Ein Raum aus Blättern - Kate Grenville - E-Book

Ein Raum aus Blättern E-Book

Kate Grenville

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Beschreibung

»Ich wurde zu einer Person, die, wenn sie sich nicht vollständig von sich abgewandt hatte, so doch auch nicht zur Gänze sie selbst war. Ich war verbindlicher, liebenswürdiger, eine, die sich klein zusammengefaltet und sorgfältig versteckt hatte, dort, wo niemand sie sehen konnte.« Was wäre, wenn Elizabeth Macarthur – Ehefrau des berüchtigten John Macarthur, Wollbaron in den frühesten Tagen der Kolonisierung Australiens – geheime Memoiren geschrieben hätte? Und was wäre, wenn die Schriftstellerin Kate Grenville sie auf wundersame Weise gefunden und veröffentlicht hätte? Das ist der Ausgangspunkt für »Ein Raum der Blätter«, ein spielerischer Tanz der Möglichkeiten zwischen dem Realen und dem Erfundenen. Die Ehe mit einem rücksichtslosen Tyrannen, ihre eigenen Sehnsüchte, die Suche nach Selbstbestimmung in einer Gesellschaft, die den Frauen diese nicht zugestand: Elizabeths Memoiren lassen uns hören, was eine dieser scheinbar sittsamen Frauen aus der Geschichte wirklich gedacht haben mag. »Ein Raum aus Blättern« durchzieht außerdem eines der brisantesten Themen unserer Zeit: die verführerische Anziehungskraft von falschen Geschichten. 1788. Die 21-jährige Elizabeth hat nicht viele Optionen in ihrem Leben. Als Halbwaise, ohne große Mitgift in einer Zeit, in der für Frauen das Wichtigste war, einen Ehemann zu finden, muss sie denjenigen zum Ehemann nehmen, der sie als erstes fragt. John McArthur ist rücksichtslos und getrieben von einer dunklen Wut auf die Welt. Er soll eine Stelle als Leutnant in einer Strafkolonie in New South Wales antreten, und Elizabeth als seine Ehefrau hat keine andere Wahl, als mit ihm zu gehen. Ihr ganzes Leben lang hat Elizabeth gelernt, zuvorkommend zu sein, sich selbst klein zusammenzufalten. Jetzt, in dieser unwirtlichen neuen Umgebung, mit einem Ehemann, der immer wieder für längere Zeit in England weilt, ist Elizabeth auf sich gestellt und geht ihren Weg, so gut es ihr möglich ist.

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Nagel & Kimche E-Book

Kate Grenville

Ein Raum aus BlÄttern

ROMAN

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Gewidmet all jenen,

deren Geschichte totgeschwiegen wurde.

»Glaubt nicht zu geschwind!«

Elizabeth Macarthur

Ich danke den Völkern Australiens und der Torres-Strait-Inseln, den ersten Völkern des Landes, in dem diese Geschichte spielt, und zolle den Ältesten früherer und heutiger Zeiten meinen Respekt.

Mein Dank gilt auch der Darug Custodian Aboriginal Corporation und dem Metropolitan Local Aboriginal Land Council

Anmerkung der Herausgeberin

Die wahrhaft unglaubliche und kaum bekannte Geschichte von der Entdeckung der lange verschollenen geheimen Lebenserinnerungen der Elizabeth Macarthur

Bei Renovierungsarbeiten an einem historischen Haus in Sydney wurde vor einiger Zeit auf dem Dachstuhl, eingeklemmt unter einem Dachbalken, eine Blechschachtel gefunden, die mit Wachs versiegelt und in geöltes Segeltuch eingewickelt war. Bei dem Haus handelte es sich um das Cottage Elizabeth Farm, in dem Elizabeth Macarthur, Ehefrau des berühmt-berüchtigten Siedlers John Macarthur, bis zu ihrem Tod 1850 gelebt hatte. Die Schachtel, vollgestopft mit schwer lesbaren und aus Platzgründen quer überschriebenen Schriftstücken, hatte all die Jahre unbemerkt dort oben gelegen, bis sie vor Kurzem durch eine Verkettung verschiedener unwahrscheinlicher Umstände, die schon fast fiktiv anmuten, in meine Hände gelangte. Wie es sich herausstellte, sind es Elizabeth Macarthurs verschollene Lebenserinnerungen.

In diesen privaten Aufzeichnungen, die gegen Ende ihres Lebens entstanden, tritt Elizabeth Macarthur hinter den nichtssagenden Dokumenten hervor, die bisher ihr öffentliches Gesicht geprägt haben. In dem Text begegnen uns intensive Empfindungen und gefühlsgeladene Erinnerungen. Mit bisweilen erschütternder Offenheit lädt uns die Verfasserin ein, ihr direkt ins Herz zu blicken.

Die australische Geschichte handelt wie fast jede Ländergeschichte überwiegend von Männern. Nur wenige Frauen sind ihrem üblichen Los, dem Vergessen, entgangen. Eine dieser wenigen ist Elizabeth Macarthur. Trotzdem gab sie uns Rätsel auf. Ihre Leistungen sind außergewöhnlich, doch wer sie war und welche Charaktereigenschaften sie antrieben, blieb enttäuschend unklar.

Elizabeth Veale, Tochter eines Landwirts, kam 1766 in dem winzigen Dorf Bridgerule in Devon zur Welt. Als junges Mädchen wurde sie in die Familie des ortsansässigen Pfarrers aufgenommen und wuchs in einem Umfeld auf, das dem ihrer Zeitgenossin Jane Austen recht ähnlich war. Im Jahr 1788 heiratete sie einen Soldaten, und ein Jahr später brachen die beiden mit ihrem kleinen Sohn zur neu gegründeten Strafkolonie New South Wales auf. Wie eine Rosenknospe, die in der Abtrittgrube landet, geriet die vornehme junge Frau aus dem Pfarrhaus von Bridgerule auf der anderen Seite des Erdballs in eine Gesellschaft, die von Gewalt und Brutalität geprägt war.

Rätselhaft ist bereits, was sie eigentlich dazu veranlasste, Ensign John Macarthur zu ehelichen. Er war kein Charmeur. Sie selbst beschreibt ihn als »zu stolz und hochmütig angesichts unserer bescheidenen Mittel und Erwartungen«. Auch bot er keinen erfreulichen Anblick, denn sein Gesicht war von den Narben einer Pockenerkrankung in der Kindheit gezeichnet. Und er war weder reich noch angesehen: Als Sohn eines Tuchhändlers aus Plymouth konnte er außer seinem Halbsold keinerlei Einkünfte vorweisen. In Jane Austens Welt wäre eine solche Heirat wohl kaum infrage gekommen.

Eines aber sprach für John Macarthur: Die skrupellose Zielstrebigkeit, mit der er seinen sozialen Aufstieg betrieb. Dank einer erbarmungslosen Mischung aus Schikane, Schmeichelei und Schwindelei war er zehn Jahre nach seiner Ankunft der reichste und mächtigste Mann von New South Wales.

Ein Historiker nennt Macarthur bewundernd einen »Heißsporn«, eine eigenwillige Bezeichnung für jemanden, der seinen vorgesetzten Offizier im Duell anschießt und die Amtsenthebung eines Gouverneurs inszeniert. Für beide Vorfälle musste sich Macarthur in London einem Gerichtsverfahren stellen. Das erste Mal war er vier Jahre weg, das zweite Mal acht Jahre. In dieser Zeit überließ er seiner Frau in Australien die Leitung der Geschäfte.

Meiner Generation wurde beigebracht, dass »unsere Nation auf dem Rücken der Schafe reitet«, Wolle also das Fundament unserer Wirtschaft sei. Und John Macarthur gilt als »Vater der Wollindustrie«. Überall in Australien sind in Anerkennung seiner Leistungen Straßen, Schwimmbäder und Parks nach ihm benannt.

Aber die Sache ist die: Das australische Merinoschaf, auf dessen Rücken wir reiten, wurde überwiegend in den Jahren veredelt, in denen sich John Macarthur in England aufhielt. Es sieht ganz danach aus, als sei der Vater der Wollindustrie in Wahrheit die Mutter der Wollindustrie gewesen: seine Frau.

Wer also war Elizabeth Macarthur? Wie überstand sie die Ehe mit einem der womöglich schwierigsten Männern auf Erden? Wo hatte sie gelernt, einen großen Bauernhof zu führen, Schafe mit besonders feiner Wolle zu züchten und ein aus verrohten Sträflingen bestehendes Gesinde anzuleiten? Diese Aufgaben hätten wohl auch die beherzteste Austen-Heldin entmutigt.

Kommen wir nun zum eigentlichen Problem. Der Ehemann hat einen Berg von Schriftstücken hinterlassen, denen wir entnehmen können, wer er war, doch wenn wir nach Elizabeth suchen, finden wir so gut wie nichts: einige unverbindliche Briefe an Familie und Freunde in der Heimat, ein halbfertiger Bericht über ihre Schiffspassage nach New South Wales und jede Menge dröger Korrespondenz mit ihren erwachsenen Kindern. In den Dutzenden von Briefen, die sie ihrem Mann in den beiden langen Phasen seiner Abwesenheit schrieb, dürften sich Hinweise auf ihre Persönlichkeit finden, allerdings ist nie auch nur ein einziger dieser Briefe aufgetaucht.

Die Umstände katapultierten Elizabeth Macarthur in ein Leben, das für eine Frau ihrer Herkunft und ihrer Zeit eigentlich unvorstellbar war, und sie muss bestimmte Wesenszüge besessen haben, die es ihr ermöglichten, diese Umstände für sich zu nutzen. Sie hat Generationen von Forschern fasziniert. Wie ärgerlich war es daher, nichts in der Hand zu haben, das auf ihre Persönlichkeit hätte schließen lassen – bis heute.

Die Schriftstücke in der Schachtel habe ich lediglich transkribiert. Wo die verblasste alte Tinte unleserlich war, musste ich meine Fantasie bemühen, und viel Zeit habe ich darauf verwendet, die Fragmente in der nach meinem Dafürhalten richtigen Reihenfolge zu ordnen. Doch abgesehen davon lasse ich Elizabeth Macarthur ihre Geschichte selbst erzählen. Es ist mir eine Freude und ein Privileg, ihre Worte als Erste lesen und in die Welt tragen zu dürfen.

Kate Grenville

Transkriptorin und Herausgeberin

Die Lebenserinnerungen der Elizabeth Macarthur

Teil Eins

Mein lieber Sohn James hat mir für die letzten Jahre oder Monate oder jedenfalls die Zeit, die mir über meine vielen Lebensjahre hinaus noch bleibt, eine Aufgabe gestellt. Ich soll einen Bericht verfassen mit dem Titel Die Geschichte der Macarthurs von Elizabeth Farm. Die Rede ist von meinem verstorbenen Gemahl John Macarthur und mir selbst.

Er war kaum unter der Erde, da pries man ihn schon als Helden, auch wenn man ihn im Leben nicht hatte ausstehen können. Süß ist die Rache dessen, der den Feind überlebt, ehrfürchtig seinen Namen liest, den Blick zum Himmel hebt, einem Pfarrer gleich die Hände faltet und all die verlogenen Worte spricht.

Die Geschichte der Macarthurs von Elizabeth Farm. Bei diesen Worten fährt es mir kalt durch Mark und Bein. Schon das die, dieses unscheinbarste Wörtchen unserer Sprache, mutet absurd an. Wie könnte es die Geschichte geben? Und dem ersten Artikel, eindeutig und akkurat, folgt der nächste, nicht weniger eindeutig und akkurat.

Doch James macht es mir schwer, mich der Aufgabe zu entziehen. Sämtliche Schreibtische und Schubladen hat er durchkämmt, sämtliche Relikte der Vergangenheit geborgen, um meinem nachlassenden Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Ich sehe mir diese Hinterlassenschaften mit einer gewissen Abscheu an. Irgendwann in der unvorstellbaren Zukunft wird jemand sie unter die Lupe nehmen, um ihnen die Vergangenheit zu entlocken. Ihr und Ihnen, den Leserinnen und Lesern meiner Worte, kann ich nur sagen: Glaubt nicht zu geschwind!

Worum handelt es sich also bei diesen Zeugnissen der Vergangenheit?

Erstens neununddreißig Briefe meines Mannes an mich.

Obwohl er doch seit zwölf Jahren unter der Erde liegt, verspüre ich beim Anblick der allzu vertrauten Schrift noch heute einen Anflug von Beklommenheit. Schon aus der Grußformel konnte ich auf den Inhalt des Briefes schließen. Meine liebe Elizabeth. Meine liebste Elizabeth. Meine liebste Elizabeth. Meine geliebte Elizabeth. Meine liebste geliebte Elizabeth. Es war immer dasselbe: je kunstvoller die Anrede, desto unangenehmer der Brief.

Zweitens ein Brief von Elizabeth Macarthur an ihren Mann, zwölf Zeilen, der, kurz vor seinem Tod eilig zu Papier gebracht, abgesehen von heiteren Familiennachrichten, nichts Aufschlussreiches enthält.

Drittens zwölf Briefe an Freunde und Verwandte in England, Kopien natürlich, auf deren Anfertigung der gewissenhafte Mr. Macarthur bestand. Es sind untadelige Schriftstücke, fromme beschwichtigende Lügen von vorn bis hinten, gespickt mit der einen oder anderen Übertreibung.

Viertens mein Bericht vom ersten Teil unserer Reise von England nach New South Wales im Jahr 1790. Da er zur Veröffentlichung bestimmt war, gibt er kaum etwas von mir preis.

Fünftens zwei kleine Elfenbeinminiaturen von John Macarthur und Elizabeth Macarthur. Für einen Gentleman und seine Gattin schickte es sich, ihr Porträt auf Elfenbein malen zu lassen, und Mr. Macarthur ließ sich nicht davon abschrecken, dass es in New South Wales weder Elfenbein gab noch einen Künstler, es zu bemalen. Er ließ Mr. Bullen hier vor Ort Skizzen anfertigen, um sie anschließend einem Fachmann in Mayfair zu schicken, der sie auf Elfenbein übertragen sollte. Die Porträts haben daher bestenfalls eine annähernde Ähnlichkeit. Doch um Ähnlichkeit ging es meinem Mann auch gar nicht. Er wollte zwei kostbare Porträts im Salon aufhängen, und da fiel es nicht ins Gewicht, wenn der eine oder andere Besucher nicht recht wusste, wer da eigentlich abgebildet war.

Mr. Macarthur ließ sich von der Seite zeichnen; alles an ihm war verbrämt, verschlossen, verschlagen, ausweichend. Da ist sein arrogant vorgerecktes Kinn, die streitlustige Unterlippe, die hochmütige Kopfhaltung. Er begriff diesen Habitus als aristokratisch und wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass das Porträt seine schlimmsten Charaktereigenschaften enthüllte.

Was mich betrifft, so war ich gern bereit, Mr. Bullen in die Augen zu sehen, und mit seinen Skizzen durchaus zufrieden. Mr. Macarthur aber hatte ständig etwas auszusetzen. Ich sei zu unscheinbar, mein Blick zu freimütig, das Kinn zu eckig, die Augen ein wenig scheel, der Mund zu freundlich, auf der nächsten Skizze zu unfreundlich. Der arme Mr. Bullen kratzte, radierte und begann von vorn, bis das Papier durchgescheuert war und er einen neuen Bogen nehmen musste. Als die Skizze endlich Mr. Macarthurs Vorstellungen vom Aussehen seiner Frau entsprach, bezweifelte ich, dass mich in diesem anmutigen Geschöpf, das ganz aus Locken und Grübchen bestand, noch jemand erkennen würde.

Und doch sind das die Macarthurs, die in die Zukunft reisen werden. Wie entschlossen und gebieterisch er war!, werden die Leute sagen. Und ach, was für eine reizende und hübsche Frau er hatte – schaut nur, auf dem Bild könnt ihr es deutlich sehen!

Mein erster Impuls war, alles zu verbrennen. Aber dann kam mir eine bessere Idee. Ich werde ein weiteres Schriftstück anfertigen, in dem ich die anderen Dokumente als die hochtrabende Dichtung entlarve, die sie sind. Was ich hier aufschreibe, sind die ungeschönten wahren Worte, die festzuhalten mir früher nicht möglich war.

An diesem Frühlingsnachmittag, in der geruhsamen Stunde der langen Schatten, die ich besonders liebe, blicke ich erregt und atemlos dem skandalösen Unterfangen entgegen, auf das ich mich da einlasse. Gott sei Dank habe ich ihn überlebt. Bei dem Gedanken setzt mein Herz einen Schlag aus. Wie entsetzt – oder vorgeblich entsetzt – die Leute wären, wenn sie davon wüssten. Ich aber gehe hinaus in die friedliche Abenddämmerung und sage mir: Noch bin ich nicht tot. Ich bin noch nicht tot und kann endlich frei sprechen.

Ich war kein Waisenkind

Als meine kleine Schwester Grace starb, war ich fünf Jahre alt, zu jung, als dass ich das Wort tot schon gekannt hätte. Mir war kaum begreiflich, was eine Schwester überhaupt ist, hatte ich doch gehofft, dass dieses neue Wesen in unserem Hause, dieser selbstsüchtige Schreihals nur eine vorübergehende Erscheinung sei.

Mutters Augen waren noch verquollen von ihrer Beerdigung, als Vater demselben Leiden erlag. Auch das mussten sie mir erklären, meinten, sie erklärten es mir. Bei den Engeln. An einem besseren Ort.

»Nein«, schrie ich beim Anblick der Kiste, die im Wohnzimmer aufgebockt war, »wie soll er denn atmen, holt ihn da raus!«

Beim Gottesdienst rutschte ich ruhelos hin und her, erwartete jeden Augenblick, dass Vater durch die Tür käme und sich zu uns setzte. Später erzählte mir Mutter, oft mit einem bitteren Lachen, ich hätte gezappelt und gezerrt, sei zur Tür und auf die Straße gerannt, hätte ihn gesucht, nach ihm gerufen. »Niemand konnte dich beruhigen«, sagte sie. »›Vater! Vater!‹, hast du geschrien, und Mr. Bond musste mit dir nach draußen gehen. Ich habe dieses Geschrei nicht ertragen, ich wollte ja auch, dass er käme, und jedes Mal, wenn du ›Vater!‹ gerufen hast, hat mich das ins Herz getroffen wie ein Messerstich.«

Bis dahin hatte ich in den Tag hineingelebt, hatte keine Sekunde im Haus verbringen müssen. Ich fühlte mich eins mit den Feldern, mit den Tieren, die ihr Leben lebten und aufs Engste mit mir verbunden waren. Als meine Hände groß genug waren, lernte ich, eine Kuh zu melken. Es ist fast meine einzige Erinnerung an Vater, der Geruch seines Tweedanzugs, sein großer warmer Körper neben meinem, wie er mir die Hände auf das Euter legte, meine Finger um die feuchten weichen Zitzen schloss. Ich spürte ihn vor Freude leise lachen, als ich den Kniff heraus hatte, und die Milch gegen die Innenwand des Eimers zischte.

Die Witwe des Richard Veale von Lodgeworthy Farm zu sein, stand meiner Mutter nicht gut an. Sie zerbrach an ihrem Witwenstand, aber vielleicht war sie auch nie mehr als ein Schilfrohr gewesen, das sich an ihren Mann angelehnt hatte. Sie verkümmerte, lag viel im Bett, gab sich vor dem Kamin düsteren Grübeleien hin, begleitet von Seufzern, die mich veranlassten, eingeschüchtert von dieser Verzweiflung eines erwachsenen Menschen, auf Zehenspitzen das Weite zu suchen.

Einmal hörte ich sie früh am Morgen unter meinem Fenster mit dem Pfarrer reden, leise zwar, doch ihre Worte stiegen zu mir empor.

»Ich kann nicht einmal darauf hoffen, dass ein Sohn seinen Platz einnimmt«, sagte sie. Seinen bezog sich auf meinen Vater.

Mr. Kingdon brummelte etwas, das ich nicht verstand.

»Bestenfalls kann ich wohl auf einen Schwiegersohn hoffen, so sie einen findet«, sagte Mutter. Sie bezog sich auf mich.

Mr. Kingdon muss sie mit seinem Tröstungsversuch verärgert haben – darin sind Geistliche wie er ja recht versiert –, denn als sie antwortete, klang ihre Stimme scharf.

»Nun, Sir, ich kann beten, und ich kann mich in Hoffnung und Erwartung üben. Aber vorläufig bin ich allein mit einem eigensinnigen Mädchen ohne Schönheit oder Mitgift.«

Ich hatte mich über den Fenstersims gelehnt und sorglos zugehört, ohne mich darum zu kümmern, ob sie mich bemerkten. Doch auf diese Worte hin sank ich zu Boden und kauerte mich an die Wand, machte mich so klein, wie es irgend ging. Ein eigensinniges Mädchen. Dieses Wort eigensinnig zeichnete ein Bild von mir, in dem ich mich nicht erkannte. Sicher, ich war ein aufgewecktes Kind, besaß Temperament, eine schnelle Auffassungsgabe, ein loses Mundwerk und brachte mich damit oft in Schwierigkeiten. So war ich eben. Aber nun erfuhr ich, dass ein solches Mädchen als eigensinnig galt. Und ein eigensinniges Mädchen – das hörte ich dem Tonfall meiner Mutter an – war unerquicklich, unliebsam, unausstehlich.

Plötzlich glühte ich vor Scham, weil ich eigensinnig war, weder Schönheit noch Mitgift besaß und niemand mich würde haben wollen. Schämte mich auch für meine Mutter, weil sie so von ihrer Tochter sprach. Ich roch den Staub in den Vorhängen und spürte die kalte Luft, die aus dem Spalt zwischen Sockelleiste und Bodendielen kam. Dieser Geruch und dieser schwache Luftzug verbinden sich noch heute mit der schrecklichen Erkenntnis, die mir die Worte meiner Mutter enthüllten: Ich war kein Waisenkind, aber obwohl sich noch ein Elternteil um mich kümmern konnte, hätte ich ebenso gut eines sein können.

Gesellig und gefügig

Der Bauernhof meines Vaters war ein Erbhof und ging nach seinem Tod an John Veale über, meinen Vetter zweiten Grades. Er setzte uns zwar nicht gerade vor die Tür, schickte uns aber einen Karren mit leeren Truhen und Kisten, Seilen zum Festbinden und ein paar Säcken Sägemehl für das Geschirr.

Mein Großvater hieß uns auf seinem Hof willkommen, auf dem Mutter aufgewachsen war, doch der alte Mann steckte in seinen Gewohnheiten fest. Unser Geschirr holten wir nie aus dem Sägemehl, die Truhen landeten, bis auf eine Kiste Kleidung für jede von uns, ungeöffnet in der Scheune, und so waren es Großvaters Laken, in denen wir schliefen, und Großvaters Teller, von denen wir aßen. Mutter verfügte über ein kleines Witwengeld, das sie mir später überließ. Dank dieser Summe musste sie Großvater nicht um ein Paar Stiefel für mich oder eine neue Haube für sich bitten. Doch das war nur Nadelgeld, und da Großvater es ihr einst überlassen hatte, entsprang es ebenfalls seinen wohltätigen Händen.

Ich sehnte mich nach Lodgeworthy. Kurz nach unserem Umzug kamen Mutter und ich am Hof vorbei. Ich lief zum Tor, hatte die Hand schon auf dem vertrauten Riegel. Mutter musste mich packen und wegziehen, musste mir erklären, wenn ich den Riegel öffnete und durch das Tor ginge wie tausendmal zuvor, würde man das als »unbefugtes Betreten« bezeichnen, und ich wäre so etwas wie eine Diebin. Nur auf Einladung käme ich dort noch hinein. Ich hätte keinerlei Ansprüche, sondern nur vorübergehendes Gastrecht.

So stand ich vor dem Tor, das Handgelenk im eisernen Griff meiner Mutter, und schrie. Eigensinnig, wie ich war, riss ich mich los, rannte zum Haus, während sie »Elizabeth! Elizabeth!« hinter mir her rief, und hob die Hand, um anzuklopfen. Doch noch nie hatte ich diese Tür als ein so gleichgültiges Stück Holz erlebt, nie hatte ich anklopfen müssen, damit sie sich auftat, und bei dem merkwürdigen Anblick und bei der Vorstellung, John Veales blasse unfreundliche Frau könnte aufmachen, ließ ich die Hand sinken.

Mutter wartete hinter dem Tor auf mich. Sie sah mich nicht an. Schweigend gingen wir weiter, allerdings nicht, ohne dass ich zuvor das Tor so heftig zugeschlagen hatte, dass es knackte.

Ja, ich war ein schwieriges Kind, das sehe ich heute ein. Nicht, dass ich schwierig sein wollte, ich besaß einfach einen starken Willen. Hatte ich denn nicht das Recht zu fühlen, was ich fühlte, zu sein, wer ich war?

Wie bei Unseresgleichen üblich, herrschte in unserem Haushalt bescheidener Wohlstand, gepaart mit Sparsamkeit. Großvater vertraute auf Gottes Großes Licht, das nichts kostete, und den Verzehr von Gottes Gaben: Eier der eigenen Hühner, Kohl aus dem Garten, hin und wieder ein Stück Fleisch von dem Schwein, das zu Weihnachten geschlachtet wurde.

Großvater war ein Mensch, der sich von den Dingen dieser Welt gelöst und sein Leben völlig in den Glanz von Gottes Herrlichkeit gestellt hatte. Viel Zeit wurde in der Kirche verbracht, oft war von der Vorsehung die Rede, stets erhielt der Herr tief empfundenen Dank für die Speisen auf dem Tisch. Am Sonntag zweimal Gottesdienst, jeden Abend Bibellektüre, Gebete vor dem Zubettgehen.

Trotz meiner Jugend war ich so klug, die Frage, auf die es keine Antwort geben konnte, nicht zu stellen: Wenn Gott gut ist, warum ist Vater dann tot? Wenn ich mit den anderen den Kopf neigte und Amen sagte, als ob ich es meinte, war das meine erste Unaufrichtigkeit. Unter den Wimpern beobachtete ich, ob auch Mutter heuchelte, ertappte sie aber nie dabei.

Doch Großvater war eine gütige Seele, und er liebte mich. Ließ mich über die Felder streifen und mit Zweigen und Blättern Verstecke bauen, in denen ich mich verkroch. Hielt mich nicht davon ab, wenn ich hinaus in den Regen lief und am Abhang hinter dem Haus stundenlang das Bächlein staute und umleitete.

»Ein sauberes Kind ist kein glückliches Kind«, sagte er, wenn Mutter schimpfte.

Großvater, der einige Morgen Land besaß, hatte von allem etwas: Gerste, Rüben, Heu. Seine Liebe galt den Schafen. Wenn er mit gebieterischem Schritt in die Herde trat, stoben die Tiere ernst und steifbeinig auseinander, doch kaum waren sie in sicherer Entfernung, sahen sie sich über die Schulter zu ihm um.

»Gott hat sie gesellig und gefügig geschaffen«, erklärte mir Großvater. »Sie sind Gemeinschaftswesen. Wir armen Sünder dagegen meinen, wir kämen mit allem allein zurecht.«

Mutter fand die Schafe dumm, aber das waren sie nicht, sie verhielten sich nur anders als wir. Ich schloss sie ins Herz, verstand und mochte sie. Wenn man nicht gegen ihr Naturell arbeitete, sondern es nutzte, waren sie folgsame Geschöpfe und alles andere als dumm. Großvater brachte mir bei, beim Treiben hinter ihnen zu bleiben und die Ruhe zu bewahren. Wenn sie sich umdrehten und mich anstarrten, sollte ich unerschrocken zurückstarren. Und ich sollte abwarten, bis sie in die gewünschte Richtung sahen, ehe ich die Schäferschippe hob, um mich größer zu machen, als ich war.

Wenn so eine Kreatur auf einen zu rannte und mit den Hufen stampfte, weil man ihrem Lamm zu nahe gekommen war, musste man sie einfach ins Herz schließen. Das Mutterschaf, das arme Ding, hatte ja keine anderen Mittel, ihr Junges zu verteidigen. Vor lauter Bewunderung für ihren Mut musste ich lachen.

»Gott mäßigt den Wind für das geschorene Lamm«, sagte Großvater, als das Tierchen stolperte, fiel und wieder aufstand. »Denk daran, Lisbet, wenn das Leben dir seine Stürme entgegenbläst.«

Großvater brachte mir alles bei, was ich später als Frau eines Bauern können musste. Wie man buttert, wie man ein krankes Huhn heilt, wie man Schafe zählt, was deutlich komplizierter ist, als man denkt.

»Wenn du eine Herde zählst, kannst du dir nie sicher sein«, sagte er in seiner ruhigen lehrreichen Art. »Schafe haben so etwas an sich, da geht das Zählen oft schief. Zum Zählen einer Herde machst du Schlaufen in eine Schnur. Oder Kerben in ein Holz, immer eine für zwanzig Tiere.«

Um es mir zu zeigen, holte er eine Schnur aus der Tasche, entfernte die Schlaufen von der letzten Zählung und gab sie mir.

»So schaffst du das auch«, sagte er. Das Lächeln, die Zärtlichkeit waren seiner Stimme anzuhören.

Großvater war ein Bauer, der, wie es hieß, die Zucht verbesserte, und als ich noch klein war, dachte ich, das habe mit der Züchtigung eigensinniger Kinder zu tun und mit seinem unerschütterlichen Glauben daran, dass Unser Herr alles zum Besseren richte. Wie ich heute weiß, verkörperte er ungeachtet seines Alters einen neuen Typus Landwirt. Mit verbessern war die Veredelung durch Zucht gemeint. Daher herrschte große Aufregung – sogar der zurückhaltende Großvater war aus dem Häuschen –, als er einem gewissen Mr. Bakewell einen Schafbock abkaufte. Ehe ich das Tier zu Gesicht bekam, dachte ich, es handle sich womöglich um ein Kuchenschaf oder vielleicht eine Schafspastete, jedenfalls etwas Gutes zu essen, und war enttäuscht, als es Wolle und Hörner hatte wie jeder andere Widder auch. Der Karren wurde von einem Mann namens Hale gebracht, der den Bock am Strick durch unser Tor führte wie einen Prinzen. Ich streichelte unterdessen den Hund, den er mitgebracht hatte.

»Pass auf mit dem, Kindchen«, rief Mr. Hale. »Wenn du stehen bleibst, pinkelt er dir ans Bein.«

Ich hielt das für einen hübschen Scherz, doch an Großvaters strenger Miene konnte ich ablesen, dass er Mr. Hale ordinär fand.

Großvater hielt den Kopf des Widders an den Hörnern hoch, und Mr. Hale, von dem aus meiner Perspektive nur der Hut zu sehen war, beugte sich über das Tier, zog mit den großen groben Händen den Pelz auseinander und brachte unter dem grauen Filz die cremeweiße Wolle zum Vorschein.

»Was halten Sie von einem Dutzend solcher Kerle«, sagte er, »wenn er erst mal seinen Zipfel in Ihre hübschen Ladys gesteckt hat?«

»Vorsicht«, sagte Großvater. »Hüten Sie Ihre Zunge, Mr. Hale, wenn ich bitten darf. Haben Sie denn die junge Dame hier nicht gesehen?«

Diese Bemerkung fand ich gleich in doppelter Hinsicht erstaunlich: Zum einen bargen Mr. Hales Worte, deren Bedeutung mir ein Rätsel waren, offenbar etwas Lasterhaftes, und zum anderen war ein Mädchen von neun Jahren eine junge Dame, die vor der Bedeutung dieser Worte geschützt werden musste.

Mr. Hale warf mir einen kurzen Blick zu und war wohl ebenso erstaunt wie ich, dass dieses schmuddelige Kind mit schlammverklebtem Rocksaum eine junge Dame sein sollte. Dann unterhielt er sich murmelnd mit Großvater über Flocken und Wollfett. Ich schwang derweil auf dem Tor hin und her, hin und her, und kratzte mir am untersten Holm den Schlamm von den Stiefeln, bis die Matschklumpen sauber aufgereiht auf dem Boden lagen, was allerdings zwecklos war, denn sobald ich vom Tor sprang, wären die Stiefel gleich wieder matschig. Die fahle Frühlingssonne, die blökenden Lämmer auf der Weide, Großvater, der gedämpft mit Mr. Hale plauderte, der Schafbock, der starren Blickes darauf harrte, freigelassen zu werden: Diese Erinnerung ist nach siebzig Jahren so deutlich, als wäre es gestern gewesen.

Als Mr. Hale gefahren war, standen Großvater und ich in der wogenden Herde zwischen den blökenden Schafen, und er erklärte mir, warum er für den Bock fünfzehn Guineen ausgegeben hatte, für das Ohr eine gewaltige Summe, wo doch der Widder für das Auge aussah wie jedes andere Schaf. Dieser Bock habe wunderbare Lebenskraft und hervorragendes Vlies, sagte Großvater, er sei ein schönes robustes Tier. Wenn er ihn über die Mutterschafe lasse, trügen die Lämmer, die sie warfen, seine Lebenskraft, das hervorragende Vlies und die Robustheit in ihrem Blut. Dann gelte es, etwas zu machen, das er Inzucht nannte, das heißt, man suchte im Frühling die besten Lämmer heraus und paarte sie mit diesem kräftigen Bock und auch untereinander. Dabei müsse ein neuer Schafbock entstehen, und dann höre man mit der Inzucht auf, damit das Blut nicht zu dünn werde.

Als ich das alles begriffen hatte, war ich hingerissen. Mir kam es vor, als blicke man die Zukunft: Man sah, was zehn Jahre später geschehen würde, wenn man einen bestimmten Weg beschritt, und überlegte, ob es womöglich besser wäre, einen anderen zu wählen.

Was mir, da ich diese Zeilen schreibe, nicht nur für das Leben schöner kräftiger Schafe zutreffend erscheint, sondern auch für das der Menschen.

Nicht allzu klug sein

Mit Reverend Kingdons Tochter Bridie war ich seit frühester Kindheit befreundet. Lodgeworthy lag am Fuß des Hügels am Fluss, das Pfarrhaus oben auf dem Hügel neben der Kirche. Bridie und ich waren fast jeden Tag zusammen, und nachdem meine Mutter und ich zu Großvater gezogen waren, blieb ich oft über Nacht, weil das Pfarrhaus ein gutes Stück Weg vom Haus meines Großvaters entfernt lag. Es war einfacher, mehrere Nächte bei den Kingdons zu verbringen, als immer wieder nach Hause zurückzugehen. Bridie und ich teilten uns das Himmelbett in ihrem Zimmer, Mrs. Kingdon deckte uns zu und blies die Lampe aus. Für mich war es, als hätte ich eine Schwester.

Mr. Kingdon, der in Oxford studiert hatte, hielt Wissen für ebenso wichtig wie Speis und Trank. Er schickte seine Söhne auf die Schule fort, und obwohl er für Mädchen einen Schulbesuch nicht als notwendig erachtete, verwendete er viel Mühe auf Bridies Bildung. Dabei stellte er fest, dass sie in Begleitung einer Freundin besser aufpasste. Ich lernte schnell, schneller als Bridie, um ehrlich zu sein, und Mr. Kingdon fand Gefallen an meiner Auffassungsgabe. Lesen, schreiben, die Grundrechenarten, die englischen Könige und Königinnen, die wichtigsten Flüsse der Welt in alphabetischer Reihenfolge, und Latein, allerdings nur so viel, um den Wahlspruch der Kingdons unter dem Familienwappen zu lernen: Regis donum gratum bonum.

Mr. Kingdon zeigte sich erfreut über meine Fortschritte, doch als er mich eines Tages in seinem Arbeitszimmer zur Seite nahm, mir eine Liste von Wörtern gab und mich bat, sie eins nach dem anderen zu lesen, schien mir Vorsicht geboten. Woher ich das wusste? Was wusste ich überhaupt?

Ich hätte es damals nicht begründen können und kann es auch heute nicht, jedenfalls aber beschloss ich, ihm nicht zu zeigen, wie gut ich lesen konnte. Die ersten Wörter, die er mir vorlegte, waren leicht, leicht, leicht. Bridie hätte diese Wörter ebenso gut gelesen wie ich. Dann wurde es schwerer. Ich las weiter, jedoch langsamer. Auf Mr. Kingdons Seite spürte ich eine komplizierte Gefühlsmischung: Neugier, Wohlgefallen, Genugtuung, aber auch noch etwas anderes. Als ich daher zu dem Wort Colonel kam, ein merkwürdiges Wort, nun, da ich es hier aufschreibe, stockte ich.

»Das kann ich nicht lesen«, sagte ich, obwohl ich das Wort so gut beherrschte wie die leichten davor.

Mr. Kingdon wirkte beruhigt, nachgerade erleichtert. Ich war enttäuscht, er hätte mein Unwissen nicht so einfach hinnehmen dürfen. Fast hätte ich gesagt: Oh, jetzt sehe ich es, das heißt Colonel! Doch ohne, dass es mir jemand hätte erklären müssen, wusste ich schon als Kind, dass es zu meinem Besten war, nicht allzu klug zu sein.

Einen Schafbock zu kaufen

Dann kam John Leach, um meinem Großvater einen Schafbock abzukaufen, und hätte es nicht angefangen zu schütten, so hätte er den Bock gekauft und wäre von dannen gefahren. So aber nahm Großvater ihn mit ins Haus, damit er mit uns beim Abendessen das Gewitter abwarten konnte. Wie es sich herausstellte, kannte John Leach Mutters Vetter in Taunton und war Vater einmal in Holsworthy begegnet. Nicht einmal einer Elfjährigen entging, wie heiter meine Mutter seine Freundlichkeit stimmte. Dieses Kind konnte sich indes nicht für ihn erwärmen, mochte nicht, wie er ihre Mutter umgarnte, antwortete mürrisch und missmutig, wenn er ihr schmeichelte, sich jovial nach ihrem jungen Hund und ihrer Handarbeit erkundigte. Immerhin war dieser große rotgesichtige Mann gekommen, einen Schafbock zu kaufen, den er auf seinen Karren packen würde, ehe er mit ihm davonfuhr: Wozu sollte sich ein kleines Mädchen da um Höflichkeit bemühen?

Bis John Leach zu Besuch kam, ohne einen Schafbock zu kaufen.

Der Witwer John Leach, der vermutlich eine Frau brauchte, die ihm den Haushalt führte und das Bett mit ihm teilte, hatte ein Auge auf die Witwe Grace Veale geworfen. Ich kann mich weder an Gespräche über meine Rolle in diesem Arrangement erinnern, noch – und das mag ein Glück sein – an beschönigende Erklärungen dafür, warum es für mich in der neuen Ehe keinen Platz gab. Mutter teilte mir mit, sie und Mr. Leach würden in sein Haus in Stoke Climsland ziehen, ich aber würde bei Großvater bleiben.

»Welch wunderbare Aussichten für dich, Liebling«, rief sie. »Was für ein Glück du hast! Da kannst du mit deinem Unterricht fortfahren!«

Das war freilich nur ein Vorwand dafür, mich zurückzulassen. Mr. Leach und ich glichen zwei Hunden, die sich mit gesträubtem Fell gegenüberstehen. Natürlich wollte ich meine Mutter für mich behalten. Und Mr. Leach drängte es nicht danach, sein Leben mit einem Mädchen zu teilen, das größenwahnsinnig war von all dem Wissen, das der Pfarrer ihr hatte angedeihen lassen, einem Mädchen, das in seinen Augen verwöhnt und faul war, im Pfarrhaus allerlei Allüren und Attitüden angenommen hatte und das es gewiss nicht danach drängte, im Morgengrauen aufzustehen und die Kühe zu melken.

Und es stimmte ja auch: Ich verspürte keinerlei Wunsch, bei Mr. Leach zu wohnen, fürchtete, er würde mir jeden Bissen seines Essens vorzählen und bei meiner Mutter anmahnen, dass ich endlich die Nase aus dem Buch nehmen und meine Arbeit erledigen müsse. Trotzdem tat sich in mir eine große Leere auf, hatte meine Mutter doch eine Entscheidung getroffen, die mich nicht mit einschloss. Das eigensinnige Mädchen war unerwünscht.

Auf der Hochzeit stand ich mit einen Blumenstrauß in der Hand neben Großvater und den anderen Gästen, und wir warfen Reis auf meine Mutter. Eine Handvoll – wie der Zufall es wollte, aus meiner Hand – traf sie an der Wange. Sie zuckte zusammen und starrte mir so unverwandt ins Gesicht, wie ich es selten erlebt hatte. Da bestätigte sich für mich eine Ahnung: Meine Mutter mochte mich nicht besonders. Vielleicht glaubte sie, mich zu lieben, denn welche Mutter liebt ihre Tochter nicht? Doch an diesem ungeschützten Blick war deutlich abzulesen: Sie konnte mich nicht leiden.

An diesem Nachmittag fuhren John Leach und Grace Leach in ihrem Gig davon, unter lautem Klappern, weil an einem Rad eine Speiche gebrochen war. Ich sehe es noch vor mir, das zersplitterte Holz, das ich lächelnd und winkend fixierte, um zu verdrängen, dass ich soeben Abschied von meiner Mutter nahm. Stoke Climsland war nicht furchtbar weit, nicht so weit wie Bath oder Plymouth, doch von jenem Tag an hätte sie auch am anderen Ende des Erdballs wohnen können.

Bald wurde sie Mutter einer weiteren Tochter, Isabella Leach. Isabella war die Verzahnung, die das neue Gefüge ein für alle Mal in seine Form presste.

Ich aber hatte Großvater, der mich liebte und mit einem gutmütigen Lächeln zusah, wie ich meine ersten Schafe schor. Ich führte die Schere, wie er es mir gezeigt hatte, bis zwei getrennte Teile vor mir lagen: ein kahles, knochendürres geschrumpftes Tier und daneben ein Haufen Fell.

Klein zusammengefaltet

Ohne größere Ankündigung kam es dazu, dass ich zu den Kingdons umzog.

»Dein Großvater ist alt«, sagte Mr. Kingdon.

Eine genauere Erklärung erhielt ich nicht. Aber Großvater ist doch schon immer alt gewesen, wollte ich sagen. Doch Mr. Kingdon, mit den strengen, ehernen Falten im frommen Gesicht, widersprach man nicht.

»Sei herzlich willkommen, Elizabeth«, sagte Mrs. Kingdon. »Wir freuen uns, dich in unsere Familie aufzunehmen.«

Bei den Kingdons war es völlig undenkbar, in einem alten Schürzenkleid in Matsch und Mist herumzutollen oder mir abzuschauen, wie man einen Widder festhält, ohne von den Hörnern gestoßen zu werden. Das Leben im Hause der Kingdons war anders als meine Besuche dort. Eine junge Lady, die im Pfarramt wohnte, machte sich die Hände nicht selbst schmutzig, sondern überließ das anderen. Ihr Alltag bestand nicht aus Schafen und Hühnern, sondern aus französischen Nähten, Hohlsäumen und Stickarbeiten.

Auch das Verhältnis zu Bridie veränderte sich. Da ich nun als ihre Beinahe-Schwester mit ihr im Pfarrhaus lebte, vermied ich jeden Streit, denn was hätte aus mir werden sollen, ohne Schönheit, ohne Geld und praktisch ohne Familie? Wo sollte ein Mädchen hin, das, wie ich es empfand, gleich mehrmals im Stich gelassen worden war, erst vom Vater, dann von der Mutter und zuletzt vom Großvater?

Ich musste vorsichtig sein und mied fortan ängstlich jeden Fehltritt. Dabei forderte meine neue Umgebung Fehltritte nachgerade heraus. Ich hütete meine Zunge, um die Kingdons nicht etwa mit dreisten Worten auf den Gedanken zu bringen: Oh je, vielleicht ist sie es doch nicht wert.

Wachsamkeit ging mir in Fleisch und Blut über und brachte eine neue Unentschlossenheit mit sich. Die tapfere Kleine, die der Großvater mit einem Lächeln ermuntert hatte, duckte sich nun vor jedem Donnerschlag und ließ sich von unwichtigen Entscheidungen in tiefe Verwirrung stürzen. Ich verwandelte mich in ein junges Mädchen, das sich nicht vollständig von sich gelöst haben mochte, jedoch auch nicht gänzlich sie selbst sein konnte. Ich war verbindlicher, liebenswürdiger, hatte mich klein zusammengefaltet und sorgfältig versteckt, sodass niemand mich sehen konnte.

Gottes unbegreifliche Schöpfung

Ich war zwölf, als ich zu den Kingdons zog, Bridie ein paar Monate älter. Mrs. Kingdon nahm uns zur Seite und kündigte an, bald schon werde unsere Monatszeit kommen, wie sie sich ausdrückte. Sie war so verlegen, dass sie verärgert klang, als sie nach einem besseren Wort für Blut suchte. Erklärte uns, was wir mit den Lappen machen sollten.

So naseweiß wir auch waren, verschlug uns das nun doch die Sprache. Unfassbar, dass zwischen unseren Beinen etwas – Blut! – ausfließen würde und unter dem Rock mit diesen Stofffetzen aufgefangen werden musste, die wir anschließend an John und Amos vorbei heimlich zu Mary bringen sollten, damit sie sie auswusch und uns für den nächsten Monat wieder in die Kommode legte.

»Jeden Monat?«, fragte Bridie. Ihre Stimme quiekte vor Entsetzen. »Wirklich jeden Monat?«

»Ja, Liebes«, sagte Mrs. Kingdon. »Wenn es ausbleibt, erwartest du ein Kind.«

Sie seufzte.

»Gottes Schöpfung ist uns nicht immer begreiflich«, sagte sie. »Aber es ist eine Wonne, ein Kind zu bekommen, und ohne diese Sache gibt es keine Kinder.«

Als Bridie und ich in den Obstgarten gingen, sahen wir einander nicht an. Schließlich sprach sie aus, was ich dachte.

»Das macht mich ganz krank, allein schon der Gedanke«, sagte sie. »Mir wird das nicht passieren.«

Ihrem Tonfall war anzuhören, dass sie ihren eigenen Worten glaubte und sich damit tröstete. Mir gelang das nicht, und in einem Anflug von Gehässigkeit wollte ich auch ihr den Trost nehmen.

»Dann wirst du niemals Kinder bekommen«, sagte ich.

Wir kannten beide die arme Mrs. Devereaux im Dorf, die verheiratet, aber kinderlos war, und wussten, welches Elend sie umgab. Die Leute redeten über sie, als wäre sie blind oder missgebildet.

»Ja«, sagte Bridie. »Was wäre so schlimm daran?«

Doch als sich unsere Blicke trafen, bemerkte ich die Angst und Verzweiflung in ihren Augen. Angesichts dieser Wahl, die keine Wahl war, erging es mir nicht anders.

Später im Bett merkte ich, dass Bridie wach lag. Wie ich grübelte sie darüber nach, dass wir die geborgene Kindheit nun hinter uns ließen und die offene See des Frauseins ansteuerten.

»Ich werde nie heiraten«, sagte sie in die Dunkelheit hinein. »Bist du wach, Lisbet? Ich werde nie heiraten.«

Sie lachte das wilde Lachen, das im Wohnzimmer niemand je zu hören bekam; ich war die Einzige, die es kannte. Wenn sie ihr Salongekicher zum Besten gab, bewunderte ich sie für diese glänzende Darbietung, denn ich wusste ja, dass sie in Wahrheit ein völlig anderer Mensch war.

Gleichzeitig hatte ich Angst um sie und auch um mich, denn wie sollten wir ein ganzes Leben lang eine Lüge aufrechterhalten?

»Dann wird eine alte Jungfer aus dir«, sagte ich.

Es folgte ein langes Schweigen.

»Ja, eine alte Jungfer«, sagte sie. »Ein Fräulein. Eine Nonne, eine Hexe. Die Hexe von Bridgerule.«

Draußen ertönte der geheimnisvolle Ruf einer Eule.

»Ich glaube, du bist mutiger als ich«, sagte ich.

Doch ich hatte die Worte noch nicht ausgesprochen, als Bridie einfiel, die Stimme heiser vor Erregung: »Gibt es vielleicht noch einen anderen Weg?«

Wieder klagte die Eule, und ein Zweig des Baums schlug an unser Fenster. Wir hatten nur noch ein paar Jahre, dachten wir beide, dann war jede von uns entweder vermählt oder eine elende alte Jungfer.

»Witwe ist auch eine Möglichkeit«, sagte ich. »Besser als Ehefrau oder alte Jungfer, wenn es sich einrichten lässt. Schmerzlos natürlich.«

Sie lachte wieder, ein heiseres Bellen diesmal.

»Ja«, sagte sie, »und Schwarz ist so kleidsam.«

Ich sah es vor mir wie einen heiteren Kupferstich im Rahmen: die Witfrauen von Bridgerule, geschäftig in ihren schwarzen Kleidern, glücklich an den Gestaden des Witwenstandes angelandet. Doch da war meine Mutter, die der Witwenstand nicht befreit, sondern niedergedrückt hatte. Sie hasste die Trauerkleidung, wie sie mir einmal gestand, fand es schrecklich, wie die Ehefrauen sie mitleidig oder, schlimmer noch, misstrauisch beäugten und sich fest bei ihren Ehemännern unterhakten.

»Wir könnten eine Schule aufmachen«, sagte Bridie. »Miss Veale und Miss Kingdon mit ihrer kleinen Schule auf dem Hügel, geliebt von ihren Schülerinnen, die sich fragen: ›Was haben wir nur gemacht, als es die Schule auf dem Hügel noch nicht gab?‹ Das könnten wir doch machen, Lisbet. Andere machen das auch.«

»Ja«, sagte ich. »Das könnten wir machen.«

Allerdings war das, wie wir beide wussten, keine Möglichkeit, sondern nur ein tröstlicher Gedanke.

Ich erinnere mich gut an Bridie, die seit dreißig Jahren tot ist, die einzig wahre, die allerbeste Freundin, die ich je hatte. Ich weiß noch, was wir in der dunklen Wärme jenes Bettes alles miteinander machten, Bridie mit mir, ich mit Bridie, wir beiden zusammen. Wir sprachen nie darüber, hatten keine Worte dafür, schämten uns auch nicht deswegen. Das machten zwei Menschen eben miteinander. Es war völlig selbstverständlich, eine Befriedigung, so natürlich und unschuldig, wie wenn man isst, um den Hunger zu stillen, oder trinkt, um den Durst zu löschen.

Wir sahen es überall

Nun, da wir Frauen waren, sahen wir es überall. Der Rüde, der sein glänzendes kleines Ding zeigte und wieder verbarg, der völlig außer sich geriet, wenn die Hündin läufig wurde, und mit allen Mitteln versuchte, zu ihr zu gelangen. Der Bock, der das Schaf anstupste und beschnupperte, während es unbeteiligt mit gesenktem Kopf neben ihren Schwestern graste, als wolle es sagen: Oh, wir sind viel zu beschäftigt. Der Bock, der das Schaf besprang, sich festklammerte. Kurz darauf war es vorüber, das Schaf rupfte immer noch Gras.

Bridie war die Frechere von uns beiden. Was ich nur dachte, sprach sie aus.

»Also ehrlich, Lisbet«, sagte sie auf ihre trockene Art, »wenn das so abläuft, kann ich gut darauf verzichten.«

Troilus und Cressida, Romeo und Julia begegneten uns in Bridgerule nicht. Wir konnten es beobachten: Ein Mann vergnügte sich nach Möglichkeit mit einer Frau, egal welcher Frau. Und eine Frau heiratete nach Möglichkeit einen Mann, egal wie er war, Hauptsache, er konnte ihr eine Zukunft bieten. Nur in Büchern wurde geschwärmt und geschmachtet. Da heirateten die Liebenden auf der letzten Seite, und was danach kam, blieb im Dunkeln. Wir lasen diese Bücher genau, doch als Leitfaden für Mädchen, die erkunden wollten, was ihnen bevorstand, eigneten sie sich nicht.

Bridie mochte, zumindest, wenn sie mit mir allein war, forsch daherreden, aber sie hatte ja eine Mutter und einen Vater, die sich um sie kümmerten, Brüder, die sie beschützen würden, und eine stattliche Mitgift von Mr. Kingdon, die sie zur rechten Zeit erhalten würde. Bridie und ich mochten zusammen lachen, doch mein Lachen klang hohl. Ich war nicht schön. Ich hatte keine Familie, keine Mitgift, keinerlei Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten. Mein einziger Besitz in dieser Welt war meine Jungfräulichkeit. Mehr konnte ich nicht bieten. Und mir schwante, dass ich mit diesem Einsatz das denkbar beste Geschäft machen musste, denn wenn ich ihn verlor, blieb mir nichts.

Als wir zu jungen Damen heranwuchsen, machten uns junge Männer ihre Aufwartung. Offiziere aus der Kaserne in Holsworthy, Lehrer von der Schule, die Bridies Brüder besuchten, etliche Vikare. Diese Männer sprangen auf, wenn wir den Raum betraten. Wenn wir gingen, sprangen sie wieder auf, um uns die Tür zu öffnen, als wären wir unfähig, den Türknopf zu drehen. Wenn wir über die Wiesen spazierten, setzten sie über den Zaun und halfen uns, indem sie uns bei der Hand nahmen und einen Arm um die Taille legten. Wären die voluminösen Unterröcke nicht gewesen, die Schals, die uns von der Schulter rutschten, das Gebot des Anstands, das jede natürliche Bewegung verhinderte, hätten wir keine Hilfe nötig gehabt. All die vollendete Höflichkeit, all die galanten Gemeinplätze konnten nicht das Mysterium überdecken, das sich da zwischen unseren Beinen verbarg und so wertvoll war, dass man uns deswegen zu Gefangenen machen musste.

Wertvoll oder gar gefährlich? Das war nicht ganz klar.

Mit keinem dieser Männer waren wir jemals allein, eine Frau und ein Mann. Stets führte man seichte Gespräche in Begleitung anderer. Von Streifzügen, wie Bridie und ich sie als Kinder über Felder und Wege unternommen hatten, wurde uns abgeraten, es sei denn, einer von Bridies Brüdern streifte wie durch Zufall in dieselbe Richtung.

»Bridget, du bist jetzt eine Frau«, mahnte Mrs. Kingdon mit mildem Tadel, nachdem wir uns eines Morgens davongestohlen hatten. »Elizabeth, du auch. Ich muss es so deutlich sagen: Es gibt Männer, die junge Mädchen ausnutzen.«

»Ausnutzen«, sagte Bridie. »Mutter, wie denn?«

Mrs. Kingdon zögerte. Ihr Zögern war nicht der Scheu geschuldet, uns alles zu erklären, denn ihre Sorge überwog die Scheu. Das Problem lag nicht in den guten Sitten, sondern in den richtigen Worten, oder besser gesagt, dem Fehlen selbiger.

»Ihr habt doch gewiss schon gesehen«, sagte sie schließlich, »dass die Bauern die Schafböcke von den Mutterschafen trennen. Sie lassen nur den Bock zu den Schafen, den sie ausgewählt haben. Der Bock ist nicht so wählerisch. Der geht zu jedem Schaf, wenn er die Gelegenheit hat.«

Sie nahm mit der einen Bridies Hand, mit der anderen meine.

»Ihr Mädchen seid kostbar. Euer künftiges Glück hängt davon ab, dass ihr euch nicht in Gefahr bringt. Versteht ihr das, ihr Lieben?«

Nicht so richtig, um ehrlich zu sein.

»Ob kleine Jungs auch ausgewählt werden wie Lammböcke?«, sagte Bridie an diesem Abend im Dunkeln. »Ich glaube nicht, hätte ich sonst sechs Brüder?«

»Nein«, sagte ich. »Oder irgendwie doch. Der mit dem meisten Geld kann sich die Frau aussuchen.«

»Und was für eine sucht er sich aus?«, fragte sie und fügte die Antwort gleich hinzu. »Eine reiche oder eine gut aussehende Frau. Beides trifft auf uns nicht zu.«

Sie machte ein Geräusch. Lachte sie, oder schluchzte sie?

»Sie schauen sich uns genau an«, sagte Bridie. »Prüfen uns von oben bis unten, besonders unsere … Reize.«

»Und was ist mit uns«, sagte ich, »prüfen wir ihre Reize auch?«

Denn die Männer hatten so eine Art, dazustehen mit ihren blassen hellen Hosen, einen Ellbogen auf den Kaminsims gestützt, den maßgeblichen Körperteil eingerahmt von den dunklen Schößen ihres Rocks.

»Ich sehe mir das Gesicht eines Mannes an«, sagte Bridie. »Sehe nach, ob … ich weiß auch nicht. Ob er auf etwas anderes achtet als auf meine Reize? Ob er sich für mich interessiert?«

»Für dich interessiert!«, wiederholte ich.

Das Bett bebte erst unter ihrem, dann auch unter meinem Gelächter. Ein Mann, der sich für uns interessierte! Das war so lustig, dass wir lachten, bis das Bettgestell wackelte. Mr. und Mrs. Kingdon, die in ehelicher Innigkeit im Zimmer unter uns lagen, konnten uns womöglich hören, und bei diesem Gedanken verstummten wir.

Ein Vater – vorausgesetzt, er wäre zugänglicher gewesen als Mr. Kingdon – hätte sich womöglich leichter getan. Ein Vater hätte schonungslose Worte finden können. Sie schmeicheln euch, hätte ein Vater sagen können. Sie seufzen beim Anblick eurer Schönheit.Glaubt ihnen keine Sekunde. Lasst sie auf keinen Fall in euch eindringen, denn das ist das wahre Ziel ihrer Schmeicheleien. Lacht, hätte solch ein Vater gesagt. Bleibt unter allen Umständen freundlich, aber lacht ihn aus.

Schafschwingel

Mr. Macarthur lernte ich an dem Tag kennen, an dem ich Taufpatin für das Neugeborene der Kingdons wurde, ein süßes Kind, das sie nach mir benannten. Diese Idee kam von der guten Mrs. Kingdon, die mich auf diese Art noch enger in das geborgene Umfeld ihrer Familie einbinden, mir ein wenig mehr Gewicht geben und meine Aussichten verbessern wollte. Bridie und ich waren zweiundzwanzig. Mrs. Kingdon sah glasklar, was uns entging: Die Jahre verflogen immer schneller.

Captain Moriarty legte mit seinem Freund Ensign Macarthur den Weg von der Kaserne in Holsworthy zu Fuß zurück, um der Taufe beizuwohnen. Der Captain war ein gut aussehender heiterer Mann, ein entfernter Verwandter der Kingdons, und offensichtlich galt sein Besuch an jenem Tage Bridie. Sie war wie ich keine Schönheit, doch Mr. Kingdon hätte einen durchaus nützlichen Schwiegervater abgegeben. Mir schien, Captain Moriarty gefiel sich in seiner Großzügigkeit, sich der reizlosen Miss Kingdon als Geschenk anzudienen.

Bei Tisch saß er eng neben Bridie, und ich beobachtete, wie er ihr unter dem Vorwand, das Stuhlbein von der Teppichkante zu schieben, noch näher auf den Leib rückte. Beim Anblick Captain Moriartys, der sie musterte wie die Männer, die Großvaters Schafböcke begutachteten, schwante mir, dass Bridie und ich nicht mehr lange zusammen sein würden.

Mr. Macarthur hatte seinen Freund begleitet, damit dieser sein Glück bei Bridie versuchen konnte, und unser aller Aufgabe war es nun, ihnen die Möglichkeit der Selbstdarstellung zu geben. Mrs. Kingdon schenkte Tee ein und wandte sich dem zu, was sie besonders gut beherrschte: dem Tanz der Konversation.

»Miss Veale befasst sich mit dem Studium der hiesigen Gräser und Wiesen«, sagte sie und lächelte mich an, warf dann aber Mr. Kingdon einen unsicheren Blick zu. Sie mochte sich fragen, ob das Studium des Weidebewuchses – das deutlich weniger damenhaft war als andere Wissensgebiete – einen falschen Eindruck von Bridies Freundin und somit von Bridie selbst vermitteln könnte.

Ich lächelte Captain Moriarty und Mr. Macarthur an, nicht, weil sie mir gefallen hätten, sondern weil ich die freundliche Mrs. Kingdon unterstützen wollte.

»Ja, das stimmt«, sagte ich. »Aber das betrifft natürlich nur unsere heimischen Gräser in Devon, Schafschwingel und dergleichen.«

Sogleich überfiel mich die Sorge, meine Worte könnten wie ein milder Tadel klingen und nahelegen, dass ich mich gegen Mrs. Kingdons Lob verwehrte. Schon drohte aus dem Tanz ein Gestolper zu werden. Doch meine Bedenken und Zweifel wurden wie Mrs. Kingdons Bedenken und Zweifel von Captain Moriarty weggewischt, der, wie es sich herausstellte, mehr über Gräser wusste als alle anderen im Raum.

Er spreizte die Beine, als spreche er ein großes Publikum an, und hob einen Finger in die Luft.

»Ah ja, Miss Veale, Festuca ovina, Echter Schafschwingel. Ich frage mich, ob Sie wohl auch mit dem etwas selteneren Brutknospenschwingel vertraut sind?«

Vom Brutknospenschwingel hatte ich natürlich noch nie gehört und räumte das auch sogleich ein, woraufhin Captain Moriarty uns mit seinem umfassenden Wissen zu dem Thema beglückte. Mr. Kingdon, Mrs. Kingdon, Mr. Macarthur, Bridie und ich hörten nickend zu, und als Captain Moriarty sämtliche Punkte an den Fingern abgezählt hatte, war Miss Veales kleines Studium der heimischen Gräser nur noch ein winziger Klecks am Gesprächshorizont.

Der vielsagende Blick, den Bridie und ich wechselten – Was für ein Windbeutel!