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Eine Sturmflut. Zwei Tote. Unzählige Geheimnisse. Bei einer Sturmflut auf dem Darß bricht ein Stück der Steilküste weg, und die Gebeine einer Frau werden freigelegt. Noch während die Überreste geborgen werden, entdecken die Kriminaltechniker ein zweites Skelett. Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt und sein Team vermuten, dass es sich bei den beiden Toten um Opfer des sogenannten Darß-Rippers handeln könnte, der im Sommer 1989 auf der Halbinsel mehrere Liebespaare brutal ermordete. Die Mordserie endete mit dem Fall der Mauer, der Täter wurde nie gefasst. Eine CD, die ebenfalls am Fundort entdeckt wird, soll Hinweise geben, doch die Daten darauf sind schwer beschädigt. Die Kryptologin Mascha Krieger wird hinzugezogen. Als sie erfährt, dass ihr Vater damals an der Suche nach dem Darß-Ripper beteiligt war, kommt ihr ein ungeheuerlicher Verdacht … Tom Engelhardt & Mascha Krieger ermitteln.
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Seitenzahl: 391
Karen Sander
Thriller
Eine Sturmflut. Zwei Tote. Unzählige Geheimnisse.
Bei einer Sturmflut auf dem Darß bricht ein Stück der Steilküste weg, und die Gebeine einer Frau werden freigelegt. Noch während die Überreste geborgen werden, entdecken die Kriminaltechniker ein zweites Skelett. Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt und sein Team vermuten, dass es sich bei den beiden Toten um weitere Opfer des sogenannten Darß-Rippers handeln könnte, der im Sommer 1989 auf der Halbinsel mehrere Liebespaare brutal ermordete. Die Mordserie endete mit dem Fall der Mauer, der Täter wurde nie gefasst.
Eine CD, die ebenfalls am Fundort entdeckt wird, soll Hinweise geben, doch die Daten darauf sind schwer beschädigt. Die Kryptologin Mascha Krieger wird hinzugezogen. Als sie erfährt, dass ihr Vater damals an der Suche nach dem Darß-Ripper beteiligt war, kommt ihr ein ungeheuerlicher Verdacht …
Hauptkommissar Tom Engelhardt & Kryptologin Mascha Krieger ermitteln in einem neuen Fall.
Karen Sander arbeitete als Übersetzerin und unterrichtete an der Universität, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie hat über die britische Thriller-Autorin Val McDermid promoviert. Ihre Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und haben eine Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren. Mit ihrem Mann lebt sie die Hälfte des Jahres in ihrer Heimatstadt Düsseldorf. Die übrige Zeit reist sie durch die Welt und schreibt darüber in ihrem Blog.
Mehr unter: writearoundtheworld.de
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01820-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Doreen konnte den Pfad in der Dunkelheit kaum erkennen. Sie stolperte über einen Ast und wäre beinahe der Länge nach hingeschlagen.
«Hoppla.» Ricky fing sie auf.
«Oh weh», murmelte sie und rieb sich mit fahrigen Fingern über die verschwitzte Stirn. Ihr war so schwindelig, dass die Dünen mit dem Strandhafer und den krüppeligen Kiefern sie umkreisten, als stünde sie in der Mitte eines Karussells.
Sie hatte zu viel getrunken, viel zu viel. Pfefferminzlikör, Goldbrand und sogar den widerlichen Kirschwhisky, den sie eigentlich überhaupt nicht mochte. Der Kerl mit den behaarten Armen und den buschigen Brauen hatte ihr immer wieder nachgeschenkt, sie hatte schon befürchtet, ihn nicht wieder loszuwerden. Doch dann war Ricky aufgetaucht, hatte sie erst wie ein Verrückter auf der Tanzfläche herumgewirbelt und dann vorgeschlagen, ein wenig frische Luft zu schnappen.
Ricky war süß und so ganz anders als Mario, der zurückhaltend und stets adrett gekleidet war. Nie würde er zu viel trinken oder so wild tanzen wie Ricky. Oder sie so schamlos in der Öffentlichkeit begrapschen. Mario durfte keinesfalls von diesem Abend erfahren. Nicht von dem Ausflug auf den Darß, nicht von dem Likör und vor allem nicht von Ricky. Er würde es nicht verstehen, würde nicht kapieren, warum Doreen mit Jennifer und den anderen übers Wochenende nach Sellnitz gefahren war. Dabei war alles ganz harmlos, sie wollte bloß noch einmal das süße Gefühl der Freiheit auskosten, bevor sie im Oktober heiratete.
Mario und ihren Eltern hatte Doreen erzählt, dass sie bei Jennifer übernachten würde. Irgendwie stimmte das ja auch, denn sie würden die Nacht, oder was auch immer davon nachher noch übrig war, auf dem Wohnzimmersofa von Jennifers Tante verbringen.
Ricky zog sie tiefer in die Dünen. Der Sand war kühl und kitzelte ihre nackten Zehen. Noch hatten sie sich nicht weit von dem Ferienheim entfernt, wo der bunte Abend ein wenig aus dem Ruder gelaufen war. Doreen konnte die Musik hören. Gerade sang Wolfgang Ziegler die ersten Verse von «Verdammt».
Ich suchte nur jemand, der nach mir sucht
Und dachte, das geht nur so.
Was dann passiert ist, gibt’s alle Tage.
Das war mein Risiko.
Das Wort «Risiko» hallte in Doreens Kopf wider, und trotz der Nähe ihrer feiernden Freunde wurde ihr mulmig zumute.
«Wir sollten besser nicht zu nah ans Meer gehen», flüsterte sie.
Nach Einbruch der Dämmerung patrouillierte die Grenzbrigade am Strand, dann war es verboten, sich dort aufzuhalten.
«Keine Sorge, ich weiß, was ich tue», raunte Ricky ihr ins Ohr. «Außerdem kenne ich die Jungs, die heute Dienst haben, sind alles Kumpel von mir.» Er zwinkerte ihr zu.
Doreen beruhigte das nicht. Ihre Haut prickelte vor Nervosität, sie fühlte sich schlagartig stocknüchtern. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, hier am Strand erwischt und womöglich verhaftet zu werden. Wenn Mario davon erführe, würde er ihr das nie verzeihen, und die Hochzeit konnte sie vergessen.
«Komm, wir setzen uns», drängte sie. «Hier ist es doch nett.»
«Nur noch ein kleines Stück.» Er zog sie zwischen ein paar Sträuchern hindurch in eine kleine Mulde, ließ sich im Sand nieder und legte sich auf den Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. «Ist der Sternenhimmel nicht grandios?»
Doreen ließ die Sandalen, die sie am Beginn des Pfades abgestreift hatte, zu Boden fallen, und legte sich neben ihn. Die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen, es duftete nach Salz und Seetang. Sie entspannte sich.
«Ja», erwiderte sie. «Er sieht aus wie ein Dach aus Samt, besetzt mit Diamanten.»
«Ich frage mich, wie der Himmel über Amerika wohl aussieht. Oder über Australien.»
Sofort war Doreen wieder alarmiert. Sie betrachtete Ricky verstohlen von der Seite. Sein Gesicht war nur schemenhaft in der Dunkelheit zu erkennen, sein Blick noch immer in den Himmel gerichtet. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, sodass sie seine muskulösen Oberarme erkennen konnte. Er arbeitete als Mechaniker in einer LPG in Zingst. Sie hatte die schwarzen Ölränder unter seinen Fingernägeln bemerkt, gespürt, wie rau seine Hände von der harten Arbeit waren. Ganz anders als die von Mario, der seine Tage im Büro verbrachte. Irgendwer hatte vorhin hinter vorgehaltener Hand geraunt, dass Ricky vorhatte, in den Westen abzuhauen. Jetzt, wo angeblich Tausende über Ungarn ausgereist waren und es keinen Schießbefehl mehr gab, wäre es ja nicht mehr gefährlich. Doreen war nicht sicher, ob sie solche Geschichten glauben sollte.
Sie musste an die Soldaten denken, die nur wenige Meter von ihnen entfernt den Strand bewachten. In regelmäßigen Abständen erhellte das Licht eines Suchscheinwerfers die Nacht.
Ricky drehte sich auf den Bauch und strich sanft mit dem Finger über ihr Gesicht. «So ernst? Was ist los?»
«Ich habe nur nachgedacht. Über die Sterne.»
«Vergiss die Sterne.» Er beugte sich vor, küsste sie.
Erschrocken drehte sie das Gesicht weg. Mit einem Mal hatte sie ein schlechtes Gewissen. Was machte sie eigentlich hier? Hatte sie den Verstand verloren? Ricky war total süß, aber wollte sie wirklich für ein flüchtiges Abenteuer alles aufs Spiel setzen?
«Was ist los?», flüsterte er. «Habe ich etwas falsch gemacht?»
«Nein, es ist nur …»
Er ließ sie nicht ausreden, drückte erst seinen Finger und dann seine Lippen sanft auf die ihren.
Im nächsten Moment waren all ihre ängstlichen Gedanken verflogen. Sie erwiderte den Kuss, genoss das Gefühl von Rickys rauen Fingern, die langsam unter ihrem Kleid ihren Oberschenkel hinaufwanderten, bis sie das Höschen erreichten.
Sie stöhnte auf, drückte sich an ihn.
Rickys Mund wanderte zu ihrem Hals. «Du bist so wunderschön, Doreen.»
Sie schlang ihre Arme um ihn. Vergessen waren die Soldaten am Strand, ihre Eltern, Jennifer und Mario. Es gab nur noch sie beide. Und die Sterne über ihnen.
Bis sie ein Geräusch hörte. Eine Art Kichern, irgendwo in den Dünen. Aus der Richtung, wo Wolfgang Ziegler noch immer von seiner verflossenen Liebe sang.
«Was ist los?», murmelte Ricky ihr ins Ohr.
«Ich dachte, ich hätte etwas gehört.»
«Das ist nur mein Herz.» Er sah ihr in die Augen, sang die nächste Zeile mit. Dein Name hängt tief in mir drin. Doch ich tu ganz ungerührt.
Sie musste lächeln. Mit Ricky kam ihr alles so leicht vor.
Doch im nächsten Moment erstarrte sie.
Hinter Ricky hatte sich etwas bewegt. Eine Gestalt trat zwischen den Sträuchern hervor.
Sie schrie auf. Der Unbekannte hielt etwas in der Hand.
Ricky fuhr herum. Aber noch in der Bewegung sank er plötzlich in sich zusammen und blieb schwer auf ihr liegen.
Doreen war vor Schreck wie gelähmt. Sie suchte nach Worten, wollte dem Grenzer erklären, dass sie nichts Böses vorgehabt hatten. Doch dann erkannte sie, dass der Gegenstand in seiner Hand ein Messer war mit einer erschreckend langen, blitzenden Klinge. Er trug auch keine Uniform, sondern einen dunklen Arbeitsoverall.
Im selben Moment spürte sie das klebrige Blut an ihren Fingern, das aus der Wunde in Rickys Seite sickerte.
Großer Gott.
Schon beugte der Unbekannte sich über Ricky und stach erneut auf ihn ein. Dabei stieß er mit jedem Hieb einen fast tierischen Laut aus. Ricky versuchte den Angreifer mit Fußtritten abzuwehren. Doch seine Bewegungen waren kraftlos und unkoordiniert.
Doreen schloss die Augen. Das alles geschah nicht wirklich, es war ein Albtraum. Gleich würde sie aufwachen, schweißgebadet, und neben ihr würde Mario friedlich schnarchen.
Aber dann streifte das Messer ihren Arm, als der Mann ein weiteres Mal zustach. Sie keuchte auf vor Schmerz. Ihre Erstarrung löste sich. Sie musste hier weg, um ihr Leben rennen, Hilfe holen.
Sie versuchte, unter Ricky hervorzukriechen, während der Angreifer ihn noch immer wie von Sinnen mit dem Messer traktierte. Ricky wehrte sich längst nicht mehr, sein Körper war erschlafft.
Es kostete Doreen unendlich viel Kraft, zweimal noch streifte sie die Klinge, doch beide Male nur leicht, dann war sie frei. Sie krabbelte los, weg von Rickys geschundenem Körper, weg von dem Verrückten, der wie im Wahn weiter zustach und sie zum Glück gar nicht zu beachten schien.
Dornen bohrten sich in Doreens nackte Knie, ihr Oberarm brannte, wo die Klinge sie erwischt hatte, ihre Zähne klapperten vor Kälte und Angst. Sie zwängte sich durch das Gebüsch, auf die Musik zu, und auf das schwache Licht, das von der Feier herüberschimmerte.
Zu spät fiel ihr ein, dass sie in die andere Richtung hätte fliehen sollen. Am Strand wäre sie schneller auf Hilfe getroffen, Hilfe mit Maschinenpistolen. Doch jetzt konnte sie nicht mehr umkehren.
Sie hatte das Gebüsch hinter sich gelassen und versuchte, sich aufzurichten und loszulaufen. Aber ihre Beine waren so zittrig, dass sie sofort wieder zu Boden sank.
Bitte nicht!
Sie musste sich zusammenreißen, sie durfte nicht aufgeben.
Noch einmal stützte sie sich mit den Händen ab, biss die Zähne zusammen, sammelte Kraft.
Da presste sich etwas Hartes auf ihr rechtes Fußgelenk und fixierte es am Boden. Sie spürte das Profil einer schweren Schuhsohle auf der nackten Haut. Sie wollte schreien, doch nur ein hilfloses Glucksen entrang sich ihrer Kehle.
«Du hast doch wohl nicht gedacht, dass du einfach abhauen kannst.» Die Stimme klang ruhig, beinahe freundlich.
Doreen wimmerte.
Der erste Stich traf sie in die Nierengegend. Eine Sekunde lang war da nur ein taubes Gefühl. Dann schoss der Schmerz heiß und brennend in ihren Rücken.
Sie schloss die Augen, vergrub das Gesicht im Sand und betete, dass es schnell gehen möge.
«Ich will das machen.» Romy streckte die Hand nach dem Hammer aus.
Tom zögerte. Ihm war nicht wohl dabei, seine fünfjährige Tochter mit dem Werkzeug herumhantieren zu lassen. Nicht so nah am Fenster. Und nicht, während der Wind von Minute zu Minute kräftiger wurde.
Ein Sturmtief war im Anmarsch, und sie mussten sich beeilen, damit alle Fensterläden gesichert waren, bevor es richtig losging. In den knapp fünfzehn Monaten, die Tom jetzt mit seiner Tochter auf dem Darß lebte, hatten sie schon einige Stürme erlebt, und jedes Mal hatte Tom sich anschließend vorgenommen, die klappernden Fensterläden in Ordnung zu bringen. Nur um es dann doch wieder hinauszuschieben.
«Glaubst du etwa, ich kann das nicht?», fragte Romy empört, als Tom zögerte.
«Natürlich kannst du das», versicherte er rasch. «Es ist nur so, dass die Zeit drängt.»
«Ich kann auch schnell hämmern.»
Tom seufzte, dann reichte er ihr den Hammer. Er wollte ihr zeigen, wie sie auf den Keil schlagen musste, den er zwischen den Fensterladen und den Halter aus Metall geklemmt hatte, doch er kam nicht dazu. Erstaunlich geschickt hämmerte seine Tochter auf das Holzstück, bis es festsaß.
«Großartig», lobte Tom. «Jetzt der Nächste.»
Romy sprang vom Hocker, ihre Wangen glühten, der Wind zerrte an ihren blonden Haaren. «Ich bin eine gute Handwerkerin.»
«Das bist du.» Tom stellte den Hocker auf die andere Seite des Fensters und klemmte einen weiteren Keil in den Spalt.
Romy schlug zu.
Sie wiederholten die Prozedur, bis alle Fensterläden festsaßen. Nur einmal rutschte Romy mit dem Hammer ab, aber sie verletzte sich nicht, und auch die Scheibe blieb heil.
«Jetzt haben wir uns eine Riesenportion Pommes verdient», sagte Tom, als sie wieder im Haus waren. «Was meinst du?»
«Ja, ja!», jubelte Romy und sprang in der Küche herum. Dann kletterte sie auf die Bank und blickte nach draußen. «Ich glaube, der Baum fällt gleich um», sagte sie mit Blick auf die Birke im Vorgarten, die sich gefährlich krümmte.
«Keine Sorge», beruhigte Tom sie, obwohl ihm bei dem Anblick selbst mulmig wurde. Er war in der Stadt aufgewachsen, es fiel ihm schwer, das Wetter an der See richtig einzuschätzen. «Die hat schon viele Stürme überlebt.»
«Elias hat gesagt, dass das Meer über die Dünen kommt und unser Haus wegspült.»
Elias war neuerdings Romys bester Freund im Kindergarten. Ihre Freundschaft hatte ähnlich stürmisch begonnen wie das heutige Wetter, mit einer Rangelei, bei der Romy ein aufgeplatztes Kinn davongetragen hatte und Elias einen gebrochenen Arm. Die Narbe trug Romy mit Stolz und präsentierte sie jedem, der glaubte, sich mit ihr anlegen zu können.
Tom setzte sich zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. «Keine Sorge, so schlimm wird es nicht.»
«Bist du sicher?»
«Absolut. Das Haus ist mehr als hundert Jahre alt, und es steht noch immer.»
Tom stand auf, um die Pommes in den Backofen zu schieben, als sein Handy klingelte. Es war sein Streifenkollege Bernd Kruse, der von allen nur Senior genannt wurde, weil er der Älteste auf dem Revier war.
«Gibt es ein Problem?», fragte Tom.
«Ich habe einen Notruf von zwei alten Damen erhalten. Irgendwer ist in ihr Haus eingedrungen. Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht, aber jetzt habe ich einen Platten und komme nicht weiter.»
«Bist du allein unterwegs?»
«Deshalb rufe ich an.» Wenn beide Streifenwagen anderweitig im Einsatz waren, versah Senior seinen Dienst auf seinem vierzig Jahre alten Schwalbe-Roller.
«Was machen die Übrigen?»
«Laurel und Hardy sichern die Landstraße, da ist ein Baum auf die Fahrbahn gestürzt. Babyface nimmt einen Auffahrunfall auf, Paul erreiche ich nicht.»
«Was ist mit Verstärkung aus einem anderen Revier?», fragte Tom ohne viel Hoffnung.
«Die haben selbst alle Hände voll zu tun», antwortete Senior seufzend. «Dabei ist der Sturm noch gar nicht richtig in Fahrt.»
«Also gut.» Tom blickte zu Romy, die noch immer aus dem Fenster starrte. «Wo genau bist du?»
Zehn Minuten später stieg Tom in seinen alten Polizeibus. Er hatte Nicole angerufen, Romys Erzieherin, die gelegentlich auch als Babysitterin einsprang. Sie würde sich um die Pommes kümmern und Romy anschließend ins Bett bringen, falls Tom bis dahin nicht zurück war.
Senior stand am Straßenrand im Schutz einer gefährlich knarzenden alten Buche. Sie hievten den Roller in den Bus, stiegen ein, und der Kollege dirigierte Tom zu dem einsam gelegenen Anwesen. Er war schon einige Male mit dem Fahrrad hier vorbeigekommen und hatte sich gefragt, wem das Haus wohl gehören mochte.
Die alte Holzvilla im Bäderstil lag etwa zweihundert Meter abseits der Landstraße auf einer kleinen Anhöhe. Nur ein schmaler Streifen Wald trennte das Haus von den Dünen und dem Meer dahinter. Tom glaubte über den Sturm hinweg die tosende Brandung zu hören, die eisige Luft war salzgeschwängert. Obwohl er selbst im Dunkeln sehen konnte, dass die Villa in schlechtem Zustand war, fiel es Tom nicht schwer, sich vorzustellen, dass dies zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts einmal die Sommerresidenz einer wohlhabenden Familie aus Berlin gewesen sein könnte. Türme und Erker schmückten das Haus, eine breite Treppe führte zu einem Windfang hinauf, der die Eingangstür gegen das launische Seewetter schützte.
Der Sturm heulte in den hohen Kiefern am Waldrand, die Sträucher im Vorgarten bogen sich, als wollten sie sich vor den Elementen schützen. Irgendwo klapperte ein Fensterladen so laut, dass er das Unwetter übertönte.
«Die zwei Frauen wohnen allein hier?», fragte Tom seinen Kollegen mit erhobener Stimme.
«Agnes und Waltraud Bülow», erklärte Senior. Auch er musste laut rufen, um sich Gehör zu verschaffen. «Beide Ende achtzig. Sie wirken gebrechlich, aber der Eindruck täuscht. Sie sind verdammt zäh.»
Tom schob das Gartentor auf, das mit Blumenranken aus Metall verziert war und laut quietschte. «Das Haus gehört ihnen?»
«Soviel ich weiß.»
Im Windfang war es stiller und nicht ganz so kalt. Senior betätigte die Klingel und klopfte dann an die in die Tür eingelassene Milchglasscheibe. «Hallo? Hier ist die Polizei!»
Eine Weile war nichts zu hören außer dem Wind. Dann erschien ein Schatten hinter der Scheibe, und die Tür wurde geöffnet. Eine hochgewachsene alte Dame in einem eleganten schwarzen Strickkleid musterte sie streng. Ihr silbergraues Haar war zu einem akkuraten kinnlangen Bob geschnitten, ihre blauen Augen blitzten wachsam.
«Herr Kruse», begrüßte sie Senior. «Und Sie müssen der Kommissar aus Berlin sein.»
«Tom Engelhardt», stellte Tom sich vor.
«Ich bin Waltraud Bülow. Kommen Sie doch herein.»
Drinnen roch es schmackhaft nach Suppe oder Eintopf, aber auch nach Feuchtigkeit und einem schlecht ziehenden Holzofen. Waltraud Bülow führte sie in einen Salon, der mit mondänen, jedoch reichlich abgewetzten Möbeln vollgestellt war. In einem Lehnstuhl mit verschlissenem rotem Samtbezug saß eine zweite alte Dame, die sich nun eilig erhob. Sie war kleiner als ihre Schwester und wirkte hinfälliger. Ihre Gesichtszüge waren weniger streng.
«Das ist meine Schwester Agnes», stellte Waltraud sie vor.
Tom wurde allmählich ungeduldig. Nichts in dem Raum deutete auf einen Einbruch hin, und die beiden Schwestern machten auch nicht den Eindruck, in irgendeiner Weise beunruhigt zu sein.
«Sie haben einen Eindringling gemeldet?», fragte er, an Waltraud gewandt.
«Das ist richtig, junger Mann.»
«Ist er noch im Haus?»
«Glauben Sie, dann würde ich hier so ruhig mit Ihnen plaudern?» Waltraud Bülow betrachtete ihn wie einen begriffsstutzigen Schüler.
«Und wie ist der Unbekannte eingedrungen?»
«Durch die Kellertür. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.» Es ging zurück in die Eingangshalle, dann einen Korridor entlang bis zu einer Tür. Dahinter verbarg sich eine steile Stiege. Waltraud Bülow schaltet das Licht ein und wollte vorausgehen, doch Tom hielt sie zurück. Auch wenn er nicht einmal sicher war, ob es diesen Eindringling überhaupt gegeben hatte, wollte er nichts riskieren.
Er ging voran, die Hand am Holster. Senior folgte, die beiden alten Damen blieben ein Stück zurück.
Der Keller bestand aus mehreren Räumen. In den ersten beiden drängten sich vor allem noch mehr alte Möbel sowie Truhen und Kartons. Der letzte Raum war gesäumt von Regalen, in denen Einmachgläser standen, deren Inhalt eine braungelbe Farbe angenommen hatte. Tom vermutete aufgrund der Färbung und der Staubschicht, dass die Früchte darin schon vor Jahrzehnten eingekocht worden waren.
Als er einen Schritt in den Raum machte, knirschte es unter seinen Sohlen. Scherben und Pfirsichhälften, die in einer Pfütze schwammen. Vor dem Regal an der rechten Wand lagen weitere Scherben.
«Schau mal.» Senior deutete auf die Tür am Ende des Kellerraums. Sie stand einen Spalt offen. Dahinter führte eine Treppe hinauf in den dunklen Garten.
Tom drehte sich zu den beiden Frauen um. «Haben Sie außer der aufgebrochenen Tür und den Einmachgläsern weitere Schäden bemerkt? Wurde etwas gestohlen?»
«Soweit wir das feststellen konnten, nicht», antwortete Waltraud Bülow.
«Und die Kellertür oben im Flur?»
«War abgeschlossen.»
«Also ist der Eindringling nur hier unten gewesen?»
«Das nehmen wir an.»
Tom nickte. «Wann haben Sie den Schaden bemerkt?»
«Vorhin. Wir haben Sie sofort alarmiert.»
«Und wie lange ist es her, dass Sie zum letzten Mal hier unten waren?»
Die beiden Frauen blickten sich an. «Ein paar Tage», sagte Waltraud. «Oder was meinst du?»
Ihre Schwester nickte. «Höchstens eine Woche.»
Tom sah zu Senior hinüber, der sich Notizen machte, und überlegte kurz. In Berlin war er Mordermittler gewesen und hatte mit solchen Bagatellfällen nichts zu tun gehabt. Hier auf dem Darß war das anders. Er leitete die kleine Außenstelle des Kriminalkommissariats im Polizeirevier von Sellnitz, dem außer ihm nur vier Streifenbeamte und sein Zivilkollege Paul Hendricks angehörten. Er war also für alles zuständig.
«Wie es aussieht, ist der Täter längst über alle Berge», stellte er fest. Falls es überhaupt einen Täter gab, fügte er in Gedanken hinzu. Gut möglich, dass ein Tier eingedrungen war und den Schaden verursacht hatte. «Heute Nacht besteht keine Gefahr», fuhr er laut fort. «Vor allem nicht bei dem Unwetter. Trotzdem sollten Sie darauf achten, dass die Kellertür gut abgeschlossen ist. Mein Kollege kommt morgen wieder und sichert Spuren.»
Auf dem Revier gab es einen Koffer mit entsprechender Ausrüstung, denn das Kommissariat für Spurensicherung saß in Anklam, und die Kollegen konnten nicht für jede Kleinigkeit ausrücken.
«Was hältst du von der Sache?», fragte er Senior, als sie wieder im Wagen saßen.
Sein Kollege zuckte mit den Schultern. «Vielleicht ein paar Jugendliche, die sich einen Scherz erlaubt haben. Oder eine Mutprobe.»
«Mutprobe?»
«Wer traut sich, in das Gruselhaus einzusteigen? So was in der Art.»
Tom warf ihm einen amüsierten Blick zu, bevor er den Motor startete und auf die Landstraße bog. Regen hatte eingesetzt, der Sturm wehte Blätter und Zweige über die Fahrbahn und rüttelte an dem alten Polizeibus, als wäre er ein Spielzeugauto. «Gruselhaus? Im Ernst?»
«Na ja, es sieht doch ein bisschen aus wie die Villa in Psycho, oder?»
Mascha Krieger hievte das Mountainbike die Treppe hinauf und stellte es vor der Wohnungstür ab. Ihre Beine waren zittrig vom Kampf gegen den aufziehenden Sturm, sie war durchgeschwitzt und freute sich auf eine heiße Dusche.
Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, fiel draußen vor dem Haus polternd etwas um, vermutlich eine Mülltonne. Mascha wandte sich zum Treppenhausfenster, vor dem sich die Äste der alten Platanen bogen. Ihr Chef hatte sie für verrückt erklärt, weil sie bei diesem Wetter mit dem Rad heimfahren wollte. Aber sie hatte sein Angebot, sie mitzunehmen, abgelehnt. Es tat ihr gut, sich nach der Arbeit richtig auszupowern. Erst unterwegs, als ein dicker Ast nur wenige Meter vor ihr auf die Fahrbahn krachte, war ihr klar geworden, dass es tatsächlich verdammt leichtsinnig gewesen war.
Mascha stellte das Rad im Flur ab, zog ihr Handy hervor und kontrollierte, ob Maria Heinrich neue Follower hatte. Nichts. Sie legte das Handy auf dem Tisch ab, streckte den verkrampften Rücken durch. Der Kerl würde auf sie aufmerksam werden, sie musste nur Geduld haben.
Mascha arbeitete als Kryptologin beim LKA in Schwerin. Vorübergehend zumindest. Gerade waren sie und ihr Team einem Stalker auf der Spur, der sich mit einer Schadsoftware Zugang zum Laptop seines Opfers verschafft und unter anderem die Kontrolle über die Kamera und das Mikrofon übernommen hatte. Später war er dann in die Wohnung der jungen Frau eingedrungen und hatte dort eine Puppe zurückgelassen. Erst da hatte sie überhaupt bemerkt, dass etwas nicht stimmte, und die Polizei alarmiert. Leider hatte sie zuvor ihren Laptop von einem Kumpel checken lassen, in dem Glauben, er sei kaputt. Der Kumpel hatte die Malware entdeckt und so gründlich geschreddert, dass sie nicht wiederherzustellen war. So war Mascha und ihren Kollegen die Möglichkeit geraubt, auf diesem Weg mehr über den Täter in Erfahrung zu bringen. Sie vermuteten lediglich, dass der Erstkontakt über Instagram stattgefunden hatte und der Unbekannte eine bestimmte Schwäche der Frau ausgenutzt hatte, um sich ihr Vertrauen zu erschleichen. Ob es weitere Opfer gab, wussten sie nicht. Und auch nicht, was der Unbekannte als Nächstes vorhatte. Da er jedoch in die Wohnung der Frau eingebrochen war, hatte die Kripo, die solche Fälle für Maschas Empfinden manchmal nicht ernst genug nahm, die Experten des LKA hinzugezogen.
Maschas Erfahrung nach brauchten die meisten Täter irgendwann einen stärkeren Kick. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis der Unbekannte wieder in Erscheinung trat. Und da es keinen Verdächtigen im persönlichen Umfeld der jungen Frau gab, gingen sie davon aus, dass er sich ein neues Opfer suchen würde.
Aber dann würde er es mit Mascha zu tun bekommen. Besser gesagt mit der erfundenen Maria Heinrich, ihrem Köder. Maria hatte gerade ihr Psychologiestudium beendet und wohnte nun in Schwerin, genau wie die Frau, in deren Laptop der Unbekannte eingedrungen war, verfasste ähnliche Posts und likte eifrig die gleichen Beträge. Eine Falle. Mascha freute sich darauf, sie zuschnappen zu lassen.
Sie ging ins Bad, streifte ihre Klamotten ab und trat unter die Dusche. Erst als das warme Wasser über ihren Rücken rieselte, merkte sie, wie durchgefroren sie war. Sie schloss die Augen, versuchte, an nichts zu denken.
Ein Geräusch schreckte sie auf, eine Art Schaben. Sie stellte das Wasser ab, horchte. Nichts. Bestimmt bloß der Sturm.
Mascha stieg aus der Dusche und wickelte sich ein Handtuch um.
Da! Wieder! Verdammt, jemand war in der Wohnung.
Sie öffnete die Tür, trat vorsichtig in den Flur. Die Wohnungstür stand offen, also hatte sie richtig gehört. Scheiße, war das etwa der Stalker? Hatte sie einen Fehler gemacht, hatte er herausgefunden, dass Maria ein Fake war und in Wahrheit Mascha dahintersteckte? Aber wie hätte er das so schnell hinkriegen sollen? Ihre Kollegen und sie hatten das Profil erst vor zwei Tagen erstellt. Allerdings hatte Mascha das präparierte Handy heute zum ersten Mal mit nach Hause genommen. Zudem diente ein echtes Foto von ihr als Marias Profilbild, für den Fall, dass sie sich vor der Webcam zeigen musste oder der Mann sich mit ihr treffen wollte. Zwar hatten sie zuvor sichergestellt, dass es keine Bilder von ihr im Internet gab, vor allem keine, auf denen sie als Polizistin zu erkennen war, aber hundertprozentig sicher konnten sie dennoch nicht sein.
Mascha stöhnte auf. Sie trug nichts als ein Handtuch, und ihre Dienstwaffe lag in ihrem Schließfach im LKA. Na wunderbar.
Sie nahm eine Bewegung im Wohnzimmer wahr, stürzte auf die Gestalt zu, die ihr den Rücken zugewandt hatte, schob ihr die Arme unter den Achseln durch und packte sie in einem Doppelnelson, die Hände in ihrem Nacken verschränkt. «Keine Bewegung.»
Im selben Moment bemerkte sie, dass die Person fast einen Kopf kleiner war als sie selbst. Graue Haare kringelten sich unter der Wollmütze hervor. Die faltigen Hände, die sie langsam hob, zitterten.
Mascha löste den Griff und trat zurück, doch sie blieb auf der Hut. «Wer zum Teufel sind Sie?»
«Ich wollte nicht einbrechen», stammelte die alte Frau. «Ganz bestimmt nicht. Die Tür stand offen.»
Mascha warf einen Blick über die Schulter. Konnte es wirklich sein, dass sie vergessen hatte, die Tür zu schließen?
«Sie dürfen nicht einfach in eine fremde Wohnung eindringen, selbst wenn die Tür offen ist.»
«Ich weiß, es tut mir leid, Frau Krieger. Ich habe auch nach Ihnen gerufen, aber Sie haben nicht geantwortet.»
«Ach ja? Ich habe nichts gehört.»
«Kann ich bitte die Arme runternehmen?»
«Ganz langsam. Und umdrehen.»
Die Frau war mindestens achtzig und stellte tatsächlich keine Gefahr dar. Ihre großen, erstaunlich blauen Augen wirkten freundlich und offen. Trotzdem war Mascha wütend.
«Was wollen Sie von mir?», fuhr sie die Unbekannte schroff an.
«Sie sind doch die Kryptologin von der Polizei?»
«Ja. Und?»
«Ich möchte Ihnen das hier geben.» Die Frau griff in die Manteltasche und hielt Mascha mit noch immer zitternden Fingern einen Briefumschlag hin.
Mascha machte keine Anstalten, ihn entgegenzunehmen. «Was ist das?»
«Ich weiß, ich hätte Sie nicht einfach so zu Hause überfallen sollen. Aber es ist wirklich wichtig, Sie müssen mir helfen.» Ihr Blick unter der nachtblauen Wollmütze bekam etwas Beschwörendes. «Mein Sohn hat mir den Brief geschickt, vor mehr als dreißig Jahren. Ich habe immer gewusst, dass er eine geheime Nachricht enthält, aber ich habe sie nie entschlüsseln können. Und ich wollte nicht …»
«Es tut mir leid, aber da kann ich nichts für Sie tun», unterbrach Mascha. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit einer solchen Bitte konfrontiert wurde. Ihrer Erfahrung nach steckte nie etwas dahinter. Viele Menschen klammerten sich an die Vorstellung einer letzten, alles erklärenden Botschaft, wenn es in Wahrheit keine Erklärung gab. Die Frau hatte sich in ihrer Einsamkeit etwas zusammenfantasiert. Das war traurig, aber nicht Maschas Problem. Außerdem war sie noch immer sauer. Ein Gedanke kam ihr.
«Woher wissen Sie überhaupt, wer ich bin, Frau …» Sie schwieg abwartend.
«Pistorius, Katrin Pistorius. Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, Frau Krieger.» Sie deutete vage hinter sich. «Ich wohne ganz in der Nähe.»
Das erklärte es zumindest teilweise. Mascha lebte zwar erst seit einem Jahr in Schwerin und hatte kaum Kontakt zu den Nachbarn, doch sie hatte nicht nur den Job, sondern auch die Wohnung eines Kollegen im Sabbatjahr übernommen, und das hatte sich womöglich herumgesprochen. Eigentlich hätte sie bereits im Dezember nach Dresden zurückkehren sollen, doch der Kollege hatte sich in Australien unsterblich verliebt und seinen Job gekündigt. Deshalb war sie noch immer hier. Auf ungewisse Zeit in der Warteschleife.
Mascha betrachtete die Frau genauer. Jetzt fiel ihr auf, dass sie dezent geschminkt war. Und der Mantel war zwar nicht mehr ganz neu, aber gewiss einmal sehr teuer gewesen.
«Also, Frau Pistorius», versuchte sie es erneut. «Ich kann mich nicht um private Angelegenheiten meiner Nachbarn kümmern, so gern ich helfen würde.»
«Es ist Maltes letztes Lebenszeichen, bevor er zu Tode kam.» Die Frau hielt Mascha den Brief vor die Brust, in ihren Augen schwammen Tränen. «Er verstarb im Ausland, ich habe ihn nie wiedergesehen.»
Mascha unterdrückte ein Seufzen. Mitgefühl verdrängte die Wut, die alte Frau tat ihr leid. Sie überlegte, ob sie den Brief annehmen, in ein paar Tagen zurückgeben und behaupten sollte, keine geheime Botschaft darin gefunden zu haben. Vielleicht würde sie Katrin Pistorius damit einen Gefallen tun, ihr die Chance geben, mit dem Tod ihres Sohnes abzuschließen. Andererseits ging es sie nichts an, und am Ende richtete ihre gut gemeinte Tat nur Schaden an. Womöglich war die Frau geistig verwirrt oder psychisch krank, auch wenn sie völlig normal wirkte.
Sie hob die Hände. «Ich bedaure, aber es geht wirklich nicht. Und jetzt verlassen Sie bitte meine Wohnung.»
«Aber …»
Ein Signalton ließ die Frau abbrechen. Mascha drehte sich um. Auf dem Tisch lag noch immer das präparierte Handy, das Display leuchtete. Sie hatte es so eingestellt, dass sie eine Pushnachricht erhielt, wenn jemand sie kontaktierte.
Sie zögerte, widerstand jedoch der Versuchung, sofort nachzusehen, und drehte sich wieder um. «Frau Pistorius …»
Doch die Frau war fort.
Mascha eilte in den Flur und hörte Schritte im Treppenhaus verklingen. Erleichtert schloss sie die Tür und drehte zur Sicherheit den Schlüssel zweimal um. Ein paar Sekunden lang blieb sie so stehen. Was für ein Schreck. Und was für ein Leichtsinn von ihr, die Tür offen stehen zu lassen, während sie den Lockvogel für einen Stalker spielte.
Da sah sie auf der Kommode etwas Weißes liegen. Der Umschlag. Mascha stöhnte auf. So einfach hatte Katrin Pistorius dann doch nicht aufgegeben.
Sie zog sich an, schenkte sich ein Glas Merlot ein und kehrte ins Wohnzimmer zurück, um sich die Nachricht auf dem Handy anzusehen.
Fehlalarm.
Mascha trat ans Fenster, nahm einen großen Schluck Wein und spürte, wie das Kribbeln im Bauch nachließ. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es sie so nervös machen würde, den Köder zu spielen. Auf die andere Seite zu wechseln und in die Rolle des Opfers zu schlüpfen, machte etwas mit ihr. Sie musste aufpassen, dass sie professionell blieb. Wachsam. Denn ausgeschlossen war nichts. Zumal sie keine Ahnung hatten, wie der Täter tickte und was genau er mit seinen Opfern vorhatte.
Es war noch dunkel, als Tom den Bulli über den holprigen Sandweg durch die Dünen lenkte. Der Sturm hatte nachgelassen, aber die Böen schlugen noch hart gegen den Wagen. Der Notruf war vor knapp zwei Stunden eingegangen. Jemand hatte gemeldet, dass die Flut ein Stück Kliff zum Einsturz gebracht und dabei Knochen freigelegt hatte.
Solche Notrufe waren nicht selten, und meistens handelte es sich um die Überreste eines Tieres. Im Darßwald gab es Hirsche und Wildschweine, deren Knochen ein Laie für die eines Menschen halten konnte. Die Streifenkollegen, die als Erste vor Ort eingetroffen waren, behaupteten jedoch, dass es sich um menschliche Überreste handelte.
Tom parkte neben dem Streifenwagen am Wegesrand und stieg aus. Feine Wassertröpfchen benetzten sein Gesicht, er war nicht sicher, ob es Nieselregen oder die Gischt war, die vom Meer herüberwehte. Die Ostsee war rau und aufgewühlt, Schaumkronen tanzten auf den Wellen. Vom Strand, der normalerweise hinter den Dünen begann, war nichts zu sehen, das Wasser stand noch immer sehr hoch. Die Brandung donnerte so laut, dass sie alle anderen Geräusche übertönte.
Noch war bis auf die beiden Kollegen niemand vor Ort. Tom hatte die Rechtsmedizin verständigt, denn sie mussten schnellstmöglich herausfinden, ob es sich überhaupt um einen Fall für die Kripo handelte. Womöglich gehörten die Knochen zu einem Wikingerskelett oder zu einem gestrandeten Seemann, der seit Jahrhunderten dort begraben war, dann konnten die Archäologen der Uni Rostock sich damit herumschlagen. Professor Süderholz, der Chef der Rechtsmedizin, hatte sich bei einem Skiunfall das Bein gebrochen, doch er hatte versichert, dass seine Kollegin, eine forensische Anthropologin, in diesem Fall ohnehin viel kompetenter war als er.
Tom wandte dem Meer den Rücken zu und ließ den Blick schweifen. Rechts von ihm erhob sich das Kliff, das weiter westlich, kurz vor Sellnitz, wieder abfiel und in Dünen überging. An der höchsten Stelle erkannte er die Ausläufer der Parkanlage, die zur Klinik gehörte, das Gebäude selbst verbarg sich hinter einem Kiefernwäldchen. In die entgegengesetzte Richtung musste die Villa der beiden betagten Schwestern liegen, die er und Senior gestern Abend besucht hatten.
Tom entdeckte die beiden Streifenbeamten Dominik Schmitt und Sebastian Kegel, genannt Laurel und Hardy, ganz oben auf dem Kliff, wo sie mit einem Streifen rot-weißem Flatterband kämpften, das der Wind ihnen immer wieder aus den Fingern riss.
Tom schob die Hände in die Jackentaschen und lief zu ihnen hinauf, den Kopf schützend gesenkt. Erst als er die Kollegen fast erreicht hatte, erkannte er das gesamte Ausmaß des Schadens, das die Sturmflut angerichtet hatte. Mitten im Kliff klaffte ein halbkreisförmiger Einschnitt von mehreren Metern Umfang. Der Rand war gezackt und von Rissen durchzogen. Es sah aus, als hätte ein Riese ein Stück Küste abgebissen. Ein gigantischer Haufen Sand und Geröll, an dem die Wogen zischend leckten, erstreckte sich von der neu entstandenen Mulde bis ins Meer.
Beklommen dachte Tom an sein kleines Häuschen hinter den Dünen. Gestern hatte er zwar behauptet, es wäre nicht in Gefahr, aber letztlich gab es keine Sicherheit vor den Naturgewalten. Sollte ein Sturm die Dünen fortreißen, wäre sein Zuhause den Wassermassen schutzlos ausgeliefert.
Die beiden Kollegen hatten es inzwischen geschafft, die Abbruchkante mit Flatterband zu sichern. Sie sahen erschöpft und durchgefroren aus. Sicherlich hatten sie in der vergangenen Nacht etliche Einsätze gehabt. Laurel war zudem vor ein paar Wochen Vater geworden, die dunklen Ringe unter seinen Augen verrieten, dass er nicht viel Schlaf bekam.
«Alles klar bei euch?», begrüßte Tom die beiden. «Harte Nacht gehabt?»
Laurel winkte grinsend ab. «Nicht härter als sonst auch.»
«Na wunderbar. Was haben wir?»
Laurel deutete auf eine Stelle, wo nicht nur Sand und Steine, sondern zudem einige Sträucher in die Tiefe gestürzt waren. «Da vorne sind die Knochen.»
Tom spähte in die Richtung, konnte in dem Gewirr aus Wurzeln und Sand jedoch nichts erkennen. «Und ihr seid euch wirklich sicher, dass es sich um menschliche Gebeine handelt?» Er hatte keine Lust, sich bei Süderholz’ Kollegin mit ein paar Wildschweinknochen zu blamieren.
«Ich bin kein Mediziner, aber …» Laurel zuckte mit den Achseln und nickte seinem Kollegen zu.
Hardy sprang auf die Halde, bückte sich nach einem Stock und stocherte damit im Sand herum. Er war deutlich kräftiger gebaut als sein Kollege, und trotz der Kälte glaubte Tom Schweißperlen an seinem Haaransatz zu erkennen. Hardy spießte einen Gegenstand auf und hielt ihn hoch.
Tom schnappte nach Luft. Ein menschlicher Schädel, ohne jeden Zweifel.
«Zurücklegen!», fuhr er den Uniformierten an.
«Sorry.» Hardy deponierte den Schädel rasch wieder im Sand. «Der Sturm hat doch hier eh alles durcheinandergebracht, deshalb dachte ich …»
Tom winkte ab. Er hatte keine Lust, dem jungen Kollegen zu erklären, dass man durchaus auch nach einem Erdrutsch noch rekonstruieren konnte, in welcher Anordnung bestimmte Gegenstände zuvor unter der Oberfläche gelegen hatten und dass das für eine etwaige Mordermittlung relevant sein konnte. Vorsichtig lief er an der bröckeligen Kante entlang, bis er oberhalb der Fundstelle stand. Neben dem Schädel steckten weitere Knochen im Sand, einige ragten unterhalb der Kante aus dem Kliff heraus.
Ein schwerer Tropfen landete in Toms Nacken. Er blickte nach oben, wo sich grauschwarze Wolken zusammenballten. Bald würde hier die Hölle losbrechen.
«Deckt die Knochen mit einer Plane ab, bis die Anthropologin da ist», bat er die Kollegen. «Und achtet darauf, dass nichts weggespült wird.»
«Wir versuchen es.» Laurel blickte ein wenig hilflos zwischen der Einsturzstelle, dem düsteren Himmel und der wild tosenden See hin und her.
«Ihr kriegt das hin.» Tom legte ihm die Hand auf die Schulter, bevor er sich abwandte.
Als er wieder zu seinem Bulli herunterstieg, spürte er ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Der Schädel auf dem Kliff kam ihm nicht sonderlich alt vor. Er war kein Experte, aber der Knochen erschienen ihm zu hell und zu glatt, um mehr als ein paar Jahre oder maximal Jahrzehnte in der Erde gelegen zu haben. Da blieb nicht viel Hoffnung, dass er den Fund den Archäologen würde überlassen können.
Es war nicht schwer gewesen, Katrin Pistorius zu finden. Mascha ging immer davon aus, dass alle, wie sie selbst, bloß ein Handy besaßen, und wunderte sich regelmäßig, wie viele Festnetzanschlüsse es noch gab, die samt der dazugehörigen Anschrift im Internet zu finden waren.
Tatsächlich lag Frau Pistorius’ Wohnung nur ein paar Schritte von dem Altbau entfernt, in dem Mascha lebte. Es war noch immer windig, die Straße glänzte nass, Laub und Äste lagen überall herum. Eine Mülltonne war umgefallen, und der Inhalt hatte sich über den Bürgersteig verteilt. Davon abgesehen schien das Sturmtief in ihrem Viertel nicht viel Schaden angerichtet zu haben. Anderswo sah es schlimmer aus, das hatte sie im Internet gelesen, während sie rasch einen Kaffee heruntergekippt hatte. Noch immer waren viele Bahnstrecken gesperrt, und auch Straßen waren wegen umgestürzter Bäume unpassierbar. Das Wellblechdach einer Fabrik war vollkommen zerstört worden, herabfallende Äste hatten einen Fußgänger schwer verletzt. Es war idiotisch gewesen, gestern mit dem Fahrrad heimzufahren. Mascha verstand selbst nicht, warum sie manchmal auf diese Art das Schicksal herausforderte.
Sie schüttelte den Gedanken ab, zog den Brief aus der Jackentasche und betrachtete ihn. Der Umschlag sah neu aus und war unbeschriftet. Keine Adresse, keine Briefmarke, kein Poststempel. Mascha hatte kurz hineingeschaut und zwei gefaltete, eng mit Kuli beschriebene vergilbte Blätter entdeckt. Sie hatte sie jedoch nicht herausgeholt.
Entschlossen drückte sie auf den Klingelknopf. Sie hatte selbst genug Sorgen, sie würde sich nicht auch noch den Kummer einer alten Frau aufbürden. Sie wartete eine Weile, doch nichts geschah. Es war kurz vor acht, vielleicht lag Frau Pistorius noch im Bett. Gerade als Mascha beschlossen hatte, es nach Feierabend noch einmal zu versuchen, wurde aufgedrückt.
Die Wohnung befand sich im ersten Stock. Als Mascha den Treppenabsatz erreichte, öffnete eine kräftig gebaute Mittsechzigerin mit kurzen blonden Strähnchen die Tür. Überrascht sah sie Mascha an.
«Oh, ich dachte, es wäre meine Tochter. Kann ich Ihnen helfen?»
Mascha war nicht weniger erstaunt. Sie hatte angenommen, dass die alte Dame allein lebte. «Ich möchte mit Katrin Pistorius sprechen.»
«Steht vor Ihnen.» Die Frau verschränkte die Arme. «Wenn Sie mir was verkaufen wollen …»
«Nein, ich …» Mascha runzelte die Stirn. «Hier muss ein Irrtum vorliegen.»
«Ach ja?» Die Frau schob argwöhnisch die Tür ein Stück zu.
«Warten Sie.» Mascha fummelte ihren Dienstausweis aus der Tasche, manchmal half er, Antworten zu bekommen. Sie durfte sich nur nicht erwischen lassen. «Mascha Krieger, LKA. Ich suche eine Zeugin, die sich mir als Frau Pistorius vorgestellt hat.»
«Das muss wer anders gewesen sein. Allerdings kenne ich niemanden, der auch so heißt. Außer meiner Tochter natürlich.» Pistorius betrachtete Mascha stirnrunzelnd. «Haben Sie sich denn nicht den Ausweis zeigen lassen?»
«Die Sache ist kompliziert», wich Mascha aus. «Kennen Sie eine ältere Dame, so um die achtzig, knapp eins sechzig groß und schlank?»
«Nee, ist mir nicht bekannt.»
Die Türglocke ertönte.
«Das muss meine Tochter sein. War’s das?»
«Ich danke Ihnen, Frau Pistorius.» Nachdenklich steckte Mascha den Brief wieder ein und stieg die Treppe hinunter.
Eine junge Frau kam ihr entgegen, doch Mascha beachtete sie kaum. Sie rief sich ihre Besucherin ins Gedächtnis, versuchte sich zu erinnern, was genau sie gesagt hatte.
Katrin Pistorius. Ich wohne ganz in der Nähe. Der Brief ist das letzte Lebenszeichen meines Sohnes.
Hatte Mascha den Namen falsch verstanden? Oder hatte die Unbekannte sie absichtlich belogen? Doch aus welchem Grund hätte sie das tun sollen?
Janine Kaiser erwachte von einem Kitzeln an ihrer Wange. Irgendwas kroch ihr übers Gesicht. Verschlafen versuchte sie, das lästige Insekt zu verscheuchen. Vergeblich.
Stöhnend drehte Janine sich auf den Rücken, die Augen noch immer geschlossen. Ihre Schulter schmerzte, jeder Muskel in ihrem Körper ächzte, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Auf der Wange kribbelte es noch immer. Vorsichtig tastete Janine. Kein Tier, sondern eine harte Kruste. Dreck? Blut?
Entsetzt schlug sie die Augen auf und stieß Sekunden später erleichtert die Luft aus, als sie erkannte, dass sie in ihrer eigenen Wohnung war. Nicht im Bett zwar, sondern auf dem Teppich im Wohnzimmer. Aber das war nicht schlimm. Sie war zu Hause, heil und unversehrt. Das war alles, was zählte.
Sie war doch unversehrt, oder?
Behutsam fuhr sie noch einmal über ihre Wange. Die Kruste zerkrümelte unter dem Finger. Braun. Erde. Zum Glück. Einen Moment lang lag sie einfach nur da, unfähig, sich zu rühren. Ihr Schädel dröhnte, ihr linker Arm brannte. Das Licht stach unangenehm in ihren Augen.
Licht? Mein Gott, Torge, dachte sie. Er durfte sie nicht so sehen.
Sie setzte sich auf. Wie spät war es überhaupt?
Ein Blick aus dem Fenster zeigte eine tief hängende dunkle Wolkendecke. Unmöglich zu sagen, wie spät es war. Regen trommelte gegen die Scheiben, Wind zerrte an den Baumwipfeln im Nachbargarten. Der Sturm … Eine vage Erinnerung stieg in ihr auf. Doch bevor sie danach greifen konnte, zerplatzte sie wie eine Seifenblase und hinterließ nichts als ein samtiges schwarzes Gefühl.
Vom schnellen Aufsetzen war Janine schwindelig. Während sie darauf wartete, dass ihr Kopf wieder klar wurde, blickte sie an sich hinunter. Sie trug ihre Daunenjacke, die Jeans war nass und dreckverkrustet, die Gummistiefel ebenfalls. Wo zum Teufel war sie dieses Mal gewesen?
Mühsam kam sie auf die Beine, wankte in die Küche und ließ sich ein Glas Wasser einlaufen. In gierigen Zügen trank sie. Dann erblickte sie ihr Handy auf dem Tisch. Freitag, zehnter Januar, neun Uhr siebzehn. Grundgütiger, so spät?
«Torge?», rief sie die Treppe hinauf.
Keine Antwort.
Sie blickte zur Garderobe. Seine gelbe Winterjacke hing nicht an ihrem Platz. Konnte es sein, dass er aus dem Haus gegangen war, ohne sie auf dem Wohnzimmerteppich zu bemerken?
Janine lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen und presste die Finger gegen die pochenden Schläfen. Sie musste etwas tun, so konnte es nicht weitergehen. Immerhin musste sie sich nicht um den Laden kümmern, diese Woche machte Solveig morgens auf.
Müde stieg sie aus den Stiefeln, streifte die Jacke ab, ließ sie zu Boden fallen und schleppte sich die Treppe hinauf. Torge war nicht in seinem Zimmer, die Schultasche nirgendwo zu sehen, auch wenn das in dem Durcheinander aus schmutzigen Klamotten, Comic-Heften und leeren Chipstüten nicht unbedingt etwas heißen musste. Dann fiel es ihr ein: Ihr Sohn hatte die Nacht bei seinem Freund Lasse verbracht. Er hatte sie nicht in diesem Zustand gesehen.
Janine ging ins Bad. Sie brauchte eine Kopfschmerztablette und eine heiße Dusche. Ihre Arme zitterten, als sie den Pullover über den Kopf zog und die Jeans abstreifte. Das T-Shirt klebte unangenehm am Bauch. Sie drehte sich zum Spiegel um und erstarrte. Fassungslos betrachtete sie die Gestalt, die ihren Blick mit riesigen, dunkel geränderten Augen erwiderte, das Gesicht blass und verdreckt, das Haar zerzaust.
Auf dem weißen T-Shirt, knapp oberhalb des Slips, prangte ein braunroter Fleck, so groß, dass er fast den gesamten Bauchraum einnahm.
Janine begann am ganzen Körper zu beben. Herr im Himmel, was hatte sie getan?
Als Tom zwei Stunden später an die Fundstelle zurückkehrte, war der Dünenweg kaum wiederzuerkennen. Zwei weitere Streifenwagen parkten auf der schmalen Grasnarbe, dahinter der Kastenwagen der Kriminaltechnik sowie ein smaragdgrünes Jaguar-Coupé älteren Baujahrs. Das musste der Anthropologin gehören.
Die Presse war zum Glück noch nicht vor Ort, die hatte genug damit zu tun, über die Sturmschäden zu berichten. Und etwaige Schaulustige wurden schon an der Abfahrt von der Landstraße aufgehalten.
Der Regen hatte aufgehört, der Wind jagte noch immer mit atemberaubender Geschwindigkeit Wolken über den Himmel, doch seine Kraft hatte deutlich nachgelassen.
Als Tom nach oben zum Kliff blickte, sah er, dass die Techniker bereits ein Zelt errichtet hatten. Ein klobiger weißer Fremdkörper, der von Gewalt und Tod kündete. Er schloss den Bulli ab und machte sich zum zweiten Mal an diesem Tag an den Aufstieg.
Das Zelt war direkt an der Abbruchkante errichtet worden und wurde von der Brise ordentlich durchgerüttelt. In einiger Entfernung brummte ein Generator.
Zwei Gestalten in weißen Anzügen hockten zwischen Sand, ausgerissenen Sträuchern und Geröll, machten Fotos und stellten Schilder mit Nummern auf. Eine dritte Person, ebenfalls ganz in Weiß gekleidet, trat gerade aus dem Zelt. Sie entdeckte Tom und trat auf ihn zu.
«Kriminalhauptkommissar Engelhardt?» Sie nahm die Kapuze vom Kopf, eine graue, lässig mit einem Gummi zusammengehaltene Mähne kam zum Vorschein. Tom schätzte die Frau auf Ende fünfzig. «Ich bin Vera van Doorn, die forensische Anthropologin.» Sie zog einen Handschuh aus und streckte ihm die Hand entgegen.
Tom glaubte, einen kaum hörbaren niederländischen Akzent zu vernehmen. «Freut mich, Frau van Doorn.» Er schlug ein.
«Sie haben vor ein paar Monaten diese Geschichte mit dem verschwundenen Mädchen aufgeklärt.» Die Anthropologin musterte ihn interessiert.
Tom wich ihrem Blick aus. Er hatte keine Lust, über den Fall zu reden, er war mit zu vielen bedrückenden Erinnerungen verbunden. «Können Sie schon etwas zu dem Skelett sagen?»