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Guido Knopp

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Beschreibung

Mit Beginn der großen Sommeroffensive im Juni 1944 erobert die Rote Armee unaufhaltsam die von deutschen Truppen verwüsteten Gebiete zurück. Zur Jahreswende ist die Niederlage der Wehrmacht im Osten nicht mehr zu verhindern. Ostpreußen, Breslau und Königsberg, der Marsch auf Berlin bis hin zur Kapitulation - der Hass, den Hitler gesät hat, schlägt nun auf das eigene Volk zurück. Auf gewohnt eindringliche Art schildert Guido Knopp an Einzelschicksalen auf russischer und deutscher Seite, was es für die Soldaten und Zivilisten bedeutete, als am Ende des Krieges das schreckliche Geschehen noch einmal eskalierte.

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Guido Knopp

Der Sturm

Kriegsende im Osten

Edel:eBooks

Inhalt

Autor

Vorwort

Die Schlacht um Ostpreußen

Die Eingeschlossenen

»Die Russen kommen!«

Die Todesfalle

Das Ende in Berlin

Literaturverzeichnis

Personenregister

Ortsregister

Autor

Prof. Dr. Guido Knopp, Jahrgang 1948, arbeitete nach dem Studium als Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und als Auslandschef der „Welt am Sonntag“. Von 1984 bis 2013 war er Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte. Seitdem moderiert er die Sendung History Live auf Phoenix. Als Autor publizierte er zahlreiche Sachbuch-Bestseller. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Jakob-Kaiser-Preis, der Europäische Fernsehpreis, der Telestar, der Goldene Löwe, der Bayerische und der Deutsche Fernsehpreis, das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und der Internationale Emmy.

Vorwort

Wir haben noch immer Funkverkehr mit Berlin, wo sich der Feind den Weg ins Stadtinnere erkämpft hat. Das Herz blutet bei diesen Gesprächen. Es ist wie der Kampf der Westgoten am Vesuv.« Ende April 1945 sandte Hitlers Helfer Alfred Jodl diese verzweifelte Botschaft an seine Frau. Vergeblich hatte er von außen die letzten Kräfte der ausgebluteten Wehrmacht zu mobilisieren versucht, um den Tyrannen aus der von der Roten Armee eingeschlossenen Hauptstadt zu befreien. Die Niederlage des Reiches vor Augen, verfiel er wie so viele andere in die schicksalstönende Untergangsromantik, mit der Hitler seine Paladine bis zuletzt in Bann hielt – wider jede Vernunft und ohne Rücksicht auf die Opfer, die der aussichtslos gewordene Kampf kostete. Bedenkenlos verknüpfte der Diktator das Los Deutschlands mit seinem eigenen: alles oder nichts. Wenn schon kein Sieg, dann der totale Untergang.

Gut sechs Jahrzehnte sind vergangen, seit der Krieg sein Ende fand und das Nazireich in einem Meer von Blut und Tränen versank. Viele Städte waren nur noch schwelende Ruinenfelder, landauf, landab bot sich den Siegern ein gespenstisches Bild. Millionen Soldaten waren an den vielen Fronten gestorben; Millionen Zivilisten in den Bombennächten, auf der Flucht und durch Vertreibung umgekommen; Millionen in Gaskammern ermordet worden.

Seinen Höhepunkt erreichte dieser Krieg im Osten. »Ostfront« – schon das Wort klang nach Tod. Mit dem Überfall am 22. Juni 1941 hatte Hitlers Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion begonnen. Hier wollte er seine beiden Hauptziele verwirklichen: die Eroberung von »Lebensraum im Osten« und die Ermordung der Juden Europas. Beides war für ihn die Vorstufe zum Endziel, dem wahnwitzigen Traum eines großgermanischen Reiches vom Atlantik bis zum Ural. Doch spätestens seit Stalingrad stand fest, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte. Nach drei Jahren und Millionen Toten war die Wehrmacht in die alten Reichsgrenzen zurückgedrängt worden.

Im Oktober 1944 erreichte die Rote Armee im Osten deutschen Boden. Nun wurden die Ostpreußen Opfer eines Hasses, den die Deutschen selbst gesät hatten. Nemmersdorf bildete den Anfang: Stalins Truppen rächten sich mit einem Blutbad unter der Zivilbevölkerung für jene Grausamkeiten, die in deutschem Namen auf dem Boden der Sowjetunion begangen worden waren. Goebbels’ Propaganda schlachtete die Massaker nach Kräften aus: Das würde dem gesamten deutschen Osten drohen, wenn die Russen kämen! Der Kampfeswille wurde neu entfacht, und noch einmal gelang es der Wehrmacht, die Front im Osten zu stabilisieren. Von Oktober 1944 bis zum Januar 1945 verharrte die Rote Armee im Grenzland von Ostpreußen. Das war nur die Ruhe vor dem »Sturm«. 2,2 Millionen Soldaten, 33 500 Geschütze und 7000 Panzer standen Anfang Januar 1945 bereit für den entscheidenden Vorstoß nach Berlin.

Vieles wäre der Zivilbevölkerung erspart geblieben, hätte man sie rechtzeitig evakuiert. Doch die Menschen durften ihre Dörfer und Städte nicht verlassen. »Jede Räumung wird die Moral der Truppe und der Zivilbevölkerung schwächen«, verfügte Ostpreußens Gauleiter Erich Koch. Ein Bauernhof voller Kinder werde hartnäckiger verteidigt als ein leeres Gehöft – so das menschenverachtende Kalkül der obersten Führung. Als die Rote Armee schließlich am 12. Januar 1945 ihre Großoffensive startete, durchstieß sie binnen weniger Tage die dünnen deutschen Verteidigungslinien und drang bei Elbing bis zur Ostseeküste vor: 2,5 Millionen Menschen saßen in der Falle. So sammelten sich überall in aller Eile Trecks, die zu den Häfen strebten. Zu Fuß, mit Schlitten oder Pferdewagen versuchten die angstvollen Menschen, ein rettendes Schiff zu erreichen. Doch vor den vermeintlich sicheren Häfen lag das Haff, eine bis zu zwanzig Kilometer breite, siebzig Kilometer lange Ostseebucht, die durch eine fünfzig Kilometer lange Landzunge, die Nehrung, von der offenen See getrennt ist. Schon die Überquerung des zugefrorenen Haffs war für viele ein Wettlauf mit dem Tod. In der dunklen Eiswüste kamen sie vom festen Weg ab, verirrten sich und brachen ein.

Während Millionen auf der Flucht nach Westen waren, vollzog sich im Osten Deutschlands eine Tragödie anderer Art. Um den Vormarsch der Roten Armee Richtung Berlin zu verzögern, wurden Städte wie Königsberg, Breslau und Kolberg zu »Festungen« erklärt. Sie sollten bis zum letzten Mann gehalten werden und damit starke russische Kräfte binden. Für die Eingeschlossenen begannen qualvolle Monate zwischen Bangen und Hoffen. Hinter hastig aufgebauten Panzersperren, eilig ausgehobenen Gräben und Einmannbunkern hausten Hunderttausende Zivilisten, verteidigt von zusammengewürfelten Einheiten aus Wehrmacht, Volkssturm und Hitlerjungen. Wer nicht weiterkämpfen wollte, wurde zur Abschreckung als »Verräter« aufgehängt. Aus allen Rohren feuerte die sowjetische Armee auf die Eingekesselten, Straße um Straße wurde von den Rotarmisten eingenommen. Am 18. März fiel Kolberg, am 9. April Königsberg, am 6. Mai schließlich auch Breslau. Die Rache der Sieger traf vor allem die Frauen: Vergewaltigungen, Plünderungen und Morde waren an der Tagesordnung. Der dramatische Kampf ums Überleben unter der Besatzung begann. Erst Jahre später wurden die letzten Überlebenden aus ihrer Heimat ausgewiesen, die ihnen zu einem Ort des Schreckens geworden war.

Mitte April begann der Großangriff auf Berlin. Mit über einer Million Soldaten setzte Marschall Schukow an der Oder zum entscheiden den Stoß an. Das Ringen um die Schlüsselstellung auf den Seelower Höhen wurde zum Fanal. Hier sollte nach Hitlers Willen das letzte Aufgebot der Wehrmacht wie ein »Wellenbrecher« die Flut der heranströmenden Roten Armee aufhalten. Nach vier Tagen war der idyllische Landstrich, den der Dichter Theodor Fontane einst als »fernes Wunderland« gepriesen hatte (»alles Friede, Farbe, Duft«), in eine gesichtslose Kraterlandschaft verwandelt. Zehntausende Tote hatte der erbitterte Kampf beide Seiten noch einmal gekostet. Nun lag der Weg in die Hauptstadt offen. Am 21. April standen Schukows Soldaten am Stadtrand von Berlin. Als die ersten sowjetischen Granaten in der Innenstadt explodierten, war auch bei Hitler endlich die Fassade aus Unnachgiebigkeit und falscher Siegeszuversicht zerstört. »Der Krieg ist verloren«, rief der »Führer« unter Tränen in einer dramatischen Lagebesprechung im Bunker. Doch aufgeben, um Leben zu schonen, kam für ihn nicht infrage. Er werde in Berlin bleiben, und wenn es denn sein müsste, auf den Stufen der Reichskanzlei fallen. Am 25. April hatte die Rote Armee die Reichshauptstadt eingeschlossen. Der Endkampf um das Herz der Stadt begann.

Was folgte, war der jämmerliche Untergang eines Reiches, das tausend Jahre bestehen sollte und nach zwölf zusammenbrach. Während Berlin im Straßenkampf versank und Zigtausende Menschen dieses letzte Aufbegehren mit ihrem Leben bezahlten, entzog sich der Verantwortliche »fünf nach zwölf« durch Selbstmord. Und mit einem Schlag versank das Nazireich. Sein mörderisches Dasein hatte allein von Hitler abgehangen. Ohne ihn war es ein Totenschiff. »Hitlers Tod«, sagte seine Sekretärin Traudl Junge, die bis zum bitteren Ende bei ihm ausgeharrt hatte, »war für uns wie das Ende eines Zustands der Massenhypnose. Plötzlich entdeckten wir in uns wieder eine unbezwingbare Lust zu leben, wir selbst zu werden, menschliche Wesen zu sein.«

Die Bilanz des Krieges im Osten? Für den Kriegsherrn Hitler war der Krieg nicht nur eigentliches Staatsziel, er war auch Selbstzweck, und der Überlebenskampf das Gesetz jeder Existenz: der Wahn des Usurpators, für den es nur ein Entweder/Oder gab – Siegen oder Untergehen. Er fand genügend Generäle, die ihm folgten. Millionen von Soldaten wurden nicht gefragt, ebenso wenig die Zivilbevölkerung. Vier Millionen Deutsche hatten als Soldaten für ein mörderisches Vaterland ihr Leben gelassen. 2,5 Millionen Zivilisten kamen in den Bombennächten um, auf der Flucht, durch die Vertreibung.

Diejenigen, die das schreckliche Geschehen überstanden hatten, fanden keine Zeit für Tränen. Nichts als überleben wollten sie. Noch Hunderttausende verhungerten in jenem Jahr – gefangene Soldaten, Greise und Kranke. Konrad Adenauer sah das deutsche Volk »zugrunde gehen – langsam, aber sicher«. Der alte Herr aus Rhöndorf hatte seine Deutschen jedoch ziemlich unterschätzt. Sie streckten Leberwurst mit Holz, sie bückten sich nach Ami-Kippen, fälschten Fragebögen und tauschten Silber gegen Butter. Mitunter war die neue Zeit schon da, bevor die alte endete: Noch vor der Kapitulation hatte sich bereits der erste Ortsverein der SPD formiert; am Tag von Hitlers Selbstmord war in der Nähe von Küstrin die »Gruppe Ulbricht« gelandet, Schlangenei des späteren DDR-Regimes.

Das Jahr war Ende und Anfang: Schlussstrich unter eine Zeit der Weltkriege, die künftige Historiker als einen großen Orlog sehen werden – 1914 bis 1945, der Dreißigjährige Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts. Und der Anfang einer neuen Ära: einer Friedenszeit, die allerdings nicht durch menschliche Vernunft gesichert wurde, sondern durch die Angst vor der Atombombe.

Der »größte Bluff seit Dschingis Khan« – so nannte Hitler den Aufmarsch der schlagkräftigsten Streitmacht der Geschichte: Während an der Grenze zu Ostpreußen über zwei Millionen Rotarmisten aufmarschierten, zog der Diktator noch Truppen Richtung Westen ab. Zugleich verbot er die Evakuierung der Zivilisten. Mit der sowjetischen Offensive vom 13. Januar 1945 begann für die Bevölkerung Ostpreußens eine schreckliche Tragödie.

Die Schlacht um Ostpreußen

Im letzten Kriegswinter ritt Alexander Fürst Dohna mit russischer Pelzmütze durch die Wälder rund um Schloss Schlobitten. Er nahm Abschied: »Fast niemand konnte und wollte daran glauben, dass wir bald unser ganzes bisheriges Leben würden aufgeben müssen.« Düstere Vorahnungen, die allmählich zur Gewissheit wurden, ließen ihm keine Ruhe: »Ich ritt die langen Alleen entlang und fragte mich, wer würde in den Wäldern künftig das Holz schlagen, wer würde die jungen Bäume in die Kulturen pflanzen, wer würde unsere Rinder, Schafe, Pferde weiterzüchten, wer unsere Felder abernten?«

Das prächtige Schloss mit all den dazugehörigen Ländereien war der Stammsitz des Hauses Dohna-Schlobitten. Sollte das gesamte Anwesen etwa bald in Trümmern liegen? Solche Gedanken plagten den Fürsten. Dass sich der 45 Jahre alte Schlossherr, der Stabsoffizier beim LXXV. Armeekorps in Italien gewesen war, mitten im »totalen« Krieg auf dem heimatlichen Gut aufhalten konnte, hatte seinen Grund: Dohna war Ende April 1944 unehrenhaft aus dem Wehrdienst entlassen worden, weil er sich geweigert hatte, die Erschießung von mehreren US-Gefangenen anzuordnen. Die daraufhin verhängte Strafe lautete: Schanzeinsatz am »Ostwall«. Doch in dieser Situation kamen ihm seine Beziehungen als Gutsherr zugute. Der Kreisbauernführer von Preußisch Holland machte seinen Parteigenossen klar, dass der Mann in seinem verwaisten landwirtschaftlichen Großbetrieb viel nützlicher sei. Zu dieser Zeit standen schon fast alle Männer an der Front. Hinzu kam: Seit Herbst 1944 wurde nahezu jeder, der bislang zu jung oder zu alt für den Militärdienst gewesen war beziehungsweise für die Kriegswirtschaft als »unabkömmlich« galt, zum »Volkssturm« einberufen – also sämtliche »Volksgenossen« im Alter zwischen 16 und 60 Jahren. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung, die in Ostpreußen zurückblieb, waren daher nun Frauen, Kinder und alte Leute. Auf den dortigen Schlössern, den Gütern oder den Bauernhöfen taten aus diesem Grund viele Kriegsgefangene Dienst: Polen, Franzosen und Russen. Sie waren als Zwangsarbeiter den jeweiligen Stätten zugeteilt worden.

Die unmenschliche Kriegführung bedrückte mich am meisten. Wir hörten von Massenerschießungen, vom Wüten der SS-Einsatzgruppen. Aber es war gefährlich, über diese Vorgänge zu sprechen. Und so schwieg man, wodurch die Schuld noch drückender wurde. Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten

Fürst Dohna war nicht der Besitzer irgendeines Schlosses in dieser Region. Im Kreis Preußisch Holland südöstlich von Elbing (polnisch: Elblag) gelegen, zählte dieses Anwesen zu den prächtigsten in Ostpreußen. Die Ruine heute lässt immer noch erahnen, dass hier einmal ein wahrhaft imponierendes Bauwerk stand. Beeindruckende Fotografien von damals bestätigen diesen Eindruck. Kaiser Wilhelm II. gastierte einst hier, um mit Fürst Richard zu Dohna in den Wäldern zu jagen. Hermann Göring kam zur Jagd, der landwirtschaftlich interessierte Heinrich Himmler wurde im Horch-Cabriolet des Fürsten Alexander zu Dohna durch die schöne Landschaft chauffiert.

Der Fürst räumte später ein, bei den Wahlen im November 1932 für die NSDAP gestimmt zu haben. Es gab sie lange, die Schnittmenge gemeinsamer Interessen, bei national-konservativ gesinnten Adligen und Protagonisten der NS-Bewegung. Der Versailler Vertrag sorgte parteiübergreifend für Erbitterung. Ostpreußen war durch den polnischen Korridor vom restlichen Reichsgebiet abgetrennt. Die Weimarer Republik war verpönt, zumindest »ungeliebt«, der Kommunismus das gemeinsame Feindbild. Auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg hatte einst Hitlers Aufstieg gutgeheißen, bevor er sich angesichts der Verbrechen des Regimes zum entschlossenen Gegner wandelte. In den Abgründen des Vernichtungskriegs schieden sich die Geister. Nach dem gescheiterten Attentat des 20. Juli spürte die Gestapo auch dem Fürsten Dohna nach. Doch dieser war gewieft genug zu verschleiern, was er schon seit dem Frühjahr 1944 plante: die Flucht seiner Familie und all der Menschen, die ihm als Gutsherren anvertraut waren.

Dohna war Realist. Er zählte zu den wenigen, die sich schon früh mit dem Gedanken trugen, die Heimat verlassen zu müssen. Er beschaffte sich Kartenmaterial der Wehrmacht im Maßstab 1: 300 000 und nahm sich viel Zeit, um eine sichere Route für den Treck zu finden. Welche Straßen würde die Wehrmacht benötigen? Wo könnte es bei einer Massenflucht zu Engpässen kommen? Solche Gedanken waren in den Augen des Regimes Hochverrat. Man musste sich vorsehen, wem gegenüber man sich offenbarte. Die militärische Lage gab dem Fürsten Recht. Am 22. Juni 1944, es war der dritte Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, begann die Rote Armee ihre Großoffensive gegen die Heeresgruppe Mitte. Dass der Krieg einmal zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren könnte, war für viele – Zivilisten und Soldaten – schwer zu begreifen.

Als ich Ende Januar 1943 aus Stalingrad zurückkehrte, war es mir zur Gewissheit geworden, dass wir nicht nur den Krieg, sondern auch unsere Heimat verlieren würden. Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten

Die Übermacht von Stalins Streitmacht war jedoch enorm: Im Bereich der Heeresgruppe Mitte standen 2,2 Millionen Soldaten der Roten Armee gegen nur eine halbe Million der Wehrmacht. Nach der Landung der Westmächte in der Normandie am 6. Juni 1944 hatte Hitler viele Reserven an die Front im Westen abgerufen. Im Osten wiederholte der deutsche Kriegsherr nun den gleichen Fehler, den Stalin beim Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion gemacht hatte. In seiner wahnhaften Haltung befahl der NS-Diktator, keinen Meter Boden preiszugeben und eine bewegliche Verteidigung nicht zuzulassen. Das führte zu einer militärischen Katastrophe: Von 38 deutschen Divisionen wurden zwei Drittel vernichtet, etwa 350 000 Soldaten wurden verwundet, getötet oder gerieten in Gefangenschaft. Die Heeresgruppe Mitte brach vollständig zusammen. Die Folgen dieses Schlages waren noch verheerender als die Niederlage von Stalingrad. Wie eine riesige Welle drangen die sowjetischen Verbände durch eine 350 Kilometer breite Schneise nach Westen vor. Die Lage war derart bedrohlich, dass Hitler sogar die »vorübergehende Evakuierung« der nicht kampffähigen Bevölkerung aus dem Memelland genehmigte.

Ende Juli 1944 zogen die ersten Flüchtlingstrecks durch Ostpreußen. Die Hitler-Propaganda posaunte ritualgemäß, dass die deutsche Wehrmacht die Sowjets zurückschlagen werde. In der Tat sollte es zwar bald gelingen, den russischen Einbruch abzuriegeln. Das führte dazu, dass sich viele Bewohner der Provinz in trügerischer Sicherheit wogen. Die Front war aber nur vorübergehend stabilisiert worden. Der nächste Schlag gegen Ostpreußen folgte aus der Luft. In zwei Nächten Ende August klinkten britische Bomber Hunderte Tonnen tödliche Fracht über Königsberg aus. Neue Brandstrahlbomben schürten einen grauenvollen Feuersturm. Mehr als 5000 Menschen kamen in den Flammen um, 150 000 Menschen wurden obdachlos.

Nach dem Bombenangriff auf Königsberg ist vieles in den Menschen kaputtgegangen. Hannelore Thiele, Jahrgang 1932

Manche hohen Militärs waren in ihren Einschätzungen realistischer als die Parteibonzen in den Gauen und Kreisen. Generalleutnant Friedrich Hoßbach, der seit Juli 1944 Oberbefehlshaber der 4. Armee in Ostpreußen war, regte bereits Ende August die Evakuierung der gesamten Zivilbevölkerung aus den östlichen Gebieten der Provinz an. Er wollte dadurch verhindern, dass Frauen und Kinder in die Kampfhandlungen einbezogen wurden. Doch Gauleiter Erich Koch erklärte kategorisch: »Jede Räumung wird die Moral der Truppe und der Zivilbevölkerung schwächen.« Ein Bauernhof voller Kinder werde hartnäckiger verteidigt als ein leeres Gehöft – so die menschenverachtende Devise der obersten Führung. Fluchtversuche standen unter Strafe.

Überdies brüstete sich Koch in seiner Funktion als »Reichsverteidigungskommissar« mit der Errichtung des so genannten Ostwalls. Hunderttausende Menschen wurden dafür von ihrem Arbeitsplatz in das grenznahe Gebiet zum Graben und Schanzen geschickt. Erich Koch behauptete Hitler gegenüber, die Volksgenossen würden aus »Liebe zum Führer« freiwillig Dienst leisten. Tatsächlich aber schufteten Tausende von Menschen einzig auf Befehl. Koch war davon überzeugt, mit Schützen- und Panzergräben den Vormarsch der Roten Armee aufhalten zu können. Als Generaloberst Georg-Hans Reinhardt forderte, die Linie weiter im Landesinneren zu ziehen, warf der Parteimann dem Militär Defätismus vor.

Wir fanden es unerträglich, dass man der Bevölkerung nicht die Möglichkeit gegeben hatte, sich rechtzeitig auf eine Flucht einzustellen. Das ist eine schwere Schuld, die besonders auf dem damaligen Gauleiter Erich Koch lastet. Er selbst hat sich natürlich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Bernd Freytag von Loringhoven, letzter Adjutant von Generaloberst Guderian

Für sich selbst traf Koch längst Vorkehrungen, um im Ernstfall das sinkende Schiff rechtzeitig verlassen zu können. Er wusste, was er in der Sowjetunion, als Reichskommissar der Ukraine, hinterlassen hatte: ein Meer aus Blut und Tränen. »Wir sind die Herrenrasse«, das hatte er immer wieder von sich gegeben. »Ich werde das Letzte aus diesem Land herauspressen ... Der niedrigste deutsche Arbeiter ist biologisch tausendmal wertvoller als die Bevölkerung hier.« Ausbeutung, Zwangsarbeit, Hungersnot und Massenmord – das war damals die grausame Bilanz des Erich Koch und seiner Schergen im besetzten Land.

Mein Vater hat gesagt, bei uns waren die Russen schon 1914. Die kommen wieder, aber die hauen auch wieder ab. Alles bleibt so, wie es ist. Heinz Grönling, Jahrgang 1931

Nun drohte all das auf das deutsche Volk zurückzuschlagen. Im Herbst 1944 sollte es zu einer weiteren sowjetischen Offensive kommen. Wertvolle Wochen waren von Mitte August bis Oktober verstrichen, in denen sich die Bewohner grenznaher Gebiete noch in Sicherheit hätten bringen können. Im Streit zwischen der Gauleitung und der Heeresgruppe entschied letztlich Hitler. Er weigerte sich strikt, Ostpreußen zum Operationsgebiet zu erklären. Damit war dem Militär die Kontrolle auch über den zivilen Bereich entzogen.

Bis wenige Kilometer vor der Front hatte Erich Koch allein das Sagen. Und er meldete dem Kriegsherrn: »In Ostpreußen gibt es nur einen Glauben und das ist der Glaube an den Führer. Wenn es nötig ist, mein Führer, werden Mann, Frau und Kind die Heimat mit nackten Fäusten verteidigen.« Dies war nur ein Beispiel jener völligen Verblendung angesichts der drohenden Katastrophe.

Der sowjetische Angriff Mitte Oktober 1944 sollte frontal in Richtung Königsberg erfolgen. Am 16. Oktober überschritt die Rote Armee die Grenze nach Ostpreußen. Das Grollen der Front versetzte die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Zum ersten Mal rollten sowjetische Panzer auf deutschen Boden. Nach wenigen Tagen standen sie fünf Kilometer tief auf ostpreußischem Gebiet. In drei Richtungen spaltete sich der Angriffskeil auf, wobei die beiden Kreise Gumbinnen und Goldap in der Mitte dieser Offensive lagen. Am 21. Oktober 1944 schließlich erreichten Verbände der 11. Gardearmee Nemmersdorf. Eine nun eilends gestartete deutsche Gegenoffensive warf die Rotarmisten jedoch zurück. Am 5. November waren die Russen fast wieder von deutschem Boden vertrieben – vorerst. Doch die zwei Wochen hatten ausgereicht, um den Menschen einen bitteren Vorgeschmack auf das zu geben, was sie in den kommenden Monaten erwartete: Soldaten und Männer des Volkssturms fanden in vielen der zurückeroberten Orte fast nur noch Tote vor – erschossen, erschlagen oder auf andere Weise misshandelt. Es waren all die Menschen, die vor Ort geblieben waren. Ein Ortsname geriet von da an zum Symbol für die Gräuel der Roten Armee auf deutschem Boden: Nemmersdorf. »Die bestialische Bluttat von Nemmersdorf wird die Bolschewisten teuer zu stehen kommen«, ließ Joseph Goebbels in sämtlichen deutschen Zeitungen am 27. Oktober 1944 verkünden. Das Massaker war auch sofort Thema der Wochenschau. In immer neuen Variationen rief die Nazi-Führung zur »Rache für Nemmersdorf!« auf. Der Reichspropagandaminister wollte die schrecklichen Ereignisse ausschlachten, um den Kampfeswillen der Wehrmacht neu zu beleben. Flugblätter informierten die Soldaten an der Front über die grausigen Vorfälle in der Heimat. Für die erschöpften Soldaten sollten die Nachrichten über die Ereignisse in Ostpreußen ein Ansporn sein, die letzten Kräfte im Kampf gegen den vielfach überlegenen Gegner zu mobilisieren.

Bei den ersten Kämpfen in Ostpreußen schworen wir: »Die deutschen Frauen und Männer werden noch hundert Jahre an den Aufenthalt der russischen Panzerfahrer zurückdenken!« Das haben wir genau erfüllt. Wir haben Schrecken gesät. Andrej Gez, Soldat

Inzwischen ist nach kritischer Prüfung zeitgenössischer Quellen und diverser Augenzeugenberichte eindeutig geklärt, dass viele der Schilderungen zu den Vorgängen in Nemmersdorf übertrieben waren und dass die Opfer damals für Filmaufnahmen »öffentlichkeitswirksam« präsentiert wurden: die Frauen mit entblößtem Unterleib, daneben tote Kinder und Greise. Mit eiskalter Berechnung instrumentalisierte Goebbels das Leid der Menschen. Sein Kalkül ging jedoch nur zum Teil auf. Mag sich mancher Soldat, Hitlerjunge oder Angehörige des Volkssturms dadurch mehr denn je angespornt gefühlt haben, das eigene Vaterland, Frauen, Kinder und Familien zu verteidigen – bei der Mehrheit der Bevölkerung weckte die Propaganda nicht den Willen zum Widerstand, sondern den Entschluss, die Heimat so schnell wie möglich zu verlassen. Im grenznahen Bereich brach sogar Panik aus. Eine erneute unkontrollierte Fluchtbewegung setzte ein, sodass die Gauleitung schließlich auf Drängen des Militärs die Evakuierung eines etwa dreißig Kilometer langen Streifens hinter der Front gestattete.

Die Sowjets unternahmen noch weitere Vorstöße, diesmal ohne nennenswerten Geländegewinn, und blieben dann auf einer Länge von 150 Kilometern etwa vierzig Kilometer tief im Grenzland von Ostpreußen stehen. Für das Oberkommando der Roten Armee war dies ein Misserfolg: »Die unbefriedigenden Ergebnisse des Oktobers zeigten, dass wir den schon länger im Einsatz befindlichen Divisionen eine Ruhepause gönnen, unsere Truppen umgruppieren, die rückwärtigen Dienste nachziehen und die für die anschließende Entwicklung der Operation erforderlichen materiellen Vorräte anschaffen mussten.« Das mochte auf deutscher Seite noch einmal die Illusion wecken, dass Stalins Armeen vielleicht doch nachhaltig erschöpft waren. Tatsächlich bedeutete die Zurückhaltung der russischen Militärs jedoch nichts anderes, als dass sich entlang der Grenze zum Deutschen Reich innerhalb von wenigen Wochen einer der gewaltigsten Truppenaufmärsche der Geschichte vollziehen sollte.

Ich testete, wie lange man brauchen würde, um abseits der großen Straßen etwa 45 Kilometer zurückzulegen. An einem regnerischen Novembertag ritt ich die Strecke von Schlobitten nach Prökelwitz im Galopp in einer Stunde und zwanzig Minuten – so hatte ich einen gewissen Erfahrungswert. Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten

Auf Schloss Schlobitten gingen inzwischen die Vorbereitungen zur Flucht weiter. Einen großen Treck zu organisieren, erforderte sehr viel Weitsicht. So erwies es sich in Kriegszeiten als gar nicht so einfach, eisenbereifte Ackerwagen durch moderne gummibereifte Fuhrwerke zu ersetzen. Auch die sonst für die Wagen üblichen Seitenbretter wurden durch Leitern mit Sprossen ersetzt. Das machte sie wesentlich leichter. Während sich die Bevölkerung – von der Propaganda getäuscht – mehrheitlich in Sicherheit wähnte, verließ ein Mann bei Nacht und Nebel heimlich sein ostpreußisches Quartier. Kurz zuvor hatte er noch verkündet, er wolle in keinem Falle fortgehen, ganz egal, wie lange die Krise auch andauern würde: Es war der »Führer« selbst. Schon vor Beginn des Russlandfeldzugs hatte sich der Kriegsherr im Wald bei Rastenburg die so genannte Wolfsschanze errichten lassen. Diese Unterkunft wurde im Laufe der Jahre mit mächtigen Betonmauern und Bunkern immer wieder verstärkt. Nun aber rückten die sowjetischen Truppen bedenklich näher. Und daher drängten Hitlers Helfer Wilhelm Keitel und Alfred Jodl den Diktator, das Hauptquartier zu wechseln. Dies geschah dann auch am 20. November 1944.

Nun wurde von dem bei Bad Nauheim gelegenen »Adlerhorst« aus Krieg geführt. Am zweiten Weihnachtsfeiertag, dem 26. Dezember, fand sich der Chef des Generalstabs des Heeres dort ein, Generaloberst Heinz Guderian. Er warnte Hitler eindringlich vor der Überlegenheit der Sowjets und rechnete mit einer neuen Großoffensive gegen Ostpreußen im Januar. »Der größte Bluff seit Dschingis Khan«, kommentierte der deutsche Diktator die Zahlen, die Guderian von der Aufklärungsabteilung »Fremde Heere Ost« mitgebracht hatte: eine elffache Überlegenheit bei der Infanterie, eine siebenfache bei den Panzern, eine zwanzigfache bei den Geschützen. Auch Heinrich Himmler, dessen militärischer Einfluss nach dem 20. Juli erheblich gewachsen war, spielte die Zahlen herunter: »Ich glaube nicht, dass die Russen überhaupt angreifen. Ich bin fest davon überzeugt, dass im Osten nichts passiert.«

Guderian war ein sehr temperamentvoller Mann, der es verstand, die Lage in ihrer ganzen Gefährlichkeit darzustellen. Aber er machte trotz seiner eindringlichen Worte letztlich doch keinen Eindruck auf Hitler. Bernd Freytag von Loringhoven, letzter Adjutant von Generaloberst Guderian

Schon Wochen zuvor hatten Hitlers Truppenverschiebungen im Oberkommando des Heeres heftige Diskussionen ausgelöst. Obwohl die Rote Armee schon an der Weichsel stand, hatte der Diktator kampfstarke Divisionen von der Ostfront abkommandiert und an die Westfront geschickt, in die Ardennen. Hitlers Plan sah vor, die Linien der Westalliierten auf der gesamten Breite zwischen Echternach und Monschau zu durchbrechen und mit einem raschen Durchstoß über die Maas die Briten und Amerikaner auseinander zu treiben, die Stadt Antwerpen zurückzuerobern und die englischen Verbände in Belgien zu vernichten. Was hieß das für Ostpreußen? Hitler hielt auch nach den beschwörenden Worten Guderians an seiner Entscheidung fest: »Keine Verstärkung der Truppen im Osten – dort kann ich noch Boden verlieren, im Westen nicht. Der Osten muss sich allein helfen!« Wenn die Bevölkerung dort auch nur geahnt hätte, welch kolossale Militärmacht jenseits der Grenze in Stellung ging, es hätte sicher einen Aufschrei gegeben. Stattdessen aber verbrachten viele Familien in der Provinz das Weihnachtsfest fast in gewohnter Idylle. Einige Flüchtlinge waren sogar wieder in die Heimat zurückgekehrt. Manche sahen im Stillstand an der Front schon die ersehnte Kriegswende.

Auf Gut Falkenau – nicht weit von Deutsch Eylau entfernt – war die Stimmung an den Feiertagen jedoch nicht ungetrübt. Aber nicht etwa, weil man Angst vor den Russen hatte. »Keiner hatte gedacht, dass der Zusammenbruch kommt, dass wir hier nun das letzte Weihnachten verbringen würden, und schon gar nicht, dass wir die Heimat verlieren werden«, erzählt heute die Tochter des Gutsherrn, Felicitas Lieberoth-Leden, geborene Ritgen. Sie hatte auf dem einstigen Rittergut ihre Kindheit und Jugend verbracht. Es gab einen anderen Grund: Zwei von drei Ritgen-Söhnen waren an der Ostfront gefallen.

In jenem Jahr, wie schon in all den Jahren zuvor, waren sämtliche Bediensteten zum Festessen geladen gewesen, vom Stubenmädchen bis zum Kutscher. Das war auf vielen Gütern so üblich, ganz gleich, ob in Schlobitten oder auf Groß-Falkenau: »Es war relativ dunkel im Esszimmer, nur die vielen Kerzen brannten. So etwas Stimmungsvolles habe ich später nie wieder erlebt«, erinnert sich Felicitas Lieberoth. Die Eltern wollten den anderen Kindern in jenen schweren Tagen das Gefühl von Geborgenheit vermitteln, ihnen zeigen, dass das Leben weitergeht. Es sollte das letzte Weihnachtsfest auf Gut Falkenau sein.

Wir wollten es einfach nicht wahrhaben, dass wir die Heimat aufgeben mussten. Wir dachten: Irgendwann werden die Russen wieder zurückgeschlagen werden. Felicitas Lieberoth-Leden, Tochter des Gutsherrn von Falkenau

An Flucht dachte dort zu diesem Zeitpunkt aber noch niemand. Im Herbst 1944, als es gefährlich zu werden schien, hatte Gutsherr Ritgen versucht, einige seiner Stuten, Hengste und besonderes Zuchtvieh zum großelterlichen Gut in Westfalen zu bringen: »Doch das war nicht möglich«, weiß Tochter Felicitas. »Mein Vater erhielt keine Erlaubnis. Es war nicht einmal gestattet, einen Koffer aufzugeben. Den Eisenbahnmitarbeitern war es verboten worden, derartiges Gepäck Richtung Westen anzunehmen. Auch unsere schon fertig gepackten Kisten mit dem Porzellan konnten wir nicht zu den Großeltern schicken. Die Parteileute hatten Angst, dass dadurch die allgemeine Stimmung niedergedrückt werden und dass eventuell sogar Panik ausbrechen könnte.«

Am Neujahrstag ging per Reichsrundfunk eine Ansprache über den Äther, in der nicht von Bedrohung, sondern von einem »Endsieg« die Rede war. Diese Stimme hatten die Menschen schon seit Monaten nicht mehr gehört: Sie gehörte Adolf Hitler. »Wir sind zu allem entschlossen. Mein Glaube an die Zukunft unseres Volkes ist unerschütterlich«, sagte der Diktator. Allzu viele Deutsche an der Front und in der Heimat ließen sich noch einmal täuschen. Dabei hatte sich die militärische Lage inzwischen weiterhin erheblich verschlechtert. Die Ardennenoffensive scheiterte im Bombenhagel der amerikanischen und britischen Kampfflugzeuge. Hitler hatte die Ostfront gegen den Rat seiner höchsten Militärs ausgedünnt und unternahm auch jetzt keine Anstalten, dies zu ändern.

Bei der Heeresgruppe habe ich die große Lagekarte gesehen und wusste, was da auf uns zukam: Unsere Verbände waren blau eingezeichnet und gegenüber war ein großes rotes Meer. Das waren die Sowjets, die gegen Ostpreußen anrannten. Hans Joachim Paris, Kriegsberichterstatter

Unterdessen baute Stalin an Weichsel, Narew und Memel eine gewaltige Angriffsarmee auf. Allein die Truppen von Marschall Schukow und Konjew, die die Hauptlast der Offensive tragen sollten, umfassten 2,2 Millionen Soldaten, 7000 Panzer und fast 5000 Flugzeuge. Die 2. und 3. Weißrussische Front weiter nördlich stellten die Hauptkontingente für die »Operation Ostpreußen«. Dies waren noch weitere anderthalb Millionen Soldaten, 3800 Panzer und 3000 Flugzeuge. Der sowjetische Generalissimus plante einen regelrechten Blitzkrieg gegen die östliche Provinz. Die Rote Armee sollte dieses Gebiet innerhalb von 18 Tagen durchqueren und bei Elbing bis an die Ostsee vorstoßen. Am 11. Januar 1945 wurde Generaloberst Guderian ein entschlüsselter Funkspruch der Sowjets vorgelegt: »Es bleibt bei alter Einladung. Festbeginn 13. früh. Musik komplett, Tänzer ausgeruht und unternehmungsfreudig.« Das bedeutete noch zwei Tage Galgenfrist, bis im ostpreußischen Grenzland die Erde beben sollte.

Guderian war äußerst besorgt. Alles deutete darauf hin, dass eine Winteroffensive der Sowjets absehbar war. In den Brückenköpfen an der Front waren Dutzende von Divisionen und Panzerverbänden mit Tausenden von Geschützen und Panzern versammelt. Bernd Freytag von Loringhoven, letzter Adjutant von Generaloberst Guderian

Schließlich kam der große Schicksalstag, der 13. Januar 1945. Aus bis zu zweihundert Geschützen und »Stalinorgeln« pro Kilometer brach ein Feuersturm über die deutschen Stellungen herein. Der russischen »Dampfwalze«, wie es im Jargon der Wehrmachtssoldaten hieß, konnten die geschwächten deutschen Divisionen kaum noch standhalten. Ehemalige Soldaten erinnern sich, wie manche ihrer Kameraden schon aufgrund der enormen Lautstärke der Detonationen im Schützengraben den Verstand verloren. Der ununterbrochene Beschuss hatte es ihnen nicht erlaubt, auch nur einen Moment aus der Deckung zu gehen. Die Januar-Offensive der Roten Armee erfolgte an insgesamt drei Abschnitten mit jeweils eigener Stoßrichtung: Auf der Höhe von Warschau und etwas weiter südlich stieß Marschall Georgij Schukow mit der 1. Weißrussischen Front über die Weichsel Richtung Oder vor – mit dem Ziel Berlin. Aus den Stellungen nördlich von Warschau (bis auf die Höhe von Augustow) sollte die 2. Weißrussische Front unter Marschall Rokossowskij bis nach Pommern marschieren, dabei Schukow im Norden Deckung geben und die Reichshauptstadt von der Ostsee-Seite her abschneiden. Im Norden griff Marschall Tschernjachowskij mit seiner 3. Weißrussischen Front an. Stoßrichtung war das Samland.

Der Angriff begann mit einem starken Artilleriefeuer. Wir dachten, dass nach so einer Artillerievorbereitung kein Widerstand mehr zu erwarten sei. Aber als unsere Armeen vorstürmten, stellte sich dann doch heraus, dass das Verteidigungssystem der Deutschen noch vollständig intakt war. Pjotr Ilich Kirichenko, Soldat

In Ostpreußen standen auf deutscher Seite die 3. Panzerarmee nordöstlich von Königsberg, die 4. Armee im Abschnitt bis zur Narew und weiter südlich die 2. Armee. Die Truppen der Wehrmacht und des Volkssturms sollten dem Angriff schon an den äußeren Linien Einhalt gebieten, was jedoch angesichts der sowjetischen Übermacht einem Himmelfahrtskommando gleichkam. 25000 Geschütze und Granatwerfer, unterstützt von Schwärmen sowjetischer Kampfflugzeuge und schweren Panzern, ließen die grenznahe Verteidigung wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Nur mit flexiblen Operationen und ausgeklügelten Rückzugsgefechten konnte die Eroberung Ostpreußens zumindest eine Zeit lang hinausgezögert werden. Als Tschernjachowskij im Norden auf immer härteren Widerstand stieß, musste Rokossowskij auf Befehl Moskaus seine Stoßrichtung ändern: Er sollte nun von Süden her den Druck auf die Provinz erhöhen. Rokossowskij griff die 2. Armee an und drängte sie in nördliche Richtung zur Ostsee. Von da an begann ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit.

Die Russen griffen mit drei Armeen an. Eine Armee auf der Linie nach Königsberg, eine Armee in Richtung Danzig und die dritte Armee drückte uns gegen das Haff. Da war der Kessel zu. Und es gab nur noch einen Ausweg: über das zugefrorene Haff. Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Das erkannte auch Fürst Dohna. Mitte Januar 1945 war auf Schlobitten schon der Kanonendonner zu hören, Flüchtlinge zogen an den fürstlichen Gütern vorbei. Plötzlich stellte sich offizieller Besuch ein – der so genannte Kunstoffizier für den nördlichen Teil der Ostfront rückte an, Ernstotto Graf zu Solms-Laubach. Er und seine Mitarbeiter hatten 1941 das legendäre Bernsteinzimmer aus Schloss Zarskoje Selo ausgebaut. Nun sollten auch wertvolle Kunstwerke aus Schlobitten in Sicherheit gebracht werden. Bezeichnenderweise stand dafür nur ein einziger Lastwagen zur Verfügung, der allerdings in so schlechtem Zustand war, dass er für Transporte nicht mehr zu gebrauchen war.

Aber Fürst Dohna hatte ganz andere Sorgen. Um den Treck auf den Weg zu bringen, musste zumindest ein Teil der Männer vom Dienst im Volkssturm freigestellt werden. So kam es zum Disput mit dem zuständigen Ortsgruppenleiter Gehrmann in dessen Büro. Gehrmann wollte den Fürsten nicht ziehen lassen: »Ich kann Sie unmöglich freistellen!

Es war gefährlich, den Zivilisten zu sagen: »Packt eure Sachen und verschwindet!« Denn das galt schon als Defätismus. Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Mit Ihrer militärischen Erfahrung sind Sie für den Volkssturm unverzichtbar. Wo kämen wir denn hin, wenn sich die besten Männer vor der Verantwortung drückten und sich weigerten, das Vaterland zu verteidigen!« Daraufhin entgegnete ihm der Fürst und ehemalige Stabsoffizier: »Ohne mich haben die Menschen wenig Chancen, heil nach Westen zu kommen!« Davon wollte der Ortsgruppenleiter allerdings nichts wissen: »Sie werden der Einberufung Folge leisten!« Der Fürst aber beschloss, sich nicht an seine Anweisung zu halten.

Am 19. Januar 1945, dem sechsten Tag der Offensive, war die Rote Armee auf einer Breite von 200 Kilometern mehr als 160 Kilometer tief in das ostpreußische Kernland vorgestoßen. Viel zu spät hatte Gauleiter Koch die Räumung der frontnahen Kreise angeordnet, so auch in Osterode, Allenstein, Gerdauen, Gumbinnen oder Insterburg.