Der Strand: Die Trilogie (3in1-Bundle): Die ersten drei Romane in einem Band - Karen Sander - E-Book

Der Strand: Die Trilogie (3in1-Bundle): Die ersten drei Romane in einem Band E-Book

Karen Sander

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Beschreibung

Eine junge Frau verschwindet spurlos.      Jeder in ihrem Heimatort hat ein Geheimnis.            Doch wer würde töten, um es zu schützen? Die gehörlose 19-jährige Lilli Sternberg verschwindet spurlos auf dem Weg zum Strand. Die Polizei unter der Leitung von Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt durchkämmt sofort die gesamte Umgebung: den Strand, den Ort Sellnitz, in dem Lilli bei ihren Großeltern lebt, das Hinterland. Ohne Ergebnis. Die einzige Spur ist Lillis letzte Handy-Nachricht an eine Freundin: das Foto einer in den Sand gemalten, scheinbar wahllosen Zeichenfolge. Engelhardt bekommt Hilfe von der Kryptologin Mascha Krieger vom LKA. Doch die Ermittler tappen im Dunkeln: Wurde Lilli entführt, und bei dem Foto handelt sich um eine Botschaft des Täters? Hat Lilli selbst eine Art codierten Abschiedsbrief verschickt? Hat die Schrift im Sand überhaupt etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Drei Thriller, ein großer Fall: Die packende Ostsee-Trilogie von Bestsellerautorin Karen Sander.

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Karen Sander

Der Strand: Die Trilogie (3in1-Bundle): Die ersten drei Romane in einem Band

 

 

 

Über dieses Buch

Eine junge Frau verschwindet spurlos.

Jeder in ihrem Heimatort hat ein Geheimnis.

Doch wer würde töten, um es zu schützen?

 

Die gehörlose 19-jährige Lilli Sternberg verschwindet spurlos auf dem Weg zum Strand. Die Polizei unter der Leitung von Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt durchkämmt sofort die gesamte Umgebung: den Strand, den Ort Sellnitz, in dem Lilli bei ihren Großeltern lebt, das Hinterland. Ohne Ergebnis. Die einzige Spur ist Lillis letzte Handy-Nachricht an eine Freundin: das Foto einer in den Sand gemalten, scheinbar wahllosen Zeichenfolge. Engelhardt bekommt Hilfe von der Kryptologin Mascha Krieger vom LKA. Doch die Ermittler tappen im Dunkeln: Wurde Lilli entführt, und bei dem Foto handelt sich um eine Botschaft des Täters? Hat Lilli selbst eine Art codierten Abschiedsbrief verschickt? Hat die Schrift im Sand überhaupt etwas mit ihrem Verschwinden zu tun?

 

Drei Thriller, ein großer Fall: Die packende Ostsee-Trilogie von Bestsellerautorin Karen Sander.

Vita

Karen Sander arbeitete als Übersetzerin und unterrichtete an der Universität, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie hat über die britische Thriller-Autorin Val McDermid promoviert. Ihre Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und haben allein bei Rowohlt eine Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren. Mit ihrem Mann lebt sie sechs Monate im Jahr in ihrer Heimatstadt Düsseldorf. Die anderen sechs Monate reist sie durch die Welt und schreibt darüber in ihrem Blog.

Mehr unter: writearoundtheworld.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright © 2022, 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg, nach den Entwürfen von Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung mrs/Getty Images; Shutterstock; iStock

ISBN 978-3-644-02113-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Sellnitz auf dem Darß, im April

Cornelia zog die Lippen nach und betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken. Das leuchtende Rot betonte ihre helle Haut. Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz. In der Schule war sie das Schneewittchen gewesen. Irgendwann war daraus Ewi geworden, bis niemand mehr wusste, wofür die Abkürzung stand. Sie war gern Ewi gewesen, es war ein schöner, starker Name. Heute nannte sie niemand mehr so, Ewi gab es nicht mehr.

Cornelia griff sich in die schwarzen Haare. Sollte sie sie hochstecken? Zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden? Eigentlich trug sie die Haare am liebsten offen, doch am Strand ging immer Wind, sie wäre ständig damit beschäftigt, Strähnen aus dem Gesicht zu streichen.

Sie ließ die Arme sinken. Offen, entschied sie. Und kein Lippenstift. Das Rot war zu nuttig – zumindest hier, so weit weg von Berlin. Sie riss ein paar Blätter Toilettenpapier ab, wischte die Farbe weg. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete sich von allen Seiten. Sie hatte lange überlegt, was sie anziehen sollte, und sich schließlich für ihr türkisfarbenes Strickkleid, eine graue Strumpfhose und die halbhohen Boots entschieden. Im Augenblick schien die Sonne, doch sie würde ihre Regenjacke mitnehmen. Hier an der Küste konnte das Wetter innerhalb von wenigen Minuten umschlagen.

Mit zittrigen Fingern strich sie das Kleid glatt. Warum nur war sie so nervös? Dafür gab es überhaupt keinen Grund. Alles würde gut werden. Schließlich kannten sie sich schon ein wenig, hatten sich lange Mails geschickt, sogar einmal kurz miteinander telefoniert. Cornelia hatte von Anfang an gespürt, dass es zwischen ihnen eine besondere Verbindung gab.

Lilli quäkte. Cornelia hatte die Wippe mit ihrer Tochter auf der Wickelkommode abgestellt.

«Mama ist gleich fertig, Schatz», sagte sie mit sanfter Stimme und packte die Schminksachen weg.

Dann besann sie sich, beugte sich vor und streichelte Lilli behutsam über den Kopf. Noch immer vergaß sie manchmal, dass ihr Kind sie nicht hören konnte.

Wenn sie daran dachte, wie häufig sie Lilli in den ersten Wochen mit Worten vertröstet hatte, weil sie nicht sofort an ihr Bettchen eilen konnte, wurde ihr das Herz schwer. Sie hatte sich darauf verlassen, dass der Klang ihrer Stimme Lilli beruhigte, ihr die Gewissheit gab, dass ihre Mama ganz in der Nähe war.

Der Verdacht, dass etwas nicht stimmte, war Cornelia zum ersten Mal gekommen, als Grit in der Küche einen Teller hatte fallen lassen und das schlafende Baby auf Cornelias Schoß nicht einmal gezuckt hatte. Daraufhin hatte sie es ausprobiert. Sie hatte die Musik laut gestellt, Lillis Namen gerufen, während sie schlief, ganz dicht an ihrem Ohr. Und schließlich neben ihrem Kopf mit dem Kochlöffel auf einen Topfboden geschlagen. Doch Lilli hatte nicht reagiert.

Der Arzt hatte ihren Verdacht bestätigt: Ihre zauberhafte, wunderschöne kleine Tochter war taub. Es war ein Schock gewesen, aber es hatte ihre Zuneigung zu Lilli noch vergrößert. Niemals hätte sie gedacht, dass sie das Kind, das sie nie haben wollte, so sehr lieben würde. Das Kind, das ihr die Zukunft verbaut, sie gezwungen hatte, von Berlin auf den Darß zurückzukehren, in ihr Elternhaus in Sellnitz.

Lilli bedeutete ihr alles, sie war ihr großes, unerwartetes Glück. Lilli hatte sie auch dazu gebracht, über ihr Leben nachzudenken, sich damit auseinanderzusetzen, woher sie kam und wohin sie wollte. Letztlich hatte sie sogar die heutige Verabredung ihrer kleinen Tochter zu verdanken.

Cornelia nahm Lilli aus der Wippe und wiegte sie sacht. Obwohl ihre Tochter sie nicht hören konnte, summte sie leise. Vielleicht spürte Lilli die Schwingungen. Cornelia überlegte, ob sie Lilli mitnehmen sollte. Sie hatte schließlich erzählt, dass sie eine Tochter hatte.

Doch sie entschied sich dagegen. Manchmal fing Lilli aus unerfindlichen Gründen zu weinen an und ließ sich nur schwer beruhigen. Später wäre das sicherlich kein Problem, aber beim ersten Treffen sollten sie sich Zeit füreinander nehmen können. Es war ja alles neu und fremd.

Sie waren zu einem Strandspaziergang verabredet, nicht in Sellnitz, sondern am Weststrand, wo um diese Jahreszeit bis auf ein paar hungrige Möwen selten jemand war. Cornelia wollte keine Zeugen, niemanden, der ihr Gespräch belauschte. Sie hätte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, angestarrt zu werden, auch wenn sie sich noch so sehr einredete, dass es vollkommen irrational war.

Lilli war auf ihrem Arm eingeschlafen. Cornelia griff mit der freien Hand nach ihrer Handtasche und stieg die Treppe hinunter. Der Kinderwagen stand im Flur. Sie legte ihre Tochter hinein, deckte sie behutsam zu und betrachtete sie. Wie groß sie schon war, wie sehr sie sich bereits verändert hatte! Erst fünf Monate alt, und doch war von dem zerknitterten Neugeborenen nichts mehr zu sehen. Lilli hatte dunkle Haare wie sie selbst, aber nicht ihre blasse Haut. Schon jetzt war zu erkennen, dass sie den dunklen Teint ihres Vaters geerbt hatte. Gegenüber Grit und Walter hatte Cornelia behauptet, nicht zu wissen, wer Lillis Vater sei. Ein One-Night-Stand, einer der vielen Typen, die in Berlin das Bett mit ihr geteilt hatten. Eine Lüge. Eines Tages, wenn die Zeit reif war, würde sie Lilli die Wahrheit erzählen.

Cornelia sah auf die Uhr. Zeit aufzubrechen. Sie ging in die Küche. Grit war nicht da, aber die Hintertür stand offen, und eine Vase wartete auf der Spüle, also war sie im Garten, um frische Blumen zu schneiden. Narzissen und Tulpen. Den Frühling ins Haus holen, nannte sie es.

Die Vase war ein Familienerbstück der Sternbergs, irgendein Vorfahr, der im Kaiserreich Oberschulrat gewesen war, hatte sie von seiner Hochzeitsreise aus Venedig mitgebracht. Die Sternbergs waren immer schon vermögend gewesen. Und gut vernetzt, sie hatten es verstanden, sich mit dem jeweiligen System zu arrangieren. Das galt auch für Walter, der bereits in der zweiten Amtszeit Bürgermeister von Sellnitz war. Nicht, dass Cornelia ihn verurteilte. Dafür nicht. Zumal es durchaus Vorteile hatte, die Tochter des Bürgermeisters zu sein.

Walter liebte sie, daran zweifelte sie nicht. Und er liebte Lilli. Grit ebenfalls. Beide waren verrückt nach ihrem Enkelkind. Sie würden alles für die Kleine tun. Und seit sie wussten, dass das Kind besondere Bedürfnisse hatte, schienen auch sie es noch mehr ins Herz geschlossen zu haben.

Cornelia spähte aus dem Fenster und entdeckte Grit im Tulpenbeet. Sie trug ein buntes Tuch wie einen Turban um den Kopf geschlungen und den Mantel mit dem Fuchskragen. Cornelia erinnerte sich an den erbitterten Streit, als sie Grit vorgeworfen hatte, dass ihretwegen sinnlos Tiere abgeschlachtet wurden. Sie war dreizehn Jahre alt gewesen und voller Zorn. Grit hatte sie als undankbar beschimpft, und Walter hatte ihr eine Ohrfeige verpasst, was Cornelia zutiefst verletzt hatte. Nie zuvor hatte er die Hand gegen sie erhoben. Damals war Cornelia zum ersten Mal von zu Hause fortgelaufen. Sehr weit war sie nicht gekommen.

Sie klopfte an die Scheibe, Grit drehte sich um, lächelte und winkte. Der Anblick versetzte Cornelia einen Stich. Sie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Sie wollte ihre Eltern nicht hintergehen, aber sie hatte keine Wahl. Sie würde ihnen die Wahrheit erzählen. Sehr bald schon. Doch zuerst musste sie herausfinden, was das alles für sie selbst bedeutete.

19 Jahre später

Donnerstag, 5. September

Sellnitz, am Nachmittag

«Was hältst du von Chicken Nuggets?»

«Ist da Fleisch drin?»

«Ja.»

«Ich will kein Fleisch essen.»

Tom seufzte. Wenn seine Tochter schon im zarten Alter von fünf Jahren so klare Ansagen machte, was bedeutete das wohl für die Zukunft? Würde sie als Nächstes verlangen, dass er das Auto abschaffte? Oder eigenes Gemüse im Garten anbaute? Er warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Fleischtheke. Er war ausgehungert und hätte nichts gegen ein saftiges Rumpsteak einzuwenden gehabt, aber er fügte sich. «Also gut. Dann nehmen wir die hier. Vegetarische Knusperschnitzel und dazu Nudeln, in Ordnung?»

«Cool.» Romy hielt den Daumen hoch.

Tom legte die Packung in den Einkaufswagen, suchte schnell noch die Sachen zusammen, die sie fürs Frühstück brauchten, Milch, Cornflakes und Honig, und dirigierte Romy zur Kasse.

Fünf Minuten später lenkte er den ausrangierten Polizeibus aus der Parklücke. Als sie sich in den Verkehr eingefädelt hatten, sah er Romy an, die in ihrem Kindersitz neben ihm saß. «Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie es im Kindergarten war.»

«Gut.» Romy schaute aus dem Seitenfenster.

Tom runzelte die Stirn. «Wirklich?»

Sie zuckte mit den Schultern.

«Hat dieser Junge dich wieder geärgert?»

Sie antwortete nicht.

«Romy, bitte rede mit mir.»

«Ein bisschen.» Romy sah noch immer nach draußen. «Aber Nicole hat mit ihm geschimpft, und er hat sich entschuldigt.»

Tom lächelte erleichtert. «Dann ist ja alles gut.»

Auf dem kurzen Weg nach Hause kamen sie am Polizeirevier vorbei, das in einer ehemaligen Kapitänsvilla mit grün gestrichener Fassade untergebracht war. Die Nachmittagssonne schien in den Vorgarten, in dem die letzten Rosen blühten. Ohne die beiden Streifenwagen in der Einfahrt hätte man es für ein normales Wohnhaus halten können.

Zwei uniformierte Kollegen traten gerade nach draußen und stiegen in ein Fahrzeug. Tom erkannte Babyface und Senior. Anfangs war er befremdet gewesen wegen der Spitznamen, doch alle Beamten des kleinen Reviers trugen ihren Namen mit Stolz. Auch Laurel und Hardy. Er warf einen Blick auf die Uhr. Bald war Zeit für die Razzia.

Heute Abend sollten in ganz Mecklenburg-Vorpommern zeitgleich Hausdurchsuchungen durchgeführt werden. Das LKA hatte auf dem Handy eines Verdächtigen eine Liste mit Dealern und Drogenverstecken gefunden. Hier in Sellnitz ging es jedoch nur um einen kleinen Fisch, dafür brauchten sie Tom nicht.

Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl. Seine neuen Kollegen waren unerfahren, das größte Verbrechen, das sie in den vergangenen Jahren aufgeklärt hatten, war eine Einbruchserie in Ferienhäuser gewesen. Und bei einer Razzia konnte jederzeit etwas Unerwartetes passieren. Aber er musste lernen loszulassen. Und sich um seine Tochter kümmern.

Kaum waren sie zu Hause, verzog Romy sich in ihr Zimmer und kam erst wieder heraus, als Tom sie zum Essen rief. Die vegetarischen Schnitzel schmeckten überraschend gut, doch Romy stocherte nur lustlos auf ihrem Teller herum. Tom befürchtete, dass sie ihm nicht die volle Wahrheit gesagt hatte, was den Vorfall im Kindergarten betraf, aber er wollte sie nicht bedrängen. In Berlin hatte sie keine Schwierigkeiten gehabt, sich zu behaupten. Sicherlich brauchte sie einfach mehr Zeit, um sich einzugewöhnen.

In Momenten wie diesen vermisste er Inga am allermeisten. Sie hätte die richtigen Worte gefunden, um Romy Mut zu machen. Oder sie hätte ihre Tochter einfach in die Arme genommen und getröstet, mit ihr herumgealbert, ihr vorgelesen. Inga hatte immer gewusst, was Romy brauchte. Tom hingegen hatte das Gefühl, alles falsch zu machen.

Das Handy klingelte, als er gerade die Teller wegräumte. Es war sein Kollege Paul Hendricks.

«Was gibt es, Paul? Keine Probleme bei der Razzia, hoffe ich?»

«Alles bestens. Viel gefunden haben wir allerdings nicht. Zwanzig Gramm Gras und ein paar Pillen. Aber deshalb rufe ich nicht an. Eine junge Frau ist verschwunden.»

«Hier aus Sellnitz?»

«Ja.»

«Seit wann?»

«Drei Stunden.»

«Das ist doch viel zu früh, vor morgen können wir nichts unternehmen. Oder ist irgendwas an der Sache verdächtig?»

«Das nicht, aber …»

«Was denn?», hakte Tom ungeduldig nach.

«Es ist Lilli Sternberg. Ihr Großvater steht am Empfang und lässt sich nicht wegschicken.»

Tom presste die Hand gegen die Stirn und rief sich die junge Frau ins Gedächtnis, die er vom Sehen kannte. Schwarzbraune Locken, ein hübsches, schmales Gesicht, wache, fast schwarze Augen. «Sie ist gehörlos, richtig?»

«Genau.»

Tom fluchte leise. «Wo wurde sie zuletzt gesehen?»

«Sie war mit ihrer Freundin Fabienne am Weststrand verabredet. Die hat lange auf Lilli gewartet und ihr mehrere Nachrichten geschickt. Als sie nach einer Stunde noch immer nicht aufgetaucht war, ist sie zu den Sternbergs gefahren. Die Großeltern haben in der Gärtnerei nachgefragt, in der Lilli arbeitet, aber von dort ist sie pünktlich aufgebrochen. Zusammen mit Fabienne sind sie dann den Weg zum Strand abgegangen. Keine Spur von Lilli, auch nicht von ihrem Fahrrad.»

Tom überlegte. Lilli war erwachsen. Jeder hatte das Recht, sich aufzuhalten, wo er wollte. Da durfte sich die Polizei nicht einmischen, es sei denn, es bestand Gefahr für Leib und Leben. Oder es gab besondere Umstände. Und genau das war der Punkt. Lilli war keine gewöhnliche Erwachsene, sondern durch ihre Taubheit eingeschränkt und somit gefährdet. Und ihr Großvater war nicht irgendwer, sondern der ehemalige Bürgermeister von Sellnitz.

«Also gut», sagte er. «Informier die Wasserschutzpolizei und die Kollegen aus Stralsund und Ribnitz-Damgarten. Wir brauchen Unterstützung bei der Suche. Und fordere den Heli an.»

«Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand?», fragte Paul.

Tom blickte auf die Uhr. Kurz vor sechs. Knapp zwei Stunden bis Sonnenuntergang. «Wenn wirklich etwas passiert ist, drängt die Zeit», antwortete er. «Und wenn nicht, geht es auf meine Kappe.»

«Wie du meinst.»

«Bestell alle Kollegen zum Wanderparkplatz am Krielmoor. Wir koordinieren die Suche von dort.»

Greifswald, am Abend

Mascha schob die Hand in die Hosentasche und tastete nach der winzigen Plüschente. Ein Schlüsselanhänger, dessen ursprüngliche Farbe sich nur noch erahnen ließ. Ihr Talisman, ihr Glücksbringer. Als Kind hatte es sie beruhigt, den abgegriffenen Stoff zu berühren, es hatte ihr das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein. Heute war sie nicht allein, und es war nicht die Ente, die ihr Sicherheit gab, sondern die Waffe in ihrem Schulterholster.

Sie blickte durch die Windschutzscheibe. Die dichte Wolkendecke sorgte für eine vorzeitige Dämmerung, einzelne Fenster waren bereits erleuchtet. Die Straße am Rand der Greifswalder Altstadt führte hinunter zum Ryck, ganz am Ende konnte Mascha die Masten eines Segelschiffs ausmachen.

Das Yogastudio, das sie observierten, lag im Hinterhof eines unsanierten Altbaus und war durch eine große Einfahrt zu erreichen. Früher war in dem Flachbau eine Autowerkstatt gewesen, Ölflecken besprenkelten die brüchigen Betonplatten, dazwischen wuchs dürres Gras.

Das Studio besaß eine riesige Glasfront, durch die selbst von ihrem Beobachtungsposten auf der anderen Straßenseite das Foyer und die beiden Kursräume gut einzusehen waren. Zudem gab es Oberlichter und eine Hintertür.

Jede Menge Fluchtwege. Kein guter Ort für eine Razzia. Aber das war nicht Maschas Problem. Sie war bloß die Kryptologin, die die Daten auf dem Handy entschlüsselt hatte und nun dabei sein durfte, wenn die Früchte ihrer Arbeit geerntet wurden.

Neben ihr auf dem Fahrersitz schaute Oliver auf seine Armbanduhr. «Der Kurs ist zu Ende, die Leute müssten gleich rauskommen.»

Oliver Böhm, Maschas Chef beim LKA in Schwerin, leitete den Einsatz, bei dem heute Abend überall im Land Drogenverstecke ausgehoben werden sollten. Alle Adressen stammten von der Liste, die Mascha dechiffriert hatte.

Da sie hier in Greifswald einen der Köpfe des Drogenrings vermuteten, wollte Oliver bei dem Einsatz persönlich dabei sein.

Die hintere Wagentür wurde aufgerissen, jemand stieg ein und ließ sich auf die Rückbank fallen. Mascha blickte über die Schulter. Kriminalhauptkommissar Holger Dietrich.

Er fuhr sich mit der Hand über den kahl rasierten Schädel. «Wir sollten loslegen. Es wird bald dunkel.»

«Nicht, solange noch Kursteilnehmer im Studio sind», entgegnete Oliver. «Das ist zu riskant.»

«Der Kerl haut ab, ich sag’s dir.»

Mascha sah, wie Holger nervös mit den Fingern auf den Oberschenkel trommelte. Ihre Blicke trafen sich. Holger presste die Lippen zusammen.

Sie waren sich vorhin bei der Einsatzbesprechung kurz begegnet, für Mascha war es ein Schock gewesen. Sie hatte nicht gewusst, dass Holger da sein würde. Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt, und Mascha hoffte, dass es so bleiben würde. Schließlich würden Oliver und sie sofort nach der Razzia nach Schwerin zurückkehren.

Holger war beim K1 in Anklam und leitete die Ermittlungen in einem Mordfall hier in Greifswald. Sein Hauptverdächtiger war der Typ, den sie heute hochnehmen wollten.

Die Glastür öffnete sich, zwei junge Frauen mit zusammengerollten Yogamatten unter dem Arm traten nach draußen.

«Es geht los», murmelte Oliver und griff nach dem Funkgerät. «Alle auf Position?», fragte er.

Nacheinander meldeten sich die Kollegen, die sich rechts und links der Einfahrt, an der Hintertür und auf dem Dach positioniert hatten.

Oliver nickte zufrieden. «Haltet euch bereit.»

Weitere Personen kamen aus dem Studio, dann riss der Strom ab. Mascha griff nach dem Fernglas, das zwischen den Vordersitzen lag. Ein junger Mann mit Pferdeschwanz stand hinter der Theke im Foyer und spülte Tassen, eine kurzhaarige Frau füllte einen Prospektständer auf. Von der dritten Person, Holgers Mordverdächtigem, war nichts zu sehen.

«Und?», fragte Holger.

«Zwei Angestellte des Yogastudios kann ich erkennen. Aber nicht die Zielperson.»

«Was ist mit Kursteilnehmern?», fragte Oliver.

«Niemand mehr da.»

«Dann lasst uns endlich loslegen», drängte Holger.

«Nein, Moment!», rief Mascha. «Ich glaube, da ist noch jemand. Eine Frau, wenn ich das richtig sehe.»

«Zu riskant», erklärte Oliver und ließ sich von Mascha das Fernglas reichen. «Wir warten noch.»

«Verflucht, das dauert viel zu lange.» Holger schlug mit der Faust auf den Oberschenkel. «Wenn uns der Kerl entwischt, ist er gewarnt und taucht irgendwo unter.»

«Der entwischt uns nicht.» Oliver war die Gelassenheit in Person, was selbst Mascha allmählich unruhig werden ließ.

«Das ist doch total idiotisch», murmelte Holger. Er rutschte zur Seite, stieg aus und knallte die Tür hinter sich zu.

Kopfschüttelnd wandte sich Oliver an Mascha. «Was für ein Hitzkopf.»

«Er hat nicht ganz unrecht. Wir dürfen den richtigen Moment nicht verpassen.»

Sie wusste aus Erfahrung, dass bei solchen Aktionen bei allen Beteiligten die Nerven blank lagen. Und je länger das Warten dauerte, desto schlimmer wurde es. Trotzdem mussten sie hoch konzentriert bleiben.

«Die Frau scheint rauszukommen», sagte Oliver, der das Fernglas wieder an die Augen gesetzt hatte. «Und im Foyer sehe ich Zielperson Nummer drei. Passt doch.» Er streckte die Hand nach dem Funkgerät aus, keuchte erschrocken und ließ den Arm sinken. «Verdammt, was ist das?»

«Was?» Mascha beugte sich vor und spähte mit zusammengekniffenen Augen durch die Scheibe. Sie erkannte dunkle Gestalten, die sich durch die Räume bewegten. «Wer sind die denn?»

«Scheiße», fluchte Oliver. «Das sind Holgers Leute.»

Sellnitz, am selben Abend

Nicole Laasch blinzelte überrascht, als Tom mit Romy vor der Tür stand.

«Nanu, was wollt ihr denn hier? Ist etwas passiert?»

«Ein Notfall», antwortete Tom und schaute sie zerknirscht an. «Kannst du Romy nehmen? Es dauert bestimmt nicht lang.»

«Ich mache gerade das Abendessen für meine Eltern.» Nicole blickte über die Schulter ins Haus.

Rosemarie und Gerhard Laasch waren beide knapp achtzig und pflegebedürftig. Tagsüber, während Nicole im Kindergarten arbeitete, kam ein Pflegedienst, aber morgens und abends kümmerte sie sich selbst um ihre Eltern.

«Tut mir leid», sagte Tom, und das war nicht gelogen. Es war ihm unangenehm, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, um Job und Kind unter einen Hut zu bekommen. Er fragte sich, wie die vielen alleinerziehenden Mütter das stemmten, und dabei noch Gartenfeste organisierten und auf Instagram Fotos von Geburtstagstorten posteten. Er war schon damit überfordert, morgens passende Socken für Romy zu finden. Er senkte die Stimme. «Es ist wirklich wichtig. Eine junge Frau wird vermisst.»

Nicoles Augen weiteten sich. «Großer Gott, wer?»

«Lilli Sternberg.»

Nicole schlug die Hand vor den Mund. «Oh nein.»

«Das ist die Frau aus dem Blumenladen, die mit den Händen spricht», erklärte Romy, die erstaunlicherweise immer dann jedes Wort mitbekam, wenn etwas nicht für ihre Ohren bestimmt war.

Nicole beugte sich zu ihr hinunter. «Ja, ich weiß. Dann geh mal rein. Du kannst mir helfen, den Tisch zu decken. Machst du das?»

«Ja!» Romy rannte ins Haus.

Tom lächelte erleichtert. «Danke, Nicole. Du bist ein Engel.»

Sie strich sich verlegen eine blonde Strähne hinter das Ohr. «Schon okay.»

«Du hast was gut bei mir.» Tom hob die Hand zum Abschied und eilte auf den VW-Bus zu.

«Warte!»

Er drehte sich um. «Ja?»

«Wir müssen reden. Über Romy.» Sie biss sich auf die Unterlippe. «Nicht jetzt, natürlich. Aber bald.»

«Wegen dieses Jungen im Kindergarten?»

«Es ist nicht nur dieser Junge.»

Toms Brust zog sich zusammen. «Was soll das heißen?»

«Es ist kompliziert … ich erzähle es dir in Ruhe, wenn du Lilli gefunden hast, okay?»

Tom zögerte, kämpfte gegen das Bedürfnis an, seine Tochter zu beschützen, jetzt sofort. Doch er gab sich einen Ruck. Romy war in Sicherheit, Lilli Sternberg brauchte womöglich seine Hilfe. Er nickte, stieg in den Wagen und fuhr in Richtung Darßwald.

Schnell hatte er die letzten Häuser hinter sich gelassen. Er bog auf die Landstraße, passierte die kleine Tankstelle und tauchte in den Wald ein. Hochgewachsene, windschiefe Kiefern und knorrige Eichen warfen lange Schatten auf die Fahrbahn. Das Gestrüpp unter ihren breiten Kronen war so dicht, dass man kaum ein paar Meter weit sehen konnte. Abseits der Straße war der Wald eigentlich sehr licht, doch hier direkt neben der Fahrbahn schien er eine Mauer aus Dornen und Ranken errichtet zu haben, um Eindringlinge fernzuhalten.

Auf dem Parkplatz standen bereits die beiden Streifenwagen des Polizeireviers Sellnitz, ein Krankenwagen sowie eine dunkle Mercedes-Limousine. Tom erkannte Walter Sternberg, der mit zwei Polizisten redete. Obwohl fast siebzig, war Sternberg noch immer eine imposante Erscheinung. Anzug, offener Mantel, elegante Lederschuhe, das schwarzgraue Haar akkurat nach hinten gekämmt. Der ehemalige Bürgermeister strahlte Autorität und Tatkraft aus.

Paul eilte Tom entgegen. «Der Heli müsste jeden Augenblick da sein. Der Pilot wartet noch auf genaue Anweisungen.»

Der Polizeihubschrauber kam vom Flughafen Rostock-Laage, hieß Merlin und verfügte über Wärmebildkameras. Damit konnten sie eine Person im Wasser ausmachen, selbst wenn die Sicht schlecht war.

«Er soll die Wasserschutzpolizei unterstützen und die Küste abfliegen. Die Strömung verläuft nach Norden um die Landzunge herum, also sollen sie vor allem in der Richtung suchen.»

«Gut, ich gebe das durch.» Paul lief zu einem der Streifenwagen.

Tom war froh, dass er ihn an seiner Seite hatte. Paul war zuverlässig und geradlinig und für seine fast sechzig noch sehr fit. Die Kollegen nannten ihn Duke, nach dem legendären Surfer Duke Kahanamoku, weil er ebenfalls ein Pionier dieses Sports war und bereits Ende der Siebziger auf einem selbst gebauten Brett in der DDR gesurft war.

Als Tom sich umdrehte, kam Sternberg auf ihn zu. «Haben Sie hier das Sagen?»

Tom reichte ihm die Hand. «Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt. Ich leite die Suche.»

«Sie müssen meine Enkeltochter finden. Sie ist gehörlos und kann sich nur schwer verständlich machen.»

«Das ist mir bekannt, Herr Sternberg, wir werden alles tun, was in unserer Macht steht», versuchte Tom ihn zu beruhigen.

Für einen Moment war die Sorge in Sternbergs Gesicht deutlich zu erkennen, dann hatte der ehemalige Bürgermeister sich wieder unter Kontrolle und erstattete in geschäftsmäßigem Ton Bericht. «Wir haben den Wald abgesucht und Lilli Dutzende Nachrichten geschickt. Ihre Freundin Fabienne ebenfalls. Ohne Erfolg.»

«Aha.» Tom zog seinen Notizblock hervor. «Mit dieser Fabienne war ihre Enkelin am Strand verabredet?»

«Fabienne Mauritz, ja.»

Tom horchte auf. «Mauritz wie der Bauunternehmer?»

«Ja, genau. Sind wir jetzt mit der Fragerei durch?»

Tom wusste, dass manche Menschen unter Stress aggressiv wurden, doch bei Sternberg hatte er den Verdacht, dass er andere häufig so herablassend behandelte.

«Die Fragen sind wichtig», erwiderte er. «Je mehr wir wissen, desto gezielter können wir nach Ihrer Enkelin suchen. Aber wir können gern später weiterreden.»

Er steckte den Block weg und wandte sich ab. Während er auf die Streifenwagen zuging, ertönte ein dröhnendes Motorengeräusch, das schnell lauter wurde. Der Heli war da. Und die Boote der Wasserschutzpolizei waren bestimmt auch schon eingetroffen. Tom hoffte, dass sie nicht fündig würden. Nach mehr als drei Stunden wären Lillis Überlebenschancen im Wasser schon stark gesunken. Nicht weil es im September zu kalt war, bei einer Wassertemperatur von sechzehn Grad konnte man mehrere Stunden überleben, sondern aufgrund der Entkräftung. Lieber würde Tom sie an Land finden, da waren die Aussichten besser.

Nach und nach tauchten weitere Streifenwagen aus den umliegenden Revieren auf. Schließlich hatten sich etwa zwei Dutzend Kollegen auf dem Parkplatz eingefunden. Tom beschloss, das Suchgebiet zunächst auf das Waldstück zwischen Sellnitz und dem Strandabschnitt, an dem die Frauen sich treffen wollten, zu begrenzen. Für den kompletten, fast sechstausend Hektar großen Wald hatten sie zu wenig Leute, und inzwischen blieb ihnen nur noch eine knappe Stunde, bis es dunkel wurde.

Tom teilte das Gelände in Quadrate ein und wies je zwei Beamten einen Abschnitt zu. Obwohl das Gebiet gar nicht so groß war, würde sich die Suche schwierig gestalten, denn man konnte den Wald nicht einfach in gerader Linie durchkämmen. Er war durchzogen von Reffen und Riegen, niedrigen Wällen und morastigen Senken. Die Reffe waren ehemalige Dünen, die Riegen Überbleibsel von Lagunen, die längst nicht mehr mit dem Meer verbunden waren. Das Wasser in den Riegen war schwarz und oft tiefer, als es den Anschein hatte. Moosbedecktes Totholz schwamm darin, leuchtend grüne Grasbüschel verhießen trügerische Sicherheit. Ein märchenhaft schöner Ort zum Spazierengehen, ein Albtraum, wenn man eine vermisste Person aufspüren wollte.

Greifswald, am selben Abend

«Zugriff!», rief Oliver Böhm ins Funkgerät. «Und äußerste Vorsicht, es sind bereits Kollegen im Objekt.»

Er stürzte aus dem Wagen und rannte los, Mascha hatte Mühe hinterherzukommen. Drei Sekunden nach Oliver betrat sie mit gezogener Waffe das Foyer des Studios und blieb abrupt stehen. Sie brauchte nur einen Herzschlag, um die Situation zu erfassen. Der Typ mit dem Pferdeschwanz stand mit erhobenen Händen da, die Frau, die eben noch Flyer einsortiert hatte, trug bereits Handfesseln. Der dritte Mann jedoch, ein bulliger Typ mit Muskeln, die sich selbst durch das Sakko deutlich abzeichneten, hatte sich die Frau aus dem Kursraum geschnappt. Mit einer Hand hielt er sie an den Haaren fest und benutzte sie als lebenden Schutzschild, mit der anderen drückte er ihr ein Messer an den Hals. Er stand mit dem Rücken zu Mascha und Oliver, doch eine Kopfbewegung verriet, dass er sie bemerkt hatte.

Zwei Männer in SEK-Ausrüstung verharrten reglos nur wenige Schritte von dem Geiselnehmer entfernt und zielten mit ihren Waffen auf ihn. Holger stand ihm genau gegenüber. Auch er hatte die Waffe gezogen, doch sein Blick war nicht auf den Mann gerichtet, sondern auf Mascha.

Einen Moment lang rührte sich niemand, alle Geräusche waren verstummt, als hätte jemand die Zeit eingefroren.

Mascha erwiderte Holgers Blick. «Blue Moon», sagte sie laut und deutlich in die Stille hinein und machte sich bereit.

Holger nickte kaum merklich und warf sich im selben Moment nach vorn, machte eine Rolle vorwärts und landete in der Hocke vor den Füßen des Geiselnehmers. Der war für den Bruchteil einer Sekunde verwirrt, Zeit genug für Mascha, zu ihm zu springen und den Arm mit dem Messer zu ergreifen. Gleichzeitig zog Holger die Beine des Mannes weg, der nach hinten kippte. Mascha kippte mit, den Messerarm fest umklammert.

Während Oliver die Geisel geistesgegenwärtig am Arm packte und beiseite zog, gingen Mascha und der Dealer zu Boden. Mascha drehte dem Mann den Arm auf den Rücken, der vor Schmerz schrie und das Messer fallen ließ. Holger kickte es weg, während Mascha das Muskelpaket fixierte. Im nächsten Moment hatte sie ihm Handfesseln angelegt und zerrte ihn auf die Füße.

Die ganze Aktion dauerte keine dreißig Sekunden, trotzdem hatte Mascha dabei das Gefühl, in einem Film mitzuspielen, der in Zeitlupe lief. Außer Atem rieb sie sich den Ellbogen, der beim Sturz in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Die SEK-Männer ließen verdattert die Waffen sinken, Holgers Kollegen schnappten sich die drei Festgenommenen und brachten sie nach draußen. Die übrigen Beamten machten sich daran, das Studio nach den Drogen zu durchsuchen.

Eine halbe Stunde später saß Mascha auf dem Beifahrersitz neben ihrem Chef. Oliver und sie hatten ihren Teil der Arbeit erledigt und waren auf dem Rückweg nach Schwerin. In der Putzkammer des Yogastudios, versteckt in ausgehöhlten Seifenstücken und Flaschen mit Glasreiniger, hatten sie mehrere Kilo Crystal Meth und fünfhundert Ecstasy-Pillen gefunden. Die Kriminaltechniker waren noch damit beschäftigt, Spuren zu sichern.

Kurz vor der Autobahnauffahrt stellte Mascha die Frage, die ihr die ganze Zeit im Kopf herumging. «Kriegt Holger Schwierigkeiten?»

Oliver sah sie von der Seite an. «Er behauptet, einer seiner Leute habe jemanden durch den Hinterausgang flüchten sehen. Deshalb habe er den sofortigen Zugriff befohlen.»

«Aber du glaubst ihm nicht?»

«Keine Ahnung, es ging alles so schnell.» Oliver trat das Gaspedal durch und fuhr auf die Autobahn. Inzwischen war es dunkel und nicht mehr viel los. «Da alles glimpflich ausgegangen ist, wird wohl niemand ein Fass aufmachen wollen», sagte er.

Mascha nickte und starrte aus dem Fenster. Ihr Ellbogen schmerzte. Sie dachte an Holger, der höchstwahrscheinlich gerade den Mordverdächtigen vernahm. Sie hatten sich nicht voneinander verabschiedet. In solchen Dingen waren sie beide nie gut gewesen.

«Bist du sauer auf ihn?», fragte sie Oliver.

«Was glaubst du wohl?»

Bis vor ihnen die Lichter von Schwerin auftauchten, hingen sie ihren Gedanken nach. Diesmal war es Oliver, der das Schweigen brach.

«Blue Moon, ja?», sagte er. «Ich bin gespannt auf deinen Bericht.»

«Das ist keine große Geschichte», erwiderte Mascha ausweichend.

Als sie Olivers bohrenden Blick bemerkte, zuckte sie mit den Schultern. «Blue Moon war ein Club. Ist lange her, der existiert schon ewig nicht mehr.»

«Ein Club?»

«Es gab da einen Vorfall.» Mascha sah nach draußen, wo gerade das angeleuchtete Schloss an ihnen vorüberglitt. Wie aus der Zeit gefallen thronte das Bauwerk mit den wuchtigen Sandsteinmauern und den zahllosen Türmen auf der Insel im See. «Ich war mit meiner Freundin im Blue Moon zum Feiern. Wir waren sechzehn, halbe Kinder noch. Es wurde etwas später als geplant, jedenfalls standen wir mitten in der Nacht draußen vor dem Club und warteten auf unsere Mitfahrgelegenheit. Plötzlich waren da diese beiden Typen und belästigten uns. Wir sagten ihnen, dass sie sich verpissen sollen, aber sie waren hartnäckig. Als wir uns zurück in den Club flüchten wollten, schnitten sie uns den Weg ab.»

«Scheiße», murmelte Oliver und hielt an einer roten Ampel.

«Und dann stand Holger aus heiterem Himmel da. Er war nicht viel älter als wir, machte aber schon seit Jahren Kampfsport. Den einen Typen hat er in null Komma nichts überwältigt. Der andere hat jedoch blitzschnell ein Messer gezogen und es meiner Freundin an den Hals gehalten. Da hat Holger eine Judorolle auf den Typen zu gemacht. Der war für einen Moment total verdattert. Ich auch, aber ich habe mich schneller wieder gefangen und ihm das Messer aus der Hand geschlagen.»

Es wurde grün. Oliver gab Gas. «Verrückte Geschichte. Kanntet ihr euch denn?»

«Kann man so sagen.»

«Woher?»

Mascha krampfte die Finger zusammen. «Das spielt keine Rolle.»

«Wenn du das sagst.» Oliver seufzte. «Ich hätte gedacht, dass so ein Erlebnis zusammenschweißt. Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, dass bei eurer Begegnung große Wiedersehensfreude im Spiel war.»

«Wir versuchen, uns aus dem Weg zu gehen.»

Oliver bog in eine Seitenstraße und hielt kurz darauf vor Maschas Haustür. Er stellte den Motor ab und wandte sich ihr zu. «Du machst es einem nicht gerade leicht mit deinem Dickschädel, Mascha, aber du bist eine hervorragende Ermittlerin. Es ist eine verdammte Verschwendung, dass du am Schreibtisch versauerst. Du wirst draußen gebraucht.»

Mascha lehnte sich zurück und schloss die Augen. «Das sehen leider nicht alle so.»

«Dummköpfe.»

«Ich kann froh sein, dass ich meine Marke noch habe.»

«Das ist wahr.»

Sie öffnete die Augen und versuchte in seinem Gesicht zu lesen. «Worauf willst du hinaus?»

«Würdest du gern in den aktiven Dienst zurückkehren?», fragte er zurück.

Mascha hob die Brauen. «Ist das ein Angebot?»

Sellnitz, am selben Abend

Inzwischen war es dunkel im Darßwald, die Bäume schienen näher an den Parkplatz herangerückt zu sein. Es knisterte und raschelte im Unterholz, Schemen huschten zwischen den Stämmen hindurch. Eben hatte Tom ein lautes Knacken gehört, war herumgefahren und hatte in ein Paar funkelnde Augen gestarrt. Er wusste nicht, wer sich mehr erschrocken hatte, das Reh oder er.

Von Lilli Sternberg fehlte noch immer jede Spur. Tom hatte Walter Sternberg nach Hause geschickt. Er sollte sich um seine Frau kümmern, die aufgelöst vor Sorge um ihre Enkeltochter war, und in der Nähe des Telefons bleiben. Für den Fall, dass sich ein Entführer meldete. Das hatte Tom dem ehemaligen Bürgermeister allerdings so nicht gesagt, und er ging im Augenblick auch nicht von einer Entführung aus. Aber ganz ausschließen ließ es sich nicht.

Der Hubschrauber hatte unverrichteter Dinge wieder abgedreht, er würde am Morgen frisch aufgetankt noch einmal starten. Die Boote der Wasserschutzpolizei waren in den Hafen zurückgekehrt. Im Dunkeln hatte die Suche auf der Ostsee selbst mit Scheinwerfern nicht viel Sinn.

Auch die Polizisten, die den Wald durchkämmten, würde Tom bald heimschicken. Bei Sonnenaufgang würden sie mit einer Hundertschaft erneut loslegen, diesmal in einem größeren Gebiet, ausgerüstet mit Gummistiefeln und Metallstäben und unterstützt von einer Hundestaffel.

Das wackelige Licht eines Fahrrads näherte sich dem Parkplatz. Als Tom erkannte, dass eine junge Frau auf dem Sattel saß, durchzuckte ihn für einen Moment Hoffnung. Bis er erkannte, dass sie blond war. Fabienne Mauritz. Er hatte sie herbestellt, um sie zu befragen.

«Frau Mauritz?», sprach er sie an.

«Nennen Sie mich Fabienne, sonst fühle ich mich so alt.» Sie stieg ab. «Sind Sie der Kommissar, mit dem ich telefoniert habe?»

«Tom Engelhardt. Danke, dass Sie hergekommen sind.»

Fabienne stellte das Rad ab. «Noch keine Spur von Lilli?»

Tom schüttelte den Kopf.

Der Blick der jungen Frau wanderte zum dunklen Wald, in ihrem Gesicht zeichnete sich Sorge ab. «Verdammt, wo steckt sie bloß?»

Tom zog seinen Block hervor. «Wie gut kennen Sie Lilli?»

«Wir sind seit Ewigkeiten befreundet. Als wir klein waren, haben wir oft gespielt, wir wären Schwestern. Zwillinge wie in Das doppelte Lottchen.» Fabienne wandte sich ihm zu und lächelte verlegen. «Obwohl wir uns überhaupt nicht ähnlich sehen.»

«Hat sie sich in letzter Zeit anders benommen als sonst? Hatte sie Probleme? Oder Kummer?»

Fabiennes Augen wurden groß. «Glauben Sie etwa, sie hat sich was angetan?»

«Ich versuche bloß, mir ein Bild zu machen.»

Fabienne verschränkte die Arme. «Lilli würde sich nicht umbringen. Niemals.»

«Hat sie vielleicht kürzlich jemanden kennengelernt?»

«Einen Typen?» Fabienne schüttelte heftig den Kopf. «Keinesfalls.»

«Hat sie denn einen Freund?»

Fabienne zögerte. «Na ja, Sören, mit dem ist sie seit ungefähr einem Jahr zusammen. Den habe ich noch nicht erreicht. Er ist Lehrer und hatte heute irgend so ein Fest an der Schule.»

Tom nickte. «Sonst irgendjemand, der etwas wissen könnte?»

«Ben jedenfalls nicht.»

«Wer ist das?» Tom wurde das Gefühl nicht los, dass Fabienne seine Fragen mit sehr viel Bedacht beantwortete. Fast so, als müsste sie aufpassen, nichts Falsches zu sagen. Vielleicht stand sie auch einfach unter Schock.

«Ben ist Lillis bester Freund», sagte sie. «Die beiden waren schon im Kindergarten dicke, er ist wie ein großer Bruder für sie.»

Tom hielt den Block so ins Licht, dass er sich Notizen machen konnte. «Wie heißen Sören und Ben mit Nachnamen?»

«Sören Brandner und Benjamin Reichert. Ben ist Bildhauer. Sie haben bestimmt schon mal seine Skulptur auf dem Platz vor dem Strandhotel gesehen.»

Tom erinnerte sich vage an einen Torso auf einem Pferd. Überraschend modern für eine beschauliche 3000-Seelen-Gemeinde wie Sellnitz. «Und Ben könnte nicht wissen, wo Lilli steckt?»

«Ich habe ihn angerufen, als sie nicht aufgetaucht ist. Er hat uns bei der Suche geholfen. Ich glaube, er fährt noch immer die Gegend ab.»

Tom nickte. «Dann erzählen Sie mal, was genau heute geschehen ist.»

Fabienne strich sich die halblangen Haare aus dem Gesicht und zuckte mit den Schultern. «Da gibt es nicht viel zu erzählen. Lilli und ich wollten ein bisschen am Strand abhängen. Sie hat um drei Feierabend, wir waren um vier verabredet.»

«Wo?»

«An unserer üblichen Stelle am Weststrand.» Fabienne deutete zum hinteren Teil des Parkplatzes, wo ein Wanderweg zu sehen war. «Ungefähr fünf Minuten mit dem Rad von hier beginnt ein Trampelpfad durch die Dünen.»

Tom nickte. Er kannte die Stelle. «Und dann?»

«Als ich ankam, war Lilli nicht da. Ich habe gewartet und ihr Nachrichten geschrieben.»

«Keine Antwort?»

«Nichts.»

«Waren Sie pünktlich?»

«Nicht ganz», räumte Fabienne ein. «Ich bin so um zehn nach vier da gewesen.»

«Also wäre es möglich, dass Lilli zur vereinbarten Zeit am Treffpunkt war, aber aus irgendeinem Grund vor Ihrer Ankunft wieder aufgebrochen ist.»

«Was für ein Grund sollte das sein?» Fabienne verzog das Gesicht. «Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.»

«Und ihr Fahrrad haben Sie auch nicht gesehen?»

«Nein.»

«Was haben Sie als Nächstes getan?»

«Ich habe noch eine Weile gewartet, ein paar TikTok-Videos geguckt, dann bin ich zu Lilli nach Hause. Ich dachte, vielleicht ist etwas mit ihren Großeltern. Aber die wussten von nichts. Wir haben Ben angerufen, aber der hatte auch keine Ahnung, wo sie stecken könnte. Also haben wir uns zu viert auf die Suche gemacht. Wir dachten, sie ist vielleicht mit dem Fahrrad gestürzt. Irgendwann hat Lillis Großvater dann die Polizei alarmiert.» Fabienne rieb sich fröstelnd die Arme. «Ich kapier nicht, was passiert sein soll.»

Tom spürte ebenfalls den kühlen Wind auf der Haut. In der vergangenen Woche waren es noch über dreißig Grad gewesen, doch kaum hatte der September begonnen, war es merklich abgekühlt. Heute hatte das Thermometer nur noch knapp die Zwanzig-Grad-Marke geknackt.

Er blickte in den Wald. Zwischen den Bäumen sah er die Lampen der Suchtrupps zucken, die schwarzen Tümpel in den Riegen schimmerten geheimnisvoll. Ein großer Nachtvogel flatterte durch das Geäst, stieß einen beinahe menschlichen Schrei aus und verschwand in Richtung Meer.

«Könnte es nicht sein, dass Ihre Freundin bei ihrem Freund, diesem Sören, ist?», fragte er.

«Keinesfalls.» Fabienne senkte den Kopf und stocherte mit der Schuhspitze im Waldboden herum.

«Wir können Ihre Freundin nur finden, wenn Sie uns alles sagen, was Sie wissen», ermahnte Tom sie.

Fabienne stieß Luft aus und sah ihn trotzig an. «Da gibt es nichts zu sagen. Ich bin mir sicher, dass Lilli unsere Verabredung nicht gecancelt hätte, ohne mir Bescheid zu sagen, um sich stattdessen mit Sören zu treffen. So was tut sie nicht.»

Tom betrachtete die junge Frau nachdenklich. Er war davon überzeugt, dass sie ihm etwas verschwieg. Doch bevor er nachhaken konnte, winkte Paul, der etwas abseits stand, mit dem Funkgerät in der Hand.

«Wir haben was!», rief er.

Tom bat Fabienne zu warten und eilte zu ihm. «Was gibt’s?»

«Die Kollegen haben ein Fahrrad gefunden. In einem der Tümpel.»

Das war nicht gut. «Ich sehe mir das an.» Tom deutete zu Fabienne hinüber. «Und ich nehme die Freundin mit. Sie kann uns sagen, ob es Lillis Rad ist.»

«In Ordnung.» Paul zögerte.

«Was ist?»

«Es gibt da etwas, das du wissen solltest. Vermutlich spielt es keine Rolle, aber …»

«Mach’s nicht so spannend, Duke.»

«Lillis Mutter, Cornelia Sternberg, ist in diesem Wald zu Tode gekommen. Ist schon ewig her, da war Lilli noch ein Baby.»

«Wie bitte?» Tom starrte den älteren Kollegen ungläubig an.

«Keine Ahnung, ob das wichtig ist.»

Tom hob die Hand, als er sah, dass Fabienne sich näherte. «Einen Moment noch», rief er ihr zu. Er wandte sich wieder an Paul. «Was ist damals passiert?»

«Sie wurde erschlagen, wenn ich mich richtig erinnere. Der Täter wurde schnell gefasst. Ein Russe, der sich schon einmal an einer Frau vergangen hatte.»

«Weißt du etwas über den Mann? Ist er inzwischen wieder auf freiem Fuß?»

«Ich weiß, dass er niemandem mehr was antun kann», erklärte Paul mit grimmiger Miene. «Er hat sich im Gefängnis erhängt.»

Am selben Abend

Rudis Hafenkneipe war nicht gerade der Ort, an den sich Touristen verirrten. Ganz abgesehen davon, dass sie nicht am Strand, sondern am Bodden lag, gab es weder Aperol noch Hugo noch sonst eins dieser neumodischen Schickimicki-Getränke, und essen konnte man allenfalls ein paar ranzige Erdnüsse. Auch heute verteilten sich nur ein paar Einheimische auf die wenigen Tische. Alte Fischer, die vor Jahren das letzte Mal hinaus auf den Bodden gefahren waren, ein paar Arbeiter, die schweigend ihr Feierabendbier runterkippten, sowie einige gestrauchelte Existenzen, die täglich kamen, um das wenige Geld, über das sie verfügten, unter die Leute zu bringen.

Walter entdeckte den Mann, den er suchte, sofort. Er saß ganz am Ende des Tresens und starrte in sein Bierglas, als würde er darüber nachdenken, sich hineinzustürzen. Ein paar Gäste blickten Walter neugierig hinterher, als er sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte, doch die meisten beachteten ihn nicht. Früher wäre das anders gewesen, da hätte ihn jeder erkannt und ihm zumindest zur Begrüßung zugenickt. Doch Walter scherte sich nicht darum, in Vergessenheit geraten zu sein. Ganz im Gegenteil. Wer ihn nicht wahrnahm, konnte sich später auch nicht an ihn erinnern. Er warf dem Wirt einen Blick zu, der wortlos nickte, und ließ sich auf den Barhocker neben dem einsamen Trinker gleiten.

«Lange nicht gesehen», sagte er zur Begrüßung.

Der Mann beäugte ihn kurz. «Und doch wiedererkannt.»

Der Wirt brachte ein Bier und verzog sich wieder.

Walter heftete den Blick auf einen Punkt hinter dem Tresen. «Meine Enkeltochter ist verschwunden.»

Der Mann ließ ein leises Brummen vernehmen.

«Du weißt nicht zufällig etwas darüber?»

Der Mann sah ihn an. «Sollte ich?»

«Das ist keine Antwort.»

«Lilli ist jung und hübsch, vielleicht möchte sie sich einfach nur ein bisschen amüsieren.»

Walter musterte den Mann. Das T-Shirt war abgewetzt, die Jeans fleckig. Sein unrasiertes Gesicht hatte die ungesunde Röte eines Säufers. «Ich hoffe für dich, dass du nichts mit der Sache zu tun hast.»

Der Mann hob die Hände. «Ich rühre keine Frauen an.»

Walter schwieg.

«Glaubst du mir nicht?»

In einer Ecke der Gaststube wurden Stühle gerückt, drei junge Männer brachen auf. Walter wartete, bis es wieder ruhiger wurde und nur noch die Musik aus dem Radio und leises Gemurmel von den anderen Tischen zu hören waren.

«Du kannst dir denken, dass Grit das alles sehr mitnimmt», sagte er. «Noch einmal steht sie das nicht durch.»

Der Mann leerte sein Bierglas. «Die Kleine taucht bestimmt bald wieder auf.»

«Das hoffe ich.» Walter schob ihm sein volles Glas hin. «Ich habe ein ungutes Gefühl.»

Der Mann nickte. «Ich könnte mich ein wenig umhören.» Er nahm einen Schluck von dem frischen Bier. «Ganz unauffällig natürlich.»

Walter nickte. «Könnte nicht schaden.»

«Ich melde mich, wenn ich was rausfinde.»

Walter sah ihm direkt in die Augen. «Kann ich mich auf dich verlassen?»

Der Mann hob die Hände. «Habe ich dich jemals enttäuscht, Walter?»

Am selben Abend

Sie fuhren mit dem Dienstwagen über den holprigen Waldweg bis zu der Stelle, wo die Kollegen das Fahrrad entdeckt hatten, nur wenige Hundert Meter vom Parkplatz entfernt. Tom bremste, als ein uniformierter Beamter mit der Taschenlampe winkte.

Beim Aussteigen wurde er von Schwindel erfasst und musste sich an der Wagentür festhalten.

«Alles in Ordnung?», fragte Paul.

«Verdammt dunkel hier, ich bin in ein Loch getreten.» Zum Glück konnte Paul ihm nicht ansehen, dass er log.

Der Uniformierte trat auf sie zu. «Da vorne ist es.» Er deutete in den Wald, wo in einiger Entfernung Lichter hin und her zuckten.

Hintereinander stapften sie zwischen dünn gewachsenen Birken und Erlen hindurch. Paul hatte eine Stablampe aus dem Streifenwagen dabei, Tom die Taschenlampe an seinem Handy eingeschaltet, Fabienne lief zwischen ihnen. Es gab eine Art Trampelpfad, trotzdem mussten sie aufpassen, um nicht in eins der Wasserlöcher zu treten, die im Dunkeln wie riesige schwarze Augen funkelten.

Als sie die Stelle erreichten, hatten die Kollegen das Fahrrad gerade aus dem Tümpel gehievt und auf einer Art Insel zwischen zwei Wasserläufen abgelegt.

Tom richtete den Strahl seiner Handylampe darauf. «Erkennen Sie es?», fragte er Fabienne.

«Es gehört Lilli.» Ihre Stimme war rau.

«Sicher?», hakte Tom nach.

Das Fahrrad war mit Schlamm und nassem Laub bedeckt, die Farbe im Licht der Taschenlampe kaum auszumachen.

«Ich erkenne den Korb, den haben wir zusammen besorgt. Und die Bänder, die sie an den Lenker gebunden hat.»

Tom nickte und wandte sich an die Kollegen, die neben dem Rad standen. «Habt ihr sonst noch was gefunden?»

«Bisher nicht», erwiderte eine junge Beamtin. Sie sah zu den Männern und Frauen hinüber, die mit Stöcken im Wasser herumstocherten.

«Danke. Macht bitte weiter. Jetzt können wir nicht mehr bis morgen früh warten. Dreht jeden Stein im Umkreis von hundert Metern um.»

«Geht klar.» Die Polizistin machte sich wieder an die Arbeit.

Tom nahm Paul zur Seite. «Was denkst du?»

«Das Fahrrad ändert alles», antwortete er. «Eine harmlose Erklärung für ihr Verschwinden fällt mir jetzt jedenfalls nicht mehr ein …»

«Das sehe ich genauso.»

«Herr Engelhardt!» Fabienne winkte aufgeregt mit ihrem Smartphone.

Tom stapfte über den feuchten Untergrund zu ihr. «Was gibt es?»

«Eine Nachricht von Lilli!»

Tom runzelte überrascht die Stirn. «Aha?»

«Allerdings verstehe ich nicht, was sie mir sagen will.»

«Was schreibt sie denn?»

Fabienne blickte von ihrem Handy auf. «Sie hat mir ein Foto geschickt. Hier.» Sie hielt ihm das Display hin.

Tom konnte kaum etwas erkennen, weil Fabiennes Hand vor Aufregung zitterte. Er nahm ihr behutsam das Handy ab und betrachtete das Foto.

«Das hat Lilli Ihnen geschickt? Sicher?»

«Über WhatsApp, gerade eben. Also geht es ihr gut, oder?»

Tom behielt seine Gedanken für sich. Er betrachtete Fabienne, das schlammige Fahrrad und dann wieder das Display des Handys. Was in aller Welt hatte das zu bedeuten?

Am selben Abend

Fabienne leuchtete mit dem Handy ins Gestrüpp. Brombeerranken umwucherten den alten Gartenschuppen, der in dem hin und her flackernden Lichtschein wirkte wie ein Schauplatz aus The Blair Witch Project. Nirgendwo war ein abgerissener Zweig zu erkennen oder gar ein Trampelpfad. Es sah nicht so aus, als wäre in letzter Zeit jemand hier gewesen. Aber Fabienne wollte noch nicht aufgeben.

Der Anblick des Fahrrads, das die Polizisten aus dem Wasser gezogen hatten, hatte ihr einen Schock versetzt. In dem Moment war ihr zum ersten Mal klar geworden, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte. Etwas richtig Schlimmes.

Trotzdem hielt sie an dem Glauben fest, dass es einen einfachen Grund für Lillis Verschwinden gab. Irgendein gedankenloser Streich oder ein Missverständnis. Lilli hatte manchmal merkwürdige Ideen. Als sie noch klein gewesen waren, war sie einmal den kompletten Weg vom Strand bis nach Hause rückwärtsgelaufen, fünf lange Kilometer, nur um zu demonstrieren, dass es funktionierte. Und ein paar Jahre später hatte sie sich im Kofferraum von Walters Mercedes einsperren lassen und gewettet, dass sie es allein wieder herausschaffen würde. Als ihr Großvater die Wette abbrach, hatte sie ihn vor Wut eine Woche lang wie Luft behandelt.

Lilli konnte stur sein. Sehr stur. Und sie wollte ständig etwas beweisen. Wollte klarstellen, dass sie dazugehörte. Sie hasste es, wegen ihrer Einschränkung anders behandelt zu werden.

Fabienne hatte Lilli immer dafür bewundert, dass sie sich nicht unterkriegen ließ. Und sich von ihr mitreißen lassen, wenn sie wieder mal einen verrückten Einfall hatte. Gleichzeitig war sie froh, nicht an Lillis Stelle zu sein, keine gehörlose Waise, sondern stinknormal, mit zu viel Zeit auf TikTok und nervenden Eltern.

Fabienne leuchtete die verwitterte Holzwand des Schuppens ab, die hinter den Brombeerranken hervorschimmerte. Das einzige Fenster war blind von Staub und Dreck, aber erstaunlicherweise noch intakt. Die Tür war so zugewuchert, dass Fabienne eine Gartenschere gebraucht hätte, um an die Klinke zu kommen. Hier war Lilli nicht, so viel stand fest.

Fabienne ließ die Schultern hängen. Irgendwie hatte sie gehofft, ihre Freundin könnte sich hier verkrochen haben. Als Kinder war der Schuppen ihr Geheimversteck gewesen, ihr Märchenschloss, ihre Piratenhöhle oder ihre Forschungsstation, je nachdem, was sie gerade gespielt hatten. Er stand ganz am Ende eines riesigen verwilderten Grundstücks. In dem reetgedeckten Haus, das dazugehörte, wohnte eine alleinstehende Frau, die Fabienne schon als Kind uralt vorgekommen war. Dabei konnte sie damals höchstens sechzig gewesen sein. Fabienne hatte keine Ahnung, ob die alte Dame von ihren Spielen gewusst hatte. Jedenfalls waren sie nie verjagt worden.

Frustriert verließ sie das Grundstück und checkte ihr Handy. Eine Nachricht von ihrer Mutter, die wissen wollte, wo sie war. Keine von Lilli. Auch keine von Sören. Wo steckte er bloß? Um die Zeit konnte er doch nicht mehr auf dem blöden Schulfest sein. Wusste er etwa nicht, dass Lilli verschwunden war?

Über den Feldweg kehrte Fabienne zurück zu der Stelle, wo sie ihr Fahrrad angeschlossen hatte. Kurz bevor sie es erreichte, bemerkte sie einen Wagen, der langsam die Straße entlangfuhr. Sie konnte nicht viel erkennen, aber es war definitiv ein Pick-up, so wie der von Ben. Was machte er um diese Zeit hier? Suchte er auch noch nach Lilli? Bestimmt ließ ihm ihr Verschwinden keine Ruhe.

Sie wollte ihm zuwinken, doch bevor sie die Straße erreichte, gab der Fahrer plötzlich Gas, der Wagen schoss davon, und die Rücklichter verloren sich in der Nacht.

Freitag, 6. September

Schwerin, am Morgen

Zweige knackten unter Maschas Schuhen, Laub raschelte, ein Eichhörnchen huschte über den Weg und verschwand im Gebüsch. Davon abgesehen war es still und einsam, keine Menschenseele weit und breit, nur die Toten leisteten ihr Gesellschaft.

Sie hatte den Alten Friedhof sofort zu ihrer Lieblingslaufstrecke erkoren, als sie vor acht Monaten von Dresden nach Schwerin gezogen war. Das Gelände war riesengroß, mehr verwilderter Park als Friedhof, und lag nur wenige Minuten von ihrer Wohnung entfernt.

Sie erreichte die krüppelig gewachsene Birke an der Backsteinkapelle, von hier aus war es nur noch ein kurzes Stück bis zum Ausgang. Auf der anderen Seite des Obotritenrings lag das Café Bernstein noch ruhig und verschlafen da. Auch die Voßstraße war verlassen, bis auf eine alte Frau, die auf dem Mäuerchen am Rand der Grünanlage saß, einen Terrier an der Leine. Mascha steigerte das Tempo zu einem letzten Spurt.

Vor ihrem Haus stand ein Mann. Überrascht drosselte sie das Tempo und blieb schwer atmend vor ihm stehen.

«Guten Morgen», sagte Oliver lächelnd.

Er sah aus wie ein Model, in stylisher Jeans, schwarzem Hemd und Sakko, das dunkelbraune Haar sorgfältig zerzaust. Er hatte es schon immer geschafft, unverschämt gut auszusehen. Kein Wunder, dass Maschas zehn Jahre jüngeres Ich sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Die Beziehung hatte nicht lange gehalten. Mascha hatte sich nicht binden wollen und Oliver zurückgestoßen. Ein Fehler. Aber als sie das erkannt hatte, war es zu spät gewesen. Immerhin war ihre Freundschaft unerschütterlich.

«Ist was passiert?», stieß sie keuchend hervor und stützte die Hände auf die Oberschenkel. Der Spurt hatte sie aus der Puste gebracht, sie musste erst mal zu Atem kommen.

«Kann man so sagen.» Er nickte zum Eingang des Altbaus, in dem Maschas Wohnung lag. «Sollen wir reingehen?»

«Mach’s nicht so spannend. Hat es was mit der Razzia zu tun?»

«Nein. Ich habe etwas Neues für dich, einen Vermisstenfall.»

«Aha.» Mascha wischte sich den Schweiß von der Stirn, beugte sich vor und presste die flachen Hände auf den Boden.

«Ich würde es dir wirklich gern in Ruhe erzählen», drang Olivers Stimme zu ihr hinunter.

Sie richtete sich auf. «Und ich würde gern erst duschen. Aber wenn du mir hier draußen auflauerst, muss es eilig sein. Also raus mit der Sprache.»

«Ich habe dich abgefangen, weil ich nicht wollte, dass du erst den Umweg ins LKA fährst.»

Das Landeskriminalamt lag mitten im Nirgendwo nahe dem kleinen Ort Rampe am anderen Ufer des Schweriner Sees.

«Und worum geht es?» Mascha drehte sich zur Seite, schwang das rechte Bein ausgestreckt auf den Verteilerkasten neben der Haustür, griff nach der Schuhspitze und zog.

Oliver ging um den Kasten herum. «Eine junge Frau wird vermisst, und es gibt eine rätselhafte Nachricht, die mit ihrem Verschwinden zusammenhängen könnte.»

«Was für eine Nachricht?» Mascha wechselte das Bein.

«Na ja, eine Art Code», erklärte Oliver zögernd. «Und weil ich weiß, dass du gern direkt mit den Beteiligten sprichst, habe ich dir ein Hotelzimmer buchen lassen.»

«Ein Hotelzimmer?» Mascha ließ das Bein sinken. «Wo zum Teufel schickst du mich hin?»

«Nach Sellnitz, das liegt auf dem Darß.» Oliver lächelte schief. «Betrachte es als kleinen Wochenendtrip ans Meer, als Belohnung für die erfolgreiche Aktion gestern.»

«Ein Wochenende, an dem ich für euch einen Code knacken soll. Na danke schön.»

«Das machst du doch sicherlich mit links.» Oliver fuhr sich durchs Haar.

Mascha kniff die Augen zusammen. «Gibt es da etwas, das du mir noch nicht erzählt hast?»

«Eigentlich nicht.»

«Und uneigentlich?»

Oliver seufzte. «Die Kollegen dort können kompetente Unterstützung gebrauchen. Es gibt in Sellnitz nur eine kleine Außenstelle des Kriminalkommissariats mit zwei Ermittlern, plus eine Handvoll Uniformierte.»

«Aber bei einem Vermisstenfall können die doch jede Menge Hilfe anfordern. Seerettung, Hundestaffel, Helikopter, Hundertschaften …»

«Das ist längst geschehen, aber darum geht es nicht», unterbrach Oliver sie. «Es könnte sich um ein Kapitaldelikt handeln, und da werden erfahrene Kripoleute gebraucht.»

Mascha kam ein Gedanke. «Als du mich gestern Abend gefragt hast, ob ich wieder in den Außendienst will, wusstest du da schon von dem Fall?»

«Um Gottes willen, nein!»

«Du willst mich also nicht in die Pampa abschieben?»

«Warum sollte ich das wollen, Mascha?» Oliver breitete die Arme aus.

«Weil meine Galgenfrist bald abläuft.»

«Ach, Mascha.» Oliver seufzte dramatisch. «Ich will dir etwas Gutes tun. Ich dachte, das könnte dein Rückfahrschein an die Front sein. Du hilfst mit, diesen Fall aufzuklären, und wir haben gute Chancen, dass du in ein Kommissariat versetzt wirst.»

Anfang Januar kehrte der Kollege, den sie im LKA vertrat, aus seinem Sabbatjahr zurück. Dann wurden die Karten neu gemischt, und Mascha würde erfahren, ob sie eine Zukunft bei der Kripo hatte.

Sie lehnte sich an die Hauswand und schloss für einen Moment die Augen. Oliver schien genau zu wissen, was sie wollte, und er war offenbar fest von ihren Qualitäten als Ermittlerin überzeugt. Sie selbst war sich da gar nicht so sicher. Im Grunde war sie aus Trotz Polizistin geworden. Sie bezweifelte, dass das als Motivation ausreichte. Zumal sie ja schon bewiesen hatte, dass sie nicht vollkommen loyal war und es ihr schwerfiel, sich an die Regeln zu halten. Wenn Oliver wüsste …

Sie öffnete die Augen. «Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich lieber in einem Dorfrevier arbeiten möchte als beim LKA?»

«Natürlich nicht. Der Fall in Sellnitz soll ja nur demonstrieren, wie sehr du uns als aktive Ermittlerin nützen kannst.»

«Und wenn ich scheitere?»

«Das wird nicht passieren.»

Mascha verzog das Gesicht. «Sellnitz, ja?»

Oliver lächelte. Er kannte sie gut, er wusste, dass er gewonnen hatte. «Die junge Frau, die vermisst wird, ist gehörlos», sagte er. «Ihr Fahrrad wurde in einem Tümpel im Wald gefunden. Und der einzige Hinweis auf ihren Verbleib ist ein Foto, das von ihrem WhatsApp-Account an ihre Freundin geschickt wurde.»

Mascha runzelte die Stirn. «Ein Foto? Ich dachte, es ginge um eine codierte Nachricht.»

«Der Code wurde in den Sand gemalt und dann fotografiert.» Er zog sein Smartphone aus der Sakkotasche und tippte darauf herum.

Mascha nahm das Telefon entgegen. Das Foto zeigte eine Folge von Buchstaben und Zeichen, die in den nassen Sand geschrieben worden waren: PK!%S=.

«Und die Freundin konnte damit nichts anfangen?»

«Leider nicht.»

«Sonst irgendwelche Hinweise?»

Oliver deutete auf das Smartphone. «Ich lasse dir die wichtigsten Infos mailen. Für die Details musst du den Ermittlungsleiter vor Ort fragen. Er heißt Tom Engelhardt.»

Sellnitz, am selben Tag

Tom wählte die Nummer seines Kollegen, steckte das Handy in die Halterung am Armaturenbrett und drehte den Zündschlüssel. Er zwang sich, nicht zurückzublicken, als er den Bus aus der Parklücke steuerte. Romy hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, in den Kindergarten zu gehen. Er hatte sie mit Engelszungen überreden müssen, und das unter den kritischen Augen der anderen Eltern. Die störten ihn nicht weiter, aber den Blick, mit dem Romy ihn zum Abschied aus tränennassen Augen bedacht hatte, würde er so schnell nicht vergessen. Vorwurfsvoll, todunglücklich, bitter enttäuscht. Aber was sollte er tun? Er konnte sich doch nicht zweiteilen.

Paul meldete sich, und Tom konzentrierte seine Gedanken auf die Arbeit. «Morgen, Duke. Gibt es irgendwas Neues zu Lilli Sternberg?»

«Leider nein. Oder zum Glück, wie man’s nimmt. Merlin ist bereits wieder in der Luft, und die Wasserschutzpolizei fährt noch einmal die Küste ab, allerdings warten wir noch auf die Hundertschaft.»

«Das gibt’s doch nicht!» Tom schlug mit der Faust aufs Lenkrad. Die Beamten hätten längst vor Ort sein sollen, aber hier auf dem Land dauerte alles länger, schon allein wegen der weiten Anfahrtswege. Daran würde er sich nie gewöhnen. Er bog auf die Landstraße, der Wind pustete gelbes Laub von den Bäumen, als er aus Sellnitz heraus in Richtung Darßwald fuhr. Der heiße Sommer hatte es früh herbstlich werden lassen. «Mach denen Dampf», forderte er Paul auf.

«Wird erledigt, Chef.»

«Ist das Fahrrad schon in der KT?»

Die Kriminaltechnik befand sich im LKA, Tom hatte noch am Abend zwei Kollegen den Auftrag erteilt, das Rad gleich am nächsten Morgen dort abzuliefern, damit es auf Spuren untersucht werden konnte.

«Keine Ahnung», sagte Paul.

«Dann frag nach. Sofort. Und sag, dass es dringend ist.»

«Ich gebe mein Bestes. Was hast du vor?»

«Ich fahre kurz raus und schaue, wie die Suche läuft, und dann nehme ich mir noch einmal die Zeugen vor. Leider habe ich diesen Sören Brandner noch immer nicht erreicht.»

«Lillis Freund? Ich kann mir kaum vorstellen, dass er etwas damit zu tun hat.»

«Kennst du ihn?»

«Nur flüchtig vom Sehen. Scheint ein netter Kerl zu sein.»

«Du weißt, der Eindruck kann täuschen», erinnerte Tom ihn. «Und die meisten Gewaltverbrechen gegen Frauen sind Beziehungstaten.»

«Ja, schon klar.» Paul seufzte. «Ich wohne schon so lange in Sellnitz, ich will wahrscheinlich einfach nicht, dass jemand, den ich kenne, ein Mörder ist.»

«Noch ist es kein Mordfall», wandte Tom ein. Aber seine innere Stimme sagte etwas anderes. Seit sie das Fahrrad aus dem Tümpel gezogen hatten, war er überzeugt, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste.

«Natürlich», stimmte Paul ihm zu. «Wir sollten positiv denken. Brandner dürfte um diese Zeit übrigens im Unterricht sein. Er ist Lehrer an einer Schule für Gehörlose. Vermutlich erreichst du ihn deshalb nicht.»

«Alles klar. Dann fahre ich nachher dort vorbei.» Tom erreichte den Wald und drosselte das Tempo. Ihm fiel ein, was Paul ihm über Lillis Mutter erzählt hatte. «Gibt es noch etwas, das ich über die Familie Sternberg wissen sollte?», fragte er. «Wie war Walter als Bürgermeister?»