Der Strand: Verraten - Karen Sander - E-Book
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Der Strand: Verraten E-Book

Karen Sander

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Beschreibung

Der Fall Lilli Sternberg scheint abgeschlossen, doch Engelhardt & Krieger haben Zweifel … Die gehörlose Lilli Sternberg ist seit einer Woche verschwunden, ihr vermutlicher Mörder tot. Die Polizei befürchtet, dass ihre Leiche nicht mehr gefunden wird, allerdings gibt es Ungereimtheiten, die Ermittlungsleiter Sebastian Engelhardt unbedingt klären will. Deshalb widersetzt er sich dem Druck seiner Vorgesetzten, die den Fall medienwirksam als Ermittlungserfolg verbuchen wollen. In der Kryptologin Mascha Krieger hat er eine Verbündete. Als die stark verweste Leiche einer jungen Frau im Hafen von Sellnitz angespült wird, lassen Haarfarbe und Überreste der Kleidung vermuten, dass es Lilli ist. Doch es gibt keine Übereinstimmung mit der DNA der Großeltern. Wer ist die unbekannte Tote? Wurde sie das Opfer eines Serientäters, der bereits zum zweiten Mal zugeschlagen hat? Was geschah mit Lilli Sternberg? Drei in sich abgeschlossene Thriller, ein großer Fall: die packende Ostsee-Trilogie.

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Seitenzahl: 390

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Karen Sander

Der Strand: Verraten

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Vor einer Woche verschwand Lilli Sternberg.

Ist sie die Tote am Strand von Sellnitz?

Oder ist ein Serienmörder am Werk?

 

Alle Bewohner des Küstenortes auf dem Darß haben sich an der fieberhaften Suche nach der gehörlosen Lilli Sternberg beteiligt – vergeblich. Ihr mutmaßlicher Mörder ist tot, doch die Leiche der Neunzehnjährigen wurde nicht gefunden.

Ermittlungsleiter Tom Engelhardt widersetzt sich dem Druck seiner Vorgesetzten, den Fall zu den Akten zu legen, und hat in der Kryptologin Mascha Krieger eine Verbündete – es gibt zu viele offene Fragen, die beiden glauben nicht, dass der Fall abgeschlossen ist.

Als die stark verweste Leiche einer jungen Frau am Strand von Sellnitz angespült wird, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um Lilli handelt. Doch es gibt keine Übereinstimmung der DNA. Wer ist die unbekannte Tote? Wurde sie das Opfer eines Serientäters, der ein weiteres Mal zugeschlagen hat? Und wo ist Lilli?

 

Tom Engelhardt & Mascha Krieger ermitteln.

Vita

Karen Sander arbeitete als Übersetzerin und unterrichtete an der Universität, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie hat über die britische Thriller-Autorin Val McDermid promoviert. Ihre Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und haben eine Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren. Mit ihrem Mann lebt sie sechs Monate im Jahr in ihrer Heimatstadt Düsseldorf. Die anderen sechs Monate reist sie durch die Welt und schreibt darüber in ihrem Blog.

 

Mehr unter: writearoundtheworld.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung nicky39/iStock; Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01206-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Donnerstag, 12. September

Teterow, Landkreis Rostock

Es ist purer Zufall, dass ich in diesem Augenblick aus dem Fenster blicke. Trotz des Beruhigungsmittels, das man mir gespritzt hat, kann ich nicht schlafen, deshalb wandere ich seit Stunden rastlos im Zimmer auf und ab. Mein Verstand sagt mir, dass ich hier sicher bin, aber mein Instinkt schreit Flucht.

Jetzt weiß ich, dass ich auf meinen Instinkt hätte hören sollen.

Wer auch immer in dem Wagen sitzt, der gerade die Einfahrt herauffährt, es ist niemand vom Personal, denn das parkt auf dem kleinen eingezäunten Gelände vor dem Seiteneingang. Und für einen Besucher ist es viel zu spät. Der Wagen hält in der dunkelsten Ecke des Parkplatzes, wo das Licht der Laternen nicht hinreicht. Trotzdem weiß ich sofort, wer es ist. Ich erkenne ihn an der Art, wie er die Tür zuschlägt, an seinem Gang. Herrisch, befehlsgewohnt. Dieser Mann weiß, was er will, und auch, wie er es bekommt.

Ich muss hier weg, so schnell wie möglich, aber ich kann nicht aufhören, nach draußen zu starren. Mit jedem Meter, den er sich dem Gebäude nähert, zieht sich die Schlinge um meinen Hals weiter zu. Endlich verschwindet der Mann unter dem Vordach, und der Bann ist gebrochen.

Rasch wäge ich meine Optionen ab. Ich trage nur ein Nachthemd, meine Füße sind nackt. Egal, keine Zeit. Ich stoße die Tür auf, horche mit klopfendem Herzen. Alles ist still, so still zumindest, wie es in einem alten Haus sein kann. Irgendein Geräusch macht es immer. Das morsche Holz der Treppen ächzt, die Wasserleitungen pfeifen sacht, die Scheiben klirren leise, wenn Zugluft die Türen bewegt.

Ich zittere vor Anspannung. Der schnellste Weg nach draußen wäre links den Korridor hinunter, doch von dort nähert sich die Gefahr. Ich habe keine Wahl, ich muss mich nach rechts wenden, wo es tiefer in das verschlungene Innere des alten Gebäudes geht. In diesem Flur bin ich noch nie gewesen. Er sieht verwahrlost aus. Staub und abgebröckelter Putz sammelt sich auf dem Boden, Farbe schält sich von der Wand. Die Fliesen sind eiskalt unter meinen Füßen, ich spüre Putzkrümel unter den Sohlen. Ich sehe kaum, wohin ich trete, durch die Fenster dringt nur das schwache Licht der beiden einsamen Laternen, die auf dem Personalparkplatz stehen.

Eine Tür versperrt mir den Weg, daran ein Schild: Kein Zutritt. Hier beginnt der ungenutzte Teil des Gebäudekomplexes, nehme ich an. Ich habe mitbekommen, wie die Schwestern sich darüber unterhalten haben, dass die Klinik erweitert werden soll, aber das Geld fehlt. Der Betreiber will den maroden Seitenflügel abreißen lassen, ein Neubau ist billiger als eine Sanierung, doch das Gebäude steht unter Denkmalschutz.

Ich drücke die Klinke ohne viel Hoffnung. Wie durch ein Wunder lässt sich die Tür öffnen. Quietschend schabt sie über den Boden, das Geräusch hallt ohrenbetäubend laut durch den Korridor. Daran kann ich nichts ändern, Hauptsache, ich komme heil hier raus. Egal wie. Wenn ich erst mal draußen bin, kann ich mich irgendwo in Sicherheit bringen. Die Klinik ist von dichtem Wald umgeben, da wird er mich nicht finden.

Kaum ist die Tür hinter mir zugefallen, sehe ich gar nichts mehr. Ich befinde mich offenbar in einem großen Raum, aber die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Ich lasse kostbare Sekunden verstreichen, in denen sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Ob er jetzt gerade in meinem Zimmer ist und bemerkt hat, dass ich geflohen bin? Dann wird er nicht mehr lange brauchen, um mich hier zu finden.

Ich horche. Sind das Schritte? Schuhe, die auf den verdreckten Steinfliesen knirschen?

Weiter, ich muss weiter.

Inzwischen erkenne ich wenigstens Schemen. Der Raum ist riesig, ein großer Saal mit mindestens einem Dutzend Fenstern an jeder Seite. Die Konturen von zerschlissenen Polsterstühlen schälen sich aus dem Dunkel, und in der Ecke steht etwas, das aussieht wie ein alter Flügel. Ich kann nicht erkennen, ob am anderen Ende eine weitere Tür ist. Ich bewege mich rasch, aber vorsichtig, um nirgendwo anzustoßen.

Ich habe das andere Ende des Raums fast erreicht, als meine nackten Füße gegen etwas Hartes stoßen. Schmerz durchzuckt mich. Schlimmer aber ist der Lärm. Ein metallisches Scheppern, das man bestimmt noch zwei Korridore weiter hört.

Ich halte den Atem an. Alles ist still. Bestimmt horcht er ebenfalls, wartet darauf, dass ich den Fehler begehe, erneut ein Geräusch zu machen. Ich bücke mich, taste behutsam nach dem Gegenstand. Ein Metallrohr, nicht sehr lang, aber schwer in meiner Hand. Die Oberfläche ist rau, vermutlich vom Rost. Mit dem Rohr in der Hand fühle ich mich besser, es verleiht mir Kraft. So bin ich meinem Gegner nicht völlig wehrlos ausgeliefert. Es erinnert mich an den Schraubenzieher, den ich in meinem Versteck im Keller bei mir getragen habe. Ich wünschte, ich wäre noch dort. Wäre ich doch bloß nicht mit dem Polizisten mitgegangen. Er war nett, ich glaube, er wollte mir wirklich helfen. Aber er hatte ja keine Ahnung, mit welchem Gegner ich es zu tun habe. Er wusste ja nicht mal von Lilli. Bestimmt lebt sie nicht mehr, bestimmt hat der Dreckskerl sie ermordet. Und jetzt ist er hier in der Klinik, um auch mich für immer zum Schweigen zu bringen. Aber ich werde mich nicht kampflos ergeben.

Ich packe das Rohr und schleiche weiter. Am Ende des Saals ist tatsächlich eine Tür. Massives Holz, zwei Flügel. Ich versuche mein Glück. Nichts. Die Tür ist fest verschlossen. Auch das noch! Jetzt habe ich es so weit geschafft, ich darf nicht aufgeben!

Vom anderen Ende des Saals dringen Geräusche herüber, irgendwer ist hinter der Tür. Dann quietscht etwas so laut und so dicht an meinem Ohr, dass ich erschrocken zurückspringe und das Rohr umklammere. Langsam öffnet sich der eine Flügel der Tür, ich hebe den Arm.

Eine ältere Frau steht da, auch sie trägt nur ein Nachthemd, ihr graues Haar steht wirr vom Kopf ab. Ich kenne sie flüchtig vom Sehen, sie ist ebenfalls Patientin.

«Komm mit», flüstert sie. «Ich kenne einen Weg.»

Ich zögere. Woher weiß sie, dass ich hier bin?

«Nun mach schon!», zischt sie.

Ich gebe mir einen Ruck. Nachdenken kann ich später. Ich folge der Frau durch einen Vorraum, eine Treppe hinunter und einen langen Korridor entlang. Ich habe das Gefühl, dass wir zurückgehen in Richtung des bewohnten Teils. Aber das macht nichts, Hauptsache, ich finde irgendeinen Ausgang. Im Korridor brennt die Notbeleuchtung, Rohre laufen an der Decke entlang, zu beiden Seiten gehen Türen ab, es riecht nach Waschmittel. Hier sind die Wirtschaftsräume der Klinik. Am Ende geht es eine enge Stiege hinauf, und plötzlich stehen wir in der Eingangshalle.

Die alte Frau dreht sich zu mir um und grinst verschlagen. «Ich habe dich zurückgebracht.»

Im selben Moment sehe ich einen Schatten hinter der Empfangstheke hervortreten. Mein Herz explodiert, das Eisenrohr in meiner Hand fängt an zu zittern. Die Gestalt kommt auf mich zu, ich schreie.

Freitag, 13. September

Sellnitz auf dem Darß, am Mittag

Nieselregen benetzte die Scheibe, als Mascha den Mietwagen vor dem Polizeirevier parkte. Ein Fiat 500, ausgerechnet in Blassrosa. Offiziell nannte die Farbe sich Stella Weiß, wie man ihr erklärt hatte. Die Italiener hatten ein seltsames Verhältnis zu Farben. Immerhin war das Fahrzeug brandneu und roch noch nach Fabrik.

Mascha stieg aus und streckte den Rücken durch. Hinter ihr lag ein anstrengender Vormittag. Begonnen hatte er damit, dass sie ihren Chef beim LKA überredet hatte, ihr eine Woche Urlaub zu geben.

«Urlaub?» Oliver hatte sie mit schief gelegtem Kopf angesehen. «Du hältst mich wohl für bescheuert.»

«Ich habe gerade zusammen mit den Kollegen in Sellnitz zwei Morde aufgeklärt», hatte Mascha es versucht. «Da habe ich mir wohl eine Auszeit verdient.»

«Lass die Spielchen, Mascha. Wir wissen beide, dass du keinen Urlaub machen willst. Du weißt doch nicht mal, was das ist. Ich kann gut nachvollziehen, was in dir vorgeht. Ihr habt zwei Mörder überführt, aber Lilli Sternbergs Leiche nicht gefunden. Das würde mich auch ärgern.»

«Ärgern ist wohl kaum das passende Wort.»

«Natürlich nicht, sorry.» Oliver zupfte am Kragen seines perfekt sitzenden Hemdes.

«Sie könnte noch leben», beharrte Mascha.

Oliver schüttelte den Kopf und erhob sich hinter seinem Schreibtisch. «Wenn das irgendwie im Bereich des Möglichen wäre, würden die zuständigen Kollegen alles tun, um sie zu finden.»

Mascha öffnete den Mund.

Oliver hob die Hand und trat zu ihr. «Ich weiß, was du sagen willst.» Wenn er sie so besorgt anschaute, die dunklen Augen unergründlich, sah er unwiderstehlich aus. Doch sie hatte ihre Schwäche für ihn vor langer Zeit überwunden.

«Bitte», drängte sie. «Du hast doch nichts zu verlieren.»

Er seufzte. «Also gut. Eine Woche Urlaub. Was du in deiner Freizeit machst, geht mich schließlich nichts an. Aber komm nicht auf die Idee, irgendwelche Ressourcen des LKA für deine privaten Recherchen zu nutzen. Haben wir uns verstanden?»

Mascha zuckte zusammen. Er hatte bestimmt keine Hintergedanken gehabt, trotzdem kam es ihr so vor, als wolle er sie ermahnen, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Als müsste sie daran erinnert werden, weshalb sie hier war und nicht in Dresden, weshalb sie Urlaubsvertretung hinter dem Schreibtisch machte statt ihren Job als Ermittlerin bei der Mordkommission.

In ihrem Überschwang hatte sie Oliver dankbar einen Kuss auf die Wange gedrückt und ihren Kram auf dem Schreibtisch zusammengepackt. Von zu Hause aus hatte sie den Mietwagen gebucht, denn aus dem Fuhrpark des LKA durfte sie sich für eine Privatreise natürlich nicht bedienen. Nun war sie wieder hier auf dem Darß, wo die Luft nach Meer roch und ihr alles so merkwürdig vertraut erschien, obwohl sie vor knapp einer Woche zum ersten Mal hergekommen war.

Paul Hendricks blickte überrascht von seinem Bildschirm unter den Hawaii-Postkarten auf, als Mascha das große Büro betrat. Aus mehr als diesem Raum bestand das Revier nicht, wenn man von dem kleinen Aktenraum, dem Empfangsbereich und der Toilette absah. Noch gestern hatten hier mehr als ein Dutzend Kollegen Anrufe entgegengenommen, Berichte gesichtet und Aussagen protokolliert. Doch heute war außer Paul und Senior, dem diensthabenden Streifenkollegen am Empfang, niemand da. Offiziell war der Fall Lilli Sternberg abgeschlossen. Wenn man von ein paar kleinen losen Enden absah.

«Morgen, Duke.»

«Du hier?», fragte Paul. «Keine Sehnsucht nach Schwerin?»

«Nicht, solange Lilli noch irgendwo da draußen ist.» Mascha knallte ihre Tasche auf den freien Schreibtisch. Eigentlich saß Tom Engelhardt hier, der Leiter des kleinen Kommissariats.

Pauls Mundwinkel zuckten. «Was sagt dein Chef dazu?»

«Ich habe eine Woche Urlaub. Wo ich den mache, geht ihn nichts an.»

«Aha.»

«Was dagegen, wenn ich es mir hier bequem mache, solange Tom nicht da ist?»

Paul breitete die Arme aus. «Fühl dich wie zu Hause.»

«Du hast noch nichts von ihm gehört?»

Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. «Nein.»

Tom war zur Kriminalpolizeiinspektion in Anklam gefahren, um seinen Vorgesetzten zu überreden, weitere Ermittlungen zu bewilligen. Angesichts dessen, was sie gestern vom Rechtsmediziner erfahren hatten, sollte das eigentlich kein Problem sein. Doch so einfach war es nicht.

Mascha bediente sich an der Kaffeemaschine und klappte ihren Laptop auf. Es gab da etwas, das ihr keine Ruhe ließ. Fabienne Mauritz, Lillis beste Freundin, hatte angeblich ihr Handy verloren. Mascha glaubte ihr nicht. Deshalb hatte sie sich verbotenerweise in Fabiennes Cloud gehackt, und von dort alle Fotos heruntergeladen, die von ihrem Smartphone hochgeladen worden waren. Bisher hatte Mascha nur einen flüchtigen Blick auf die Bilder geworfen, aber etwas sagte ihr, dass es sich lohnte, noch einmal genauer hinzuschauen.

Sie richtete mit ihrem eigenen Handy einen Hotspot ein, um nicht das Polizei-WLAN nutzen zu müssen. Bild für Bild klickte sie sich durch, angefangen bei Fabiennes letzter Aufnahme – ein Selfie am Strand, zwei Tage nach Lillis Verschwinden. Die Fotos schienen sich zu wiederholen, Selfies von Lilli und Fabienne zusammen, von Fabienne mit anderen jungen Frauen, Bilder von einer Gartenparty mit bunten Lampions, einem riesigen Grill und einem Bad im Pool zu später Stunde, diverse Mahlzeiten, Drinks und ein Eis in Nahaufnahme.

Einige Bilder hatte Mascha bereits auf Fabiennes Instagram-Account gesehen. Sie ging weiter zurück, war jetzt im Mai angekommen. Eine Gruppe junger Leute bei einem Picknick, im Hintergrund das Meer. Mascha erkannte neben Fabienne drei Männer und eine Frau mit roten Locken und Sommersprossen.

Sie wollte gerade weiterklicken, als ihr etwas auffiel. Sie zoomte heran, doch die Gestalt im Hintergrund war zu verschwommen. Selbst wenn ihr Verdacht stimmte, hatte das etwas zu bedeuten? Mascha kontrollierte das Datum des Fotos und machte sich eine Notiz.

Die Tür wurde aufgestoßen, Senior steckte den Kopf herein. «Besuch für dich, Mascha.»

Sie runzelte die Stirn. «Für mich? Wer ist es denn?»

«Fabienne Mauritz. Sie hat ausdrücklich darum gebeten, mit dir zu sprechen.» Er hob die Brauen hinter den randlosen Brillengläsern. «Soll ich sie reinschicken?»

Maschas Blick schoss zwischen dem Foto auf ihrem Bildschirm und dem Kollegen hin und her, sie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Auch wenn Fabienne etwas vor ihnen verbarg, war sie keine Beschuldigte, nicht einmal eine Verdächtige. Mascha hatte kein Recht, in ihrem Privatleben herumzuschnüffeln.

«Stehen die Schultische noch im Archiv?», fragte sie den Kollegen.

«Ja.»

«Dann bitte sie, dort zu warten.» Mascha klappte den Laptop zu. «Und könntest du vielleicht zwei Colas oder so auftreiben?»

«Wird erledigt.» Senior zog den Kopf zurück, stockte, schob die Tür erneut auf. «Schön, dass du wieder da bist, Mascha.»

Fünf Minuten später saß Mascha der jungen Frau an einem der alten Schulpulte gegenüber. Regale mit staubigen Aktenordnern umringten sie, in einer Ecke des Raums standen noch die Kartons mit den bei Ben Reicherts Hausdurchsuchung beschlagnahmten Gegenständen und vor ihnen auf dem Tisch zwei Dosen eiskalte Cola.

Mascha betrachtete Fabienne. Die junge Frau drehte nervös eine blonde Strähne um den Finger, ihr Gesicht war blass.

«War eine schlimme Woche für Sie», begann sie. «Ihre Freundin spurlos verschwunden, vermutlich von ihrem besten Freund umgebracht, der ebenfalls ermordet wurde. Das steckt man nicht so einfach weg.»

Fabienne nickte. «Ich kann das alles immer noch nicht glauben. Es ist wie ein Albtraum.»

Mascha nickte mitfühlend und legte ihr Handy vor sich auf den Tisch. «Ich muss Ihre Aussage aufzeichnen, in Ordnung?»

«Klar.» Fabienne ließ die Haarsträhne los, griff nach der Coladose, trank jedoch nicht.

«Sie wollten mir etwas erzählen, Fabienne?», fragte Mascha, nachdem sie die Aufnahme gestartet hatte.

Fabienne stellte die Dose zurück auf den Tisch und kaute nervös auf ihrem Fingernagel.

Mascha wartete.

«Ich habe …» Die junge Frau nahm ein Smartphone aus ihrer Jackentasche. «Ich habe ein neues Handy. Aber die alte Nummer. Ich habe das alte als gestohlen gemeldet und die Nummer sperren lassen. Und seit gestern habe ich sie wieder. Die Nummer, meine ich.»

Mascha schwieg. Eine Ahnung stieg in ihr auf, und in ihrem Bauch kribbelte es, aber sie wollte Fabienne in ihrem eigenen Tempo erzählen lassen.

«Gestern habe ich WhatsApp neu installiert. Die Nachrichten werden dort dreißig Tage gespeichert, also war alles noch da, was ich bekommen habe, als ich nicht erreichbar war.»

Das Kribbeln in Maschas Magen verstärkte sich. «Und?»

«Da war auch eine neue Nachricht von Lilli. Wieder so ein Rätsel.»

Verdammt! Mascha beugte sich vor. «Kann ich mal sehen?»

Fabienne entsperrte das Handy und legte es auf den Tisch. Der Code war mit Stöcken auf eine Betonfläche gelegt: HBFS!"%(

«Die Zeichen bedeuten 12:58», erklärte Fabienne. «Eine ziemlich krumme Uhrzeit für eine Verabredung. Und die Buchstaben sagen mir überhaupt nichts.»

Mascha runzelte die Stirn. Falls ihre bisherige Annahme korrekt war und die Sonderzeichen für Zahlen standen, hatte Fabienne recht. Es musste sich jedoch nicht zwangsläufig um eine Uhrzeit handeln, auch wenn es bei den beiden vorherigen Codes so ausgesehen hatte. Und falls doch, ging es in diesem Fall wohl eher nicht um eine Verabredung, sondern womöglich um die Abfahrtszeit eines Busses oder Zuges.

Mascha machte ein Foto von dem Code. «Ich muss die Datei gleich noch auf meinen Rechner überspielen», sagte sie.

«Kein Thema.»

«Wann genau ist die Nachricht gekommen?»

«Am Dienstag, um kurz nach drei. Aber da hatte ich ja kein Handy. Gesehen habe ich sie erst gestern Abend.»

«Sie hätten uns sofort informieren müssen.»

«Ich weiß.» Fabienne wirkte ehrlich zerknirscht. «Ich war am Strand, als ich die Nachrichten abgerufen habe, und ich war so geschockt. Und dann hatte ich plötzlich krass Angst, weil ich doch ganz allein da draußen war und … ich war so froh, als ich endlich zu Hause war, ich konnte einfach nicht klar denken. Sorry.»

Mascha warf einen Blick auf den Code. Sie überlegte kurz, dann schickte sie rasch eine Nachricht an Tom. Bestimmt konnte er zusätzliche Munition gebrauchen, um seinen Chef zu überzeugen. Sie legte ihr eigenes Telefon wieder neben Fabiennes ab. «Und die Buchstaben HBFS sagen Ihnen nichts?»

«Keinen Schimmer, was das heißen soll.»

Mascha beschloss, die Gangart zu ändern, sie war sicher, dass Fabienne noch immer nicht ganz aufrichtig zu ihr war. Sie lehnte sich zurück. «Wo genau haben Sie das alte Handy eigentlich verloren?»

Fabienne biss sich auf die Unterlippe. «Das habe ich doch schon gesagt. Im Wald bei der Grillhütte. An dem Tag, als ich das Blut entdeckt habe.»

«Die Kollegen von der Spurensicherung haben das ganze Waldstück abgesucht.»

«Bestimmt hat es irgendwer gefunden und behalten. War ja fast neu und ziemlich teuer. Mein Vater hat fett Ärger gemacht deswegen, das neue Handy musste ich selbst bezahlen.»

Mascha musste einräumen, dass es so gewesen sein könnte. Doch sie glaubte es nicht. Ein bisschen erkannte sie ihr früheres Selbst in der jungen Frau wieder: traurig, trotzig und mit dem Erwachsensein überfordert.

«Soll ich Ihnen mal was sagen, Fabienne? Ich glaube, Sie erzählen mir nicht die ganze Wahrheit. Da ist etwas, das Sie verschweigen. Ich verstehe nur nicht, warum. Denn ich denke, dass Sie Ihrer Freundin helfen wollen. Warum also tun Sie nicht alles, was in Ihrer Macht steht, um die Polizei zu unterstützen?»

Fabienne starrte sie an, ihr Gesicht verfärbte sich von blass zu rot.

Mascha ließ sie nicht vom Haken. «Sie wollen doch, dass wir Lilli finden, oder?»

«Was für einen Unterschied macht das? Sie ist tot!»

«Höchstwahrscheinlich.»

«Ich habe alles gesagt.»

«Nein, das haben Sie nicht, Fabienne. Ich bin nicht erst seit gestern Polizistin, mir haben schon ganz andere Typen gegenübergesessen. Ich sehe, wenn jemand versucht, etwas vor mir zu verbergen.»

Fabiennes Augen begannen, verräterisch zu schimmern. Sie senkte den Blick.

«Helfen Sie uns, Fabienne.»

«Aber ich weiß wirklich nichts.»

«Das glaube ich Ihnen nicht.»

«Es ist die Wahrheit. Ich habe keine Ahnung, was mit Lilli passiert ist. Ich weiß nur …» Sie stockte.

«Was, Fabienne?»

Fabienne drehte die Coladose in ihren Händen. «Ich habe versprochen, niemandem etwas zu sagen.»

Anklam, Landkreis Vorpommern-Greifswald, am Vormittag

«Was fällt Ihnen ein, hinter meinem Rücken mit dem Staatsanwalt zu reden?», brach es aus Joost Bartelsen heraus, kaum dass Tom das Büro seines Chefs betreten hatte.

«Aber ich …» Toms Kieferknochen mahlten. Das fing ja gut an. Dabei spannte seine Schädeldecke ohnehin schon bis zum Zerreißen nach einer weiteren Nacht mit zu wenig Schlaf. Es war eine Frage der Zeit, bis der Kopfschmerz explodierte.

«Setzen Sie sich, wir müssen ein paar Dinge klarstellen.» Bartelsen deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Der Leiter des Fachkommissariats 1 für Sexualstraftaten und Tötungsdelikte sah genau so aus, wie Tom sich einen Beamten vorstellte, der den ganzen Tag am Schreibtisch saß, andere herumkommandierte, aber keine Ahnung von der Arbeit draußen hatte. Ein elegant geschnittener Anzug und eine Föhnfrisur, die nur unzureichend kaschierte, dass das graubraune Haar sich bereits weit von der Stirn zurückgezogen hatte. Die kleinen grauen Augen hinter der schmalen Brille funkelten angriffslustig.

Tom wäre lieber stehen geblieben, damit er sich nicht fühlte wie ein Schuljunge, der zum Direktor zitiert worden war. Aber er wollte seinen Chef nicht weiter gegen sich aufbringen. Außerdem hätte ihm gerade noch gefehlt, dass ihn ausgerechnet jetzt ein Schwindel erfasste, wie es manchmal passierte, wenn er nachts das Teufelszeug eingeworfen hatte, das ihm zumindest zu ein paar Stunden Schlaf verhalf. Sitzen war da sicherer.

«Ich weiß nicht, wie das in Berlin gehandhabt wird», fuhr Bartelsen fort, kaum dass Tom Platz genommen hatte. «Und es ist mir auch egal. Hier bei uns werden die Regeln eingehalten. Und das bedeutet, dass ich mit dem Staatsanwalt abstimme, was ermittelt werden muss, niemand sonst. Sie waren ja nicht einmal der Ermittlungsleiter in diesem Fall.»

«Aber der Ermittlungsleiter ist bereits wieder hier in Anklam und gar nicht über die neuesten Entwicklungen informiert.»

«Neueste Entwicklungen? Gestern Mittag gab es eine abschließende Pressekonferenz. Wollen Sie andeuten, dass es seither eine entscheidende Wendung gab?»

Tom streckte den Rücken durch. «Genau das wollte ich sagen.»

«Dann setzen Sie mich mal ins Bild. Am besten von vorn. Aber die Kurzfassung, wenn ich bitten darf.»

Tom holte tief Luft. Der Typ nervte, doch immerhin gab er ihm eine Chance. «Am vergangenen Donnerstag, also gestern vor einer Woche, wurde Lilli Sternberg von ihren Großeltern, bei denen sie lebt, vermisst gemeldet. Sie ist neunzehn und gehörlos, arbeitet in einer Gärtnerei in Sellnitz als Floristin. Wegen ihrer, ähm, Behinderung wurde sofort eine Suchaktion eingeleitet, ohne Erfolg. Lilli war mit ihrer Freundin Fabienne Mauritz am Strand verabredet, ist dort aber nicht aufgetaucht. Ihr Fahrrad wurde noch am Abend aus einem Tümpel im Wald geborgen. Zudem wurden zwei rätselhafte Codes von Lillis WhatsApp-Account an Fabienne geschickt. Deshalb wurde eine Expertin des LKA hinzugezogen. Zuletzt gesehen wurde Lilli von ihrem Chef auf dem Parkplatz der Gärtnerei, wo sie sich mit Ben Reichert unterhielt, einem guten Freund.»

«Das ist der Typ, der sie höchstwahrscheinlich umgebracht hat, richtig?»

«Genau. Ein paar Tage nach dem Verschwinden haben wir Blutspuren von Lilli in einer Grillhütte im Wald gefunden. Sowie einen unvollständigen Fingerabdruck, der von Ben stammen könnte. Außerdem haben wir Blut in einer seiner Skulpturen entdeckt, das ebenfalls Lilli zugeordnet werden konnte. Reichert war Künstler.»

«Hat er nicht auch gestanden?»

«Angeblich», räumte Tom ein. «Lillis Freund Sören Brandner, der Reichert zur Rede stellen wollte, hat ausgesagt, Reichert habe behauptet, es tue ihm leid.»

«Und dieser Brandner hat gestanden, Ben Reichert erschlagen zu haben», ergänzte Bartelsen. «Damit ist doch alles klar.»

«Wir haben aber noch immer keine Leiche.»

«Damit müssen wir leben. Sie wissen doch, wie das ist. Wenn ich richtig informiert bin, wohnte dieser Ben auf einem alten Bauernhof. Da gibt es bestimmt jede Menge Werkzeuge und Maschinen, mit denen man eine Leiche zerstückeln und verschwinden lassen kann. Wir müssen uns damit abfinden, dass die sterblichen Überreste womöglich nie gefunden werden. Schlimm für die Angehörigen, aber nicht zu ändern. Wir haben zwei Tötungsdelikte und zwei geständige Täter, was wollen Sie mehr?»

«Gestern Abend bekam ich einen Anruf aus der Rechtsmedizin.» Tom verschränkte die Finger. «Ben Reichert starb zwanzig Minuten nach der Prügelei mit Sören Brandner an einem einzelnen Schlag auf den Kopf.»

Zum ersten Mal hatte Tom die volle Aufmerksamkeit seines Chefs. «Ist das sicher?»

«Ja.»

«Das schließt aber nicht aus, dass es Brandner war. Er könnte noch einmal zurückgekehrt sein.»

«Es passt nicht zu seinem Geständnis. Er sagt, er habe auf Ben eingeschlagen, bis dieser sich nicht mehr rührte, und sei dann Hals über Kopf geflüchtet. Wer gesteht denn einen Mord, lässt aber den entscheidenden Teil weg? Außerdem ist da noch die Sache mit dem Auto. Auf dem Weg zum Hof kam uns ein Fahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit entgegen. Meine Kollegin ist sicher, dass es schwarz war. Der Wagen von Brandner ist blau.»

Joost Bartelsen beugte sich vor. «Sie glauben ernsthaft, dass irgendeine unbekannte Person nach der Prügelei auf den Hof gekommen ist und Reichert den Rest gegeben hat?»

«Ich halte es für möglich, ja.»

«Was für ein Motiv hätte dieser Unbekannte haben sollen?»

«Ebenfalls Rache für Lilli. Oder etwas, das gar nichts mit Lilli zu tun hat. Oder ihr tatsächlicher Mörder sah seine Chance, die Tat ein für alle Mal auf Ben Reichert abzuwälzen.»

Toms Handy vibrierte in seiner Tasche. Unauffällig zog er es heraus und warf einen Blick darauf. Eine Nachricht von Mascha.

«Also gut», sagte Bartelsen. «Sie bekommen eine Woche, um im Fall Ben Reichert nach weiteren Spuren zu suchen. Wenn Sie in der Zeit keinen glaubhaften anderen Verdächtigen finden, übergeben wir die Akte dem Staatsanwalt, damit er Anklage gegen Sören Brandner erheben kann.»

Tom ballte die Faust. Das war nicht viel, aber angesichts der Umstände auch kein schlechtes Ergebnis. «Ich brauche Unterstützung.»

«Sie haben doch einen Kollegen da oben.»

«Paul Hendricks ist ein guter Polizist, aber er hat keinerlei Erfahrung mit Kapitaldelikten. Ich möchte, dass Mascha Krieger bleibt, bis der Fall abgeschlossen ist.»

«Die Kollegin vom LKA?» Eine steile Falte bildete sich auf Bartelsens Stirn, die grauen Augen hinter den Brillengläsern blinzelten argwöhnisch.

«Sie hat schon in Mordkommissionen gearbeitet. Und sie ist mit dem Fall vertraut.»

«Keine Chance.» Toms Chef schob die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zusammen, ein Zeichen, dass er die Unterredung für beendet hielt.

«Ich brauche sie», beharrte Tom. Ihm brach der Schweiß aus, hinter seiner Stirn hämmerte der Schmerz, als wollte er sich mit Gewalt aus dem Schädel befreien.

«Überspannen Sie den Bogen nicht, Engelhardt.»

Tom ließ sich nicht beirren. «Es geht um die Codes. Sie ist Kryptologin.»

Bartelsens Hand knallte mit solcher Wucht auf die Schreibtischplatte, dass Tom erschrocken zusammenfuhr. «Ich habe Ihnen gestattet, im Fall Reichert weiterzuermitteln. Der Fall Lilli Sternberg ist abgeschlossen.»

«Aber die beiden Verbrechen hängen zusammen. Und die Codes könnten uns zum wahren Täter führen.»

«Kommt nicht infrage. Zumal die Kollegin sich ja bereits eingehend damit beschäftigt hat.»

Tom erlaubte sich ein kleines Lächeln. «Aber nur mit den ersten beiden. Gestern ist eine dritte Nachricht gekommen.»

«Was?»

Statt einer Antwort hielt Tom seinem Chef Maschas Nachricht hin.

Der warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Dann betrachtete er Tom. «Ich mag engagierte Ermittler. Aber ich mag es nicht, wenn man sich nicht an die Regeln hält. Haben wir uns verstanden?»

Tom schluckte hart. «Ja, Chef.»

Bartelsen nickte. «Ich frage beim LKA nach, ob Frau Krieger noch einmal ausgeliehen werden kann. Eine Woche. Keinen Tag länger. Und Sie erstatten mir täglich Bericht.»

Sellnitz, am selben Tag

Mascha warf einen raschen Blick auf ihr Handy, um sicherzustellen, dass die Aufnahme noch immer lief, und lehnte sich im Stuhl zurück. «Wem haben Sie versprochen, nichts zu sagen? Lilli?»

Fabienne nickte. «Es hat doch nichts mit ihrem Verschwinden zu tun, oder?»

«Das kann ich nur beurteilen, wenn Sie mir davon erzählen.»

Fabienne presste die Lippen zusammen und blickte sich in dem provisorischen Vernehmungszimmer um, als würde sie es erst jetzt wahrnehmen. Dann räusperte sie sich. «Lilli hatte ein Geheimnis.»

«Was für ein Geheimnis?»

«Keine Ahnung, sie hat mir nichts erzählt. Sie hat nur gesagt, dass ich noch früh genug erfahren würde, worum es geht.»

Mascha machte sich eine Notiz. «Sie hat doch sicherlich Andeutungen gemacht.»

Lillis Freundin seufzte. «Einmal kam ich in ihr Zimmer, da saß sie mit ihrem Laptop auf dem Bett. Sie hat mich erst bemerkt, als ich schon neben ihr stand, und ihn sofort zugeklappt. Sie hat total den Schreck gekriegt und mich voll angemacht, weil ich mich angeschlichen hätte. Dabei habe ich das gar nicht.»

Mascha zog skeptisch die Brauen zusammen. «Vielleicht war sie wirklich nur sauer, weil sie sich erschrocken hat.»

Fabienne schüttelte den Kopf. «Nein. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, hat sie zugegeben, dass es da etwas gibt, über das sie nicht reden will. Noch nicht. Sie hat versprochen, dass sie es mir später erzählen würde.»

«Wann war das?»

«Ich weiß nicht mehr genau. Vor ein paar Wochen.»

«Und danach?»

«Sie hat immer mal wieder Andeutungen gemacht, es wäre ein ganz großes Ding und so. Aber nichts Konkretes.» Fabienne griff nach der Coladose, die noch immer unberührt vor ihr stand, und knibbelte mit dem Finger am Verschluss herum.

«Aber Sie haben doch sicherlich einen Verdacht.»

Fabienne zuckte mit den Schultern. «Erst dachte ich, es geht um einen Typen. Dass sie jemanden kennengelernt hat, vielleicht im Internet.»

Mascha beugte sich vor. «Sie glauben, sie hat Sören betrogen?»

Fabienne ließ die Dose los. «An dem Nachmittag, als ich sie in ihrem Zimmer überrascht habe, konnte ich einen kurzen Blick auf den Bildschirm werfen. Ich habe nicht wirklich drauf geachtet, ich wusste ja nicht, dass es so schrecklich geheim ist, deshalb bin ich mir nicht sicher. Aber ich glaube, ich habe einen Chat gesehen.»

«Irgendein Name?»

Fabienne schüttelte den Kopf.

Mascha überlegte kurz, doch sie hatte nichts in der Richtung auf Lillis Computer gefunden. War es das gewesen, was irgendwer am Vormittag ihres Verschwindens gelöscht hatte? Hatte jemand seine Spuren verwischt? Aber warum schon Stunden vor der Tat?

Ihr toter Hauptverdächtiger Ben Reichert, Lillis Freund aus Kindertagen, hätte auf jeden Fall problemlos in ihr Zimmer im Haus der Großeltern gelangen können. Er ging dort ohnehin ein und aus. Doch warum sollte Lilli heimlich mit ihm gechattet haben, wo sie ihn doch treffen konnte, sooft sie wollte, ohne dass sich jemand etwas dabei dachte?

Mascha versuchte sich die Freundschaft zwischen Ben und Lilli vorzustellen. Waren sie wirklich nur wie Bruder und Schwester gewesen? Oder gab es da mehr? Mascha hatte keinen Freund wie Ben, nicht einmal eine Freundin. All die Freundschaften aus ihrer Jugend waren abgerissen, als sie ihr Zuhause Hals über Kopf verlassen hatte. Sie hatte mit der Vergangenheit und all den damit verbundenen Lügen brechen wollen, und jeder Kontakt in die alte Heimat hätte ihr das unnötig erschwert. Manchmal tat es ihr leid, dass es niemanden in ihrem Leben gab, der sie wirklich gut kannte. Aber die meiste Zeit war es ihr lieber so.

Sie lenkte ihre Gedanken zurück auf den Fall. Leider hatten sie nicht herausgefunden, wo Ben gewesen war, als die Dateien auf dem Computer geschreddert wurden. Dann wüssten sie wenigstens, ob er überhaupt infrage kam. Sie hätten ihn fragen sollen, als er noch lebte. Ein ärgerliches Versäumnis. Lilli war jedenfalls an dem Vormittag auf der Arbeit gewesen, sie hatte es also nicht selbst getan.

Mascha blickte auf ihre Notizen. «Sonst noch etwas, Fabienne? Denken Sie nach, jede Kleinigkeit könnte wichtig sein.»

Die junge Frau legte die Stirn in Falten. «Stand denn nichts in dem Heft?»

«Was für ein Heft?»

«Lilli hatte so ein Heft, in das sie Dinge schrieb.»

«Ein Tagebuch?»

«Nein, keine Ahnung. Alles Mögliche stand da drin. Termine, Einkaufslisten, Adressen. So ein Zeug. Ich habe sie manchmal damit aufgezogen, dass sie so analog ist. Ich meine, man kann das doch alles mit dem Handy machen. Aber sie liebte ihre Hefte, sie hatte für jedes Jahr eins. Silvester hat sie es dann immer feierlich verbrannt.» Fabienne hob den Blick und sah Mascha an. «Haben Sie das Heft denn nicht gefunden?»

Teterow, am selben Tag

Kriminaloberkommissar Björn André schlug die Wagentür zu und blieb einen Augenblick stehen, um die Klinik zu betrachten, über der sich dunkle Wolken zusammenballten. Obwohl er schon so oft hier gewesen war, wurde ihm beim Anblick des mehr als hundert Jahre alten, maroden Gebäudes jedes Mal unbehaglich. Vielleicht lag es daran, dass es sich um eine psychiatrische Klinik handelte und er auch schon Menschen gegen ihren Willen hatte herbringen müssen.

Vielleicht aber auch an der wechselhaften Geschichte des Ortes. Unter den Nazis war es ebenfalls eine Klinik gewesen und zu Zeiten der DDR ein Kinderheim. Vermutlich hatten auch früher schon viele Bewohner unfreiwillig hinter diesen Mauern ausgeharrt.

Björn schüttelte die unangenehmen Gedanken ab und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Vorgestern erst hatte er Marina Sarow hierhin zurückgebracht, nachdem sie sich fast eine Woche in einem Keller in Rostock versteckt hatte. Es war nicht ihre erste Flucht infolge einer akuten paranoiden Psychose gewesen.

Gestern Nacht war sie erneut verschwunden, doch diesmal lagen die Dinge anders.

Björn schritt auf den Eingang zu. Sein Bein war heute friedlich, und er war dankbar dafür. Er fühlte sich immer so verletzbar, wenn er humpelte. In der Eingangshalle empfing ihn ein Kollege von der Tatortbereitschaft.

«Hallo, Björn», sagte er. «Wir sind gerade fertig. Wenn sonst nichts mehr ist, würden wir gern abhauen.»

«Klar, kein Problem.» Björn blickte sich um und entdeckte in der Nähe der Empfangstheke einen Blutfleck auf dem Boden. «Ist es dort passiert?»

Der Kollege nickte. «Der Pfleger wurde noch in der Nacht operiert, er ist stabil, soweit ich weiß.»

Björn klopfte ihm auf die Schulter. «Danke. Fahrt ruhig los, ich übernehme.»

Er ging vor dem Blutfleck in die Hocke. Seine Chefin hatte ihn am Morgen noch vor Dienstbeginn angerufen und ihm mitgeteilt, was passiert war.

«Die Patientin, die du gerade erst in die Klinik zurückgebracht hast, hat einen Pfleger angegriffen und ist seither auf der Flucht.»

Björn hatte sofort an den Schraubenzieher gedacht, den Marina Sarow umklammert hielt, als er sie in dem leer stehenden Einfamilienhaus aufgespürt hatte. Hätte er die Ärztin darauf hinweisen sollen?

«Gab es einen konkreten Anlass?», hatte er gefragt.

«Keine Ahnung. Der Pfleger ist im OP, weitere Zeugen konnten bisher nicht ausfindig gemacht werden. Die Kollegen haben rekonstruiert, dass Frau Sarow vor der Tat im ungenutzten Teil des Gebäudes gewesen sein muss. Vielleicht war sie verwirrt.» Seine Chefin räusperte sich. «Jedenfalls müssen wir sie finden, bevor sie weitere Menschen attackiert. Eine Hundertschaft durchsucht bereits den Wald rund um die Klinik. Auch das Gebäude selbst wurde noch einmal gründlich unter die Lupe genommen, bisher ohne Erfolg. Du hast dich bereits in den Fall eingearbeitet, deshalb hätte ich gern, dass du die Ermittlungen leitest. Traust du dir das zu?»

Natürlich traute er sich das zu. Schließlich machte er das nicht zum ersten Mal. Solange sein Bein nicht muckte, kam er gut zurecht.

Eine Stimme ertönte. «Herr André?»

Björn erhob sich. Vor ihm stand die junge Ärztin, die er vor einer Woche nach Marinas erstem Verschwinden gesprochen hatte.

«Frau Franke.» Er streckte ihr die Hand entgegen.

Sie ergriff sie. «Schlimme Geschichte. Ich gebe zu, das hätte ich Frau Sarow nicht zugetraut.»

Björn hob die Brauen. «Aber Sie haben mich doch davor gewarnt, dass sie unberechenbar sein kann, wenn sie einen psychotischen Schub hat.»

Eine Tür wurde geöffnet, eine Pflegerin schob einen Rollstuhl an ihnen vorbei.

«Lassen Sie uns in mein Büro gehen», sagte die Ärztin.

Sie ließen sich in der Sitzecke aus schwarzem Kunstleder nieder, wo Dr. Franke, wie Björn vermutete, Gespräche mit Angehörigen führte. Björn winkte ab, als sie ihm etwas zu trinken anbot.

«Also», sagte er. «Sie haben gesagt, dass Sie Frau Sarow den Angriff nicht zugetraut hätten.»

Die junge Ärztin verschränkte die Hände im Schoß. «Hier in der Klinik hat sich Frau Sarow bisher immer sicher gefühlt. Schließlich hat sie sich selbst eingewiesen. Deshalb hätte ich nicht gedacht, dass sie jemanden vom Personal angreifen könnte. Draußen, wo sie sich in Gefahr wähnt, sieht das anders aus. Deshalb hatte ich Sie gewarnt, Herr André. Offenbar ist ihr Zustand schlechter, als ich angenommen hatte. Zum Glück hat mein Kollege die OP gut überstanden. Ich habe gerade mit dem Krankenhaus telefoniert.»

«Dann kann ich hoffentlich später mit ihm sprechen.» Björn kramte seinen Notizblock hervor. «Wie ich hörte, ist Frau Sarow mutmaßlich im Gebäude umhergeirrt, bevor sie den Pfleger angegriffen hat. Ist das schon einmal passiert?»

«Nicht dass ich wüsste. Mir war auch nicht bekannt, dass der leer stehende Flügel zugänglich ist. Ich werde mich darum kümmern, dass er verschlossen wird.»

«Aber hier in diesem Teil der Klinik können sich die Patienten frei bewegen?»

«Nicht alle.» Dr. Franke blickte zur Seite, dann sah sie Björn wieder an. «Marina Sarow schon. Sie war hier nicht eingesperrt. Wie gesagt, sie war freiwillig in Behandlung. Außerdem hatten wir sie nach ihrer Rückkehr leicht sediert, weil sie noch immer sehr aufgewühlt war. Es erstaunt mich, dass sie überhaupt die Kraft hatte, so weite Wege zurückzulegen und jemanden mit einem Eisenrohr anzugreifen. Sie muss unter enormem Stress gestanden haben.»

Björn betrachtete seine Notizen. «Können Sie sich einen Grund dafür vorstellen?»

Dr. Franke zögerte.

Björn sah sie fragend an.

«Ihre Kollegen haben nach den Aufzeichnungen der Parkplatzkamera gefragt», sagte sie.

«Und?»

«Leider keine Spur von Frau Sarow. Dafür sieht man ein Fahrzeug, das etwa zehn Minuten vor dem Vorfall auf den Parkplatz biegt.»

Björn richtete sich auf. «Um wie viel Uhr war das?»

«Kurz nach zehn. Die genaue Uhrzeit können Sie sicherlich von Ihren Kollegen erfahren. Jedenfalls lange nach der Besuchszeit. Manchmal parken Spaziergänger auf dem Klinikgelände, obwohl es weiter unten einen Wanderparkplatz gibt. Aber um diese Zeit?»

«Sieht man, wer aussteigt?»

«Das Auto muss an einer Stelle angehalten haben, die von der Kamera nicht erfasst wird. Aber man sieht wenig später einen Mann auf das Gebäude zukommen. Leider ist er kaum zu erkennen. Er hält sich im Dunkeln und verschwindet nach ein paar Sekunden wieder aus dem Blickfeld.»

«Hat er die Klinik betreten?»

«Unwahrscheinlich. Der Nachtportier hat jedenfalls niemanden hereingelassen.»

«Und der Wagen, wie sah der aus?»

«Ein dunkler Kombi. Mehr ist bedauerlicherweise nicht zu sehen.»

«Kein Kennzeichen?»

«Nein.»

«Interessant.» Björn klopfte mit dem Stift gegen sein Kinn. «Wir brauchen auf jeden Fall die Aufzeichnung.»

«Selbstverständlich.» Franke warf einen Blick auf die Uhr. «Worauf ich hinauswollte, ist, dass man den Parkplatz von Marina Sarows Zimmer aus sieht. Ich könnte mir vorstellen, also rein spekulativ, dass sie den Wagen bemerkt und in ihrem Wahn geglaubt hat, derjenige wäre hinter ihr her. Das würde ihre Panik erklären.»

Sellnitz, am Abend

«Und Mascha hat jetzt ein rosa Auto, und sie hat mir ein Buch von einem Stern vorgelesen. Und wir haben …»

Tom griff nach dem gerahmten Foto. «Genug jetzt», sagte er sanft. «Es ist spät, du musst schlafen.»

«Aber ich habe Mama noch gar nicht alles erzählt.»

Tom seufzte. Es war seine Idee gewesen, seine kleine Tochter abends im Bett dem Foto ihrer toten Mutter erzählen zu lassen, wie ihr Tag gewesen war. Damit Inga ein Teil ihres Lebens blieb. Inzwischen ertrug er das abendliche Ritual nur noch schwer, er hatte das Gefühl, dass es ihn davon abhielt, nach vorn zu blicken. Zudem beschlich ihn manchmal der Verdacht, dass Romy es nutzte, um die Schlafenszeit hinauszuzögern.

«Für heute reicht es», erklärte er bestimmt.

«Aber noch einen Kuss.» Romy nahm das gerahmte Bild und presste ihre Lippen darauf. «Gute Nacht, Mama.»

Tom musste schlucken. «Gute Nacht, Inga», flüsterte er, weil er wusste, dass Romy es erwartete. Dann nahm er seiner Tochter das Bild behutsam aus den Händen und stellte es auf den Nachttisch.

Er kuschelte sie in ihre Decke ein. «Schlaf gut, Liebes.»

«Du auch.»

«Licht anlassen?»

«Ja.»

Er erhob sich und ging zur Tür.

«Papa?»

«Was denn noch?»

«Ist morgen Kindergarten?»

Er stöhnte innerlich auf. Einige Jungen im Kindergarten hatten Romy auf dem Kieker, weil sie sich nicht richtig wehrte. Nicole, Romys Erzieherin, die auch in ihrer Freizeit manchmal auf sie aufpasste, hatte ihn schon mehrmals darauf angesprochen. Sie glaubte, es läge daran, dass er zu viel arbeitete und nicht genug für seine Tochter da war. Was für ein Unsinn. Er tat wirklich alles, was in seiner Macht stand, um Job und Kind unter einen Hut zu kriegen. Aber bei zwei Morden innerhalb von einer Woche war es nicht so einfach, wie Nicole sich das vorstellte. Und dann war da noch Ingas Tod, sie fehlte ihm jeden verdammten Tag.

«Papa?»

«Kein Kindergarten morgen.»

«Juhu!»

«Allerdings musst du für ein paar Stunden zu Nicole. Okay?»

Romy nickte mit ernstem Gesicht.

«Du gehst doch gern zu Nicole, oder?»

«Ja. Sie ist nett. Vielleicht backen wir wieder, das macht Spaß.»

«Dann schlaf jetzt.» Erleichtert schloss er die Tür.

Als er die Treppe hinunterkam, saß Mascha im Schneidersitz auf dem Sofa, ein Glas Wein in der Hand. «Alles in Ordnung?»

«Ich hoffe es.» Tom setzte sich zu ihr und atmete tief durch.

Mascha sah ihn an. «Wir können unseren Schlachtplan auch morgen früh in Angriff nehmen.»

«Nein, schon okay.» Tom schenkte sich ebenfalls Wein ein.

Er war froh, dass er den Abend nicht allein mit seinen Gedanken verbringen musste, auch wenn er todmüde war. Noch lieber wäre ihm gewesen, Mascha hätte wieder das Gästezimmer bezogen. Es hatte sich gut angefühlt, sie im Haus zu haben. Doch sie hatte für die Woche eine Ferienwohnung auf der Hauptstraße gemietet.

Sie hielt ihr Handy hoch. «Eine Nachricht von meinem Chef. Er hat eine Anfrage der Kripo Anklam bekommen, es wird noch einmal meine Hilfe gebraucht.»

Tom grinste. «Da musst du deinen Urlaub wohl verschieben.»

«Mal schauen.» Sie blickte in ihr Glas.

Tom dachte daran, wie wütend er gewesen war, als sie vor einer Woche auf dem Waldparkplatz aufgetaucht war, mit der schicken Dienstlimousine, in Boots und Lederjacke. Eine Bürotussi, die mal ein bisschen Außendienstluft schnuppern will, hatte er gedacht. Wenn er unter Stress stand, war er manchmal unfair und neigte zu vorschnellen Urteilen. Jetzt jedenfalls wollte er um keinen Preis mehr auf sie verzichten. Sie war eine kluge, hartnäckige Ermittlerin und eine zuverlässige Partnerin. Außerdem kam sie gut mit Romy zurecht.

Zwar hatte auch sie ihre dunklen Seiten und ein Geheimnis, über das sie nicht reden wollte. Doch wer hatte das nicht? Er hätte sie gern dauerhaft als Kollegin auf dem Sellnitzer Revier. Aber davon abgesehen, dass es keine freie Stelle gab, wäre ihr Talent hier draußen verschwendet. So einen Fall wie das Verschwinden von Lilli Sternberg gab es in dieser Gegend so gut wie nie.

Mascha sah ihn an. «Woran denkst du?»

«Ich überlege, wie wir die Woche am besten nutzen. Verdammt wenig Zeit, um alle losen Enden zu verfolgen.»

«Wir müssen nur einen neuen Tatverdächtigen im Fall Ben Reichert präsentieren, dann kriegen wir mehr Zeit.» Mascha nippte an ihrem Wein.

«Hast du etwa schon jemanden im Visier?»

Sie schüttelte den Kopf. «Lass uns den Fall rekapitulieren», schlug sie vor. «Und dann entscheiden wir, wo wir anfangen. Okay?»

«Gute Idee.» Tom streckte sich. «Leider habe ich hier kein Whiteboard.»

«Aber eine Tafel in der Küche.»

«Dein Ernst?»

Als sie nichts erwiderte, erhob er sich und ging in die Küche, wo die große Tafel, auf der er Einkaufslisten und Termine notierte, über der Essecke hing. Er hängte sie ab, stellte sie im Wohnzimmer auf einen Stuhl und wischte mit dem Ärmel die Fläche frei.

Mascha griff nach der Kreide in der Halterung. «Du redest, ich schreibe.»

«Also gut. Lilli Sternberg wurde am Donnerstag, den 5. September zuletzt gesehen, und zwar von ihrem Chef, Herrn Phan. Laut seiner Aussage sprach sie auf dem Parkplatz vor der Gärtnerei mit ihrem Kumpel Ben Reichert. Wie sie von dem Parkplatz wegkam, ist nicht bekannt. Ihr Fahrrad wurde ungefähr sechs Stunden später aus einem Tümpel im Wald in der Nähe des Weststrands geborgen, wo Lilli mit ihrer Freundin Fabienne verabredet gewesen war, aber nicht aufgetaucht ist. Der Fahrradschlüssel lag im Gebüsch vor der Gärtnerei. Vier Tage später wurde Blut in einer Grillhütte im Wald gefunden, das von Lilli stammt. Seit wann es dort war, ist ungewiss, die Hundertschaft, die den Wald am Tag nach Lillis Verschwinden durchkämmt hat, hat es jedenfalls nicht bemerkt. Ein Erpresser, der bei der Lösegeldübergabe ertrank, war höchstwahrscheinlich ein Trittbrettfahrer. Dafür wurde in der Grillhütte nicht nur Lillis Blut gefunden, sondern auch ein Fingerabdruck sichergestellt, der höchstwahrscheinlich von Ben Reichert stammte. Und in einer der Skulpturen in seinem Atelier war ebenfalls Blut von Lilli. Als Lillis Freund Sören Brandner ihn knapp eine Woche nach Lillis Verschwinden zur Rede gestellt hat, wurde er handgreiflich. Brandner verließ das Atelier in dem Glauben, Ben Reichert umgebracht zu haben. Doch der tödliche Schlag auf den Kopf erfolgte erst zwanzig Minuten später. Wir haben die Alibis sämtlicher Personen aus Lillis Umfeld überprüft, sowohl für den Zeitraum ihres Verschwindens als auch für den Todeszeitpunkt von Ben Reichert. Und wir haben dokumentiert, wer zu diesen Zeiten wo war. Aber daraus hat sich keine neue Spur ergeben.» Tom nahm einen Schluck Wein. «Habe ich etwas vergessen?»

«Die Nachrichten.»

«Stimmt. Also: Insgesamt drei rätselhafte Nachrichten gingen von Lillis WhatsApp-Account auf dem Handy ihrer Freundin Fabienne ein. Möglicherweise Treffpunkte samt Uhrzeiten. Dass die Nachrichten tatsächlich von Lilli stammen, ist inzwischen extrem unwahrscheinlich, zumal sie vermutlich längst tot ist. Die Frage ist: Wer hat die Nachrichten verschickt, und mit welcher Absicht?»

Mascha nickte und betrachtete nachdenklich die Stichworte auf der Tafel. Sie hatte die Namen der Personen notiert und dahintergeschrieben, was sie mit dem Fall zu tun haben könnten.

Lilli Sternberg: vermisst (ermordet?)

Ben Reichert: Täter?

Sören Brandner: Mörder von Ben?

Fabienne Mauritz: Zeugin (was verschweigt sie?)

Erpresser: Trittbrettfahrer?

Verfasser der Botschaften: unbekannt (Lillis Mörder?)

«Ziemlich viele Fragezeichen», stellte sie fest. «Für uns gibt es aber vor allem zwei zentrale Fragen. Erstens: Glauben wir, dass Ben Reichert Lilli ermordet hat?»

«Ich weiß es ehrlich gesagt nicht», gab Tom zu. «Vieles deutet auf ihn. Aber das Motiv, Eifersucht auf Lillis Lover Sören Brandner, erscheint mir doch sehr schwach. Niemand außer Sören hat in den vergangenen Tagen ausgesagt, dass Ben mehr für Lilli sein wollte als ein guter Freund.»

«Ben war auffällig gelassen, als wir ihn zum ersten Mal befragt haben. Keine erkennbare Sorge um Lilli.»

«Vielleicht, weil er etwas wusste?»

«Was könnte das gewesen sein?» Mascha knetete ihr Kinn.

«Keine Ahnung.»

«Also dann bleibt er zunächst unser Hauptverdächtiger.»

Tom nickte zögernd. «Was ist mit der zweiten Frage?»

«Glauben wir, dass Sören Brandner Ben Reichert umgebracht hat?»

«Nein», hörte Tom sich zu seiner eigenen Überraschung sagen. «Ich glaube, dass er selbst davon überzeugt ist. Aber er hat im Affekt zugeschlagen. Er wäre nicht zwanzig Minuten später zurückgekehrt, um sein Werk kaltblütig zu beenden. Zumal er ja dachte, Ben wäre bereits tot.»

«Und dann ist da noch der Wagen, der uns entgegengekommen ist», ergänzte Mascha. «Ich bin nach wie vor sicher, dass er schwarz war.»

Tom teilte Maschas Gewissheit nicht, aber er war bereit, vorerst davon auszugehen, dass ihre Beobachtung korrekt war.