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Er ist ein netter, hilfsbereiter Mensch und ruhiger Mieter. Sogar kinderlieb und bereit, monatlich mehr zu bezahlen, als Sigrid bisher für die Wohnung im Obergeschoss ihres Hauses bekommen hat. Seit dem Tod ihres Mannes muss sie genau rechnen, um sich und ihre Tochter durchzubringen und das Haus nicht zu verlieren. Deshalb versucht sie, die Albträume und Visionen zu ignorieren, die sie nach Herrn Genardys Einzug quälen. Aber die Angst um ihr Kind wird sie nicht los. Irgendetwas stimmt nicht mit dem stillen Herrn Genardy ...
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Seitenzahl: 529
Petra Hammesfahr zur überarbeiteten Neuausgabe
»Der stille Herr Genardy« war mein Durchbruch, wie man so sagt. Begonnen hatte ich den Roman 1986. Als er zur Hälfte fertig war, habe ich aufgegeben. Denn nach 159 Absagen für sieben vorangegangene, bereits abgeschlossene Manuskripte wusste ich nicht mehr, welchem Verlag ich diese Geschichte anbieten sollte.
Aber der Erfolg stellte sich allen düsteren Prognosen zum Trotz drei Jahre später ein. Aus dem halbfertigen Manuskript wurde doch noch ein abgeschlossener Roman, der 1993 als Hardcover im Gustav Lübbe Verlag erschien.
Kurz darauf entdeckte Iris Berben das Buch, so wurde aus dem Roman ein Film mit ihr und Matthias Fuchs in den Hauptrollen.
Unerwartete Anerkennung erhielt ich vonseiten der Polizei für das Psycho-Profil eines Pädophilen und die authentischen Reaktionen der Menschen, die mit ihm zu tun hatten.
Nach all den Jahren ist Kindesmissbrauch heute immer noch ein brandaktuelles Thema. Für die Neuauflage habe ich jedoch darauf verzichtet, diese Aktualität bei der Überarbeitung hervorzuheben. Im Vordergrund stehen unverändert die perfide Vorgehensweise des Täters und die Hilflosigkeit einer jungen Mutter in einer Zeit, in der es noch keine Handys gab.
Die Autorin
Petra Hammesfahr wurde mit ihrem Longseller »Der stille Herr Genardy« einem großen Lesepublikum bekannt. Seitdem erobern ihre Spannungsromane die Bestsellerlisten, sie wurden mit Preisen ausgezeichnet und verfilmt. So ist die erfolgreiche Netflix-Serie »The Sinner« mit Bill Pullman in der Hauptrolle auf der Grundlage von »Die Sünderin« entstanden.
PETRA
HAMMESFAHR
Der stille
Herr
Genardy
ROMAN
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Überarbeitete Neuveröffentlichung 05/2022
Copyright der Erstausgabe © 1993 by Lübbe Verlag, Köln
Copyright dieser Ausgabe © 2022 by Diana Verlag,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Cathérine Fischer
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
Umschlagmotive: © Evelina Kremsdorf/Trevillion Images,
andreiuc88/Shutterstock.com
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-29013-9V001
www.diana-verlag.de
TEIL 1
Der Braune
1
Es war an einem Tag im Dezember 1991, als der Mann das Kind zum ersten Mal sah. Als er kurz nach fünf von der Arbeit kam, stand es vor dem Schaufenster, direkt unter der Leuchtschrift.
Tierhandlung
Wolfgang Weber.
Beide Hände hatte es gegen das Glas gelegt und das Gesicht so nahe an die Scheibe gebracht, dass sie unter dem Atem beschlagen war. Es war sehr kalt an dem Tag, dunkel war es auch bereits.
Hinter der Scheibe hockten ein paar Zwergkaninchen in einem Käfig, gleich daneben war ein Hamster untergebracht. Weiter hinten im Laden, aber dennoch von der Straße aus zu sehen, standen etliche Vogelbauer in unterschiedlichen Größen und ein Aquarium von gut zwei Metern Seitenlänge.
Der Mann kannte das alles zur Genüge. Seit zwei Jahren lebte er im ersten Stock des Hauses, direkt über den Räumen der Tierhandlung. Er kam täglich an dem Schaufenster vorbei, ohne die Tiere darin zu beachten, weil gleich daneben die Haustür lag. Wenn er vorbeiging, zog er meist den Schlüssel aus der Tasche und hatte nur einen Gedanken, ins Haus zu kommen, hinauf in seine Wohnung zu steigen, sich hinzusetzen und auszuruhen.
Auch dem Kind schenkte er an diesem Dezembertag noch keine besondere Beachtung. Es hatte nichts an sich, was ihn auf den ersten Blick angesprochen hätte. Zu groß für seinen Geschmack, zu mager und nicht einmal hübsch zu nennen. Die weichen Formen, die ihn bei Kindern so magisch anzogen, hatte es bereits verloren. Aber vielleicht wurden die Formen auch nur von der dicken Kleidung verschluckt.
Brust, Rücken und Arme des Kindes waren in eine unförmige Jacke gehüllt, dazu trug es eine Hose aus derbem Stoff. Sie passte nicht richtig, war über den Füßen mehrfach umgeschlagen, sodass sich ein dicker Wulst um die Knöchel bildete. Beide Knie und der Hosenboden waren dreckig, auch die Jacke wies einige Flecken auf. Und die Finger, mit denen das Kind gegen die Scheibe klopfte, hatten unter den zumeist abgebrochenen Nägeln schwarze Ränder.
Kleinigkeiten, die der Mann im Vorbeigehen registrierte, ohne sich dessen bewusst zu werden. Was sich ihm einprägte, war lediglich der Ausdruck auf dem Gesicht des Kindes. Der machte ihm mehr als alles andere deutlich, dass das Mädchen die meiste Zeit sich selbst überlassen war.
Es sprach mit den Tieren hinter der Scheibe. Das hörte er, als er die Haustür aufschloss. Mit welchen genau, war nicht ersichtlich. Das interessierte ihn auch nicht. Er trat ins Haus, ging durch den schmalen Flur zur Treppe. Der widerliche Geruch von Fischfutter stach ihm in die Nase. Jedes Mal, wenn er von draußen hereinkam, störte ihn dieser Gestank, und jedes Mal schien er ihm ein bisschen stärker. Seit er hier eingezogen war, ärgerte er sich darüber. Und seit dem ersten Tag war er fest entschlossen, bei der nächstbesten Gelegenheit wieder auszuziehen.
An jedem Freitag und jedem Samstag kaufte er eine Zeitung und suchte im Anzeigenteil, der samstags immer sehr umfangreich war, aber auch freitags lohnte es sich schon. Bisher hatte er nicht entdeckt, was ihm vorschwebte; eine Wohnung in einem gepflegten Haus, in einer besseren Gegend, zu einem erschwinglichen Mietpreis. So eine, wie er sie früher gehabt hatte.
Sie war nicht zu groß, nicht zu klein und nicht zu teuer gewesen, hatte einen Balkon vor dem Wohnzimmer gehabt, und die Umgebung war friedlich und sauber. Kaum Verkehr auf den Straßen, ein Spielplatz in unmittelbarer Nähe, in Grün eingebettet. Da hatte er im Frühjahr, im Sommer und im Herbst oft am Spätnachmittag auf einer Bank am Rand des Platzes gesessen, die Sonne genossen und den Kindern zugeschaut. Nur zugeschaut. Und sich an seine Tochter erinnert. Ein harmloses, manchmal schmerzliches Vergnügen. Bei schlechtem Wetter hatten oft ein paar Kinder im Hausflur gespielt. Es hatte ihn nie gestört, wenn sie Lärm vor seiner Tür machten.
Fast zwanzig Jahre hatte er dort gelebt, war zufrieden gewesen und gut mit den Nachbarn zurechtgekommen. Aber er kam mit allen Leuten gut zurecht, schaffte es für gewöhnlich innerhalb von Sekunden, sein Gegenüber einzuschätzen, und wusste, wie er sich geben musste.
Trotzdem war es in den letzten Jahren bergab gegangen mit ihm. Zuerst hatte er seine Arbeit verloren. Durch eine dumme Sache, genau genommen nur eine Unvorsichtigkeit.
Es war eine Beschwerde gegen ihn eingegangen. Man bat ihn um seine Stellungnahme. Hinauswerfen konnte man ihn nicht so einfach. Man legte ihm jedoch eindringlich nahe, von sich aus zu kündigen. Dann würde man der Angelegenheit in seinem Interesse nicht zu viel Bedeutung beimessen und ihr nicht weiter nachgehen. In Wahrheit war es wohl eher so, dass sie den Skandal scheuten. Und dafür musste er ihnen vermutlich auch noch dankbar sein.
Das war vor fünf Jahren gewesen.
Monatelang hielt ihn der Schock in Atem, hinzu kam die Trauer. Er hatte seine Arbeit geliebt, ein geregeltes Einkommen, die Sicherheit im Alter, den Kontakt mit Menschen, viele bekannte Gesichter, auch wenn sie mit den Jahren häufig gewechselt hatten. Aber es hätte schlimmer kommen können, viel schlimmer, das wusste er.
Wenn er darüber nachdachte, in der ersten Zeit tat er nichts anderes, wurde ihm übel. Er verfluchte sich für den Leichtsinn, für den einen Moment, in dem er sich hatte hinreißen lassen. Er schwor sich, dass es nie wieder vorkommen sollte, dass er sich von nun an eiserne Selbstdisziplin auferlegen würde. Dann lenkten ihn andere Dinge vorübergehend ab.
Das Geld wurde knapp. Eine Weile lebte er von seinen Ersparnissen. Als die aufgezehrt waren, verkaufte er die kleinen Kostbarkeiten, die sich in langen Jahren angesammelt hatten. Er hatte stets sparsam gelebt und sich ein wenig Luxus leisten können. Schöne Stücke, von einigen konnte er sich nicht trennen. Eine Krawattennadel aus Gold mit einem eingefassten Diamanten herzugeben oder ein Paar Manschettenknöpfe, die dazugehörten, brachte er nicht über sich, obwohl sie ihm gewiss eine hübsche Summe gebracht hätten.
Stattdessen bot er eine Sammlung auserlesener Zeichnungen zum Verkauf an. Einige waren handsigniert. In ihren schlichten Rahmen hatten sie besonders edel gewirkt und jahrelang eine Wand in seinem Wohnzimmer geschmückt. Sie zu Geld machen zu müssen, war für ihn eine Art persönlicher Untergang.
Das war vor vier Jahren gewesen.
Später war er sogar gezwungen, Möbelstücke zu veräußern, um ein paar weitere Monate zu überbrücken. Die Nachbarn wurden stutzig. Er erzählte ihnen, dass er dabei sei, seine Wohnung aufzulösen. Es war ja abzusehen, dass er sie nicht mehr lange halten konnte. Er würde jetzt bald zu seiner Tochter ziehen, sagte er jedem, der ihn fragte. Und dann kündigte er beizeiten, um sich nicht auch noch die Blöße geben zu müssen, dass er die Miete schuldig blieb.
Vorübergehend kam er in einer schäbigen Pension unter und hielt sich mit Botengängen mühsam über Wasser. Den halben Tag saß er in einem muffigen Zimmer und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Seine restliche Habe war in einem Lagerraum untergebracht. Gezwungenermaßen musste er sich auch davon noch trennen, als er die monatlichen Kosten für den Lagerraum nicht mehr aufbringen konnte.
Das war vor drei Jahren gewesen.
Natürlich gab es Gründe für seinen Abstieg, Gründe für die Beschwerde, die gegen ihn vorgebracht worden war, einen Grund hauptsächlich. Er rauchte nicht, trank nicht, lungerte nicht in Kneipen herum, pöbelte weder junge noch ältere Frauen auf der Straße an. Er war höflich, zuverlässig, freundlich, zurückhaltend und hilfsbereit, ein unauffälliger Mann Mitte fünfzig.
Der Grund waren die Spielplätze und die spielenden Kinder in den Hausfluren. Er liebte Kinder, besonders die kleinen Mädchen mit ihren prallen Beinen und den kurzen Röckchen. Stets trug er ein paar Aufmerksamkeiten für sie in seinen Taschen. Sie waren so leicht zufriedenzustellen, konnten sich noch über Kleinigkeiten freuen. Über Schokoladeneier zum Beispiel, die innen hohl und mit irgendeinem Krimskrams gefüllt waren. Die jüngeren Kinder waren ganz wild darauf.
Mit älteren hatte er sich nie abgegeben, jedenfalls nicht in seiner unmittelbaren Umgebung. Sie redeten zu viel und wussten die Dinge beim Namen zu nennen. Auch mit den jüngeren war er vorsichtig gewesen, hatte sie sorgfältig ausgesucht, ihnen so ein Ei in die Hände gedrückt, ihnen über das Haar gestreichelt und, wenn sich die Gelegenheit bot, über die Beinchen. Viel weiter war er nicht gegangen, nicht bei Kindern, denen er häufig begegnete, die ihn kannten, seinen Namen wussten und jederzeit mit dem Finger auf ihn hätten zeigen können.
Nur einmal hatte er sich hinreißen lassen, hatte sich vollkommen sicher gefühlt und geglaubt, es wäre eine einmalige Chance, die sich ihm da bot. Zwei kleine Mädchen, höchstens drei und vier Jahre alt, nur zu Besuch und unbeaufsichtigt in einer Wohnung. Und ihm öffneten sie arglos und neugierig die Tür.
Er hatte sie auf den Schoß genommen, Fingerspiele mit ihnen gemacht, gelacht dabei, sie ein wenig gekitzelt, damit sie ebenfalls lachten. Damit sie das Ganze für einen Spaß hielten.
Zwei kleine Mädchen. So naiv noch, trotzdem hatten sie begriffen und darüber geredet. Man hatte ihnen zum Glück nicht alles geglaubt. Vielleicht hatten sie es auch nicht richtig schildern können. Aber es hatte ausgereicht, ihn in den Ruin zu treiben.
Allein der Schatten des Verdachts, hatte er sich von einem Vorgesetzten anhören müssen, genüge schon. Und dann saß er in der schäbigen Pension, ohne feste Arbeit, ohne Wagen, den musste er zuletzt auch noch verkaufen.
Früher war er damit oft losgefahren, Hunderte von Kilometern weit. Den Nachbarn hatte er immer erzählt, dass er seine Tochter in Norddeutschland besuche, den Schwiegersohn und die Enkelkinder. Dann hatte er sich irgendwo, wo ihn niemand kannte, ein Kind gesucht. Es war für ihn ohne Risiko gewesen.
Er kannte die Fehler zur Genüge, die anderen unterliefen, weil sie sich nur von der Situation leiten ließen und nicht über den Augenblick hinausdachten. Er dachte immer weiter und handelte danach. Niemals hatte er ein Kind in seinen Wagen steigen lassen. Er hatte das Auto auch nie an Orten abgestellt, die später jemand mit dem Geschehen in Verbindung bringen konnte. Sein Äußeres hatte er verändert, soweit das mit geringfügigen Mitteln möglich war. Mal trug er eine Brille, mal einen kleinen Schnurrbart. Und die Süßigkeiten in seinen Taschen machten müde und schläferten ein.
Den Wagen verkaufen zu müssen, war das Schlimmste für ihn. Er vermisste die Fahrten so sehr. Da hatte er sich nicht auf die Finger beschränkt. Anschließend war er wochenlang ruhig gewesen, ausgeglichen, zufrieden mit sich und allem anderen.
Wenn das Wetter es erlaubte, machte er lange Spaziergänge, um nicht ständig in dem muffigen Pensionszimmer über den Fehler zu grübeln, den er gemacht hatte und niemals wiederholen wollte. Nie wieder ein Kind aus der näheren Umgebung!
Oft saß er stundenlang auf einer Bank am Rand eines Spielplatzes. Und dort lernte er eines Tages ein Kind kennen, das alle guten Vorsätze zunichtemachte. Es wurde gebracht, spielte dann aber immer alleine und blieb sehr lange, ehe es wieder abgeholt wurde. Wie ein Hund, den man irgendwo anband, damit er nicht lästig wurde, dachte er oft.
Da war es leicht, mit ein paar freundlichen Worten, später mit ein paar kleinen Geschenken, eine grundsolide Basis für eine herzliche Beziehung zu schaffen. Manchmal war es fast so, als hätte er mit seiner eigenen Tochter zu tun. Das Kind war zwar schon neun Jahre alt, aber geistig etwas zurückgeblieben. Es war sehr zutraulich und folgte ihm bald aufs Wort.
Fast zwei Monate lang war er mit diesem Kind befreundet. Eine schöne Zeit, in der er sich kaum einen Zwang auferlegen musste, solange er nicht bis zum Äußersten ging, was er sich strikt verbot.
Anfangs war er überzeugt, dass das Kind nicht reden würde, weil es in seiner geistigen Beschränktheit nicht begriff, was ihm widerfuhr. Später allerdings kamen ihm Zweifel. Und zu seiner eigenen Sicherheit entschloss er sich, dafür zu sorgen, dass es nicht mehr reden konnte.
Das war vor zweieinhalb Jahren gewesen.
2
Es wird jemand sterben. Das weiß ich. Und ich kann mit niemandem darüber reden. Wenn ich früher nur eine Andeutung gemacht habe, dass ich wieder von der Uhr geträumt hätte, bekam meine Mutter Anfälle. Manchmal hat sie mich sogar verprügelt, als ob es meine Schuld gewesen wäre.
Kein Mensch kann etwas für seine Träume. Und bei meiner Mutter hatte ich immer das Gefühl, dass sie mich nur schlug, um mit ihrer eigenen Angst fertig zu werden. Ich hatte auch Angst, jedes Mal, entsetzliche Angst.
Wenn ich von der Uhr träume, bedeutet das den Tod für einen Menschen, den ich kenne und mag oder sogar liebe. Es ist kein Blödsinn, keine Einbildung. Es ist seit mehr als zwanzig Jahren so, ich kann es beweisen.
Vor zweiundzwanzig Jahren hing die Uhr im Wohnzimmer meiner Großeltern. Sie passte gar nicht dorthin mit ihrem kreisrunden schwarzen Zifferblatt, den messingfarbenen Stundenstrichen und den spitzen Zeigern. Aber sie hing an der Wand über dem Sofa, gleich neben einem Bild, auf dem ein Waldstück und eine tiefe Schlucht dargestellt waren, und jeden Abend zog Großvater sie mit einem Schlüssel auf.
Das habe ich oft genug gesehen. Ich war damals zwölf und hundertmal lieber bei den Großeltern als daheim. Schon damals kam ich nicht gut mit meiner Mutter zurecht. Daran hat sich in all den Jahren nichts geändert, nur war es damals eben schlimmer.
Mutter beschwerte sich unentwegt, ich sei ein komisches oder ein unmögliches Kind. Wie oft ich das gehört habe, weiß ich gar nicht mehr. Ständig hielt sie mir meine Schwester Anke als gutes Beispiel vor. Anke war vier Jahre jünger als ich. Anke war immer fröhlich. Unkompliziert, sagte Mutter. Mit mir dagegen hätte es von Anfang an nur Schwierigkeiten gegeben. Keine Nacht hätte sie durchschlafen können.
Ich hatte wohl schon als kleines Kind oft Albträume und wachte dann schreiend auf, fürchtete mich vor der Dunkelheit, wollte nicht in meinem Bett bleiben, nicht allein sein. Und tagsüber kamen mir oft ganz verrückte Gedanken. Da musste nur eine Autotür schlagen, ein Hund bellen, ein Stein auf der Straße liegen, dann sah ich Blut, zerfetzte Glieder, eingeschlagene Köpfe.
Eigentlich hatte ich immer Angst, deshalb führte ich oft Selbstgespräche, um mich zu beruhigen. Denn wenn ich etwas sagte, hielt Mutter mir einen ellenlangen Vortrag, in dem ein Dutzend Mal der Ausdruck komisches oder unmögliches Kind fiel.
Irgendwann war ich es leid, mir ständig diese Vorhaltungen anzuhören. Und die Großeltern wohnten nur zwei Straßen von uns entfernt. Jeden Tag ging ich nach der Schule hin und blieb meist bis zum Abend, bis ich sicher sein konnte, dass mein Vater zu Hause war.
Er liebte mich, da war ich sicher. Er kam jedes Mal, wenn ich nicht schlafen konnte, setzte sich zu mir aufs Bett und sprach mit mir über böse Träume, bis ich wieder einschlafen konnte. Dass sie keinen Sinn hätten, sagte er oft, gar keinen Sinn und keine Bedeutung, weil das Hirn im Schlaf nur etwas verarbeitete, was es den Tag über aufgesammelt hatte.
Und wenn ich ihm erzählte, was mir tagsüber unvermittelt durch den Kopf geschossen war, fragte er manchmal: »Hat Oma dir wieder vom Krieg erzählt?« Oder er sagte: »Es geht vorbei, wenn du älter wirst, Siggi. Wenn du erwachsen bist, kannst du darüber lachen. Wahrscheinlich ist es nur die Pubertät, da hat man mit vielen Dingen zu kämpfen.«
Die Großeltern mochte ich sehr gerne. Mein Vater jedoch war damals fast ein Heiliger für mich. Mein allwissender Held, der alles erklären konnte, und der einzige Mensch, den ich wirklich liebte. Die Großeltern liebte ich auch, aber nicht so sehr wie ihn.
Wenn er in meiner Nähe war, fühlte ich mich sicher. Leider kam er immer erst kurz nach sieben von der Arbeit. Er war auf dem Bau beschäftigt, und Mutter sah es gern, wenn er Überstunden machte.
An dem Nachmittag, als das mit der Uhr passierte, saß ich mit Großmutter im Wohnzimmer. Ich war noch mit den Aufgaben für die Schule beschäftigt, als es plötzlich still wurde. Es war auch vorher nicht laut im Zimmer gewesen, nur das Klappern von Großmutters Stricknadeln, hin und wieder ein Seufzer, wenn sie sich bei den Maschen verzählt hatte und wieder von vorne beginnen musste, das Ticken der Uhr. Und dann die Stille.
Im ersten Augenblick hatte sie für mich überhaupt keine Bedeutung. Aber Großmutter machte ein Gesicht, als hätte der Blitz eingeschlagen. Sie bekreuzigte sich und flehte murmelnd ein paar Heilige im Himmel an, dass sie uns beistehen möchten. Dann behauptete sie immer noch flüsternd, es sei das Zeichen für Tod, wenn eine Uhr plötzlich stehen blieb.
Ich weiß noch, dass ich vor Verlegenheit und Unbehagen gelacht habe. Und Großmutter sagte: »Über solche Dinge lacht man nicht, Sigrid. Habe ich dir nicht mal erzählt, wie das im Krieg war, als bei meiner Schwester die Uhr stehen blieb? Und drei Tage später waren sie alle tot, im Keller verschüttet und erstickt, meine Schwester, unsere Eltern, die zwei kleinen Kinder. Ihr Mann, also mein Schwager, war beim Fliegeralarm nicht zu Hause gewesen und hat das Drama als Einziger überlebt. Warte ab, dann wirst du sehen, dass ich dir keinen Unsinn erzähle. Es wird etwas Schreckliches passieren, ich kann es fühlen.«
Abends sprach ich mit Vater darüber und war so erleichtert, als er ebenfalls lachte. Die Geschichte von ihrer Schwester und dem Keller, in dem so viele erstickt waren, hätte Großmutter schon hundertmal erzählt, sagte er, und jedes Mal ein bisschen anders. Seiner Meinung nach hatte Großvater am vergangenen Abend schlicht und einfach vergessen, die Uhr aufzuziehen.
Ich höre Papa heute noch sagen: »Manchmal habe ich nicht übel Lust, Oma das Maul zu stopfen. Bei dem Unsinn, den sie dir immer auftischt, muss man sich über gar nichts wundern. Es fehlt nur, dass sie morgen behauptet, der Kapuzenmann persönlich hätte die Uhr angehalten, um ihr ein Zeichen zu geben.«
Das hätte er besser verschwiegen, in der Nacht träumte ich zum ersten Mal davon. Im Traum blieb die Uhr nicht stehen. Da kam ein Mann in einem dunkelbraunen Umhang ins Wohnzimmer, auf dem Kopf eine Kapuze, die sein Gesicht mit einem Schatten bedeckte. In einer Hand hielt er einen kleinen Hammer.
Er nahm die Uhr von der Wand und trug sie hinaus, stieg mit ihr eine Leiter hinauf und legte sie irgendwo auf ein paar Bretter. Dann holte er aus und schlug die Stundenstriche vom Zifferblatt, einen nach dem anderen. Mit dem letzten verschwanden auch die Zeiger. Nur die schwarze Scheibe blieb übrig, wurde größer und immer größer und begann sich zu drehen. Der Braune tanzte auf ihr, drehte sich wie ein Wahnsinniger im Kreis, griff nach mir und riss mich mit. Ich konnte mich nicht so schnell drehen, stürzte und fiel in ein Loch, fiel tiefer und tiefer, bis ich erwachte.
Und drei Tage später war mein Vater tot. Arbeitsunfall.
Ich hatte plötzlich das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Bei der Beerdigung bekam ich einen Schreikrampf. Da wurde mir erst klar, dass der Braune die Uhr auf ein Baugerüst getragen hatte. Ich hätte meinen Vater warnen können, wenn ich es rechtzeitig erkannt und begriffen hätte. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen, ihn um Verzeihung bitten. Ich wollte ihm noch so viel sagen. Sie mussten mich mit Gewalt vom Sarg wegziehen.
Das war im Sommer vor zweiundzwanzig Jahren. Im Herbst, nur knapp drei Monate nach Vaters Tod, träumte ich wieder von der Uhr und dem Braunen. Da bekam ich auch zum ersten Mal eine Tracht Prügel dafür, weil ich Mutter davon erzählte. Weil ich glaubte, ich würde verrückt, wenn ich den Mund hielt. Weil ich hoffte, sie würde zusammen mit mir überlegen, wohin der Braune die Uhr diesmal getragen hatte. Ich meinte, er hätte sie in ein Bett gelegt, aber weil ich dachte, es müsste wieder ein Unfall sein, glaubte ich das nicht so recht.
Drei Tage später war Großvater tot, wachte morgens einfach nicht mehr auf. Großmutter wurde ganz wunderlich. Ich ging immer noch jeden Tag zu ihr, gleich von der Schule aus, aber manchmal war sie mir unheimlich.
Sie sprach mit sich selbst, mit ihrer toten Schwester, mit Großvater und anderen Leuten, die schon lange nicht mehr lebten. Immerzu murmelte sie vor sich hin. Nur selten verstand ich, was sie sagte, und wenn ich sie etwas fragte, schaute sie mich an, als wäre ich nicht da.
Es waren ein paar schlimme Jahre damals. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich von der Uhr geträumt habe. Immer nahm der Braune sie von der Wand, trug sie irgendwo hin, legte sie ab und schlug ihr die Stundenstriche aus. Und jedes Mal war drei Tage später ein Mensch tot. Nach Vater waren es meist alte Leute, Nachbarn und Bekannte von Großmutter, die ich alle gern gemocht hatte.
Aber die Letzte damals war ein Mädchen aus meiner Schulklasse, mit dem ich mich angefreundet und manchmal nachmittags getroffen hatte, seit Großvater tot war. Sie wurde auf dem Nachhauseweg von einem Auto überfahren. Da war ich vierzehn.
Jetzt kann man natürlich sagen, Unfälle passieren eben und dass es normal ist, wenn alte Menschen sterben. Nur kann mir niemand erzählen, dass es normal ist, drei Tage vorher immer denselben Traum zu haben.
Ich dachte damals oft, ich sei verflucht, verhext oder besessen, dass die Menschen nur sterben mussten, weil ich träumte, dass sie alle noch leben würden, wenn es mich nicht gäbe. Dann wieder dachte ich, dass ich nur zu dumm sei. Der Braune zeigte mir doch jedes Mal die Stelle, an welcher der Tod mit der Sense ausholte. Ich erkannte nur nie, wo das sein könnte, hielt mich für blöd und unfähig. In dem Alter weiß man noch nicht, wie man sich selbst einschätzen soll. Aber unfähig, das kommt den Tatsachen schon ziemlich nahe.
3
Nachdem der Mann sich vor zweieinhalb Jahren von dem geistig zurückgebliebenen Mädchen getrennt hatte, ging es langsam wieder ein wenig bergauf mit ihm. In den Zeitungsberichten war von einem grausamen und brutalen Mord die Rede. So mochte er das nicht sehen, er war weder grausam noch brutal vorgegangen. Aber die Presse liebte es ja, mit derartigen Ausdrücken zu schockieren, um eine bestimmte Klientel von Lesern anzulocken.
Er fand Arbeit in einer Lagerhalle. Gut bezahlt wurde er nicht, sein Lohn lag auf dem Niveau eines Hilfsarbeiters. Doch auch wenn es wenig war, es war besser, als sich von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob zu hangeln. Ein paar Monate lang sparte er eisern jeden Pfennig, den er nicht unbedingt für seinen kargen Lebensunterhalt brauchte. Dann fand er die Wohnung über der Tierhandlung, die er spärlich und preisgünstig einrichtete. Die Umgebung war nicht eben sauber, aber ruhig, eine stille Seitenstraße. In den Nachbarhäusern lebten Menschen, die sich um nichts und niemanden kümmerten.
Außer ihm wohnten noch drei weitere Mietparteien und der Hausbesitzer dort, ein gesundheitlich angeschlagener, alleinstehender Sonderling, der auch die Tierhandlung im Erdgeschoss betrieb.
Ganz oben in einer Mansarde, die vom übrigen Dachboden abgetrennt war, ein junger Mann, der von sich behauptete, Student zu sein, obwohl er aus diesem Alter bereits heraus war. Aber es gab Studenten, die jahrelang bummelten oder nebenher für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten und deshalb nicht so schnell fertig wurden, wie es ihnen lieb gewesen wäre.
Tilman Skopka hieß der junge Mann, stellte sich aber immer nur mit dem Familiennamen vor, sodass er von allen Skopka genannt wurde. Er war ein Neffe des Hausbesitzers. Gelegentlich half Skopka im Laden aus, wenn sein Onkel Probleme mit den Beinen, dem Rücken, dem Herz, den Augen und so weiter hatte. Es gab eigentlich kein Organ und kein Körperteil, das bei dem Sonderling noch ordnungsgemäß funktionierte.
Skopkas Haupterwerbsquelle waren jedoch Nachhilfestunden. Die jungen Mädchen gaben sich bei ihm die Türklinke in die Hand. Und jedem sah man an, dass es noch die Schulbank drückte. Es wurde gemunkelt, dass sich deswegen auch schon die Polizei für Skopka interessiert hätte. Es waren wohl mal Uniformierte im Treppenhaus gesehen worden, die einen Hund bei sich gehabt haben sollen. Wahrscheinlich waren es Kunden der Tierhandlung gewesen, die Skopka brauchten, um etwas zu kaufen, weil sein Onkel wieder mit Wehwehchen im Bett lag und der Laden geschlossen war.
Im zweiten Stock wohnte neben dem Hausbesitzer ein älteres Ehepaar, das sich häufig über Skopka beschwerte. Sie fühlten sich belästigt durch die tägliche Völkerwanderung, wie sie das ausdrückten. Manche der Nachhilfeschülerinnen waren im Treppenhaus wohl zu laut, lachten oder hörten Musik. Da das meist am frühen Nachmittag geschah, bekam der Mann davon nicht viel mit. Ihn hätten junge Mädchen auf der Treppe auch nicht gestört. Um das Gerede im Haus kümmerte er sich nicht.
Er kam mit Skopka gut aus und empfand die ältere Frau, die neben ihm im ersten Stock wohnte, als lästig. Sie war ebenfalls alleinstehend und mochte etwa in seinem Alter sein. Neben dem penetranten Fischfuttergeruch im Treppenhaus war sie ein weiterer Grund, dem Haus bei nächstbester Gelegenheit den Rücken zu kehren.
Er mochte Frauen generell nicht besonders, hatte in seiner kurzen Ehe genügend trübe Erfahrungen sammeln müssen. Und seine Nachbarin war sehr aufdringlich. Sooft sich ihr die Gelegenheit bot, ließ sie durchblicken, dass sie einer näheren Bekanntschaft nicht abgeneigt war. Anfangs lud sie ihn sogar ein paarmal für den Sonntagnachmittag zum Kaffee ein. Er kam den Einladungen nach, erzählte jedoch gleich beim ersten Besuch, dass er erst kürzlich seine Frau verloren und ihren Tod noch nicht überwunden habe.
Er hoffte, sie sich damit vom Leib zu halten. Als sich das als Irrtum erwies, sie verstärkte ihre Bemühungen noch, behauptete er, seit dem Tod seiner Frau gewisse Medikamente einnehmen zu müssen, um mit der Trauer leben zu können. Und dass er aufgrund dieser Medikamente zwar einen ruhigen Schlaf fand, sich auch tagsüber gut auf seine Arbeit konzentrieren, wegen der Nebenwirkungen jedoch nicht mehr daran denken könne, noch einmal eine Beziehung zu einer Frau aufzunehmen.
Das reichte, um sie etwas auf Distanz zu halten. Ganz locker ließ sie nicht, hoffte vermutlich darauf, dass er seine Medikamente irgendwann absetzte.
Er lebte sparsam wie gewohnt und konnte sich bald wieder einen Wagen leisten, nur ein älteres Modell, für seine Bedürfnisse jedoch ausreichend. Dann nahm er die Fahrten wieder auf. Einmal im Monat trug er einen kleinen Koffer aus der Wohnung, manchmal zusätzlich ein hübsch eingewickeltes Päckchen unter dem Arm. Und wenn er im Hausflur zufällig einen der anderen Hausbewohner traf, erzählte er wie früher den Nachbarn in dem gepflegten Haus, dass er seine Tochter besuchen wolle, den Schwiegersohn und die beiden Enkelkinder. Dass er sich schon unbändig auf die Zeit freue, die er mit den Kindern verbringen konnte. Leider immer nur so kurz.
Letzteres entsprach den Tatsachen.
Für die Momente, wo es ihn in seiner Wohnung überkam, hielt er Fotografien bereit, die er selbst aufgenommen hatte. Wenn er sie anschaute, konnte er sich in eine angenehme Stimmung versetzen. Das hielt ihn davon ab, ein unnötiges Risiko einzugehen. Und das Mädchen, das er im Dezember vor dem Schaufenster der Tierhandlung stehen sah, wäre ein großes Risiko gewesen. Es war schon zu alt, nicht für ihn, nur für seine Sicherheit.
Aber das Kind hatte etwas an sich, was ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Vermutlich war es der Ausdruck auf dem jungen Gesicht, der ihm signalisierte, dass es auf einen Menschen wartete, der sich ein wenig Zeit nahm. Dass es sich nach Zärtlichkeiten sehnte, nach Liebe und Verständnis.
Jedes Mal, wenn er diesen Ausdruck sah, musste er an seine Tochter denken. Die hatte er hergeben müssen, gerade als sie in das Alter gekommen war, in dem Kinder ihm am liebsten waren. Seitdem träumte er davon, dass es eines Tages mit einem Kind wieder so werden könnte wie damals. Da hatte er sich nicht den Kopf zerbrechen müssen über irgendwelche Risiken. Da war er glücklich gewesen, einfach nur glücklich und zufrieden.
Meist schlief er schlecht, wenn er sich zu lange mit den Erinnerungen an diese Zeit beschäftigt hatte. Dann schreckte er aus wüsten Träumen auf. In der Regel war es die Stimme seiner Frau, die ihn gellend und keifend ans Bett seiner Tochter rief.
Und wenn er sich über das weinende Kind beugen wollte, gab sie ihm einen Stoß vor die Brust. Heulte, keifte, fauchte ihn an wie ein Tier: »Hau ab, du perverses Schwein. Was hast du mit ihr gemacht? Ich bring dich um, wenn du sie noch mal anrührst!«
In manchen Träumen war es stattdessen ein junger Kerl, der ihm hart zusetzte. Onkel hatte seine Tochter den genannt, auf dessen Schoß gesessen, sich vertrauensvoll an dessen Brust geschmiegt, für ihn nur noch einen ängstlichen Blick gehabt.
Aufgehetzt! Natürlich aufgehetzt gegen den eigenen Vater. Keine Erinnerung mehr an die Liebe, die Fürsorge, die Nächte in seinem Bett, die zahllosen Windeln, die er gewechselt hatte.
Und der junge Kerl schüttelte die Faust gegen ihn, während er mit einem Arm das Kind an sich presste. »Mach bloß, dass du rauskommst, du Drecksack, ehe ich mich vergesse.«
Das waren Erinnerungen, die ihn verfolgten und zur Vorsicht mahnten, dagegen nahm sich die Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten noch harmlos aus. Was seine Frau anging, hatte er niemals ernstliche Befürchtungen gehabt. Mochte sie ihn auch unflätig beschimpft haben, wenn sie alleine waren. Einem Fremden gegenüber hätte sie die Zähne nicht auseinanderbekommen, hätte sich vermutlich geschämt. Aber der Kerl damals, jung und kräftig, vor dem hatte er einen Heidenrespekt gehabt. Und nicht nur vor dem.
Es war schon einige Jahre her, da hatte ihn so einer zusammengeschlagen, noch mit Füßen auf ihn eingetreten, als er schon am Boden lag. Seitdem plagten ihn gewisse Ängste. Das Kind vor dem Schaufenster hatte schließlich Eltern, eine Mutter. Und einen Vater! Vielleicht auch einen, der nicht lange fackelte, der zuschlug und mit Füßen trat, statt nach der Polizei zu rufen.
Wenn das Mädchen nicht ausgerechnet vor der Tierhandlung gestanden, wenn er es stattdessen auf einem Spielplatz getroffen hätte, hätte er versuchen können, es noch einmal so zu machen wie mit dem geistig zurückgebliebenen Kind, das er gekannt hatte, als er noch in der schäbigen Pension lebte.
Es war so rührend anhänglich gewesen. Bereitwillig und folgsam, ahnungslos und zärtlich, fast wie seine Tochter damals. Nachdem er sich ein paarmal mit ihm unterhalten hatte, war es immer ohne Zögern mit ihm gegangen.
Er hatte nur am Rand des Spielplatzes erscheinen müssen. Nicht winken, nicht rufen, was andere hätte aufmerksam machen können. Nur dastehen, bis es ihn bemerkte, sich dann umdrehen und langsam weggehen.
Es war ihm jedes Mal gefolgt, war eine Weile in einem gewissen Abstand hinter ihm hergelaufen, weil er ihm erklärt hatte, das gehöre zu ihrem Spiel. Es müsse ihn eine Weile verfolgen wie ein Privatdetektiv, der eine Person ausspähte und selbst nicht gesehen werden durfte. Außerdem hatte er gedroht, wenn es ihn einmal, nur ein einziges Mal, bei der Mutter oder sonst wem mit einem Wort erwähne, käme er nie mehr. Dann gäbe es nie wieder ein Geschenk, nie wieder ein Detektivspiel.
Das Kind hatte sich an all das gehalten. Erst wenn sie weit genug von bewohnten Häusern und anderen Menschen entfernt gewesen waren, wenn nicht mehr die Gefahr bestand, dass ihnen jemand begegnete oder zuschaute, hatte er gewartet, bis es neben ihm war und nach seiner Hand griff.
Es hatte genau gewusst, dass er ein kleines Mitbringsel in der Tasche trug. Und irgendwo hatte er es dann auf seinen Schoß genommen. Es hatte immer gekichert, wenn er es kitzelte. Es hatte auch gekichert, wenn es ihn kitzeln sollte. Anfangs hatte er ihm dabei die Hände noch führen müssen, bis es begriff, dass es fester zupacken musste. Schöne Wochen waren das gewesen, bis es weinte und schrie, weil er sich nicht länger mit den Spielereien begnügen konnte.
Mit dem Mädchen vor dem Schaufenster musste es zwangsläufig anders sein. Das sagte ihm sein Verstand jedes Mal, wenn er sich länger mit der Vorstellung beschäftigte. Das Kind war nicht mental eingeschränkt und garantiert schon eingeweiht in gewisse Praktiken. In den Schulen begannen sie heutzutage so früh damit.
Und da war noch mehr zu bedenken. Die anderen Hausbewohner, die Leute in den Nachbarhäusern, Passanten auf der Straße, Kunden der Tierhandlung. Mehr als genug Menschen, die zufällig Zeuge werden konnten, wenn er sich vor der Haustür mit dem Kind unterhielt. Und das wäre der erste Schritt gewesen.
Auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte, er dachte unentwegt darüber nach, wie er vorgehen könnte, um das Mädchen unbemerkt ins Haus und hinauf in seine Wohnung zu bringen. Wie er es veranlassen könnte, nicht laut zu sprechen, damit die alleinstehende Frau nebenan nichts von diesem Besuch bemerkte. Wie er bestimmte Regeln aufstellte, damit das Kind ihn häufiger besuchen konnte.
4
Nach dem Tod des Mädchens aus meiner Schulklasse passierte jahrelang nichts. Kein Traum von dem Braunen und Großmutters Uhr, kein Tod in meiner Nähe. Dass es aufgehört hätte, glaubte ich nicht, obwohl mir oft einfiel, was mein Vater über den Zusammenhang mit der Pubertät gesagt hatte. Ich dachte eher, dass der Braune nicht mehr kam, weil ich keinen Menschen mehr hatte, den ich wirklich gerne mochte oder schrecklich vermisst hätte, wenn er nicht mehr da gewesen wäre. Außer meiner Schwester vielleicht, aber Anke nervte auch oft.
Großmutter lebte inzwischen in einem Pflegeheim. Da war sie ein Jahr nach Großvaters Tod eingezogen. Es hatte keinen Sinn mehr, sie zu besuchen. Meist hatte sie Angst vor mir. Wenn ich kam, schrie sie, beschimpfte mich und schlug nach mir, bis ich wieder vor der Tür stand.
Einmal brüllte sie die halbe Etage zusammen: »Du hast den Braunen ins Haus geholt. Habe ich dir nicht immer gesagt, er bringt uns nur Unglück? Jetzt sieh zu, dass du ihn wieder loswirst, bevor er uns alle ins Verderben reißt!«
Später kannte sie mich gar nicht mehr.
Nach der Schule begann ich eine Lehre in einem kleinen Lebensmittelladen. Mutter nahm die erstbeste Lehrstelle, die sich bot, ohne lange nach meinen Wünschen oder Neigungen zu fragen. Aber ich hatte ja auch keine Neigungen, nur Angst vor einem bestimmten Traum.
In dem Lebensmittelladen war noch ein älteres Lehrmädchen, Hedwig. Sie mochte mich, wäre gerne meine Freundin gewesen. Das wollte ich ihr nicht antun. Bei Hedwig habe ich mir sogar oft gewünscht, sie zu hassen, weil sie so nett war. Damit sie sich nicht länger um mich bemühte und mich in Ruhe ließ, erzählte ich ihr einmal von dem Traum und all den Toten.
Hedwig lachte und sagte: »Da sehe ich kein Problem. Sag mir einfach Bescheid, wenn der Braune da war. Wenn er die Uhr auf die Straße gelegt hat, lasse ich mich für eine Woche krankschreiben. Wenn er sie in ein Schlafzimmer getragen hat, schlafe ich ein paar Nächte lang auf dem Fußboden. Auf Baugerüste steige ich nie.«
Geglaubt hat sie mir nicht. Und nachdem sie wusste, warum ich ihr gegenüber so zurückhaltend war, komisch, sagte Hedwig dazu wie meine Mutter, gab sie sich noch mehr Mühe. Ich tat ihr leid, das war offensichtlich.
»Das kommt nur davon, dass du immer zu Hause hockst«, sagte sie. »Da würde ich auch verrückt. Du musst raus, Sigrid. Du musst unter Leute, dich amüsieren, das lenkt ab. Du brauchst einen Freund, der bringt dich schon auf andere Gedanken.«
Ich war sechzehn, hatte aber noch nicht an einen Freund gedacht. Ich hatte ja auch keine Gelegenheit, einen kennenzulernen. Hedwig drängte darauf, dass ich sonntags mal mit ihr ausgehen sollte. Sie hatte bereits einen Freund. Ich kannte ihn, weil er sie oft abends mit seinem Auto vom Geschäft abholte.
Sie würden mich gerne mitnehmen, sagte Hedwig. Und es würde doch höchste Zeit, dass ich mal etwas anderes zu sehen bekäme als immer nur das muffelige Gesicht meiner Mutter, meine grinsende kleine Schwester und die Kundschaft im Laden.
Ich wollte nicht wirklich und wünschte mir, Mutter würde es mir verbieten. Aber sie hatte nichts dagegen, und dann fuhr ich eben sonntags mit dem Bus nach Horrem. Hedwig hatte vorgeschlagen, dass wir zuerst ins Kino gehen, in die Nachmittagsvorstellung, und danach noch irgendwo in eine Diskothek. Um neun sollte ich wieder zu Hause sein.
»Das lohnt sich kaum«, sagte Hedwig. »Aber dann kannst du wenigstens schon mal schnuppern und weißt, wie es ist.«
Ich rechnete damit, dass sie mich am Bahnhof abholte, so hatten wir es verabredet. Als der Bus hielt, war sie noch nicht da. Ich wartete zehn Minuten oder eine Viertelstunde. Dann dachte ich, ich hätte sie vielleicht missverstanden. Das Kino war gleich gegenüber vom Bahnhof, also ging ich rüber und wartete dort.
Hedwig und ihr Freund kamen nicht. Tags darauf erzählte sie, dass sie sich gestritten hatten. Ich nehme an, ihr Freund war nicht einverstanden, mich mitzunehmen. Aber von dem Streit hörte ich erst am nächsten Tag. An dem Sonntagnachmittag glaubte ich, ihr wäre etwas zugestoßen.
Ihr Freund fuhr ganz schön wild, das hatte sie mir oft erzählt. Im Geist sah ich sie auf der Straße liegen, aus dem Wagen geschleudert, zugedeckt, tot. Ich konnte mich nicht erinnern, drei Tage vorher geträumt zu haben. Aber es wäre möglich gewesen, dass ich einmal zu fest geschlafen hatte. Wenn ich von einem Traum nicht aufwachte, erinnerte ich mich morgens auch nicht. Und ich hatte mal gelesen, dass man jede Nacht träumt.
Da stand ich vor dem Kino und hätte am liebsten geheult. Zur Kasse ging ich gar nicht erst, nur an den Schaukästen vorbei. Ich schaute mir Bilder an, obwohl ich kaum eins davon richtig sah. Und dann legte mir plötzlich jemand eine Hand auf die Schulter. Ich erschrak fürchterlich, drehte mich um und sah zuerst nur etwas Braunes. Es war wie ein Albtraum am hellen Tag.
Ich wollte schreien und bekam keinen Ton heraus. Jetzt kommt er schon persönlich und sagt mir ins Gesicht, wer diesmal dran glauben muss, dachte ich.
Dann hörte ich die Stimme, freundlich und bedächtig. »Was ist los? Du läufst hier herum wie bestellt und nicht abgeholt. Wollten sie dir keine Karte verkaufen? Mach dir nichts draus. Ich kenne den Film. Der ist nichts für kleine Mädchen.«
Es war Franz, der meine Lage richtig einschätzte, bestellt und nicht abgeholt. Er trug einen braunen Anzug und ein weißes Hemd dazu mit Krawatte.
»Habe ich dich erschreckt?«, fragte er und entschuldigte sich. »Tut mir leid, das wollte ich nicht.«
Dann gab er mir die Hand und stellte sich ganz förmlich vor. »Franz Pelzer.«
Hedwig war inzwischen fast eine Stunde über die Zeit. Dass sie noch käme, konnte ich mir nicht vorstellen. Franz glaubte das auch nicht. Er lud mich ein, damit ich nicht länger vor dem Kino herumlief und vergebens wartete. Und die Art, wie er das tat, ließ erst gar nicht den Verdacht aufkommen, er könnte Hintergedanken haben.
Wir fuhren zu einer Eisdiele, danach zu einer Diskothek. Dort tanzten wir auch ein paarmal. Ich konnte nicht tanzen, aber Franz war geduldig. Nicht einmal hat er mich ausgelacht. Abends brachte er mich mit seinem Auto heim. Pünktlich um neun ließ er mich vor unserem Haus aussteigen und machte nicht einmal den Versuch, mich zu küssen.
Mutter hatte gehört, dass vor dem Haus ein Auto anhielt, und vom Küchenfenster aus zugeschaut, wie ich ausstieg. Sie empfing mich bei der Tür mit einem Haufen Fragen. Wer war das und so weiter. Ich sagte, was ich wusste: seinen Namen, sein Alter, dass er von Beruf Fliesenleger war und gut verdiente. Das hatte er mir erzählt, als ich mein Eis selbst bezahlen wollte.
Ich dachte, Mutter würde mir verbieten, ihn wiederzusehen. Aber sie hatte nichts dagegen, im Gegenteil. Sie schien erleichtert und nickte augenblicklich, als ich fragte, ob ich mich am nächsten Sonntag wieder mit ihm treffen dürfte.
5
Im Januar 1992 sah der Mann das Mädchen häufiger vor dem Schaufenster stehen. Die Tiere hinter dem Glas wechselten, der Ausdruck auf dem Gesicht des Kindes wechselte ebenfalls. An manchen Tagen wirkte es verträumt und sehnsüchtig, an anderen missmutig wie ein nörglerisches altes Weib. Und manchmal lächelte es ihm entgegen, wenn es ihn kommen sah, hatte so ein Funkeln im Blick, Koketterie vielleicht. Wenn es ihn grüßte, grüßte er zurück, jedoch nur mit einem Kopfnicken im Vorbeigehen. Zwar spielte er unentwegt mit dem Gedanken, das Kind anzusprechen. Doch jedes Mal meldete sich augenblicklich der scharfe Verstand und hielt ihn davon ab, ein unnötiges Risiko einzugehen.
Um jeder Versuchung vorzubeugen, plante er für Ende Januar eine Fahrt. Er freute sich darauf, fieberte dem entsprechenden Wochenende entgegen. Aufgrund der feuchtkalten Witterung fuhr er jedoch vergebens, kam deprimiert und nervös zurück.
Und montags stand das Kind wieder vor der Tierhandlung. Da grüßte er zum ersten Mal mit ein paar belanglosen Worten und erwiderte das Lächeln. Und ein paar Tage später sprach er das Mädchen an. Es war niemand in der Nähe, darauf achtete er.
An dem Tag saß das Kind auf der Stufe vor dem Hauseingang; neben sich einen Beutel, der mit Spielzeug und Schulsachen gefüllt war. Es spielte mit einer von diesen grässlichen Puppen, die mit Brüsten, Wespentaille und ihren abnorm langen Schenkeln nur dem Schönheitsideal ihres Schöpfers entsprechen konnten.
Das Kind schälte mit wahrer Hingabe den unnatürlich geformten Puppenkörper aus einem rosafarbenen Minirock und einem knappen Oberteil, um ihn in einen schwarzen Badeanzug zu zwängen. Dann fuhr es mit einem winzigen Kamm durch die gelb gelockten Plastikfäden, die den Puppenkopf wie ein verfilztes Strohbündel umgaben.
Während er näherkam, schielte das Mädchen ihm mit einem Auge entgegen, was ihm nicht entging. Er wusste, es wartete nur darauf, dass er sich endlich ein paar Minuten Zeit für eine Unterhaltung nahm. Es kam längst nicht mehr wegen der Tiere im Fenster, da war er sicher.
»Sie wird sich in dem Badeanzug einen Schnupfen holen«, sagte er und zog den Schlüssel aus der Jackentasche.
Das Mädchen richtete sich auf und trat einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu machen. Die Puppe blieb achtlos am Boden liegen. »Ich spiele doch Sommer«, erwiderte es. »Mit der kann man nichts anderes spielen. Das ist eine Malibu-Barbie. Die liegt immer nur am Strand in der Sonne.«
Es bückte sich, hob die Puppe auf und streckte sie ihm entgegen, wobei es mit der Hand den gesamten Rumpf umschloss.
Sie war schmutzig, diese Hand. Ihm fiel auch auf, wie ärmlich und abgetragen die Kleidung des Kindes war. Die Jacke war zu knapp, spannte über der flachen Brust. Dazu trug es eine Hose aus dünnem, flattrigem und sehr buntem Stoff. Die war zu eng in den Hüften. Deutlich konnte er die Abschlusskanten eines Unterhöschens ausmachen.
Er blieb ein paar Minuten vor der bereits geöffneten Haustür stehen, bereit, sofort in den Flur zu treten, falls sich ein Passant nähern sollte oder jemand die Treppen herunterkam. Dabei musterte er das Kind aufmerksam, ließ den Blick über die mageren Oberschenkel streifen.
»Wohnst du in der Nähe?«, fragte er.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Und warum spielst du dann ausgerechnet hier vor der Tür?«, fragte er weiter. »Ich sehe dich beinahe jeden Tag.«
Das Kind senkte den Blick und zuckte mit den Achseln, als wolle es sagen, das geht dich nichts an. Aber dann antwortete es doch: »Ich warte auf meinen Freund.«
Eine glatte Lüge, das wusste er sofort. Es gab keine Kinder im Haus und in der Nachbarschaft auch keine, die altersmäßig zu dem Mädchen gepasst hätten. Er lächelte, verlieh seiner Stimme aber einen Ton von Strenge. »Warum wartest du dann nicht vor der Tür deines Freundes?«
Nun kaute das Kind auf seiner Unterlippe. Vor Verlegenheit, wie ihm schien, weil er es bei einer Lüge ertappt hatte. Doch dann hob es das Gesicht wieder, schaute ihm mit einem Ausdruck von Trotz in die Augen und erklärte: »Mein Freund wohnt doch hier, ganz oben unterm Dach.«
Da ging ihm ein Licht auf. Skopka, der sich in seiner Mansarde mit allem amüsierte, was ihm vor die Flinte geriet, offenbar ungeachtet des Alters. Es machte ihn wütend, dass der ewige Student ihm zuvorgekommen war. Nun verfluchte er sich für sein Zögern und die übergroße Vorsicht.
»Jetzt weiß ich, wen du meinst«, sagte er. »Da wäre ich an deiner Stelle aber vorsichtig. Sonst hat dich eines Tages die Polizei beim Wickel. Die war schon oft bei ihm. Einmal haben sie ein Mädchen mitgenommen, das mag in deinem Alter gewesen sein. Ich habe es selbst gesehen.«
Das Kind starrte ihn an, anstelle von Trotz deutliches Erschrecken im Blick. Er fragte sich, ob es sich jetzt wohl noch trauen würde, Skopka im Dachgeschoss zu besuchen und vielleicht nach der Polizei zu fragen.
Er lächelte wieder, gütig diesmal und voller Verständnis. »Davon hat er dir wohl nichts erzählt, was?«
Als das Kind daraufhin erneut den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Das wird er auch garantiert nicht tun. Da würde er dich ja vergraulen. Oder etwa nicht? Möchtest du auch von der Polizei bei ihm abgeholt und nach Hause gebracht werden? Aber ich glaube, das tun sie gar nicht mehr. Sie bestellen inzwischen die Eltern auf die Wache, damit die ihre Kinder abholen und sich auch gleich eine Strafpredigt anhören können.«
Darauf bekam er keine Antwort, nur einen seltsamen Blick, fast so, als versuche es, ihn einzuschätzen.
Wo nun der Anfang gemacht war, fragte er: »Hat deine Mutter dir noch nie gesagt, wie gefährlich es ist, wenn man zu einem Mann in die Wohnung geht? Was da alles passieren kann, sollte eine Mutter einem Mädchen in deinem Alter eigentlich schon längst erklärt haben.«
Das Kind schluckte nur trocken und schwieg.
Er ließ es stehen, trat endlich in den Hausflur, ging zur Treppe, stieg hinauf in seine Wohnung. Und den ganzen Abend verfolgten ihn die mageren Schenkel und die Dreckränder unter den Fingernägeln des Kindes.
Er stellte sich vor, er hätte es mit hinaufgenommen. Hätte ein Bad eingelassen. Seine Tochter hatte er in den ersten Jahren oft gebadet. Es war immer ein Vergnügen gewesen, für sie beide. Auch wenn seine Frau und der junge Kerl, den sie sich aufgabelte, nachdem sie ihn vor die Tür gesetzt hatte, später das Gegenteil behaupteten.
Von da an ging er systematisch vor. Dass das Haus in einer ruhigen Seitenstraße lag, kam ihm dabei gelegen. Und er hatte das Mädchen richtig eingeschätzt, es kam der deutlichen Warnung zum Trotz wieder. Mindestens dreimal die Woche stand es vor dem Schaufenster.
Dass es von drinnen gesehen wurde, war auszuschließen, weil sich weder Skopka noch sein anfälliger Onkel im Laden aufhielten. Es gab noch ein kleines Hinterzimmer mit einem Fernsehgerät, von dort kamen sie in der Regel nach vorne, wenn die Türklingel angeschlagen hatte. Und selbst dann dauerte es noch, als sollte gewährleistet sein, dass die Kundschaft sich erst mal ungestört anschaute, was sie zu kaufen gedachte.
Wenn auf der Straße niemand zu sehen war, unterhielt er sich ein paar Minuten mit dem Kind. So erfuhr er, dass es täglich einen weiten Weg auf sich nahm. Angeblich kam es aber nur noch, um nach den Kaninchen im Schaufenster zu sehen.
»Ich mag Kaninchen sehr gerne«, sagte es einmal und behauptete: »Früher hatte ich selbst welche, sogar sehr viele.«
Er ging nicht davon aus, dass es grundsätzlich die Wahrheit sagte. Wie die meisten Kinder neigte es wahrscheinlich zu Übertreibungen. Aber er meinte, am Tonfall und an der Mimik recht gut abschätzen zu können, wann er belogen wurde und wie es um die Wirklichkeit bestellt war. So zeigte sich ihm bald ein recht klares und für ihn günstiges Bild.
Erst Ende des vergangenen Jahres war das Kind mit seiner Mutter in die Stadt gezogen. Nur mit der Mutter, die mit dem Vater nichts mehr zu tun haben wollte. Vorher hatten sie bei den Großeltern in einem Dorf gelebt. Mit der neuen Umgebung tat es sich schwer. Die Nachbarn fand es doof, es gab viele Kinder, aber die meisten sprachen kein Deutsch und blieben unter sich.
Deshalb hatte es die ersten Wochen genutzt, um woanders Anschluss zu finden, hatte Kreise gezogen, weiter und weiter. Kinder in seinem Alter, mit denen es sich hätte anfreunden können, hatte es nicht gefunden, nur das Schaufenster entdeckt. Und seitdem wurde es davon wie magisch angezogen.
Schon nach wenigen Tagen hatte Skopka es angesprochen, und es war dem ewigen Studenten bereitwillig hinauf ins Dachgeschoss gefolgt, um sich aufzuwärmen. Die Jahreszeit war nicht danach, stundenlang im Freien herumzulaufen oder irgendwo zu stehen. Skopka hatte ihm wohl auch ein paar Aufgaben für die Schule erklärt, jedoch gleich dazu gesagt, dass er nicht noch mal umsonst helfen könne, weil er mit Nachhilfe sein Studium finanzierte und seinen Lebensunterhalt bestritt.
Das Kind erzählte gerne und ausschweifend. Und ihm gefiel, was er hörte. Es war allein bis zum Abend. Die Mutter arbeitete den ganzen Tag, kam erst lange nach sieben Uhr heim und donnerstags noch später. Wenn sie einen freien Tag hatte, waren andere Dinge zu erledigen, der Haushalt und Behördengänge. Für das Kind war auch dann keine Zeit. Es gab nur ständig Ermahnungen, wie dies und jenes zu tun sei und was es alles zu lassen hätte.
Hin und wieder dachte er daran, mit dem Mädchen einen Treffpunkt weitab von seiner Wohnung zu vereinbaren. Sie hätten in seinem Wagen spazieren fahren können. Das wäre eine gute Lösung gewesen. Er hätte beim geringsten Anlass zur Besorgnis die Konsequenzen ziehen können.
Doch was ihm vorschwebte, war nicht eine kurze Beziehung. Der alte Traum hatte ihn wieder gepackt, ein Kind um sich zu haben wie damals seine Tochter. Tag für Tag! Und nachts immer in erreichbarer Nähe. Ein Kind, das ihm vertraute, das genau wusste, er wollte ihm nichts Böses. Für die Nächte musste das ein Traum bleiben, das war ihm bewusst, aber für die Tage …
Wenn es auf ein Wochenende zuging, nahm er sich fest vor, diesmal zu einer Fahrt aufzubrechen. Immer sagte er sich, dass es ihn für einige Zeit beruhigen würde, dass er mit dem Mädchen ja ohnehin nichts im Sinn hätte. Weil da die Nachbarn waren, die leicht etwas hören oder sehen könnten, weil das Kind selbst wahrscheinlich das größte Risiko darstellte.
Doch wenn dann der Samstag kam, konnte er sich nicht aufraffen und fand alle möglichen Ausreden. Dass es noch zu kalt war oder zu feucht, dass er wieder vergebens fahren würde, weil bei solchem Wetter keine jüngeren Kinder unbeaufsichtigt im Freien spielten.
Er machte sich selbst etwas vor und ahnte das auch. In Wahrheit saß ihm das Mädchen bereits tief in den Knochen. Und montags war es wieder da. Und dienstags, mittwochs, donnerstags, freitags. Wenn er von der Arbeit kam, schaute es ihm entgegen, wartete jedes Mal darauf, dass er stehen blieb und eine Unterhaltung begann.
Ende Februar riskierte er es. Eigentlich wollte er das gar nicht, hatte den Tag über in der zugigen Lagerhalle gearbeitet, war durchgefroren und steif von der Kälte. Auf dem Heimweg hatte er noch rasch ein paar Einkäufe gemacht und im Laden die alleinstehende ältere Frau aus der Nachbarwohnung getroffen. Daher wusste er, dass sie jetzt nicht daheim war, folglich auch nicht hören könnte, wenn er zusammen mit dem Kind die Treppen heraufkäme.
»Ist dir eigentlich nicht kalt?«, fragte er im Vorbeigehen und zog wie immer den Schlüssel aus der Tasche des winterlich gefütterten Parkas. »Wenn ich stundenlang auf der Straße stehen müsste, wäre ich völlig durchgefroren.«
»Ein bisschen«, erwiderte das Mädchen, zog wie zum Beweis die Schultern enger zusammen und trat von einem Fuß auf den anderen.
Er lächelte wie ein gütiger Großvater und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, ehe er sich erkundigte: »Du wartest doch hoffentlich nicht wieder auf deinen Freund von oben?«
Das Kind schüttelte heftig den Kopf. »Zu dem gehe ich nicht mehr. Meine Mutter würde mich totschlagen, wenn sie mich bei der Polizei abholen müsste.«
Damit war klar, dass es auf ihn wartete. »Möchtest du für eine halbe Stunde mit mir hinaufkommen?«, fragte er, während er den Schlüssel ins Schloss steckte. »Du könntest dich aufwärmen, ehe du dich auf den Heimweg machst.« Mit einem verschmitzten Lächeln fügte er hinzu: »Du wirst aber mit mir alleine vorliebnehmen müssen, Kaninchen halte ich keine in der Wohnung.«
Das Kind lachte, warf dem Schaufenster noch einen Blick zu und sagte: »Das macht nichts, ich hab ja schon gesehen, dass es den Kaninchen gut geht.« Dann folgte es ihm ins Haus.
6
Franz war zwölf Jahre älter als ich und einen Kopf größer. Er war ruhig, vernünftig, zuverlässig, erwachsen eben und genauso, wie ich damals einen Menschen brauchte, ein bisschen Vater und ein bisschen Freund. Anfangs glaubte ich, der Himmel hätte ihn mir geschickt, mein Schutzengel vielleicht, mein Vater oder Großvater. Irgendeiner da oben, der es gut mit mir meinte und nicht wollte, dass ich noch länger allein war.
Bei Franz fand ich, was es zu Hause für mich schon lange nicht mehr gab. Einen Menschen, der sich kümmerte, um mich sorgte, dem es wichtig war, dass es mir gut ging. Er sagte einmal: »Für deine Mutter bist du ein Buch mit sieben Siegeln. Du hast was an dir, Siggi. Ich weiß nicht, was es ist, und mich stört es auch nicht. Aber sie wird damit nicht fertig, deshalb ist sie so fies zu dir.«
Franz konnte alles erklären, sogar das. Und außer meinem Vater war er der Einzige, der mich Siggi nannte. Ich mochte das. Es gab mir das Gefühl, dass ich noch viel Zeit hätte mit dem Erwachsenwerden.
Drei Wochen nach meinem achtzehnten Geburtstag haben wir geheiratet. »Der schönste Tag in meinem Leben«, heißt es. Das war der Tag tatsächlich, obwohl ich ein bisschen Angst hatte, nicht vor dem Leben als Frau Pelzer, nur vor der Hochzeitsnacht. Wir hatten noch nicht miteinander geschlafen, obwohl Franz mit seinen dreißig Jahren nun wirklich alt genug war. Aber er war katholisch erzogen, ging samstags zur Beichte und sonntags zum Hochamt und hielt Sex vor der Ehe vielleicht nicht direkt für eine Sünde, aber auch nicht für etwas, was man unbedingt in einem Auto auf einem Feld- oder Waldweg tun musste.
Hedwig erzählte mir regelmäßig, wie toll es mit ihrem Freund war. Wenn der sie abends von der Arbeit abholte, fuhr er immer mit ihr an ein einsames Fleckchen. Dann küsste er sie überall, probierte verschiedene Stellungen aus und meist konnte er zweimal hintereinander.
Franz hatte mir noch nicht mal unter den Pullover gefasst, geschweige denn das Höschen ausgezogen. Ich weiß noch, einmal fuhren wir sonntags zur Burg Eltz. Auf der Heimfahrt bog er von der Straße ab und fuhr ein Stück in den Wald hinein. Dann stellte er den Motor ab, drehte sich zu mir. Ich dachte schon, jetzt kommt es. Aber er wollte nur ein bisschen schmusen und wissen, wie mir unser Ausflug gefallen hatte.
Ich rutschte auf dem Beifahrersitz hin und her, bis mein Rock sich wie von selbst in die Höhe schob. Er zog ihn mir wieder über die Knie, lächelte und sagte: »Das heben wir uns für später auf, Siggi. Das erste Mal ist etwas Besonderes. Da sollte auch die Umgebung etwas Besonderes sein, auf jeden Fall bequemer als ein Autositz. Und wenn wir damit warten, wird die Hochzeitsnacht umso schöner.«
Vielleicht hatte er recht, was ihn betraf. Aber bei mir hatte sich da einiges aufgestaut, so eine Erwartungshaltung, dass die Hochzeitsnacht ein einmaliges Erlebnis wäre.
Mutter predigte mir immerzu, ich solle mir nicht einbilden, mit einem Mann zu schlafen sei so schön, wie es in Zeitschriften und Romanen beschrieben wurde. Es sei im Gegenteil ganz fürchterlich. Sie hätte immer Schmerzen gehabt und wäre froh gewesen, wenn mein Vater sie nicht zu oft belästigt hätte. Wahrscheinlich hielt sie solche Vorträge für eine sichere Methode der Empfängnisverhütung. Aber da hätte sie sich bei Franz keine Sorgen machen müssen.
Hedwig behauptete das Gegenteil und bezeichnete Frauen wie meine Mutter als prüde, verklemmte alte Schachteln, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten und sich die größte Mühe gaben, ihren Töchtern jeden Spaß zu vermiesen.
Mit achtzehn glaubte ich Hedwig entschieden mehr als meiner Mutter. Ich hatte keine Angst vor Schmerzen. Ich befürchtete eher, dass ich mich zu dumm anstellte und irgendwas tat, was Franz nicht mochte, weil ich doch überhaupt keine Erfahrung hatte. Oder dass ich ihm nicht gefiel, wenn er mich nackt sah. Hinzu kam, dass Hedwig mich mit der Zeit doch ziemlich verunsichert hatte.
Dass Franz warten wollte, bis wir verheiratet waren, war für sie ein Grund zu lästern. Einmal sagte sie: »Vielleicht steht er auf Jungs und sucht nur eine Dumme zum Heiraten, damit es nicht auffällt.« Und ein andermal: »An deiner Stelle würde ich ihm mal zwischen die Beine greifen. Vielleicht stellt sich dabei heraus, dass er nichts in der Hose hat, womit er dir eine Freude machen könnte.«
Hedwig mochte Franz nicht. Sie meinte, er sei zu alt für mich und viel zu spießig. Als er mich abends mal vom Geschäft abholte, fragte sie: »Wo fahrt ihr denn jetzt hin? Liefert er dich sofort bei deiner Mutter ab oder will er noch ein bisschen Händchenhalten? Vielleicht hast du Glück, und er fasst dir heute endlich mal ans Knie. Das wäre doch schon ein Fortschritt.« Und dann sagte sie: »Ich versteh den Typ nicht, Sigrid. Wer kauft denn heute noch die Katze im Sack?«
Ich hätte es wahrscheinlich nicht tun sollen, aber ich sprach mit Franz darüber, nicht so direkt, nur in Andeutungen. Es war doch sonst keiner da, mit dem ich über Hedwigs Lästerei reden konnte. Und manchmal wünschte ich mir, er würde mir wenigstens mal die Bluse aufknöpfen und in den BH fassen.
Wenn ich nur daran dachte, spürte ich ein Kribbeln und mir wurde ganz warm im Bauch. Manchmal, wenn ich abends nicht einschlafen konnte, stellte ich mir vor, wie es wäre. Dann streichelte ich mich selbst, schämte mich anschließend dafür und fand meinen Busen viel zu klein.
Schon deshalb wäre es mir lieb gewesen, wenn Franz meine Brüste vor der Hochzeit mal angefasst und gesagt hätte, dass er sie schön findet oder genau richtig, dass er gar nicht auf große Brüste steht oder so.
Zur Hochzeit schenkte Hedwig mir ein Negligé, weinrot, sehr kurz, ganz aus Spitze, fast durchsichtig. »Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob wir den Typ damit auf Touren bringen«, sagte sie und grinste. »Sonst wird das am Ende wieder nichts.«
Ich musste ihr in die Hand versprechen, das Negligé anzuziehen. Versprochen habe ich es, angezogen habe ich es nicht. Als Franz das weinrote Nichts auf dem Bett liegen sah, wollte er wissen, von wem ich es hätte. Als ich ihm das sagte, wurde er richtig wütend.
»Das sieht ihr ähnlich«, sagte er. »Soll sie das Ding doch selbst anziehen, wenn ihr so ein Fummel gefällt oder ihr Freund so etwas braucht. Ich brauche das nicht, Siggi. Ich mag dich so, wie du bist. Zieh eins von deinen Nachthemden an. Darin gefällst du mir garantiert genauso gut wie im Brautkleid.«