mit seinem Stock auf eine Pflanze, da war sie schon gesegnet und wuchs, dass es nur so krachte.
Das ganze Haus war von Geißblatt und wildem Wein bewachsen, und die Veranda hatte Wände aus lauter kleinen Rosen, die klettern konnten. Auf der Veranda saß Großmutter in einem hellgrauen Seidenkleid und erzog ihre Kinder. Sie wurde von so zahlreichen Bienen und Hummeln umsummt, dass es klang wie sehr leise Orgelmusik. Tagsüber schien die Sonne, nachts regnete es, und im Steingarten wohnte ein Engel, den man nicht stören durfte.
Der Engel wohnte immer noch dort, als Mama und ich angereist kamen und ins Westzimmer einzogen. Das Westzimmer hatte ebenfalls weiße Möbel, an den Wänden hingen ruhige Bilder, aber Skulpturen gab es keine.
Ich war ein Enkelkind. Karin war ebenfalls ein Enkelkind, allerdings hatte sie lockige Haare und sehr große Augen. Sie und ich spielten draußen auf der Wiese die Kinder Israels.
Gott wohnte auf dem Berg oberhalb des Steingartens, dort oben lag ein Sumpf, der war verboten. Bei Sonnenuntergang begann Gott sich auszubreiten, er ruhte wie ein Nebelschleier über dem Haus und der Wiese. Er konnte sich dünn machen und überall hineinkriechen, um nachzusehen, was man gerade anstellte, und manchmal war er auch nur ein großes Auge. Im Übrigen sah er ähnlich aus wie Großvater.
Karin und ich murrten in der Wüste und waren unentwegt ungehorsam, da Gott den Sündern so gerne vergibt. Gott verbot uns, unter dem Goldregenbusch Manna zu sammeln, aber wir sammelten trotzdem. Da schickte er Würmer aus der Erde, die das Manna auffraßen. Aber wir ließen uns nicht beirren, sondern waren weiterhin ungehorsam und murrten. Irgendwann würde er uns so sehr zürnen, dass er sich zeigte, darauf warteten wir die ganze Zeit. Der Gedanke war ungeheuerlich. Wir konnten an nichts anderes denken als an Gott. Wir brachten ihm Opfer dar, Heidelbeeren, Paradiesäpfel, Blumen und Milch, manchmal erhielt er auch ein kleines Brandopfer. Wir sangen ihm vor und baten ihn immer wieder darum, uns ein Zeichen zu geben, dass er sich für das, was wir taten, interessierte.
Und eines Morgens kam Karin und sagte, jetzt habe sie das Zeichen erhalten. Gott habe eine Goldammer in ihr Zimmer geschickt, und die habe sich auf das Bild mit Jesus, der auf dem Wasser geht, gesetzt und dreimal genickt.
»Wahrlich, wahrlich, ich sage dir«, sagte Karin. »Die Auserwählte ist noch stets zu Ehren gekommen.«
Sie zog ein weißes Kleid an und ging den ganzen Tag mit Rosen im Haar umher, sang Lobgesänge und benahm sich unnatürlich. Sie war schöner denn je, und ich hasste sie. Mein Fenster war ebenfalls offen gewesen. In meinem Zimmer hing ein Bild mit dem Schutzengel am Abgrund. Ich hatte Gott genauso viele Brandopfer gebracht und noch viel mehr Heidelbeeren gepflückt. Und was das Murren anbetraf, war ich mindestens so ungehorsam gewesen wie Karin, um die himmlische Vergebung zu erlangen.
Bei der Morgenandacht auf der Veranda machte Karin ein Gesicht, als würde Großvater nur für sie predigen. Sie nickte sachte mit nachdenklicher Miene. Sie faltete die Hände, lange bevor das Vaterunser an der Reihe war. Beim Singen hielt sie den Blick beharrlich an die Decke gerichtet. Nach dieser Sache mit der Goldammer gehörte Gott ausschließlich ihr.
Wir sprachen nicht mehr miteinander, und ich gab sowohl das Murren als auch das Opfern auf und war so eifersüchtig, dass mir schlecht wurde.
Eines Tages reihte Karin sämtliche Cousinen auf der Wiese auf, selbst die Kleinen, die noch nicht sprechen konnten, und hielt eine Bibelstunde für sie ab.
Da begann ich das goldene Kalb zu errichten.
In seiner Jugend, als Großvater vom allerheftigsten Pflanzfieber gepackt gewesen war, hatte er am untersten Ende der Wiese einen Kreis aus Tannen gepflanzt, da er dort eine Laube zum Kaffeetrinken haben wollte. Die Tannen wuchsen und wuchsen, sie wurden zu gewaltigen schwarzen Bäumen, deren Zweige durcheinander wucherten. In der Laube war es ganz dunkel, alle Nadeln fielen ab und blieben auf der nackten Erde liegen, da sie nie genügend Sonne bekamen. Niemand wollte mehr in der Tannenlaube Kaffee trinken, man setzte sich lieber unter den Goldregen oder auf die Veranda.
Ich errichtete mein goldenes Kalb in der Tannenlaube, weil es ein heidnischer Ort war und weil eine kreisförmige Umgebung sich immer gut für Skulpturen eignet. Es war sehr schwierig, die Beine des Kalbes zum Stehen zu bringen, aber schließlich klappte es, und ich nagelte sie sicherheitshalber am Sockel fest. Manchmal legte ich eine Pause ein und horchte, ob ich das erste Grollen von Gottes Zorn hörte. Vorläufig äußerte er sich jedoch nicht. Dafür schaute aber sein großes Auge durch das Loch zwischen den Tannenwipfeln geradewegs in die Tannenlaube herab. Endlich hatte ich sein Interesse geweckt.
Der Kopf des Kalbes wurde sehr gut. Ich arbeitete mit Blechdosen und Lumpen und einem alten Muff und band alles mit Schnüren zusammen. Wenn man ein paar Schritte zurücktrat und die Augen zukniff, schimmerte die Skulptur im Tannendunkel tatsächlich schwach golden, besonders um das Maul herum.
Mein Interesse an der Sache wuchs, und ich begann immer mehr an das goldene Kalb zu denken und immer weniger an Gott. Es wurde ein sehr gelungenes goldenes Kalb. Schließlich umgab ich es mit einem Kreis aus Steinen und sammelte dürre Zweige für ein Brandopfer.
Erst als das Brandopfer zum Anzünden bereit war, kam die Angst wieder angeschlichen, und ich blieb regungslos stehen und horchte.
Gott verhielt sich ganz still. Vielleicht wartete er darauf, dass ich die Streichhölzer hervorholen würde. Er wollte sehen, ob ich tatsächlich das Unerhörte wagen würde – ob ich dem goldenen Kalb opfern und ihm anschließend sogar noch vortanzen würde. Dann würde er in einer Wolke aus Blitzen und Strafen von seinem Berg herabkommen und zeigen, dass er meine Existenz zur Kenntnis genommen hatte. Dann könnte Karin mit ihrer ollen Goldammer und ihrer Heiligkeit und ihren Heidelbeeren einpacken!
Ich stand da und horchte und horchte, und das Schweigen wuchs, bis es unermesslich wurde. Alles horchte. Es war spät am Nachmittag, durch die Tannenhecke drang ein schwaches Licht und färbte die Zweige rot. Das goldene Kalb sah mich an und wartete, meine Beine kribbelten. Ich ging rückwärts auf die Öffnung zwischen den Tannen zu und ließ das goldene Kalb dabei nicht aus den Augen, ringsum wurde es heller und wärmer, und ich dachte, ich hätte es signieren können, auf dem Sockel. Draußen stand Großmutter, sie trug das schöne graue Seidenkleid, und ihr Mittelscheitel war so gerade wie der eines Engels.
»Na, was hast du denn gespielt?«, fragte sie und ging an mir vorbei. Sie blieb stehen, musterte das goldene Kalb und schmunzelte. Dann zog sie mich an sich, drückte mich zerstreut an die kühle Seide und sagte: »Sieh mal an, was du da gemacht hast. Ein kleines Lamm. Gottes kleines Lamm.«
Ich blieb stehen, meine Augen brannten heiß, aus allem fiel der Boden heraus, Gott zog sich wieder auf seinen Berg zurück und beruhigte sich. Sie hatte nicht einmal gesehen, dass es ein Kalb war! Ein Lamm, welch eine Schmach! Es erinnerte überhaupt nicht an ein Lamm, keine Spur! Ich stand lange da und sah mein Kalb an. Und Großmutters Kritik entkleidete es allen Goldes, und die Beine waren falsch, und der Kopf war falsch, alles war falsch, und wenn es überhaupt an etwas erinnerte, dann vielleicht an ein Lamm. Das Kalb war nicht gut. Es hatte nichts mit Skulptur zu tun.
Ich begab mich in die Abstellkammer für alles Mögliche, wo ich sehr lange sitzen blieb und nachdachte. Ich fand einen Sack. Den zog ich an, und dann begab ich mich auf die Wiese hinaus und rutschte mit gekrümmten Knien und zerrauften Haaren vor Karin herum.
»Was ist denn das?«, fragte Karin.
Da antwortete ich: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, ich bin ein großer Sünder.«
»Oh«, sagte Karin. Ich sah, dass sie beeindruckt war.
Ab da waren wir wieder normal und lagen unter dem Goldregen und flüsterten über Gott. Großvater wandelte umher und brachte alles zum Wachsen, und der Engel wohnte immer noch im Steingarten, als ob überhaupt nichts geschehen wäre.
Hinter der russischen Kirche gibt es einen Abgrund. Das Moos und die Abfälle sind glitschig, tief unten leuchten gezackte Konservendosen. Im Laufe von Jahrhunderten sind sie in immer höheren Stapeln an der Wand eines dunkelroten, langen Gebäudes ohne Fenster hochgewachsen. Das rote Gebäude kriecht um den Berg herum, und die Tatsache, dass es keine Fenster hat, ist sehr bedeutungsvoll. Hinter diesem Haus liegt der Hafen, ein stiller Hafen ohne Schiffe. Die kleine Holztür im Fels unterhalb der Kirche ist stets verschlossen.
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