Der Sternenleser - Kate Grenville - E-Book

Der Sternenleser E-Book

Kate Grenville

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Beschreibung

Ein packender Roman über die Besiedelung Australiens

Daniel Rooke ist ein stiller Junge. Früh entdeckt er seine Leidenschaften, die Welt der Zahlen und den Sternenhimmel. Als vielversprechender junger Astronom und Leutnant begleitet er die erste britische Expedition nach New South Wales in Australien. Die neue Heimat präsentiert sich unwirtlich und feindselig. Rooke gelingt es, sich militärischen Pflichten mit dem Hinweis auf die Wissenschaft zu entziehen. Bis seine Freundschaft zu dem Aborigine-Mädchen Tagaran ihn zwingt, Stellung zu beziehen zwischen Altem und Neuem, zwischen den Errungenschaften der Zivilisation und vermeintlicher Wildheit.

Kraftvoll, mitreißend und mit großem Feingefühl beschreibt die preisgekrönte Autorin Kate Grenville den Zusammenprall zweier Welten.

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Seitenzahl: 364

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Kate Grenville

DER STERNENLESER

Roman

Deutsch von Karina Of

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »The Lieutenant« im Verlag The Text Publishing Company, Melbourne.

1. Auflage

Copyright © 2008 by Kate GrenvilleCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlag: R·M·E Roland Eschlbeck/Rosemarie KreuzerSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-06174-6

www.cbertelsmann.de

Patyegarang, den Cadigal und William Dawes gewidmet,

ERSTER TEIL

DER JUNGE LEUTNANT

Daniel Rooke war ein stiller, in sich gekehrter Mensch, eine schweigsame Natur. So weit er zurückdenken konnte, war er immer ein Außenseiter gewesen.

In der Grundschule in Portsmouth hatte man ihn für dumm gehalten. Sein erster Schultag, der dritte März 1767, fiel zufällig mit seinem fünften Geburtstag zusammen. In seiner neuen Jacke, den von seiner Mutter zubereiteten Frühstückshaferbrei wohlig im Bauch, setzte er sich an sein Pult und freute sich darauf, die Welt außerhalb seines Zuhauses kennenzulernen.

Mrs. Bartholomew zeigte ihm einen schlechten Kupferstich, unter dem das Wort »Katze« stand. Seine Mutter hatte ihm das Alphabet beigebracht, und er konnte seit einem Jahr lesen. Er verstand nicht, was Mrs. Bartholomew von ihm wollte. Mit offenem Mund saß er an seinem Pult.

Da war er zum ersten Mal mit Mrs. Bartholomews alter Haarbürste verdroschen worden, weil er eine Frage nicht beantwortet hatte, die so einfach war, dass er verunsichert schwieg.

Das Einmaleins langweilte ihn. Während die anderen Kinder es im Chor herausschmetterten und dabei schon ungeduldig auf die Vormittagspause warteten, schielte Rooke unter das Pult in das Notizbuch, in dem er seine besonderen Zahlen sammelte, Zahlen, die außer durch eins und sich selbst nicht teilbar waren. Sonderlinge, genau wie er.

Als Mrs. Bartholomew eines Tages auf ihn zustürzte und ihm das Notizbuch entriss, befürchtete er, sie würde es ins Feuer werfen und ihn wieder mit der Haarbürste verdreschen. Doch sie schaute nur lange hinein und ließ es in ihrer Schürzentasche verschwinden.

Er hätte sie gerne gebeten, es ihm zurückzugeben. Nicht wegen der Zahlen, die hatte er im Kopf, sondern wegen des Notizbuchs, das zu wertvoll war, um es zu verlieren.

Dann kam Dr. Adair von der Akademie in das Haus an der Church Street. Rooke wusste weder, wer Dr. Adair war, noch was er in ihrem Wohnzimmer zu suchen hatte. Er wusste nur, dass er für einen Besucher gewaschen und gekämmt worden war, dass man seine kleinen Schwestern zur Nachbarsfrau geschickt hatte und seine Eltern mit starrer Miene auf den unbequemen Stühlen in der Ecke saßen.

Dr. Adair beugte sich vor. Ob Master Rooke etwas von Zahlen wisse, die nur durch eins und sich selbst teilbar seien? Rooke vergaß seine Scheu. Er lief in seine Dachkammer hinauf und kam mit dem Blatt zurück, auf das er ein Gitternetz gezeichnet hatte, zehn mal zehn Quadrate für die Zahlen von eins bis hundert, und mit roter Tinte diese besonderen Zahlen: zwei, drei, fünf und weiter bis siebenundneunzig. Er deutete mit dem Finger darauf: Da ist eine Art Muster, schauen Sie, hier und hier. Hundert Zahlen seien jedoch nicht genug, er brauche ein größeres Blatt Papier, um zwanzig oder gar dreißig Quadrate neben- und untereinander zeichnen zu können und dann das richtige Muster zu finden. Ob ihm Dr. Adair vielleicht solch ein Blatt besorgen könne?

Auf dem Gesicht seines Vaters lag inzwischen das verzerrte Lächeln, das sich immer dann zeigte, wenn sein Sohn einem Fremden gegenüber offenbarte, was für ein seltsamer Junge er war. Seine Mutter hatte den Blick gesenkt. Rooke faltete das Blatt mit dem Gitternetz zusammen und verbarg es auf dem Tisch unter seiner Hand.

Doch Dr. Adair hob die Finger des Jungen von dem schmuddeligen Papier.

»Darf ich mir das einmal ausleihen?«, fragte er. »Ich würde es gerne einem Herrn aus meinem Bekanntenkreis zeigen, den es interessieren wird, dass dies von einem siebenjährigen Jungen stammt.«

Nachdem Dr. Adair gegangen war, brachte die Nachbarin seine beiden Schwestern zurück. Sie musterte Rooke und sagte mit überlauter Stimme, als wäre er taub oder ein Hund: »Ja, er sieht wirklich klug aus.«

Rooke spürte, wie er bis in die Haarwurzeln errötete. Mochte er nun dumm oder klug sein, eines änderte sich nicht: der Schmerz, mit der Welt nicht in Einklang zu sein.

Als Rooke acht wurde, bot Dr. Adair ihm das Stipendium an. Es waren bloß Worte: ein Platz an der Marineakademie Portsmouth. Der Junge dachte, das Leben dort könne sich nicht allzu sehr von seinem bisherigen unterscheiden – also machte er sich unbekümmert auf den Weg und winkte seinem am Tor stehenden Vater nur flüchtig zu.

In der ersten Nacht lag er reglos im Dunkeln, vor Schock unfähig zu weinen.

Die anderen Jungen fanden heraus, dass sein Vater Angestellter war und jeden Tag in das gedrungene Backsteingebäude am Hafen ging, wo sich das Amt für Artilleriewesen und Heeresausrüstung befand. In der Welt der Church Street war Benjamin Rooke ein gebildeter und angesehener Mann, ein Vater, auf den man stolz sein konnte. Eine Meile entfernt, in der Marineakademie Portsmouth, war er etwas, wofür man sich schämen musste. Du meine Güte – ein Angestellter!

Einer der Jungen zerrte sämtliche Kleidungsstücke, die Hemden und die Unterwäsche, die Rookes Mutter und Großmutter so sorgfältig angefertigt hatten, aus dem Koffer und schleuderte sie durch das Fenster in den matschigen Hof drei Stockwerke weiter unten. Ein Mann in einer wallenden schwarzen Robe zog Rooke schmerzhaft am Ohr und schlug ihn mit dem Rohrstock, als er zu erklären versuchte, dass nicht er das getan habe. Ein großer, kräftiger Junge schob ihn draußen hinter der Schulküche auf eine hohe Mauer und stach mit einem Stock auf ihn ein, bis Rooke sich schließlich gezwungen sah hinunterzuspringen.

Sein Knöchel schmerzte immer noch von dem Sprung, doch das war nicht so schlimm wie der Schmerz in seinem Herzen.

Seine Dachkammer in der Church Street umschloss ihn mit ihren Ecken und Winkeln, in ihrer Form ebenso eigenartig wie er. Die kalte Trostlosigkeit des Schlafsaals in der Akademie hingegen saugte die Seele aus ihm heraus und hinterließ eine leere Hülle.

Wenn er samstagsabends von der Akademie zur Church Street ging, um den Sonntag zu Hause zu verbringen, war das wie eine Reise von einer Welt in die andere, die ihn jedes Mal fast zerriss. Weil seine Mutter und sein Vater so stolz und beglückt waren, dass ihr kluger Sohn auserwählt worden war, konnte er ihnen nichts von seinen inneren Konflikten erzählen. Seine Großmutter hätte ihn vielleicht verstanden, doch nicht einmal ihr gegenüber fand er die richtigen Worte, um seine Verlorenheit zu beschreiben.

War dann wieder die Zeit zum Aufbruch gekommen, umklammerte Anne seine Hand fest mit ihren beiden Händchen, zog mit ihrem ganzen kindlichen Gewicht an ihm und bettelte, dass er dableiben solle. Obwohl sie nicht einmal fünf war, wusste sie instinktiv, dass ihr Bruder lieber in der Diele verwurzelt bliebe. Sein Vater löste ihre Finger einen nach dem anderen von Rookes Hand und scheuchte ihn lächelnd und winkend zur Tür hinaus, worauf Rooke nichts anderes übrig blieb, als ebenfalls zu winken und eine fröhliche Miene aufzusetzen. Während er die Straße hinaufging, konnte er Annes Heulen und die Tröstungsversuche seiner Großmutter hören.

Obwohl die Akademie so viele große Männer hervorgebracht hatte, begeisterte sich dort niemand für die Zahlen, die Rooke Primzahlen zu nennen lernte. Auch an seinem Notizbuch, in dem er die Quadratwurzel aus zwei zu berechnen versuchte, zeigte keiner Interesse, oder daran, wie man mit der Zahl Pi herumspielen konnte und dabei überraschende Ergebnisse erzielte.

Rooke lernte schließlich, dass wahre Klugheit darin bestand, solcherart Gedanken zu verbergen. Sie wurden zu etwas Beschämendem, zu einer geheimen Sache, die man nicht öffentlich zeigen durfte.

Gespräche waren für ihn ein unlösbares Problem. Schien auf eine Bemerkung keine Antwort nötig zu sein, schwieg er eben. Bis er endlich lernte, wie es funktionierte, hatte er sich, ohne es zu merken, die Gunst einiger Jungen verscherzt. Danach war es zu spät.

Bei anderen Gelegenheiten wiederum redete er zu viel. Äußerte sich jemand über das Wetter, konnte es vorkommen, dass er sich über die Verteilung der unterschiedlichen Niederschlagsmengen in Portsmouth in Begeisterung redete. Weitschweifig erzählte er dann von seinen Aufzeichnungen und dass auf seiner Fensterbank ein Glasgefäß stehe, in das er eine Messskala eingeritzt habe. Verbringe er den Sonntag zu Hause, nehme er das Glas natürlich mit, doch die Fensterbank dort sei dem vorherrschenden Südwestwind etwas mehr ausgesetzt als die Fensterbank in der Akademie und bekomme deshalb mehr Regen ab. Wenn er bis dahin gekommen war, hatte die jeweilige Person, die lediglich festgestellt hatte, was für ein schöner Tag es doch sei, längst das Weite gesucht.

Er wäre zu gerne ein ganz normaler guter Junge gewesen, doch es gelang ihm nicht, anders zu sein, als er war.

Mit der Zeit hasste er die protzige Kuppel auf dem Dach der Akademie mit der stolzen goldenen Kugel, hasste die weißen Ecksteine, mit denen die Fassade eingefasst war. Der Portikus des Haupteingangs wirkte zu schmal für die pompösen Säulen, die Tür mit dem kleinen Dreiecksgiebel darüber winzig wie ein Gesicht mit zu dicht beieinanderstehenden Augen.

Wenn er sich nach einem zu Hause verbrachten Sonntag widerstrebend diesem Ort näherte und dabei Annes an ihm zerrenden Hände noch spürte, sah er zum zweiten Stockwerk hinauf, in dem sich die Zimmer der reichen Jungen befanden. Waren die Vorhänge des linken Fensters aufgezogen, bedeutete das, Lancelot Percival James, der Sohn des Grafen von Bedwick, war schon zurück. Der dickliche, geistig schwerfällige Junge mit der dröhnenden Stimme hatte nur Verachtung für einen Schulkameraden, dessen Vater nichts weiter als ein Angestellter war und in dessen Zuhause es keine richtigen Diener, sondern nur ein Mädchen für alles gab. Selbst jene Jungen, die ständig in Lancelot Percivals Nähe herumscharwenzelten, konnten es schon nicht mehr hören, wenn er von seinem Butler, seinem Koch, seinen vielen Dienstmädchen und Lakaien erzählte, ganz zu schweigen von den diversen Stallburschen und Gärtnern, die das Landgut pflegten, und dem Wildhüter, der die Fasane des Grafen vor jenen schützte, die versucht sein könnten, sich unaufgefordert zu bedienen.

Lancelot Percival lauerte Rooke auf und schaffte es fast immer, ihm im Vorbeigehen einen Stoß zu versetzen oder Rookes gutes Leinenhemd mit Tinte zu bespritzen. Die anderen Jungen sahen teilnahmslos zu, als wäre es so normal wie das Töten einer Fliege.

Der Reichtum von Lancelot Percival James’ illustrer Familie basierte auf dem Zuckerhandel, darüber hinaus auf den Inseln Jamaika und Antigua und schließlich auf den schwarzen Sklaven auf diesen Inseln. Lancelot Percival begriff zwar nicht, weshalb das Quadrat über der Hypotenuse flächengleich der Summe der Quadrate über den beiden Katheten war, wurde jedoch höchst beredt, wenn es zu erklären galt, warum die Abschaffung der Sklaverei für das Britische Weltreich im Allgemeinen und seine eigene Familie im Besonderen den Untergang bedeuten würde.

Über diese Aussage zerbrach sich Rooke den Kopf, so wie er sonst über seine Primzahlen nachgrübelte. Weil er noch nie einen Schwarzen gesehen hatte, war das Problem abstrakt, doch etwas an der These war irgendwie nicht stimmig. Wie er es auch drehte und wendete, er konnte Lancelot Percivals Logik nicht nachvollziehen.

Auf alle Fälle war es das Beste, Lancelot Percival aus dem Weg zu gehen.

So oft er konnte, stahl er sich davon und lief zum Ufer bei der Hafeneinfahrt hinunter, wo der Round Tower dem Meer zugewandt war. Am Fuß des alten Gemäuers gab es einen Kieselstrand, zu dem außer Rooke niemand kam. Die Leere dort war ihm eine Art Gefährte.

In einem Versteck in der Mauer bewahrte Rooke seine Kieselsammlung auf. Es waren ganz normale Steine, jeder von ihnen nur deshalb wertvoll, weil er sich von den anderen unterschied. Rooke sprach leise mit sich selbst, während er davorhockte und auf ihre besonderen Merkmale zeigte. Schau, dieser hier hat kleine dunkle Pünktchen! Und dieser hier ähnelt der Mondoberfläche, siehst du?

Er stellte die Fragen und gab zugleich die Antworten.

An der Akademie fand er allein in Büchern Trost. Euklid war ihm wie ein alter Freund. Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich. Das Ganze ist größer als der Teil. In Euklids Gesellschaft kam es ihm vor, als hätte er sein ganzes bisheriges Leben eine fremde Sprache gesprochen und höre nun endlich auch einen anderen diese Sprache sprechen.

Er vertiefte sich in William Lilys Grammatik der lateinischen Sprache und war begeistert, wie sich die schwer fassbaren Geheimnisse der Sprache in Einzelteile zerlegen ließen, die so verlässlich und austauschbar waren wie Zahlen. Dico, dicis, dicet. Dativ, Genitiv, Ablativ. Er gewann den Eindruck, dass Griechisch und Latein, Französisch und Deutsch weniger Möglichkeiten zum Sprechen waren, sondern vielmehr Mechanismen zum Denken.

Durch den Akademieunterricht in Astronomie und Navigation erschloss sich ihm ein völlig neuer Himmel. Zu lernen, dass die Sterne keine wunderlichen Irrlichter waren, sondern Teil eines gigantischen Gefüges, das Rooke richtig schwindlig machte, war eine Offenbarung. Es war, als würde man, während man auf der Erde stand, den Blick nach innen richten und dabei versuchen, die Erde von außen zu betrachten. Aus dieser Perspektive sah man keine Räume, Felder und Straßen, sondern eine Materiekugel, die durch den Weltraum sauste, auf einer Umlaufbahn, deren genaue Form ein Deutscher namens Kepler intuitiv erfasst und ein Engländer namens Newton – der die Mathematikerbrücke in Cambridge entworfen haben sollte – nachgewiesen hatte.

Vergeblich wünschte sich Rooke, dass Euklid oder Kepler noch lebten, um sich mit ihnen unterhalten zu können. Die von ihnen beschriebene Welt war wohlgeordnet, alles hatte seinen Platz. Vielleicht sogar ein Junge, der keinen Platz zu haben schien.

Als der Kaplan herausfand, dass Rooke das absolute Gehör hatte, erschien ihm das wie ein weiterer Fluch.

»Cis!«, rief er, und Rooke lauschte in sich hinein und sang einen Ton. Der Kaplan hieb mit dem Finger auf die Klaviertaste ein.

»B, Rooke, gibst du mir bitte ein b?«

Rooke lauschte und sang, und der Mann drehte sich auf dem Klavierstuhl mit solch heiß glühenden Wangen zu ihm um, dass Rooke einen schockierten Augenblick lang glaubte, er wolle ihn küssen. Im Chorgestühl hinter ihm kicherten die Klassenkameraden, und Rooke wusste, er würde später dafür büßen müssen.

Doch sobald seine Beine lang genug waren, brachte ihm der Kaplan in der Kapelle das Orgelspiel bei. Für Rooke öffnete sich eine Tür in eine ihm bislang verschlossen gebliebene Welt.

Er liebte die Logik der Notation, wie die Grundeinheit der Brevis, der Doppelganzen, in immer kleinere Notenwerte zerlegt werden konnte. Selbst die schnellste Vierundsechzigstelnote war Teil dieser Grundeinheit, mitschwingende Töne, die bewusst kaum wahrgenommen wurden, aber zur Klangfülle beitrugen.

Und dann das Instrument selbst. Eine Orgel war nichts weiter als Dutzende von Luftröhren. Jede Pfeife konnte nur einen einzigen Ton erzeugen, brachte keinen anderen hervor: eine Pfeife, ein Ton. Jede stand an ihrem Platz neben den anderen, ihr Metallmund offen, gefüllt mit Luft, die darauf wartete, in Bewegung versetzt zu werden. Rooke saß zwanzig Meter entfernt am anderen Ende der Kapelle am Manual, schlug einen Akkord an und lauschte, wie jede Pfeife ihren Ton sang. Er hätte weinen können vor Dankbarkeit, dass die Welt solch herrliche Klänge zu bieten hatte.

Stundenlang saß er in der Kapelle und arbeitete sich bedachtsam durch die Fugen. Ein Dutzend Töne, schwerlich Musik zu nennen. Doch andererseits sprachen diese wenigen Noten miteinander, mit Thema und Antwort, durch Wiederholungen, Diminutionen und Augmentationen, oder bewegten sich sogar rückwärts wie die rückläufige Planetenbahn des Mars. Rooke lauschte, als hätte er genauso viele Ohren wie Fingerspitzen, und konnte wie ein Blinder kaum vorhandene Strukturen fühlen. Nach zwei oder drei Seiten Musik verwoben sich sämtliche Stimmen zu einer Konstruktion von solch schwindelerregender Gewalt, dass sie fast die Wände der Kapelle sprengten.

Andere, die des stundenlangen ununterbrochenen Klanges von Buxtehude und Bach überdrüssig wurden, beschwerten sich, dass da keine Melodie sei. Genau das war es, was Rooke an den Fugen am besten gefiel, die Tatsache, dass sie nicht gesungen werden konnten. Eine Fuge war nicht singularisch wie eine Melodie, sondern pluralisch. Sie war ein Gespräch.

Auf der Orgelbank, mit dem Rücken zu den voll besetzten Kirchenbänken, ließ er Hunderte von Predigten über sich ergehen, und dann mümmelte er die Bröckchen Brot und nippte mit den anderen am Abendmahlskelch. Aber der Gott der Sünde und der Vergeltung, der Mysterien des Leidens und Auferstehens, sprach nicht zu ihm. Rooke lag mit Gott nicht im Streit, doch für ihn war Gott in diesen Worten oder Ritualen nicht enthalten.

Rooke hatte Gott im Nachthimmel gesehen, lange bevor er dessen Muster verstand. Wie sich die Gesamtheit der Sterne zusammen als eine Einheit bewegte, hatte er immer als wunderbar und beruhigend empfunden.

An den langen Winterabenden stahl sich Rooke an der Schulküche vorbei nach draußen, blieb im Hof stehen und blickte zum Himmel hinauf. In der Kälte waren die Sternbilder nah und strahlend. Es beruhigte ihn, dass der Fuhrmann und der Kleine Bär, die den Himmel miteinander umkreisten, immer zu finden waren. Keiner dieser Lichtpunkte dort oben musste sich seinen Weg allein durch die Dunkelheit suchen, sondern bewegte sich zusammen mit seinen Gefährten, allesamt durch eine mächtige Hand an ihrem Platz festgehalten.

Dass der Mond manchmal ein dünner Splitter war und manchmal eine Scheibe, hatte Rooke als Kind für einen raffinierten Trick gehalten. Doch als er den Grund dafür verstand, war er von Ehrfurcht ergriffen gewesen. Da existierte tatsächlich ein Muster, er hatte lediglich auf einer falschen Skala danach gesucht. Eine Woche reichte nicht aus, um das Muster zu erkennen, man brauchte einen ganzen Monat.

Er hoffte, dass alles Verstehen lediglich eine Frage des Maßstabs sei. Wenn man nicht nur eine Woche, ein Jahr oder ein ganzes Leben zur Verfügung hatte, sondern Jahrtausende, Äonen, würde sich herausstellen, dass hinter all den scheinbar ziellos umherziehenden Himmelskörpern und den irdischen Veränderungen eine Bedeutung steckte. Manche Ordnungen waren zu riesig, als dass ein Mensch sie erkennen konnte. Man konnte jedoch darauf vertrauen, dass unter der Kakophonie eines jeden menschlichen Lebens eine kosmische Brevis mitschwang.

So wie der Kaplan sein Evangelium, hatte Rooke seinen eigenen heiligen Text, in dem sich sein Gott verständlich machte: die Mathematik. Dem Menschen war ein Gehirn gegeben worden, um in Zahlen denken zu können, und es konnte kein Zufall sein, dass sich die Welt durch genau dieses Werkzeug erschließen ließ. Um irgendeinen Aspekt des Kosmos zu verstehen, musste man auf das Antlitz Gottes schauen, nicht direkt, sondern durch eine Art Triangulierung, denn mathematisch zu denken hieß, das Handeln Gottes in sich selbst zu spüren.

Er sah, dass andere von ihren Vorstellungen von Gott getröstet wurden: als einem strengen, aber gütigen Vater oder einem Bruder, der eine Last mit ihnen teilte. Was Rooke hingegen tröstete, war das Wissen, dass er als Einzelner nicht von Bedeutung war. Was immer er auch sein mochte, er war Teil einer Ganzheit, ein einziger unbedeutender Ton innerhalb der großen Fuge des Daseins.

Das verlangte eine Moral, die über die knappe Handvoll Gebote im Buch des Kaplans hinausging. Man musste die Einheit aller Dinge anerkennen. Verletzte man einen Teil, beschädigte man alles.

Rooke träumte davon, diesen Ort zu verlassen, nicht nur die Akademie, sondern Portsmouth mit seinen Häusern, die sich dicht um den Hafen drängten, mit diesen engen Straßen, in denen ihn jeder zu gut kannte, Benjamin Rookes Ältesten, ein ganz netter Junge, nur ein bisschen weltfern.

Nichts deutete darauf hin, doch er glaubte fest daran, dass eines Tages irgendwo auf der Welt ein Ort für einen Menschen wie ihn zu finden sein würde.

Im Jahr 1775 wurde Rooke dreizehn, und Dr. Adair nahm seinen begabten Schüler nach Greenwich mit, um ihn seinem Freund, dem königlichen Astronomen, vorzustellen.

Noch nie zuvor war Rooke so weit von zu Hause fortgewesen. Während der ganzen Reise starrte er gebannt aus dem Kutschenfenster auf alles, was vorüberzog, alles so fremd wie das tiefste Afrika. Jeder schlammige Weiler war ihm unbekannt, jeder gaffende Landarbeiter ein Fremder. Am Ende des Tages war er von dem vielen Neuen, das er gesehen hatte, regelrecht berauscht.

Dr. Vickery war ein Mann mittleren Alters mit schweren Hängebacken und müden Augen, die immer wegglitten, wenn man ihn ansah. Rooke merkte es gleich: Auch dem Astronom fiel es schwer, anderen Menschen in die Augen zu blicken.

In dem sechseckigen Raum mit den hohen, langen Fenstern zu stehen, in dem Halley die Bahn seines Kometen berechnet hatte, überwältigte Rooke so sehr, dass er die Begrüßung des königlichen Astronomen nicht in gebührender Weise erwiderte. Dr. Vickery nahm jedoch keinen Anstoß an der Unbeholfenheit des Jungen. Er zog ihn zu der Wand hinüber, an der ein riesiger Viertelkreis aus Messing hing, mit einer so fein gravierten Skala um den Rand herum wie die Ziselierung auf Dr. Adairs goldener Uhr.

»Master Rooke, dieser Quadrant wird Sie interessieren. Ein Radius von acht Fuß, und sehen Sie die auf dem Bogenrand eingeritzte Gradeinteilung? Hergestellt von John Bird aus London nach der Methode fortgesetzter Halbierung.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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