9,99 €
Die Identität der beiden Toten, die nach einem Sturm auf dem Darß an der Küste entdeckt wurden, ist endlich geklärt, doch von ihrem Mörder fehlt nach wie vor jede Spur. Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt und Kryptologin Mascha Krieger stehen wieder am Anfang. Da stellt sich heraus, dass die Frau sieben Jahre nach dem Mann getötet und in den Dünen verscharrt wurde. Sind die Ermittler die ganze Zeit einer falschen Spur gefolgt? Gibt es überhaupt eine Verbindung zwischen den Opfern? Die Morde scheinen mit einem Einbruch zusammenzuhängen, der vor fünfzehn Jahren begangen wurde. Doch bevor Mascha und Tom den Fall neu aufrollen können, wird nach einem weiteren Unwetter eine Leiche gefunden. Tom ist geschockt, denn er kennt die Tote …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 323
Karen Sander
Thriller
Ein ungelöster Doppelmord. Ein neues Opfer.
Gibt es Gerechtigkeit für die Toten vom Darß?
Die Identität der beiden Toten, die nach einem Sturm auf dem Darß an der Küste entdeckt wurden, ist endlich geklärt, doch von ihrem Mörder fehlt noch immer jede Spur. Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt und Kryptologin Mascha Krieger stehen wieder am Anfang.
Da stellt sich heraus, dass die Frau sieben Jahre nach dem Mann getötet und in den Dünen verscharrt wurde. Sind die Ermittler die ganze Zeit einer falschen Spur gefolgt? Gibt es überhaupt eine Verbindung zwischen den Opfern?
Die Morde scheinen mit einem Einbruch zusammenzuhängen, der vor fünfzehn Jahren begangen wurde. Doch bevor Mascha und Tom den Fall neu aufrollen können, wird eine weitere Leiche gefunden. Tom ist schockiert, denn er kennt die Tote …
Tom Engelhardt & Mascha Krieger ermitteln.
Karen Sander arbeitete als Übersetzerin und unterrichtete an der Universität, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie hat über die britische Thriller-Autorin Val McDermid promoviert. Ihre Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und haben allein bei Rowohlt eine Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren. Zuletzt war sie mit ihrer Trilogie «Der Strand – Der Fall Lilli Sternberg» monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Mit ihrem Mann lebt sie die Hälfte des Jahres in ihrer Heimatstadt Düsseldorf. Die übrige Zeit reist sie durch die Welt und schreibt darüber in ihrem Blog.
Mehr unter:writearoundtheworld.de
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01854-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
www.rowohlt.de
Eine Windbö schlug gegen den Roller, Janine hielt mit aller Kraft dagegen. Seit Stunden heulte der Sturm um die Küste, zerrte an den mächtigen Kiefern, wirbelte Sand durch die Luft und nahm immer noch an Stärke zu.
Die Landstraße tauchte in ein Waldstück ein. Hier drückte der Wind mit weniger Gewalt gegen den Roller, dafür schluckten die Bäume den letzten Rest Tageslicht. Im Lichtkegel des Scheinwerfers wirbelten Blätter und abgerissene Zweige über die Fahrbahn. Die alten Eichen schwankten gefährlich. Sogar über die Windgeräusche und das Knattern des Motors hinweg hörte Janine sie ächzen.
Ihr wurde mulmig zumute. Was für eine idiotische Idee, bei diesem Wetter draußen herumzufahren! Sie hätte genauso gut bis morgen warten können. Aber sie wollte ihn unbedingt heute noch zur Rede stellen. Solange sie nicht mit ihm gesprochen hatte, würde sie kein Auge zutun.
Außerdem würde sie morgen früh vielleicht schon wieder der Mut verlassen haben. Auch jetzt war sie so nervös, dass ihr Magen sich schmerzhaft zusammenzog. Wie würde er auf die Neuigkeit reagieren? Würde er ihr die Schuld geben? Bestimmt. Aber das würde sie ihm nicht durchgehen lassen. Es war ihr gemeinsames Problem, und sie mussten es gemeinsam lösen.
Ein klein wenig freute Janine sich sogar. Sie hatte immer Kinder haben wollen. Wenn auch nicht so früh, nicht mit neunzehn. Aber nun, wo das kleine Wesen da war, wo es jeden Tag in ihr wuchs, empfand sie ein nie gekanntes, tiefes Glück.
Ein lautes Krachen riss Janine aus ihren Überlegungen, im nächsten Moment donnerte ein dicker Ast vor ihr auf die Fahrbahn. Janine schaffte es gerade noch zu bremsen. Mit wild klopfendem Herzen blieb sie stehen. Das war knapp gewesen. Sollte sie umkehren? Es wäre vernünftiger, keine Frage. Andererseits hatte sie schon mehr als die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht. Sie konnte das Unwetter ebenso gut bei ihm aussitzen. Er würde sie ja wohl nicht einfach wieder fortschicken, vor allem nicht in ihrem Zustand.
Vorsichtig umfuhr Janine das Hindernis. Seit sie im Wald war, hatte sie kein anderes Fahrzeug mehr gesehen. Sie gab Gas. Es war ja nicht mehr weit. Vor ihr öffnete sich eine Lichtung, und Janine bemerkte, dass es inzwischen stockdunkel war. Zudem hatte Nieselregen eingesetzt. Auch das noch.
Ein Stück weiter vorn tauchten Lichter auf, ein Fahrzeug bog von einem Waldweg auf die Straße und kam ihr entgegen. Erst als Janine schon fast vorbei war, registrierte sie, dass sie den Wagen kannte. Sie bremste ab, blickte über die Schulter. Nur noch die Rücklichter waren zu erkennen, aber sie war sich sicher, dass es der Alfa Romeo gewesen war.
Kurz entschlossen wendete Janine den Roller. Sie machte sich keine Hoffnung, ihn einzuholen, aber zu seinem Haus zu fahren, wenn er gar nicht dort war, brachte nichts. Sie war wütend auf sich selbst. Wieso war sie Hals über Kopf losgefahren, ohne zumindest vorher anzurufen?
Der Regen wurde immer stärker, Janines dünne Jeansjacke war bereits vollkommen durchnässt. Der Wind wirbelte weiße Blüten über die Straße, die aussahen wie Schnee.
Plötzlich bemerkte sie die Rückleuchten eines Fahrzeugs. Hatte er sie ebenfalls erkannt und fuhr extra langsam, damit sie ihn einholen konnte? Jetzt leuchteten die Bremslichter auf, und der Wagen bog ab, verschwand erneut auf einem unbefestigten Weg. Was war hier los? Was machte er bei diesem Wetter im Wald?
Irgendetwas stimmte nicht. Ihr Instinkt sagte ihr, besser auf dem schnellsten Weg nach Hause zu fahren. Zumal es über ihr gefährlich knarzte und wohl nur eine Frage der Zeit war, bis der nächste Ast herunterkam. Außerdem war sie inzwischen total durchgefroren. Es war zwar Mitte Juni, aber die Temperaturen erinnerten eher an März, dazu noch der Sturm, der ihr ins Gesicht schnitt. Wenn sie nicht morgen mit Fieber im Bett liegen wollte, sollte sie machen, dass sie heimkam, und sich unter die heiße Dusche stellen.
Aber dann würde sie nie erfahren, was hier vor sich ging.
Janine drosselte das Tempo und rollte auf den Waldweg. Zum Glück war der Boden noch nicht aufgeweicht. Die Lichter des Alfa Romeo hatten sich zwischen den Stämmen verloren. Janine gab vorsichtig mehr Gas. Solange kein Abzweig kam, musste der Wagen vor ihr sein. Hauptsache, sie entdeckte ihn rechtzeitig. Sie hatte ein komisches Gefühl bei der Sache, wollte lieber unbemerkt bleiben.
Als sie schon glaubte, den Alfa verloren zu haben, sah sie die roten Rücklichter vor sich und hielt erschrocken an. Während sie noch überlegte, ob sie den Roller abstellen und sich vorsichtig näher heranschleichen sollte, setzte sich das Fahrzeug wieder in Bewegung.
Janine ließ ihm etwas Vorsprung, bevor sie nochmals die Verfolgung aufnahm. Minuten später hatte sie den Wagen erneut eingeholt. Der Motor lief nicht mehr, aber das Standlicht war eingeschaltet. Der Wald war hier lichter, zwischen den Stämmen schimmerte das Meer hindurch. Sie schob den Roller ein Stück vom Weg hinunter und bewegte sich langsam auf das Auto zu. Dann erkannte sie, wo sie war.
Einige Meter vor dem Alfa Romeo, wo das Licht der Scheinwerfer sich in der Finsternis verlor, endete der Weg abrupt, dahinter ging es steil hinunter zum Meer. Das Kliff. Ihr heimlicher Treffpunkt.
Unversehens packte Janine die Eifersucht, stach ihr wie eine scharfe Klinge ins Herz. Sie stöhnte auf. Noch keine zwei Wochen waren sie getrennt, und schon brachte er seine neue Freundin hierher? Wie konnte er ihr das antun!
Janine wollte loslaufen und ihn zur Rede stellen, als sie die zwei Gestalten vor dem Wagen bemerkte. Sie waren mit irgendetwas am Boden beschäftigt, machten ruckartige Bewegungen. Eine von beiden hielt einen dünnen, langen Gegenstand in den Händen.
Janine schlich näher, blieb jedoch in der Deckung der Bäume. Es sah aus, als würden die beiden im Sand graben. Aber das ergab keinen Sinn. Nicht im Dunkeln, bei Regen und Sturm. Es sei denn, sie wollten sichergehen, nicht beobachtet zu werden.
Die eine Gestalt warf den langen Gegenstand weg und kam auf den Wald zu. Janines Herzschlag setzte aus. Er war es, ganz sicher, sie erkannte ihn an seiner Haltung, an der Art, wie er die Schultern zurückdrückte. Die zweite Person, die auf der anderen Seite um das Auto herumlief, wirkte älter, ging leicht gebeugt.
Die beiden kamen genau auf Janines Versteck zu. Vor Angst war sie wie gelähmt. Großer Gott, was sollte sie tun?
Doch dann blieben sie am Kofferraum des Wagens stehen. Der jüngere Mann hob die Klappe an, die beiden beugten sich hinein und griffen nach etwas, das so schwer zu sein schien, dass sie es nur mit Mühe herauswuchten konnten.
Janine beobachtete fassungslos, wie die Männer das schwere Bündel um den Wagen herumtrugen, dann verschwanden sie aus ihrem Blickfeld. Minuten später warfen sie den langen Gegenstand in den Kofferraum und stiegen ein. Während der Alfa wendete und langsam an ihrem Versteck vorbeifuhr, war Janine noch immer unfähig, sich zu rühren. Sie stand einfach nur da und versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war.
Als sie sich schließlich in Bewegung setzte, trugen ihre Füße sie automatisch zu der Stelle, wo Minuten zuvor der Wagen gestanden hatte. Mit aller Kraft gegen Wind und Regen gestemmt, suchte sie den Boden ab, konnte aber nichts entdecken.
Sie wollte sich schon abwenden, als im Sand zu ihren Füßen etwas aufblitzte. Sie bückte sich danach. Es war der Schlüsselanhänger mit dem Logo von Alfa Romeo, den sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.
«Aufwachen!»
Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt knurrte unwillig. Die Stimme riss ihn aus einem sehr angenehmen Traum. Er lag unter einem Dach aus Palmwedeln, der weiße Sand war kühl, die Luft warm, das türkisblaue Meer rauschte leise. Er wollte nicht weg.
«Los, aufstehen! Der Kaffee ist fertig!»
Neben Tom stöhnte jemand. Offenbar war er nicht der Einzige, dessen Nachtruhe brutal gestört wurde. Er schlug die Augen auf, und im selben Moment musste er lächeln.
Er lag noch in den Klamotten vom Vortag in der Höhle unter dem Küchentisch, die er am Abend zuvor mit seiner fünfjährigen Tochter aus Kissen und Decken gebaut hatte. Neben ihm rieb sich seine Kollegin Mascha Krieger die verschlafenen Augen. Offenbar waren sie beide so erschöpft gewesen, dass sie es nicht mehr ins Bett geschafft hatten. Vor dem Höhleneingang stand Romy und balancierte ein Tablett mit zwei dampfenden Espressotassen.
Ihm fiel ein, dass er irgendwann in der Nacht aufgewacht war und im schwachen Licht, das von der Straße hereinfiel, gesehen hatte, wie seine Tochter eng an Mascha gekuschelt lag. Mascha hatte den Arm um Romy gelegt und wirkte im Schlaf so entspannt, wie er sie bei Tag noch nie erlebt hatte.
Ein warmes Gefühl hatte sich in seiner Brust ausgebreitet, und er hatte sich auf den Ellbogen gestützt und den beiden einfach beim Schlafen zugeschaut, fest entschlossen, bis zum Morgen wach zu bleiben, um den Moment so lange wie möglich auszukosten. Irgendwann musste er dann doch eingeschlafen sein.
«Papa! Der Kaffee!»
Rasch vertrieb Tom die Erinnerung und kroch unter dem Tisch hervor, zog im letzten Moment den Kopf ein, um sich nicht an der Tischplatte zu stoßen.
«Morgen, Romy. Du hast uns Kaffee gemacht? Das ist ja großartig!»
«Ich wusste nicht genau, welches Pad ich für die kleinen Tassen nehmen muss.»
«Er schmeckt bestimmt fantastisch.» Tom nahm eine Tasse entgegen, reichte die andere Mascha, die sich ebenfalls erhoben hatte. «Wie hast du geschlafen?», fragte er sie.
«Erstaunlich gut. Wenn man bedenkt, dass es meine erste Nacht in einer Höhle war.» Sie nippte an ihrem Espresso. «Köstlich. Danke, Romy.»
Tom probierte ebenfalls. Etwas dünn, aber gar nicht so schlecht. «Das hast du echt toll gemacht, Romy, ich bin stolz auf dich.»
Seine Tochter strahlte übers ganze Gesicht. «Ich kann auch noch einen Kaffee machen.»
Bevor Tom antworten konnte, schrillte sein Handy in der Hosentasche. Er fischte es heraus.
«Ja?»
«Guten Morgen, Herr Engelhardt. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass der Kindergarten heute zubleibt. Eine Kollegin ist krank, die anderen kommen nicht durch den Schnee.»
«Den Schnee? Was soll das heißen?»
«Haben Sie mal aus dem Fenster geschaut?»
«Ähm …»
«Sorry, ich muss jetzt die übrigen Eltern benachrichtigen, Herr Engelhardt. Morgen haben wir bestimmt wieder normal geöffnet.»
«Aber ich …»
Doch die Verbindung war bereits unterbrochen.
«Ist was passiert?», fragte Mascha besorgt.
«Kein Kindergarten heute. Schneefrei.»
«Juhu, schneefrei!» Romy begann, in der Küche herumzutanzen.
Tom stellte die leere Tasse auf der Spüle ab und trat ans Küchenfenster.
Es war noch dunkel, trotzdem erkannte er, dass der Vorgarten seines kleinen reetgedeckten Hauses im Schnee versank. Auch die Straße verbarg sich unter einer weißen Decke. Sein Bulli, der bei diesen Temperaturen ohnehin nicht ansprang, sah aus wie ein verschneiter Grabhügel.
«Heilige Scheiße», murmelte Mascha neben ihm.
Tom blickte auf die Uhr. Kurz nach sieben. Er musste eine Lösung für Romy finden und dann eine für sein Team. Gestern Nachmittag war die Heizung im Revier ausgefallen, zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage. Seine kleine Soko musste zwei mysteriöse Todesfälle am Kliff klären und eine verschwundene Kollegin finden. Sie brauchten einen warmen Ort, wo sie sich besprechen konnten.
Er drehte sich zu Romy um, die immer noch wie verrückt auf und ab hüpfte. «Romy, kannst du bitte mal damit aufhören?»
Sie blieb stehen. «Können wir heute Schlitten fahren?»
«Ach, Romy.» Er hockte sich vor sie. «Du hast keinen Kindergarten, aber ich muss trotzdem arbeiten.»
«Hast du kein Schneefrei?»
«Leider nicht.»
«Kann ich mit aufs Revier?»
«Das geht nicht, Schatz. Da ist es eisig kalt, weil die Heizung kaputt ist. Ich rufe gleich bei Marianne an, hoffentlich hat sie Zeit.» Marianne war die Tagesmutter, die Romy normalerweise vom Kindergarten abholte und betreute, bis Tom Feierabend hatte.
«Ich kann auch zu Nicole gehen.»
Nicole war Romys Erzieherin und passte in ihrer Freizeit gelegentlich auf sie auf. Doch Tom wollte ihre Hilfsbereitschaft nicht ausnutzen, zumal Mascha angedeutet hatte, dass Nicole sich nicht ohne Hintergedanken so liebevoll um seine Tochter kümmerte. Tom wollte keinesfalls falsche Hoffnungen wecken.
Wieder meldete sich sein Handy. Er erhob sich.
«Morgen, Chef», begrüßte ihn Bernd Kruse, einer der Streifenkollegen.
«Morgen, Senior, was gibt’s?»
«Wir haben ein Problem.»
Nur eins? «Was ist los?»
«Laurel und Hardy sind mit dem Streifenwagen im Straßengraben gelandet.»
Laurel und Hardy waren die Spitznamen der Kollegen Dominik Schmitt und Sebastian Kegel. Die beiden besaßen eine sehr entfernte Ähnlichkeit mit den berühmten Komikern, vor allem aber waren sie unzertrennlich.
«Dann sollen sie sich rausziehen lassen», sagte Tom ein wenig ungeduldig.
«Das ist es ja. Weit und breit ist kein Abschlepper verfügbar. Ich habe sogar schon versucht, einen Traktor zu organisieren. Keine Chance.»
Tom bemerkte Maschas fragenden Blick. «Einer der beiden Streifenwagen steckt im Schnee fest», erklärte er ihr leise.
«Dein Nachbar hat doch einen Pick-up.»
«Ich weiß nicht …»
«Bist du noch dran, Tom?», fragte Senior am Telefon.
Tom zögerte. «Schick mir den Standort», antwortete er dann. «Ich finde eine Lösung.»
Seufzend legte er auf. Wenn man ein so kleines Revier leitete, musste man alles selbst erledigen. Normalerweise störte ihn das nicht, aber hin und wieder nervte es.
«Ich kann das mit dem Streifenwagen übernehmen», sagte Mascha. «Gib mir drei Minuten im Bad.»
«Sicher?»
«Ich glaube, du hast genug anderes zu tun.» Sie ließ ihren Blick durch die Küche schweifen.
«Also gut. Du kümmerst dich um den Wagen, ich organisiere was für Romy und räume auf. Teambesprechung in einer Stunde hier bei mir.»
Mascha rieb sich die kalten Finger, bevor sie Laurel ein Zeichen gab und sich hinter das Steuer des Pick-ups setzte. Sie hatte dem Eigentümer ihre Marke hingehalten und behauptet, sie brauche das Fahrzeug für einen Einsatz. Völliger Blödsinn, aber der Mann hatte ihr ohne zu zögern den Schlüssel ausgehändigt. Es hatte auch sein Gutes, wenn die Leute ihr Wissen über Polizeiarbeit aus US-Krimiserien bezogen.
Zum Glück war der Streifenwagen bloß in einem zugeschneiten Acker stecken geblieben. Es würde kein Problem sein, ihn da rauszuziehen. Der Pick-up verfügte über eine Seilwinde, aber für diese Aktion sollte das Abschleppseil genügen. Mascha hatte es am Heck des Streifenwagens befestigt und gab nun vorsichtig Gas, um ihn rückwärts herauszuziehen.
Erst tat sich nichts, dann ging ein Ruck durch den Wagen, und er setzte sich langsam in Bewegung. Aus den Augenwinkeln behielt Mascha Hardy im Auge, der die Operation in sicherem Abstand überwachte. Als er den Arm hob, bremste sie vorsichtig und stieg aus. Der Streifenwagen stand wieder auf der vom Schnee geräumten Fahrbahn. Laurel stieg aus.
«Danke für die schnelle Hilfe.»
«Keine Ursache. Ihr kommt zurecht?»
«Klar doch.» Er rollte das Abschleppseil auf.
Mascha machte sich auf den Weg zurück nach Sellnitz. Tom hatte sie gebeten, Lisa, Björn und Dennis im Hotel abzuholen. Die drei Kollegen waren der Soko Sturm aus verschiedenen Dienststellen zugeteilt worden, genau wie Mascha, die eigentlich als Kryptologin im LKA in Schwerin arbeitete.
Unterwegs musste sie daran denken, wie sie heute Morgen aufgewacht war, Tom neben ihr in der Höhle unter dem Küchentisch, Romy davor, das Tablett mit den Kaffeetassen vor den Bauch gepresst. Mascha erinnerte sich nicht, sich je an einem Ort so zu Hause gefühlt zu haben, so willkommen und geborgen.
Kurz vor Sellnitz stauten sich die Autos, nichts ging mehr, weil ein Bus quer auf der Fahrbahn stand. Zum Glück tauchten Laurel und Hardy eine Minute später mit dem Streifenwagen auf und regelten den Verkehr, der Stau löste sich auf. Mascha winkte den beiden zu und fuhr rasch an dem Hindernis vorbei.
Der Hotelparkplatz war noch nicht geräumt, also hielt sie am Straßenrand. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, um den Kollegen Bescheid zu geben, doch in dem Moment klingelte es. Eine unbekannte Nummer aus Berlin.
«Ja, bitte?»
«Spreche ich mit Frau Krieger?» Eine Frauenstimme.
«Wer will das wissen?»
«Kant hier, Stasi-Unterlagen-Archiv, Berlin.»
Mascha durchfuhr ein heißer Schreck. Das war nicht gut. «Worum geht es?», fragte sie mit gepresster Stimme.
«Sie hatten mit meinem Kollegen Bruno Hirsch zu tun, ist das richtig?»
Maschas Gedanken rotierten. Bruno Hirsch hatte sie kontaktiert, nachdem ihre Anfrage beim Archiv abgelehnt worden war. Sie hatte versucht, an Informationen über ihre leibliche Mutter zu kommen, doch ohne einen Namen oder einen Nachweis, dass es sich tatsächlich um ihre Mutter handelte, durfte man ihr keine Auskunft geben.
Hirsch hatte schon einigen Menschen geholfen, die in einer ähnlichen Situation steckten wie sie. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hatte er Mascha Kopien von Akten zukommen lassen. Die Namen waren geschwärzt gewesen, trotzdem hätte Hirsch die Unterlagen nicht herausgeben dürfen.
Mascha hatte ihm vor einigen Tagen gemailt, weil sie glaubte, die richtige Akte gefunden zu haben, aber noch nichts von ihm gehört. Nun wurde ihr allmählich klar, aus welchem Grund. Bruno Hirsch musste aufgeflogen sein.
«Ich weiß nicht, was Sie meinen», sagte sie, um Zeit zu gewinnen.
«Mein Kollege hat Ihnen Unterlagen geschickt.»
«Sprechen Sie von meiner Anfrage wegen meiner Mutter? Da habe ich leider einen abschlägigen Bescheid erhalten. Ich kann mich aber nicht erinnern, von wem der kam.»
Die Frau am anderen Ende stieß einen ungeduldigen Laut aus. «Nein, das meine ich nicht, Frau Krieger.»
Mascha erblickte ihre Kollegen, die durch den Schnee auf sie zustaksten. Lisa winkte fröhlich.
Mascha winkte zurück und drückte das Handy fest ans Ohr. «Hören Sie, Frau Kant, ich bin mitten in einem Einsatz, wenn sonst nichts ist …» Ohne eine Antwort abzuwarten, unterbrach sie die Verbindung.
Es war früh, der Buchladen noch geschlossen. Janine Kaiser saß im Hinterzimmer an ihrem Schreibtisch, drehte den Schlüsselanhänger mit dem Alfa-Romeo-Logo in ihren Händen und versuchte sich zu erinnern. An ihren Traum von letzter Nacht, an die Ereignisse vor fünfzehn Jahren.
Was war Fantasie, was Realität? Wollte sie es überhaupt wissen?
Eigentlich hatte sie vor langer Zeit beschlossen, jene Nacht und alles, was darauf folgte, hinter sich zu lassen. Aber etwas in ihr schien damit nicht abgeschlossen zu haben, und so drängten die verschwommenen Bilder immer aufs Neue an die Oberfläche.
Gestern Nacht hatte sie zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder davon geträumt, so konkret wie nie zuvor. Allerdings war sie davon überzeugt, dass das, was sie im Traum erlebt hatte, nie so geschehen war. Das konnte einfach nicht sein. Ihr Hirn hatte ihr eine wilde Mischung aus vagen Erinnerungen, ihren absurden Ängsten und den jüngsten Ereignissen in Sellnitz präsentiert.
In dem Traum hatte der Vater ihres Kindes zusammen mit einem anderen Mann bei Regen und Sturm etwas am Kliff vergraben.
Etwas, das aussah wie eine Leiche.
Janine schüttelte den Gedanken ab. Vermutlich waren es solche Träume, die sie nachts in die Flucht trieben, sie dazu veranlassten, kopflos draußen umherzuirren und sich in Gefahr zu bringen. Nur erinnerte sie sich normalerweise nicht daran.
Poriomanie nannte man das. Eine Störung der Impulskontrolle, die unter anderem durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöst werden konnte. Eine Weile war es so schlimm gewesen, dass sie einige Wochen in einer Klinik verbracht hatte. Die Therapeutin hatte damals vorgeschlagen, der Ursache für den Fluchttrieb mit Hypnose auf den Grund zu gehen. Aber Janine hatte Angst gehabt, vollständig die Kontrolle zu verlieren. Zumal sie nicht wusste, welche Erinnerungen während der Hypnose auftauchen würden und ob sie wollte, dass irgendjemand davon erfuhr.
Vielleicht hätte sie es wagen sollen. Vielleicht sollte sie es jetzt tun. Aber woher konnte sie wissen, ob das, was sie unter Hypnose ins Bewusstsein holte, wirklich geschehen und nicht wieder Einbildung war?
Zudem musste sie an Torge denken. Sie hatte einen vierzehnjährigen Sohn, der sie brauchte. Sie durfte nicht riskieren, dass er die Wahrheit erfuhr, er sollte unbelastet von der Vergangenheit aufwachsen.
Zwar stellte er manchmal Fragen, doch meistens gab er sich mit den Antworten zufrieden, die Janine sich vor vielen Jahren zurechtgelegt hatte. Es waren die gleichen, die sie auch den Leuten gegeben hatte, als sie plötzlich schwanger gewesen war. Und ihrem Großvater, dem einzigen Verwandten, der ihr damals geblieben war. Er war immer sehr hart gewesen, zu sich selbst und zu anderen. Und er hatte kein Verständnis gehabt für ihre Liebe zu Büchern. Doch er hatte ihr beigestanden, auf seine barsche Art. Hatte die Nachbarn abgewimmelt, die neugierige Fragen stellten, sie zum Arzt gefahren, sogar einen Kinderwagen gekauft.
Trotzdem war Janine froh gewesen, als sie endlich in eine eigene Wohnung ziehen konnte. Zum ersten Mal in ihrem Leben durfte sie eigene Entscheidungen treffen, Dinge so tun, wie sie es für richtig hielt. Damals hatte sie sich vorgenommen, nur noch nach vorne zu blicken.
Kurz entschlossen legte sie den Schlüsselanhänger zurück in die Schublade. Schluss mit der Grübelei.
Die Ladenglocke klingelte. Janine zuckte zusammen. Hatte sie vergessen abzuschließen? Durch die offene Bürotür konnte sie niemanden sehen, Bücherregale verstellten den Blick.
Sie schaute auf die Uhr. Noch nicht einmal acht. Sie hatte sich vorgenommen, vor Ladenöffnung den Papierkram zu erledigen. Wenn sie bis halb zehn fertig sein wollte, musste sie sich ranhalten. Aber erst mal musste sie den frühen Kunden wieder loswerden.
Sie wollte sich erheben, als jemand ins Büro trat.
Janine blieb das Herz stehen.
Er lächelte. «Habe ich dich erschreckt?»
Tom war gerade dabei, die letzten Kissen aus der Höhle ins Wohnzimmer zu tragen, als er durchs Fenster sah, wie der Pick-up seines Nachbarn in die Einfahrt fuhr und seine Kollegen ausstiegen.
Perfektes Timing. Die Tagesmutter hatte Romy vor zehn Minuten abgeholt, das Chaos war beseitigt. Tom hoffte nur, dass die anderen etwas vom Bäcker mitgebracht hatten, ihm knurrte der Magen.
Kaum waren alle eingetreten, klingelte Paul, der Letzte im Team. Der Sellnitzer Kollege hatte eine große Papiertüte dabei, aus der es verführerisch duftete.
Sie machten es sich am Küchentisch bequem. Mascha bereitete Kaffee zu, Tom klappte seinen Laptop auf, Paul ließ die Tüte herumgehen.
«Also los», begann Tom, sobald alle sich bedient hatten. «Es gibt eine Menge zu tun. Lasst uns mit dem Stalker anfangen, auch wenn das gar nicht unser Fall ist.»
Zwei Tage zuvor hatten sie in einer halsbrecherischen Aktion einen Mann gefasst, der eine Reihe von Frauen über ihre Webcam ausspioniert hatte und in ihre Wohnung eingedrungen war. Da sie den Verdacht gehabt hatten, ihre Kollegin Kira könnte in der Gewalt des Stalkers sein, hatten sie die Operation ohne Absprache mit dem LKA durchgeführt, das für die Ermittlungen zuständig war. Ein Unding, aber da alles gut ausgegangen war und Mascha zudem dem Ermittlerteam im LKA angehörte, hatten alle Beteiligten darüber hinweggesehen.
«Gibt es da denn Neuigkeiten?», fragte Björn.
«Wir wissen jetzt sicher, dass Nils Braake nichts mit dem Verschwinden von Kira zu tun hat.» Tom warf einen Blick auf seine Notizen. «Die DNA-Spuren an der Reisetasche, die in einem Mülleimer vor dem Friedhof gefunden wurde, stammen definitiv nicht von ihm. Zudem hat er für die mutmaßliche Tatzeit ein Alibi. Da hat er in seiner Praxis in Schwerin einen ambulanten Eingriff vorgenommen.»
«Mist», murmelte Dennis.
«Wie man’s nimmt», wandte Lisa ein und strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht. «Ich finde es eigentlich ganz beruhigend, dass Kira nicht in die Gewalt dieses Gestörten geraten ist.»
Nils Braake war Hautarzt und offenbar besessen von Narben. Eins seiner Opfer hatte er unter Gewaltandrohung entkleidet und dann die Narben gestreichelt und fotografiert.
«Sie könnte von einem noch viel schlimmeren Typen entführt worden sein», bemerkte Björn düster.
Nicht hilfreich, dachte Tom, auch wenn der Kollege natürlich recht hatte.
«Vor allem müssen wir jetzt mit der Suche wieder bei null anfangen.» Dennis schüttelte den Kopf. «Und das ohne eine konkrete Spur.»
«Mir kommt da gerade ein Gedanke.» Mascha pulte an ihrem angebissenen Brötchen herum. «Was, wenn Kiras Verschwinden doch mit unserem Fall zu tun hat?»
«Sie könnte auf eigene Faust ermittelt haben und dem Täter zu nahe gekommen sein», stimmte Lisa ihr zu.
Mascha legte das Brötchen weg. «Möglich, aber ich dachte an etwas anderes.»
«Und was?» Tom beugte sich hoffnungsvoll vor.
«Ich hatte doch die CD, die wir bei den Skeletten am Kliff gefunden haben, im Hotelzimmer liegen, weil ich die Daten darauf entschlüsseln sollte. Später wurde im Labor festgestellt, dass sich keine Fingerabdrücke daran befanden. Was, wenn die nicht vor Jahren im Zusammenhang mit den Morden beseitigt wurden, sondern erst kürzlich, nach der Entdeckung der sterblichen Überreste?»
«Du meinst, jemand ist in dein Hotelzimmer eingedrungen und hat die CD abgewischt?» Tom konnte sich nicht so recht vorstellen, weshalb jemand das hätte tun sollen. Der Täter hätte die CD ja wohl nicht zusammen mit den Opfern vergraben, wenn sie ihn irgendwie belasten würde. Und falls doch, hätte er die Abdrücke damals schon abgewischt. Oder, besser noch, die CD vernichtet.
«Ich weiß, dass irgendwer in meinem Hotelzimmer war», korrigierte Mascha ihn. «Zweimal sogar. Ich dachte bisher nur, es wäre beide Male der Stalker gewesen. Aber was, wenn nicht? Wenn der zweite Eindringling es auf die CD abgesehen hatte und Kira ihn dabei überrascht hat?»
«Aber warum hat er die CD nicht einfach mitgenommen?», fragte Paul stirnrunzelnd.
«Vielleicht, damit wir nicht merken, dass etwas damit nicht stimmt.»
«Das würde bedeuten», sagte Björn nachdenklich, «dass nur die Fingerabdrücke auf der Hülle den Täter belastet hätten, nicht aber der Inhalt der CD.»
«Dann kann es nicht unser Richter sein.» Dennis spielte mit seinem Zigarettenpäckchen herum.
Der verschlüsselte Dateiordner auf der CD hatte Fotos aus den Siebzigerjahren enthalten, die eine Versammlung von Neonazis zeigten. Bisher hatten sie nur eine Person darauf identifizieren können, Guido Zernikow, ein pensionierter Richter aus Sellnitz. Ein ehemaliger Anwalt aus Rostock hatte zudem indirekt zugegeben, den Richter mithilfe der Fotos zu milden Urteilen erpresst zu haben. Eines der Opfer vom Kliff war ein Einbrecher gewesen, der die CD mitgenommen hatte, als er vor knapp fünfzehn Jahren den Safe des Anwalts geknackt hatte. Das zweite Opfer war eine Friseurin aus Sellnitz, die davon geträumt hatte, in New York Karriere als Model zu machen. Sie war nach einem plötzlichen Geldsegen spurlos verschwunden. Ihr Ehemann Manuel Hertz, der angeblich all die Jahre geglaubt hatte, sie wäre tatsächlich ausgewandert, hatte sich erschossen, nachdem er von ihrem Tod erfahren hatte. Zwei Jugendliche hatten seine Leiche am vergangenen Samstag im Wald gefunden.
«Das werden wir sehen», sagte Tom, dem die Spekulationen ein wenig zu weit gingen. «Jedenfalls können wir nun endlich mit Zernikow reden, er ist inzwischen wieder vernehmungsfähig.»
Der Richter hatte einen Herzinfarkt erlitten, bevor sie ihn ein zweites Mal zu den verfänglichen Fotos hatten befragen können.
«Sehr gut.» Mascha rieb sich die Krümel von den Fingern. «Kann ich mitkommen?»
«Nein, ich möchte, dass Dennis und Björn ins Krankenhaus fahren. Zernikow kennt die beiden noch nicht, das macht ihn womöglich gesprächiger.»
Tom tippte auf seinem Laptop herum. «Für dich und Lisa habe ich eine andere Aufgabe. Die Verbindungsdaten von Kiras Handy sind endlich gekommen. Ihre letzten Telefonate habe ich mir schon angesehen, da ist leider nichts Aufschlussreiches dabei. Aber ich möchte, dass du das alles noch mal durchgehst. Womöglich habe ich etwas übersehen. Und dann nehmt bitte das Umfeld von Walter Kublank gründlich unter die Lupe.» Kublank war der ermordete Einbrecher. «Ich will alles über ihn wissen. Es könnte sein, dass er bei dem Einbruch einen Komplizen oder Mitwisser hatte. Ich fahre nach Stralsund und rede mit seinem Bruder.» Helge Kublank saß gerade eine mehrjährige Haftstrafe ab. «Gut möglich, dass er damals der Komplize war.»
«Und was ist mit mir?», fragte Paul.
«Du schnappst dir Senior und machst ein bisschen Beinarbeit. Ich möchte, dass ihr ein Foto von Kublank in Sellnitz herumzeigt. Ist zwar schon ziemlich lange her, aber vielleicht erinnert sich ja trotzdem jemand an den Mann. Wenn er auf dem Darß ermordet wurde, hat er sich möglicherweise vorher schon eine Weile hier aufgehalten. Dann müsste er irgendwo gewohnt haben.»
«Was ist mit Manuel Hertz?», fragte Paul. «Ist er noch verdächtig?»
«Auf jeden Fall. Nur weil sein Abschiedsbrief kein Schuldeingeständnis enthält, heißt das nicht, dass wir ihn von der Liste streichen können. Ein Motiv hatte er jedenfalls. Seine Frau wollte ihn verlassen, und sie besaß das Geld, mit dem er seine Schulden bezahlen konnte.»
«Aber wir zweifeln nicht mehr daran, dass es Suizid war, oder?» Björn warf Lisa einen Blick zu.
Sie hatte herausgefunden, dass auf die Tatwaffe ein Schalldämpfer aufgeschraubt gewesen war. Das hatte die Selbstmordtheorie vorübergehend erschüttert.
«Ich denke, da können wir ziemlich sicher sein», antwortete Tom zögernd. «Inzwischen sind auch seine Handydaten ausgewertet. Es gibt keine Nachrichten oder Anrufe von einer unbekannten Person, keine Kontakte, die wir nicht zuordnen können.» Tom klatschte in die Hände. «Also dann, an die Arbeit. Jeder weiß, was er zu tun hat. Die Suche nach Kira hat auf jeden Fall absolute Priorität, sollte sich da irgendwas Neues ergeben, gehen wir dem sofort nach.»
Janine war noch immer starr vor Schreck. Ihr Überraschungsbesuch war längst weg, sie hatte mit zitternden Fingern die Ladentür hinter ihm abgeschlossen und war in einen der beiden alten Ohrensessel gesunken, in denen sich sonst Lesehungrige zum Schmökern niederließen, unfähig, sich zu bewegen.
Anders als bei ihrer letzten Begegnung vor drei Tagen hatte er diesmal gestresst auf sie gewirkt und irgendwie überdreht, beinahe manisch. Am Montag hatte sie ihn zur Rede gestellt, weil er Torge nach dem Sport abgepasst und nach Hause gefahren hatte. Während des kurzen Gesprächs auf einem einsamen Parkplatz am Bodden war er vollkommen ruhig geblieben, zumindest so lange, bis Janine den Schlüsselanhänger aus der Tasche gezogen hatte.
Der Anblick hatte ihn kurzzeitig aus dem Konzept gebracht, und er hatte Janine unverhohlen damit gedroht, ihr Torge wegnehmen zu lassen. Janine zweifelte nicht daran, dass er seine Drohung wahr machen würde, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlte. Aber er schien auch begriffen zu haben, dass sie nicht wollte, dass er ihrem Sohn zu nahe kam. Zum Glück ahnte Torge nicht einmal, in wessen Wagen er gesessen hatte.
Und was auch immer sein Erzeuger im Schilde führte, sich seinem Sohn zu offenbaren, schien nicht Teil seines Plans zu sein. Er benutzte Torge lediglich, um Janine zu drohen. Und das mit Nachdruck.
Eben hatte er Janine ein Blatt Papier auf den Schreibtisch geknallt. Ein Auszug aus dem Krankenbericht über ihren Klinikaufenthalt vor über zehn Jahren. Sie hatte keine Ahnung, wie er darangekommen war.
Jedenfalls hatte es sie zu Tode erschreckt. Er hatte Macht. Und er würde sie nutzen, um sie zu vernichten, wenn sie ihm in die Quere kam. Allerdings verstand sie noch immer nicht, warum er überhaupt glaubte, ihr drohen zu müssen. Sie hatte doch nichts gegen ihn in der Hand, nichts jedenfalls, womit sie sich selbst nicht mehr schadete als ihm.
Ein Gedanke stieg in ihr auf, so schrecklich, dass er ihr die Kehle zuschnürte. Was, wenn ihr Traum vergangene Nacht gar kein Produkt ihrer überreizten Fantasie gewesen war? Was, wenn sie den Alfa Romeo wirklich in jener Sturmnacht auf dem Kliff gesehen hatte? Wenn die beiden Männer damals die Toten begraben hatten, deren sterbliche Überreste ein weiterer Sturm fast fünfzehn Jahre später wieder freigelegt hatte?
Mascha lehnte sich zurück und knetete ihren verkrampften Nacken. Toms Küchentisch war zwar groß, aber die Bank nicht dafür ausgelegt, stundenlang darauf zu sitzen und zu arbeiten. Zudem tat ihr der Rücken noch weh von der Nacht auf dem Fußboden.
«Alles okay?», fragte Lisa.
Mascha und sie waren die einzigen aus dem Team, die noch im Haus waren. Björn und Dennis waren ins Krankenhaus gefahren, Paul putzte mithilfe der Streifenkollegen Klinken, und Tom war auf dem Weg nach Stralsund.
«Mein Rücken mag das lange Sitzen nicht.»
«Kenne ich.» Lisa gähnte. «Schon was herausgefunden?»
Mascha war dabei, sich durch Kiras Verbindungsdaten zu arbeiten, von ihrem letzten Anruf am Vormittag ihres Verschwindens Stück für Stück rückwärts.
«Leider nicht. Nur, dass Kira offenbar kaum private Kontakte hatte. Außer gelegentlichen Telefonaten mit ihren Eltern finde ich hier fast nur Namen von Arbeitskollegen.»
«Vielleicht ist sie mit denen befreundet», meinte Lisa.
Mascha bezweifelte das. Und es stimmte sie traurig. Zumal sie da eine erschreckende Parallele zu sich selbst bemerkte. Wenn sie spurlos verschwände und ein Ermittler ihre Telefondaten durchginge, würde er auch nahezu ausschließlich Kommunikation mit Kollegen finden. Was das wohl über sie sagte? Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken.
«Ich kriege langsam Hunger», sagte Lisa. «Was ist mit dir?»
«Würde nicht Nein sagen.»
«Sollen wir uns was kommen lassen? Oder kurz rausgehen? Um die Ecke an der Hauptstraße ist ein asiatischer Imbiss.»
«Dann lass uns eine Pause machen.» Mascha erhob sich und griff nach ihrer Jacke. Der kurze Spaziergang wäre nicht nur eine gute Gelegenheit, sich die Füße zu vertreten, sondern auch, ein paar private Worte mit Lisa zu wechseln. Die Kollegin litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, seit sie bei der Spurensuche am Kliff bei einem Erdrutsch verschüttet worden war. Besonders Albträume und damit verbundene Schlafstörungen machten ihr zu schaffen. In der kommenden Woche wollte sie endlich eine Therapeutin aufsuchen.
Lisa blickte nach draußen. «Ach nee, es schneit schon wieder.»
Mascha folgte ihrem Blick. «Sieht nicht sehr gemütlich aus. Aber da müssen wir wohl jetzt durch.»
«Kommt darauf an.» Lisa blickte sich in der Küche um. «Meinst du, Tom hätte etwas dagegen, wenn ich uns was koche?»
«Bestimmt nicht.»
Mascha sah zu, wie Lisa in den Schränken kramte und eine Dose Linsen, zwei verschrumpelte Kartoffeln und eine Packung Kokosmilch zutage förderte. «Magst du Curry?»
«Klar.»
«Scharf?»
«Aber hallo.»
«Dann mach dich auf was gefasst.»
Während Lisa eine Zwiebel hackte und in der Pfanne anbriet, schnappte Mascha sich eine der Akten über Walter Kublank. Zu dem Hefter, der sich mit dem Einbruch bei dem Rostocker Anwalt beschäftigte, waren mehr als ein Dutzend mit weiteren Fällen hinzugekommen. Kublank hatte zahllose Einbrüche verübt. Und da sie Jahrzehnte zurücklagen, waren sämtliche Akten nur in Papierform vorhanden.
Mascha überflog die Seiten, nicht ganz sicher, wonach sie überhaupt suchte. Dem Namen eines möglichen Komplizen? Einer Verbindung zu Manuel und Iris Hertz? Oder zu dem verdächtigen Richter? Sie sollte sich konzentrieren, um nichts zu überlesen, aber Frust machte sich in ihr breit. Während sie uralte Akten durchblätterte, war Kira irgendwo eingesperrt und stand Todesängste aus. Was sie tat, kam ihr so sinnlos vor.
Sie schlug die nächste Seite auf, stockte, blätterte zurück. Das war interessant. Sie griff nach ihrem Handy und rief Tom an. Er ging nach dem zweiten Klingeln ran.
«Was gibt’s, Mascha?»
«Bist du schon bei Helge Kublank?»
«Gerade auf dem Parkplatz angekommen.»
«Frag ihn nach einer Helga Sonnleitner.»
«Wer ist das?»
«Eine Frau hier aus Sellnitz, die seinem Bruder vor Jahren in einem anderen Fall ein Alibi gegeben hat.»
«Wohnt sie noch auf dem Darß?»
«Habe ich noch nicht überprüft. Ich wollte dir sofort Bescheid geben.»
«Gut, danke. Versuch sie ausfindig zu machen. Wenn sie Kublank ein Alibi gegeben hat, kannten die beiden sich womöglich näher. Dann könnte Kublank nach dem Bruch auf den Darß gefahren sein, um bei ihr unterzuschlüpfen.»
Mascha versprach, sich darum zu kümmern, und legte auf. Als sie hochblickte, stand Lisa mit zwei dampfenden Tellern vor ihr. Es duftete köstlich.
«Eine Spur?», fragte sie.
«Möglicherweise. Wenn ich die Frau ausfindig gemacht habe, wissen wir mehr.»
«Aber erst wird gegessen.»
Mascha lächelte. «Worauf du dich verlassen kannst.»
Guido Zernikow lag in einem Einzelzimmer mit Blick über das Kliff. Auf dem Tisch unter dem Fenster standen mehrere Vasen mit Blumen, verschiedene Grußkarten, ein Präsentkorb und sogar eine Flasche Champagner. Doch all die kostspieligen Genesungswünsche täuschten nicht darüber hinweg, dass der ehemalige Richter einsam und allein in seinem Krankenzimmer ausharrte. Björn hatte nachgefragt, Besuch hatte der alte Herr bisher noch nicht bekommen.
Er trat näher. Tom hatte den Achtundsiebzigjährigen als rüstig und energisch beschrieben, davon war nicht mehr viel zu sehen. Blass und mit eingefallenen Wangen saß er im Bett.
«Guten Tag, Herr Zernikow», begrüßte Björn ihn. «Mein Name ist Björn André, das ist mein Kollege Dennis Schwarz.»
«Die Polizei, na so was. Ich habe mich schon gefragt, wann Sie auftauchen. Was ist mit Hauptkommissar Engelhardt? Hat er Sie beide vorgeschickt?»
Björn sah Dennis mit hochgezogenen Brauen an und zog sich einen Stuhl heran. Ganz so schwach, wie er auf den ersten Blick gewirkt hatte, war Zernikow wohl doch nicht. «Herr Engelhardt lässt grüßen», sagte er. «Als Ermittlungsleiter hat er leider alle Hände voll zu tun.»
«Er hat wohl gedacht, dass ich angesichts von zwei neuen Gesichtern gesprächsbereiter bin.»
Seinen Scharfsinn hatte der Richter offenbar auch nicht eingebüßt.
«Und?», fragte Björn. «Sind Sie das?»
«Wüsste nicht warum.»
«Vielleicht, weil ein gewisser Anwalt aus Rostock mit uns geplaudert hat», warf Dennis beiläufig vom Fußende des Bettes ein.
Das schien den Richter zu verunsichern. «Keine Ahnung, wovon Sie reden», blaffte er.
«Sie kennen also keinen Strafverteidiger namens Dirk Teschendorf?», übernahm Björn wieder.