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Thomas Mach, ein junger Österreicher aus Wien, reist nach Ägypten. Er soll an die Stelle der Reiseleiterin Eva Blum treten, die sich kurz zuvor aus dem Fenster ihres Hotelzimmers gestürzt hat. Geleitet von Evas Tagebuch verfolgt Thomas Mach die Spur der Frau.
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Seitenzahl: 340
Gerhard Roth
Der Strom
Roman
Fischer e-books
Die für mich verlockendste Auffassung – daß es keine Zeit gibt, daß alles Gegenwart ist, die wie ein Leuchten außerhalb unserer Blindheit liegt – ist eine ebenso hoffnungslos endliche Hypothese wie alle übrigen.
Vladimir Nabokov, Die Gabe
Nicht, um den finsteren Tartarus zu schauen, stieg ich hier herab, nicht, um die drei schlangenzottigen Hälse des Zerberus zu fesseln. Ich komme um meiner Gattin willen. Eine Natter, auf die ihr Fuß trat, hat sie vergiftet und sie in der Blüte der Jahre hingerafft. Ich wollte den Verlust ertragen, ich habe es versucht, das läßt sich nicht leugnen, allein Amor war stärker.
Ovid, Metamorphosen, Zehntes Buch, Orpheus und Eurydike
Geblendet vom Sonnenlicht, das durch das Kabinenfenster fiel, öffnete er die Augen.
Er hatte die Reise, trotz der bösen Vorzeichen, in der Überzeugung angetreten, daß ihm nichts geschehen würde und sein Tod, wenn er sich richtig verhielt, in ferner Zukunft lag, weit hinter der leichten Krümmung der Erde, die er vor sich sah.
Verschlafen blickte er auf den glitzernden Nil hinunter und dachte erstaunt, daß ein imaginärer Pinsel das Wasseraderngeflecht aus Kanälen und Seitenarmen mit Goldfarbe bestrich, mit Giottogold, der entrücktesten und überirdischsten Farbe.
Auf dem Klapptischchen lag die Mappe mit den Unterlagen, dem handgeschriebenen Wörterbuch (die arabischen Vokabeln in phonetischen Zeichen), dem Katalog der »Kultur- und Pilgerreisen« (auf dem Titel der Sphinx im roten Abendlicht, der ihn an eines seiner Kinderbilderbücher erinnerte) und dem umfangreichen Studientagebuch seiner verunglückten Vorgängerin. Als er sich wieder der Luke zuwandte, durch die er wie in einem optischen Meßinstrument die verkleinerte Landschaft erblickte – eine fremde, verzauberte Welt –, lagen die eben noch glimmenden Wasseradern blaß und erloschen hinter ihm und lösten sich im Dunst auf, während die Lichtspiegelungen weiterwanderten, als seien sie Impulse, die über ein System verborgener elektrischer Leitungen die ausgedehnte Flußmündung (die das winzige Detail eines unermeßlichen Freskos war) zum Aufleuchten bringen würden.
Der Anlaß seiner Reise war nicht erfreulich. Thomas Mach sollte an die Stelle einer Reiseleiterin treten, die sich zehn Tage zuvor in Kairo aus dem 16. Stockwerk des Sheraton-Hotels gestürzt hatte, ohne einen Hinweis auf den Grund ihrer Verzweiflungstat hinterlassen zu haben. Sein Onkel, der Inhaber des Reisebüros »Auge Gottes«, vermutete, daß sie an einem Gehirntumor gelitten habe, denn sie hatte in letzter Zeit häufig über Kopfschmerzen und Schwindelgefühle geklagt. (Die Spekulationen waren typisch für ihn, der überall Anhaltspunkte und Hinweise zu erkennen glaubte, wenn es um die Erklärung eines rätselhaften Ereignisses ging.)
Mach hatte vor kurzem sein Geographie- und Geschichtsstudium in Wien beendet und sodann die sehnlich gewünschte Segelfliegerprüfung abgelegt, die das Geschenk seines Vaters zum Universitätsabschluß war. Manchmal überkam ihn beim Fliegen das Verlangen, auf die Erde hinunterzustürzen, alle Angst war dann von ihm gewichen, statt dessen verspürte er bei der Vorstellung des freien Falls nur Lustgefühle. Gleichzeitig war er davon überzeugt, den Sturz vor der Erdoberfläche noch auffangen und sich unbeschadet wieder in der metaphysischen Bläue des Himmels verlieren zu können.
Gedankenversunken blätterte er im Studientagebuch seiner Vorgängerin Eva Blum. Es enthielt eine Reihe von Erklärungen und Beschreibungen, vergrößerten Ausschnitten von Landkarten und Stadtplänen, Skizzen, Zeitungsartikeln, Fotografien, eingeklebten Eintrittsbilletts und Prospekten sowie handgeschriebenen Notizen, Namen und Telefonnummern, die sie während der sieben Jahre ihrer Tätigkeit ergänzt und erweitert hatte. Erst am Vortag hatte sich Thomas Mach in das Lesen der Aufzeichnungen vertieft und war davon so gefesselt gewesen, daß er gar nicht bemerkt hatte, wie es dunkel geworden war, und obwohl er von fremden Ländern seit seiner Kindheit angezogen war und seine Magisterarbeit über die Reisen Erzherzog Maximilians (des späteren Kaisers von Mexiko) verfaßt hatte, war ihm unbekannt, was er las. Eva Blum schrieb, daß europäische Ärzte im Mittelalter ihren Patienten Pulver aus zerriebenen ägyptischen Mumien verabreicht hatten. Dieses Pulver, das sehr teuer war und von Mumienhändlern in Alexandria bezogen wurde, habe es noch Mitte der zwanziger Jahre in deutschen Apotheken zu kaufen gegeben. In seinem Mißfallen darüber sah Thomas Mach die Europäer als Kannibalen, die Berge von toten Ägyptern verspeisten. Die Engländer, las er weiter, verschifften, als sie bei ihren archäologischen Untersuchungen auf Katzennekropolen stießen (denn die Katzen waren heilig und wurden wie Menschen betrauert und mumifiziert), die Engländer also verschifften die zerfallenden Mumien dieser Haustiere nach Großbritannien und düngten damit ihre Felder. Außerdem führte man Mumienpulver in Farbenhandlungen unter der Bezeichnung »Mumienbraun«, und es gab Berichte, wonach zu Zeiten Mark Twains in Amerika einbalsamierte Leichen aus Ägypten in Lokomotiven anstelle von Brennholz verheizt und die Leinenbandagen, in die sie eingewickelt gewesen waren, zur Herstellung von holzfreiem Papier verwendet wurden. Das hatte Thomas Mach besonders irritiert, da er aus einer Familie von Papier- und Kartonagenfabrikanten stammte. Es paßte jedoch zu den Schilderungen, die er über die Entdeckung des Nilursprungs gelesen hatte, den Sklavenhandel und den Raub von Kunstschätzen. (Konrad Feldt, ein Beamter der Nationalbibliothek, der ihn während seiner Magisterarbeit betreute, machte ihn darauf aufmerksam, daß Erzherzog Maximilian bei seinem Staatsbesuch in Kairo die Sammlung der Altertümerverwaltung zu Gesicht bekommen und, da er sich außerordentlich enthusiasmiert zeigte, auch als Geschenk erhalten hatte. Die gesamten Kunstschätze – von unbezahlbarem Wert – wurden in das Wiener Kunsthistorische Museum gebracht, wo Thomas Mach sie in Begleitung Feldts mehrmals besichtigte. Feldt hatte ihn auch mit Büchern über Ägypten bekannt gemacht: dem Werk von Nagib Machfus, Gustave Flauberts Reise in den Orient, Thomas Manns Joseph und seine Brüder, Ingeborg Bachmanns Der Fall Franza und dem Oedipus Aegyptiacus des Renaissancekünstlers Athanasius Kircher, einem seltsamen und, wie es Thomas Mach schien, verrückten Werk.)
Sein Blick fiel wieder durch das Kabinenfenster. Funkelndes Goldlicht lag wie Staub auf der Landschaft, Staub der Vergangenheit mit mikroskopischen Resten von Blütenpollen, Korallen, Tier- und Menschenknochen, Natron, Schilf, Muschelsplittern, Granatapfel- und Dattelkernen. Und durch diesen Schleier winzigster Staubkörner konnte er jetzt, als er zurückblickte, für einen Moment das gesamte Nildelta erkennen, in dem der Strom mit allen seinen Verzweigungen die Form einer Papyruspflanze annahm, die ihn (gleichsam ein Wasserzeichen in der Wüste) abermals an die Papierfabrik seiner Familie erinnerte.
Es gab ein Wissen in Thomas Mach, dessen Herkunft er nicht kannte und das er niemandem verriet, denn es stärkte ihn, wenn er danach handelte. Einige Male hatte er gegen dieses Wissen, dieses »Gefühl«, wie er es nannte, verstoßen und war durch Mißerfolge dafür bestraft worden. Mitunter hörte er sogar eine innere Stimme, die alles mögliche betraf: ob er den Mut aufbringen sollte, eine Studentin im Lesesaal anzusprechen, ob er eine Reise unternehmen würde oder ob er mit jemandem eine Freundschaft einging. Er wußte, daß er andere durch seine Entscheidungen mitunter vor den Kopf stieß, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als seinem »Gefühl« zu gehorchen, wollte er sich nicht schaden. Jedenfalls konnte er genau zwischen Ängsten, Hoffnungen, Wünschen und seiner inneren Stimme unterscheiden. In seiner Kindheit war er überhaupt nur diesem Gefühl gefolgt, aber als er älter wurde, wurden die Entscheidungen schwieriger und das Begehren stärker. Einige Male kam es dazu, daß seine innere Stimme verstummte, weil er sich nicht an ihre Anweisungen hielt, und er befürchtete, sie nie wieder zu hören. Es war die Zeit, als er sich in ein Spiel mit Kettenbriefen einließ – eine gewisse Gier hatte ihn dazu bewegt, mitzumachen –, wobei er seine ganzen Ersparnisse verlor. Anschließend verliebte er sich in die Tochter seines Turnlehrers, er lief ihr nach und belästigte sie mit seinen Anrufen, und sie erzählte alles, worüber er mit ihr sprach, ihren Freundinnen weiter. Er mußte sich eingestehen, daß er von Anfang an gewußt hatte, wie es kommen würde. Später schwor er sich, nie mehr gegen sein inneres Wissen zu verstoßen. Natürlich waren die meisten Menschen mit einem ähnlichen Instinkt ausgestattet – davon war Thomas Mach überzeugt –, sie verspielten ihre Fähigkeit jedoch durch falschen Ehrgeiz oder indem sie sich den Bedingungen des Alltags anpaßten. Viele Jahre später, in einer Krise, mochte ihre innere Stimme sich wieder melden und ihnen alles, was geschehen war, als einen tragischen Irrtum erscheinen lassen.
Es gab da ein noch seltsameres Phänomen: Er stellte fest, daß sein Wissen oft mit der Wahrnehmung einer belanglosen Einzelheit zusammenhing. Bei den Kettenbriefen war es der Geschmack des Klebstoffs auf den Kuverts gewesen, die er vor dem Verschließen ableckte, und bei der Tochter des Turnlehrers ein beschädigter Fingernagel des Mädchens. Er kam allerdings, soviel er auch darüber nachdachte, nicht hinter ein System, das ihm half, die Bedeutungen seiner Wahrnehmungen zu entschlüsseln, er wußte nur, daß es sie gab. Ansonsten fand er sich im Meer der Erscheinungen zurecht wie ein Kapitän, der sich an den Gestirnen orientiert.
Er hatte übrigens keine feste Freundin, da er eine schmerzliche Erfahrung gemacht hatte. Und außerdem war da eine Leidenschaft, die ihn ablenkte: Als er zum ersten Mal ein Segelflugzeug über dem Horizont kreisen sah, ahnte er sofort, daß er irgendwann selbst Pilot eines so wunderbar stillen Vogels sein würde, und in Gedanken flog er schon damals über die Berge und Seen bis zur Stadt. Dabei sprangen ihm die weißen Schimmelspuren auf einem fauligen Apfel ins Auge, der im Gras lag.
Am Flughafen erwarteten ihn zwei Männer, einer hielt ein Schild mit seinem Namen in der Hand. Sie hießen beide Mohamed Abou Zaid und waren Vater und Sohn. Der junge Mohamed war ein Hüne, er trug das Haar kurz geschnitten, einen dünnen Schnurrbart, Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber ein beigefarbenes kariertes Hemd. Der Alte war in eine blaue Ghalabija gehüllt, hatte einen weißen Turban aus Baumwolltuch auf dem Kopf und war sehr mager und unscheinbar. An seinen nackten Füßen, die braun und runzelig waren, hatte er Sandalen aus Kunststoff, während Thomas Mach an dem Sohn die riesigen Lederschuhe auffielen; für einen Augenblick dachte er an »zwei Geigenkästen«, dann fiel ihm ein, daß das eine Redewendung seines Großvaters für übergroße Schuhe gewesen war. Der Sohn sprach Englisch, der Alte schwieg; als er den Mund öffnete, um den Filter einer Zigarette abzulecken, sah Thomas Mach seine schwarzen Zahnstummel. Der Alte verstehe ein wenig Englisch und Deutsch, erklärte der Sohn, und kenne jeden Lehmziegel in Kairo. Er besaß einen Laden für Seile und Stricke in der Nähe des Bab al-Futuh, eines alten Stadttores im Zentrum. Nebenbei arbeitete er als Dragoman, Chauffeur und Bote für Alfred Moser, dem Kontaktmann des Wiener Reisebüros »Auge Gottes«. Herr Moser, erklärte der junge Mohamed, sei leider verhindert. Der Alte war inzwischen damit beschäftigt, mit einem Stück Schnur einen Knoten zu knüpfen: den doppelten Palsteck mit Schwanenhals, den er um den Zeigefinger wickelte und sodann in einem Schlitz seiner Ghalabija verschwinden ließ. Thomas Mach kannte diesen Knoten aus seiner Zeit beim Militär, und sein Gefühl sagte ihm, daß der Mann reich an unbekanntem Wissen und voll Gleichmut war und daß er sich an ihn halten solle.
Er habe, erklärte der junge Mohamed, als er Thomas Machs Interesse an dem Knoten des Alten bemerkte, eine Feluke am Nil vor dem Helnan-Shepheard-Hotel. Der Alte lade ihn ein, damit einen Ausflug zu unternehmen. Thomas Mach erfuhr außerdem, daß ihm der junge Mohamed vom ägyptischen Tourismusministerium als »Beschützer« zugewiesen worden war, und er registrierte, als dieser sich bückte, um den grünen Reisekoffer in einem Kleinbus zu verstauen, einen Pistolengriff in seinem Hosenbund. Ein Jahr zuvor hatte sich in Luxor ein Attentat der extremistischen Gruppe »Dshihad« ereignet, bei dem sechzig Touristen ermordet worden waren. Es war nicht der erste Anschlag gewesen. Thomas Mach wußte, daß ein halbes Jahr früher zwei Brüder vor dem Nationalmuseum in Kairo eine Handgranate in einen Bus geworfen und acht Reisende getötet hatten, außerdem war kurz darauf ein Dutzend Touristen in der Altstadt von Kairo durch einen Molotowcocktail schwer verletzt worden, und vor einem Hotel bei den Pyramiden hatten Attentäter acht Busreisende durch Maschinengewehrfeuer aus einem vorüberfahrenden Auto umgebracht. Selbstverständlich war eine Fülle kleinerer, weniger blutiger Anschläge verschwiegen worden.
Das alles kam Thomas Mach nicht wie für ihn bestimmt vor. Er fürchtete sich nicht, im Gegenteil, die unsichtbare Bedrohung verlieh seiner allzu komfortablen Reise sogar den Reiz des Abenteuerlichen.
Bevor er in den roten Kleinbus stieg, zog Thomas Mach seine Jacke aus und stopfte sie in die Reisetasche. Es war heiß und staubig, und der hellblaue Himmel milderte die düsteren Gedanken, so daß ihm alles, was er über die Anschläge und den wahrscheinlichen Selbstmord Eva Blums erfahren hatte, wie eine Erfindung vorkam. Im Wagen war es nicht kühler als im Freien, obwohl die silbergrauen Vorhänge zugezogen und die Klimaanlage eingeschaltet war. Durch einen Schlitz sah er den dichten, mehrspurigen Straßenverkehr, staubige Palmen, Eukalyptusbäume, sandbraune Häuser und Straßenläden mit Obst und Gemüse auf den Gehsteigen. Die Abgase drangen in den Bus, und die Hupgeräusche übertönten den Motorenlärm. Thomas Mach wußte nicht, warum, aber er kam sich durch das Hupen beschützt vor.
Der junge Mohamed fuhr, während der Alte neben ihm auf dem Vordersitz saß, ohne sich um den Fahrgast zu kümmern. Eine Stelzenautobahn erhob sich über die verfallenen und mit Müll bedeckten Dächer eines Stadtteils, in dem er ein Menschengewühl auf einem großen Platz ausmachte und Polizisten in schwarzen Uniformen mit umgehängten Gewehren. Bunte Werbetafeln wiesen zur Straße hin. Das Menschengewühl schien ein Fellachenmarkt zu sein, außerdem erkannte er durch die Öffnung zwischen den Vorhängen eine Busstation und auf vorüberfliegenden gelben Tafeln rote »Stenogramme«, an die ihn die arabischen Schriftzeichen erinnerten. Es waren sicher nur Hinweise auf irgendeinen banalen Umstand, aber die fließende Aneinanderreihung der unbekannten Buchstaben bildete in seinem Kopf das Wort »Reptil« und schließlich das Bild der gelben Schlange Kaa aus Walt Disneys »Dschungelbuch«, das er als Kind immer wieder auf Video gesehen hatte. Für einen Moment vernahm er die zittrig falsche Stimme ihres Gesangs: »Hör mir zu … und glaube mir … komm zu mir und sei mein … sollst mein Glücksengel sein.« Mehrmals bremste der Bus scharf, fuhr wieder ruckartig los und raste ein Stück weiter. Da er alles nur durch den Vorhangschlitz sah, kam sich Thomas Mach wie jemand vor, der unerlaubt in eine fremde Welt eindrang. Nie zuvor hatte er, wie jetzt, das Gefühl empfunden, eine verbotene Stadt, verbotenes Land zu betreten. Der Alte spielte wieder mit dem Stück Schnur zwischen seinen Fingern und flocht geschickt einen Achtknoten, während der Junge an jeder Ampel mit seinem Mobiltelefon auf jemanden einredete.
Sie überquerten nach einer Weile eine Brücke, unter der sich der Nil braun und träge wie eine gewaltige Schlange (wieder bildete sich das Wort in seinem Kopf) dahinwälzte. Am Ufer ankerten Feluken und Motorboote, und das Sonnenlicht glitzerte auf der Oberfläche.
Der Eingang des Hotels war durch eine Sicherheitsschleuse und zwei bewaffnete Polizisten geschützt.
»Morgen um neun Uhr«, verabschiedete sich der junge Mohamed, nachdem er den Koffer vor die Rolltreppe gestellt hatte.
Thomas Mach duschte sich und legte sich auf das weiche, große Bett.
Als er erwachte, war es dunkel geworden.
Das Taxi war verschmutzt, der Bezug des durchgedrückten Sitzes zerlumpt, der Boden mit Zigarettenkippen und Verpackungsresten übersät, und ein Stück Stoff bedeckte anstatt einer Konsole das Handschuhfach und die Armaturen. Um zu verhindern, daß die Innenverkleidung herabfiel, war sie mit Klebestreifen befestigt. Die Türgriffe hingen wie ohnmächtig herunter, und der Schalthebel war mit Isolierband umwickelt.
»Was gibt es am Maidan at Tahrir zu sehen?« fragte Thomas Mach auf englisch und faltete den Stadtplan zusammen.
Aus zwei Lautsprechern oberhalb des Rücksitzes war der Gesang einer voluminösen Frauenstimme zu vernehmen. Es mußte ein orientalisches Riesenorchester sein, das ihre Darbietung begleitete.
Der Chauffeur zuckte mit den Schultern und antwortete: »Yes.«
Thomas Mach war auf sein »ägyptisches Wissen« übrigens ganz und gar nicht stolz, es war eher bescheiden, obwohl er Geographie und Geschichte studiert hatte. Er kannte gerade die Namen der berühmtesten altägyptischen Götter, denn bei den Unterlagen des Studientagebuchs war eine abgegriffene, großformatige Broschüre »Gottheiten im Alten Ägypten« dabeigewesen, und da er es von seinen letzten Prüfungen her gewohnt war zu lernen, hatte er sich die Namen gemerkt. Am meisten interessierte ihn die Geschichte von Isis, Osiris und Seth. Seth, eifersüchtig auf Osiris, hatte seinen Bruder zu einem Gastmahl geladen, bei dem er ihm einen kunstvollen Sarg schenken wollte, sofern er in ihn hineinpaßte. Kaum hatte Osiris darin Platz genommen, hatte Seth ihn in den Nil geworfen. (Dieses Bild fand er phantastisch: ein bemalter Sarg, der im Strom schwamm.) Als Isis begonnen hatte, Osiris zu suchen, hatte Seth den Leichnam zerstückelt und die Körperteile im Nildelta verstreut. Isis hatte die Leichenteile aber wieder eingesammelt, zusammengefügt, mit Binden umwickelt und mit dieser ersten Mumie einen Sohn gezeugt, Horus, der seinen Vater rächte. In Thomas Machs Kopf tauchte das Gesicht Konrad Feldts auf. Er hatte ihm als erster diese Geschichte erzählt. Während der Fahrer hupend, schreiend und schimpfend durch verstopfte Haupt- und Querstraßen, zwischen verbeulten Bussen und Fahrzeugen, die nur notdürftig zusammengeflickt waren, dahinraste, sog er hastig an seiner Zigarette. Auch Thomas Mach rauchte. Er dachte, als er über die Reihe endloser Karosseriedächer blickte, an Krokodile, die im Nil schwammen.
Hinter einer Brücke hatte sich eine Familie auf dem Gehsteig ein Nachtlager bereitet. Männer in Ghalabijas mit Turbanen, Frauen in Schwarz gehüllt. Ein Bub lag am Boden, daneben ein Mädchen mit struppigem Haar, den Kopf auf die Knie gelegt. Im letzten Moment wich ihnen ein Moped, hoch beladen mit leeren Hühnersteigen aus, und auf dem Gepäckträger eines entgegenkommenden Taxis flatterte eine Plane wie ein Gespenst. Das opernhafte Lied im Radio nahm kein Ende, es steigerte sogar seine Dramatik, fiel dann aber jäh ab, bis endlich nur noch das Orchester allein weitermusizierte.
Als er ausstieg, bezahlte er dem Fahrer aus einer Eingebung heraus das Doppelte. Er beeilte sich, die im Halbdunkel liegende Hauptstraße zu erreichen und sah gerade noch, wie hinter ihm ein Taxi mit einem anderen Europäer hielt. Aus einem Schild schloß er, daß er sich in der Suleiman Sharia befand, einer stickigen Straße mit alten, halbverfallenen Gebäuden.
Ein blauer Lastwagen fuhr vorbei, und Thomas Mach konnte darin wieder schwarzgekleidete Polizisten mit Gewehren erkennen. Vor einer U-Bahnstation spielte ein Kind mit einem rostigen Fahrradlenker, ein anderes saß in einem Pappkarton, während eine Frau, vielleicht seine Mutter, Papierbecher, Getränkedosen und Küchenabfall aus einem Müllsack warf, den sie gerade durchstöberte.
Im Dunklen hatte Thomas Mach das vage Gefühl, daß ihm der Europäer aus dem Taxi folgte. Er vertraute seinem Instinkt (dem Vorboten seiner inneren Stimme), der ihn spüren lassen würde, wenn man ihn beobachtete, ob er einen Streit riskieren sollte oder ob es besser war, zu schweigen. Er drehte sich um und warf einen Blick zurück. Der Mann war größer als Mach, stämmiger, etwa fünfzig Jahre alt und trug einen hellen Hut. Thomas Mach schloß aus den Adern in seinem Gesicht und der roten Nase, daß der Unbekannte trank. Thomas Mach haßte Alkohol, weil er als Kind die vielen Trinker gesehen hatte, die in der Fabrik seines Vaters arbeiteten und sich am Abend und am Wochenende in den Rausch flüchteten. Dachte er lange genug darüber nach, kam ihm das meiste, was ihm widerfuhr, ohnedies rätselhaft vor, weshalb er kein Bedürfnis nach zusätzlicher Verwirrung durch den Alkohol verspürte. Seiner Meinung nach existierte ohnedies niemand, der über sich selbst Bescheid wußte. Jeder war von sich getrennt, wie ein Insekt durch die Fensterscheibe vom Freien. Er beobachtete deshalb auch neugierig die Fliegen, Bienen und Wespen, wie sie ruhelos über das Glas liefen und immer wieder versuchten, das durchsichtige Hindernis zu überwinden, ohne daß sie es jemals schafften. Was ihnen ganz nahe zu sein schien, war unerreichbar.
Thomas Mach war süchtig danach, Geschichten zu hören, in denen sich jemand getäuscht hatte oder getäuscht worden war. Immer, stellte er fest, ließ ein Irrtum ein Stück verborgener Wahrheit sichtbar werden, etwas von jener Wahrheit, die so mühevoll zu erkennen und zu glauben war. Seit er sich jedoch an seine innere Stimme hielt, waren ihm die komplizierten Verwicklungen des Alltags erst richtig klargeworden. Man mußte gerade bei den gewöhnlichen Ereignissen auf der Hut sein, aber dafür gab es in einem fort neue Entdeckungen.
Er trat auf einen heller erleuchteten Teil des Gehsteigs, wo zwei Männer die frisch gereinigte Schaufensterscheibe eines Blumengeschäfts mit Zeitungspapier trockneten. Einer von ihnen stand innen, einer außen, und sie machten spielerisch die Bewegungen so, als trennte sie nicht die Glasscheibe. Auf diese Weise führten sie eine Art pantomimischen Tanz auf, bei dem jeder versuchte, die Bewegung des anderen zu imitieren. Das eigenartige Bild erinnerte Thomas Mach daran, daß er alles mit einer Genauigkeit und Schärfe sehen wollte, als wäre er der erste, der es entdeckte. Es gelang ihm jedoch nur dann, wenn er nicht mit anderen redete (das viele Reden »leierte aus«). Die beiden Männer beugten sich tief hinunter, während sie die Glasscheibe polierten, richteten sich weiterwischend auf und streckten sich, bis sie auf den Zehenspitzen standen. Erst jetzt sah Thomas Mach den Europäer mit dem Hut im Geschäft, dessen eine Wand aus einem Spiegel bestand. Der Mann erwiderte nicht das Lächeln der drei Verkäufer, die zwischen Vasen mit Paradiesvogelblumen, Nelken und Rosen um einen Stahlrohrschreibtisch saßen. An der Wand hing ein Kalender der Fluglinie KLM mit einem Foto des Kolosseums, und er hatte eine Ahnung, daß dieser Kalender so etwas sein konnte wie der Schimmel auf dem Apfel, der beschädigte Daumennagel oder der Geschmack des Klebstoffs auf den Briefkuverts – Einzelheiten, die ihm aufgefallen waren, wenn er seine innere Stimme hörte. Die beiden Männer waren mit der Schaufensterscheibe fertig und fingen an, den Spiegel im Geschäft mit nassen, seifigen Fetzen zu reinigen – dabei lauschten sie gespannt dem Wortwechsel zwischen dem Europäer und den Verkäufern. Einer der Verkäufer schob die Glasplatte des Schreibtischs beiseite und nahm etwas heraus, das Thomas Mach zuerst für ein Stück Papier hielt, bis er erkannte, daß es eine Fotografie war. Der Europäer steckte die Fotografie ein, wobei Thomas Mach ein goldenes Armband an seinem Handgelenk bemerkte, und legte einige Pfundscheine auf den Tisch. Als er durch die geöffnete Tür ins Freie trat, winkte einer der Fensterputzer Thomas Mach lachend hinein. Er erhielt einen Strauß Nelken, während ein Mann mit Bart, eiförmigem Kopf und vorspringender Nase, offenbar der Besitzer, ihn bat, Platz zu nehmen. Thomas Mach sah, als er sich setzte, daß unter der Glasplatte des Stahlrohrschreibtischs eine Menge Fotografien lagen, die allesamt den Besitzer mit Kunden, meist Touristen, zeigten. Sie hatten sich im Geschäft offenbar von einem der Verkäufer aufnehmen lassen und später – wie versprochen – ein Foto nach Kairo geschickt.
»Nagib Machfus!« rief der Besitzer stolz und zeigte ihm ein sich in Auflösung befindendes, unterbelichtetes Farbfoto, auf dem der Nobelpreisträger mit ihm und den Angestellten, die alle Blumen in den Händen hielten, wie eine Heuschrecke durch seine große Brille auf den Betrachter lugte. Sein Roman Die Kinder unseres Viertels war den Professoren der Al-Azhar-Universität in Kairo ein Dorn im Auge gewesen, hatte der Bibliothekar Feldt ihm erzählt. Sie hatten Machfus gedroht, wegen seiner Darstellung von Adam, Moses, Jesus und Mohamed als arme Clochards und Drogenabhängige bei einer Veröffentlichung des Buches gegen ihn zu prozessieren. Ein fanatischer Bursche hatte ein Messerattentat auf ihn verübt. Trotzdem verurteilte Machfus die jungen Islamisten nicht. Er betonte sogar, daß sie eine Überzeugung hätten – im Gegensatz zu anderen Jugendlichen, die sich nur für die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse interessierten. Thomas Mach wußte, in welchen Cafés Machfus verkehrte, doch war der Dichter schon sehr alt, und mit Sicherheit ging er nicht mehr so häufig aus wie früher.
Nebenbei erkundigte er sich, welches Foto der Europäer gekauft hatte, der vor ihm im Laden gewesen war, und nach einigem Gelächter erfuhr er, daß auf dem Bild ein Mann und eine Frau zu sehen gewesen waren. Das Seifenwasser auf dem Spiegel war eingetrocknet und hatte weiße Schmierflecken hinterlassen. Gerade richtete der Besitzer an Thomas Mach die Bitte, mit einem Fotoapparat wiederzukommen, als ein Bub weinend in das Geschäft lief, und Thomas Mach die Gelegenheit nutzte, den Nelkenstrauß in das Waschbecken zu legen und sich »aus dem Staub zu machen«. (Vor Bedrängungen floh er im allgemeinen.) Kaum auf der Straße, wurde er von jemandem angesprochen. Rasch ging er weiter. (Entgegen aller Logik hielt er sich nicht für jemanden, der unter die Bezeichnung »Tourist« fiel, obwohl er für ein Reisebüro arbeitete. Ein Tourist war für ihn jemand, der ein Land wie die Kulisse eines Theaterstücks betrachtete, ihm einen »Besuch« abstattete, während ein Reisender auf Erfahrungen aus war, mochten sie auch noch so unangenehm sein. Er war jedoch einsichtig genug, um zu erkennen, daß er für andere ein »Tourist« war. Den Unterschied zwischen Tourist und Reisender machte nur er selbst – und wie sollte ein Straßenverkäufer erkennen, mit wem er es zu tun hatte?) An jeder Ecke standen zwei Polizisten in schwarzen Uniformen mit Kalaschnikows. Manchmal lächelte ihm einer zu.
Er sah jetzt im Vorbeigehen eine steile Stiege hinunter in ein Geschäft. Die Regale waren vollgestopft mit Musikkassetten, und auf der halbgeöffneten Tür klebten Poster mit ägyptischen Sängerinnen und Sängern. Daneben führte eine weitere Treppe zu einem Kellerloch, in dem sich drei Männer aufhielten. Jeder von ihnen stand auf einem Bein und bewegte mit dem anderen nackten Fuß ein Bügeleisen. Während sie ihre Arbeit verrichteten, sahen sie aus wie Fabelwesen, als hätten sie einen dritten Arm mit zu kurzen Fingern, der ihnen aus der Brust wuchs. Gebannt blieb Thomas Mach stehen. Der älteste der Männer in einer schwarzen Ghalabija, aus der sein Bein ragte, schob das zischende Dampfbügeleisen mit seinem Fuß über einen von einem weißen Tuch halb zugedeckten Zweireiher, der jüngere hatte ein gelbes Kleid in Arbeit und der jüngste ein Hemd. Die Männer sprachen nicht miteinander. In dem ehemals gelbgestrichenen Raum hing kein Bild. (Thomas Mach fiel eine alte Puppenküche auf dem Dachboden in Kaisersau ein.) Die Männer stellten ihre Beine wieder geschickt auf den Boden, was etwas Tänzerisches an sich hatte, wechselten die zu bügelnden Kleidungsstücke, nun scherzten sie und lachten dazwischen, bedienten mit den Füßen wieder die Bügeleisen und blickten plötzlich zu ihm hinauf.
Er überquerte die Straße und sah gerade noch den Europäer mit dem auffallenden Hut in einem Gebäude verschwinden. Auf der einen Seite zeigte eine schwach beleuchtete Auslage Damenblusen und Strickwaren, auf der anderen waren große Klimaboxen angebracht. Über dem Eingang, in den der Europäer getreten war, hing ein weißes Schild mit roten, scheinbar zerrinnenden Buchstaben in lateinischer Schrift: Golden Hotel, und darunter kleiner: Third floor.
Thomas Mach blickte neugierig in ein düsteres Vorhaus auf einen uralten Liftkasten, in dem der Mann mit dem Hut soeben verschwunden war. Thomas Mach wollte weitergehen, als er von einem Buben mit einem Stoß Zeitungen in der Hand angesprochen wurde. Es stellte sich heraus, daß er ihm ein englisches oder deutsches Blatt »von gestern«, das aus einem der Flugzeuge stammte, die Touristen ins Land brachten, verkaufen wollte. Der Bub hatte abstehende Ohren, und der graue Schmutz, der ihn bedeckte, schien Asche zu sein. Sie bedeckte seine Haare, sein Gesicht und seine Hände, die Thomas Mach prüfend musterte. Widerwillig beantwortete er die auf englisch gestellten Fragen, woher er komme und seit wann er in Kairo sei. Der Bub schien nach jeder der Antworten kurz zu überlegen, um dann eine weitere Frage zu stellen. Wo er wohne? Hilton? Plötzlich erkannte Thomas Mach, daß der Zeitungsjunge an einer Hautkrankheit litt, die er allerdings noch nie zuvor gesehen hatte. Ohne das übliche Lächeln, das eine Einladung begleitete, winkte ihm der Bub, ihm zu folgen. Sie machten ein paar Schritte zu einem Haustor und blieben im dämmrigen Flur stehen. Eine Leuchtstoffröhre gab summend flackerndes Licht von sich. Aus einem Winkel erhob sich ein älterer Mann in einem braunen Kleid, das er über einem hellen Unterhemd trug. Auf seinem Kopf hatte er eine gehäkelte weiße Mütze, und seine Füße steckten in Lederpantoffeln. Er machte sich in der Ecke an irgend etwas zu schaffen. Die Wände, registrierte Thomas Mach, waren dunkelgrün, und an den Stellen, an denen der Verputz abgeblättert war, hatten sich weiße Flecken gebildet, die überall verstreut waren wie Wolken auf einem grünen Himmel oder Eisschollen auf winterlicher See. Der Mann nahm einen Stock in die Hand, mit der anderen hob er einen Koffer vom Boden auf. Er legte ihn vor Thomas Machs Füße, öffnete den Deckel, und sofort stieß eine Kobra daraus hervor, die der Mann mit dem Stock in einen wiegenden Rhythmus versetzte. Thomas Mach verabscheute touristische Vorführungen, außerdem tat ihm die Schlange leid, sie sah alt aus, greisenhaft, und er haßte es um so mehr, in ein billiges Klischee geraten zu sein. Die arabischen Schriftzeichen fielen ihm ein und der Nil, das sich wälzende, riesige braune Reptil. Der Bub hatte inzwischen mehrere aufeinandergestapelte Holzkästen herbeigeschleppt, die er jetzt der Reihe nach öffnete, worauf weitere Schlangen zum Vorschein kamen. Rasch ergriff der Mann eine von ihnen und hielt sie Thomas Mach vor das Gesicht, wobei er immer wieder dieselbe Frage stellte. Thomas Mach warf einen ungehaltenen Blick auf den Buben, der mit Eifer dabei war, die übrigen Reptilien zurück in ihre Behälter zu stopfen.
»Foto!« rief der Bub, »Foto! Foto!«
Thomas Mach schüttelte ungehalten den Kopf. Er hatte keinen Fotoapparat bei sich, und es wäre ihm auch nicht eingefallen, ein Bild zu machen. Er fürchtete sich nicht allzu sehr vor Schlangen, aber es machte ihn nervös, daß die Tür zum Vorraum hinter ihnen ins Schloß gefallen war, wie er sich jetzt erinnerte. Der Mann hatte das Reptil inzwischen in die Kiste zurückgelegt, den Deckel zugemacht und sich neuerlich der Kobra zugewandt, die unbewegt im Koffer neben ihm stand. Er griff nach ihr und führte ihren Kopf ganz nahe an sein Gesicht heran, bis an seine Lippen. Der Kopf des Tieres war so groß wie eine Kinderhand, doch empfand Thomas Mach das Wort »Kind« im Zusammenhang mit seinem Eindruck von der Greisenhaftigkeit der Schlange als unpassend. Ihr Körper war ein dunkles Braun, ihre Augen glänzten bronzefarben. Endlich ließ er sie wieder los. Ihr Oberkörper war noch immer zur Drohstellung aufgerichtet und die Halshaut auseinandergespreizt. Bewegungslos, mit leicht nach vorne geneigtem Leib, stand sie da. Thomas Machs Zorn war verflogen, er verspürte jetzt nur Ekel und Scham. Das Neonlicht summte und flackerte weiter, und der schadhafte Boden mit seinem Muster aus helleren, dunkleren und weißen Dreiecken war unter den Füßen des Schlangenbeschwörers mit braunem Pappkarton abgedeckt, von dem offenbar ein Stück abgerissen worden war. Diese fehlende Ecke im Pappkarton und das Muster des Bodens prägten sich ihm ein. Der Schlangenbeschwörer hockte vor der Kobra, streckte die Hand aus, berührte mit dem Finger den Vorderleib und drückte den Körper so weit zurück, daß er fast den Rücken des liegenden Tieres berührte und die Schlange aus dem Gleichgewicht brachte. Dadurch kippte sie seitlich um, und der Mann ließ den Kofferdeckel zufallen. Gleichzeitig warf der Bub zwei lebende Mäuse, die er aus einem Tontopf griff, in einen anderen Schlangenbehälter. Thomas Mach hörte ein kurzes Reiben, Zucken und Kratzen, dann war es still. Das Neonlicht flackerte und summte noch immer, und die Kalkwolken standen unverändert auf dem grünen Malerfarbenhimmel des schmutzigen Vorhauses.
Der Mann erhob sich und forderte energisch: »Bakschisch!« Dabei verzog er kaum das Gesicht, so daß seine Aufforderung Thomas Mach wie eine Drohung erschien. In Unkenntnis der Preise schenkte Mach ihm eine beträchtliche Summe, worauf der Alte dem Kind mit einer Kopfbewegung bedeutete, das Tor zu öffnen.
Auf der Straße ließ sich Thomas Mach zuerst von der Menge treiben; er sah nicht, wohin er ging, er dachte nur an die Schlangen. Er kam an einem leeren Geschäft (mit zerknülltem Packpapier in der Auslage) vorbei und wurde immer wieder von jungen oder älteren Männern angesprochen, die ihm folgten, auf ihn einredeten oder ihn zum Mitkommen bewegen wollten, damit er etwas kaufte. Hinter einer Apotheke erkannte er mit Erleichterung den hohen, fast leeren Saal des Café Groppi, die hell beleuchteten Vitrinen und die Tische mit weißen Tüchern, die bis zum Boden fielen, wie er es auf einem Foto im Reisetagebuch Eva Blums gesehen hatte. Er trat ein und wandte sich, ohne angesprochen zu werden, den Mehlspeisen mit kandierten Kirschen zu, den aufgestapelten Ziertellern, den roten Waagen und den Spiegeln, den Eisschränken und Vitrinen mit Cremetorten und in Schokolade getauchten Früchten. Das Licht kam aus Lustern mit Lilienlampenschirmen und warf lange Schatten vor seine Füße. Drei Kellner lehnten an einer Wand und schwatzten, ohne ihn zu beachten. Er war plötzlich müde.
Die exotischen Reize, das bunte Leben, die Armut, der Schmutz und die fremde Sprache hatten ihn erschöpft. Er bestellte nichts, verließ das Café und winkte einem Taxi, das ihn zurück zum Hotel brachte.
Wie immer hatte er einen Vorrat Valiumtabletten bei sich, von denen er eine nach dem Duschen mit Mineralwasser aus dem Getränkekühlschrank nahm. Er war nicht hungrig. Im Bett machte er Licht, um im Studientagebuch Eva Blums zu blättern, dabei fiel ihm erst jetzt auf, daß die Seite mit dem Anmeldeformular für die »Biblischen Reisen Auge Gottes« mit Schriftzeichen bedeckt war. Es waren mit einem roten Filzstift hastig hingefetzte Zeilen, und er war davon überzeugt, daß es weder arabische Buchstaben waren noch solche, die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Er legte den Katalog und das Heft auf das Nachttischchen zurück und versuchte einzuschlafen. Obwohl er nicht daran glaubte, daß die Schrift etwas Wichtiges bedeutete, war sie doch etwas Intimes, Eigenhändiges, genauso wie das Studienreisetagebuch. Der Gedanke an das Heft beschäftigte ihn so sehr, daß er wieder Licht machen und es in die Hände nehmen mußte. Dabei kam das kleine handgeschriebene Wörterbuch zum Vorschein – es war eigentlich ein gelbes, schmales Adreßbuch. Unter den jeweiligen Buchstaben fanden sich die deutschen Wörter und daneben die arabische Übersetzung in Lautschrift. Er blätterte das Adreßbuch durch, auf der Suche nach einem bekannten Namen, ohne aber einen zu finden. Weder das Reisebüro »Auge Gottes« war darin verzeichnet noch der Name seines Besitzers Josef Hert oder sein eigener. Dafür aber fand er das Wort »Mörder« auf arabisch in Lautschrift, »Kaatil«, und es war das einzige Wort, wie er feststellte, das mit rotem Filzstift unterstrichen war.
Mörder. Thomas Mach schmerzte dieses Wort. Als Kind mußte er mitansehen, wie aufgebrachte Arbeiter seinen Vater mit faulem Gemüse bewarfen und als »Mörder« beschimpften, nachdem eine Arbeiterin durch Chlorgas, das für die Bleichung von Papier notwendig war, an einer Lungenvergiftung verstorben war. Das war der Grund gewesen, weshalb sein Vater mit der Familie kurz darauf nach Bad Wählendorf zog, wo die Druckerei stand. Schon immer lieferte die Fabrik in Kaisersau, die in der Monarchie gegründet worden war, das Papier für die Bad Wählendorfer Druckerei. An der Nordwand der großen Maschinenhalle in der Fabrik zeigte das Fresko bis heute die Eröffnungszeremonie, wenn auch stark verblaßt. Aber Thomas Mach hatte dieses Fresko seit seiner Kindheit geliebt. In seinem Studierzimmer stand sogar ein Schwarzweißfoto des Wandgemäldes auf dem Schreibtisch, von dem etwas Feierliches ausging: rundherum lag Schnee, und der Kaiser mit seinem weißen Bart erschien ihm wie der heilige Nikolaus persönlich. Außerdem liebte Thomas Mach die Fahnen und die uniformierten Zinnsoldaten, die er von seinem Urgroßvater noch als kostbares Spielzeug besaß. Anselm Mach, auf dem Ölbild im Chefzimmer mit Scheitel, feist, im dunklen Anzug, den stieren Blick eines Dickkopfs, war ein streitlustiger Mann gewesen. Er brachte es in der k.u.k. Armee bis zum Hauptmann und führte als Industrieller 23 Prozesse, von denen er nur einen, gegen einen Journalisten, verlor. Außer der Papierfabrik und der Druckerei besaß er mehrere Sägewerke. Alle Wälder der umliegenden Gebirge hatte er im Laufe der Jahre abholzen lassen, so daß Kaisersau, früher hinter Fichten verborgen, nun sichtbar in einer felsigen Schlucht lag, umgeben von kahlen Hügeln und kleinen und größeren Bergen. Der Fluß, die Flattnitz, in der es früher Krebse und Muscheln gegeben hatte (von den Forellen, Äschen und Hechten ganz zu schweigen), war vergiftet und ohne Leben. Thomas Mach hatte in der Dorfchronik des Schuldirektors gelesen, daß Kaisersau zu dieser Zeit von lungenkranken Frauen und Männern mit Ausschlägen im Gesicht und an den Händen, mit Akne und Augenentzündungen bevölkert gewesen war, weil die Arbeiter beim Bleichen des Papiers zwangsläufig mit Chlorgasen in Berührung kamen. Schon von weitem roch man den Gestank, lange bevor man den Ort überhaupt sah. Es war ein fauliger, atemraubender Gestank, hatte ihm sein Großvater immer wieder erzählt, den die Kaisersauer aber, da sie im Ort geboren waren, selbst nicht mehr wahrnahmen. Nur wenn sie einmal, und sei es auch nur für einen Tag, das Dorf verließen und wieder zurückkehrten, bemerkten sie den üblen Geruch und schlossen erschrocken Fenster und Türen, bis sie sich wieder daran gewöhnt hatten. Nach Anselm, der 1929 an einem Schlaganfall starb, übernahm der älteste Sohn, Thomas’ Großvater Herwig Mach, die Papierfabrik und die Druckerei. Herwigs Bruder Engelbert, der Bestattungsunternehmer wurde, hatte eine bemerkenswerte Vorliebe für die Archäologie. Für Thomas schlug sie sich in illustrierten Büchern der Hausbibliothek nieder, in Reiseschilderungen und Enzyklopädien wie Schliemanns Schilderungen der Ausgrabungen in Troja oder Howard Carters Originalbericht Das Grab des Tut-ench-Amun, dessen Schwarzweißfotografien Thomas Mach faszinierten. Er führte es in erster Linie auf die Begegnung mit diesem Buch zurück, daß er das Ägyptische und Schwarzweißfotografien mochte. Das Ägyptische schien eine unbekannte Erinnerung in ihm zu wecken, und die Schwarzweißfotografien hatten etwas von Geschriebenem, sie ließen ihm Platz für Einfälle, während ihm Farbfotografien banal erschienen – nur ihr Alterungsprozeß, ihr Verblassen, ihr langsames Verschwinden gab ihnen eine Aura. Sie waren dann nicht mehr bloß Kopien eines gesehenen Bildes, sondern Dokumente des unaufhaltsamen Verschwindens allen Daseins. Sein Großvater war ein merkwürdiger Mann gewesen, ein Gespaltener, wie Thomas Mach sich sagte. Einerseits ein extremer Familienmensch, andererseits extrem rücksichtslos. Er druckte wie sein Vater Kirchenpfarrblätter und christlich-soziale Parteizeitungen, sympathisierte aber schon im geheimen mit den Nationalsozialisten, die er für »zeitgemäßer« hielt. Thomas Mach fiel, wenn er an seinen Großvater dachte, immer dessen fehlendes linkes Ohrläppchen ein, das er bei seiner ersten Mensur verloren hatte. Herwig Mach war stolz darauf. Er hatte wie sein Bruder Engelbert in Wien Welthandel studiert und war der Burschenschaft »Teutonia« und damit offiziell dem deutschnationalen Lager beigetreten. Die Leitung der Papierfabrik überließ er bald, nachdem er die Firmen übernommen hatte, dem Prokuristen Alois Hojdic, der später den Namen Westerwald annahm und als Gemeinderat für die NSDAP kandidierte, während Herwig Mach sich um die Drukkerei kümmerte. Täglich fuhr er mit seinem Mercedes, der noch immer in der Garage des Direktorhauses stand, von Kaisersau nach Wählendorf und wieder zurück. Er verfaßte und vervielfältigte damals schon, wie er nicht ohne Stolz erzählte, illegale Propagandaschriften und Flugblätter für die Nazis und wurde 1938 mit dem Bürgermeisteramt belohnt. Nach dem Einmarsch Hitlers übernahm die Druckerei in Wählendorf sogar einen Teil der Auflage des »Völkischen Beobachters«. Später, während des Krieges, waren sowohl in Kaisersau als auch in Wählendorf Zwangsarbeiter beschäftigt, aber darüber schwieg sein Großvater sich hartnäckig aus. Er hatte, als Gegenstück zur Wandmalerei in der Papierfabrik, im Sitzungssaal der Druckerei ein weiteres Fresko anfertigen lassen, das ihn selbst mit Führergruß und Hakenkreuzbinde am Ärmel inmitten der Arbeiter zeigte, die ebenfalls den Arm ausgestreckt hielten. Auch der damalige Kardinal Innitzer war darauf abgebildet, wie er Hitler die Hand schüttelte, und neben ihm die Bischofskonferenz, die für den Anschluß an Deutschland geworben hatte. Ganz klein auch der Sozialdemokrat Karl Renner sowie Goebbels, Himmler und Göring, im Hintergrund etwas verschwommen SS-Truppen und ganz winzig ein Gauleiter, der auf seiner »Verewigung« bestanden und dafür sogar bezahlt hatte. Selbstverständlich war es nie wirklich zu dieser Versammlung gekommen, das Fresko entsprach einem Wunschbild. Als sich bei Kriegsende die Russen Wählen dorf näherten, ließ Herwig Mach das Fresko hinter einer Holzwand verschwinden, worauf es für 25 Jahre der Vergessenheit anheimfiel. Doch gab es fotografische Abbildungen der Wandmalerei in Zeitungen, die im Landesarchiv unter Bergen von bedrucktem Papier dahindämmerten. Herwig übernahm, zwei Jahre nachdem er entnazifiziert worden war, wieder die Sägewerke, die Papierfabrik und die Druckerei. Dort wurde in der Zwischenzeit, weil das Gebiet in der russischen Besatzungszone lag, die Propaganda der Kommunisten und ihre Parteizeitung Die Wahrheit gedruckt. Unterdessen waren die Wälder des gesamten Landstrichs der Papierfabrik zum Opfer gefallen, deren Gestank übrigens bereits sprichwörtlich geworden war. »Es stinkt wie in Kaisersau«, hatte Thomas Mach noch zu seiner Studentenzeit in Wien sagen gehört; in der »Besatzungszeit« mußte es auch gewesen sein, daß Herwig Mach und sein Bruder Engelbert zusammen mit der Familie Pollinger, deren Oberhaupt jetzt den ÖVP-Bürgermeister von Wählendorf stellte, sowie dem früheren Betriebsleiter und NSDAP-Gemeinderat Alois Westerwald in einer sogenannten »Nacht- und Nebelaktion« den Holzverschlag vor dem Fresko entfernten und das Wandgemälde mit weißer Farbe übermalten. Die Druckerei war übrigens die wahre Leidenschaft Herwig Machs: Er nannte sie – nachdem ihn Engelbert, der nach wie vor das Bestattungsunternehmen leitete, auf die Idee gebracht hatte – »Schwarze Magie«. Immer sprach er seither von »schwarzer Magie«, wenn es um die Druckerei ging, und kaufte eines Tages, wie er nicht müde wurde zu erzählen, in der Meinung, etwas über die Gefahren zu lesen, die mit Druckereien verbunden waren, ein Buch mit dem Titel Untergang der Welt durch schwarze Magie, das, wie er enttäuscht feststellte, mit den Gefahren eines Druckereibetriebs überhaupt nichts zu tun hatte. Dieses Buch von Karl Kraus gehörte inzwischen Thomas. Es hatte ihn in seinem Entschluß, Geschichte und Geographie zu studieren, ebenso bestärkt wie Howard Carters Originalbericht über das Grab Tut-ench-Amuns und die illustrierten Bände Reiseliteratur. Nach dem Abzug der Russen stellte Herwig Mach in Wählendorf Die Zeitung her, aber auch Schulbücher und Bibeln. Die Fabrik in Kaisersau produzierte unterdessen von Toilettenpapierrollen bis zu Tortenunterlagen alles mögliche, es mußte sogar eine zweite Werkshalle errichtet werden. Thomas Machs Großvater hatte schon 1950 die Tochter des ÖVP