Der Sündenfall – ein Glücksfall? - Meir Shalev - E-Book

Der Sündenfall – ein Glücksfall? E-Book

Meir Shalev

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Beschreibung

Wer hätte gedacht, dass bereits in der Bibel neben allen Varianten von Mord und Totschlag auch das Thema Kriegsdienstverweigerung behandelt wird? Dass schon hier von Vetternwirtschaft, Mafiamethoden, Kraftprotzerei und Profilneurosen die Rede ist? Und dass es andererseits auch wunderschöne, tragische Liebesgeschichten zu entdecken gibt?

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Seitenzahl: 401

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Meir Shalev

Der Sündenfall – ein Glücksfall?

Alte Geschichten aus der Bibel

neu erzählt

Aus dem Hebräischen vonRuth Melcer

Titel der 1985 beim

Schocken-Verlag, Tel Aviv,

erschienenen Originalausgabe:

›Tanach achshav‹

Copyright © 1985 by Meir Shalev

Die deutsche Erstausgabe erschien 1997

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Hieronymus Bosch, ›Das Jüngste Gericht‹,

um 1510 (Ausschnitt)

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23099 4 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60605 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Vorwort[7]

Vorwort zur Übersetzung[10]

Liebe auf den ersten Blick  [13]

Die Geschichte von Jakob und Rahel

Mafia-Methoden in Karmel  [35]

Die Geschichte von David

Es geht auch ohne Vizeminister  [47]

Geschichten über Vetternwirtschaft

Der Sündenfall – ein Glücksfall?  [60]

Die Geschichte von Adam und Eva

Alle für einen – einer gegen alle  [76]

Die Geschichte vom Propheten Micha

Das religiöse Establishment schlägt zu  [84]

Die Geschichte vom Oberrabbiner Esra

Eine Prophezeiung mit Termin  [97]

Die Geschichte vom Propheten Jona

Vom Kinderheim zum Tempel  [111]

Die Geschichte vom Propheten Samuel

Auf dem Dreschplatz in Bethlehem  [142]

Die Geschichte von Ruth und Boas

Der Krieger vom Linsenacker  [154]

Geschichten über das Heldentum

Der stolze Jude Mardochai  [167]

Die Geschichte vom ersten Hofjuden

[6] Der brave Soldat Joab  [182]

Geschichten von der Macht

Es war einmal ein Mann im Lande Uz  [194]

Die Geschichte von Hiob

Wen die Pflicht ruft  [208]

Geschichten über Kriegsdienstverweigerung

Wunder wirken Wunder  [223]

Geschichten über den Umgang mit der Opposition

Ein König gar alt und töricht  [234]

Geschichten über ›Altersweisheit‹

Besuch von weit her  [244]

Die Geschichte der Königin von Saba

Der Tempelberg ist unser  [256]

Geschichten über Landnahme

Hesekiels großer Auftritt  [269]

Geschichten über PR

Des Bocksdorns großer Tag  [279]

Geschichten von Ämtern und Ehre

Der Statthalter Nehemia und sein Wirtschaftswunder  [290]

Geschichten über das Spenden

Eine Frau vom Flußtal Sorek  [304]

Die Geschichte von Samson und Delila

Casus belli  [317]

Geschichten über Diplomatie und Krieg

Glossar[330]

Alphabetisches Namensverzeichnis deutsch–hebräisch

[7] Vorwort

Vor einiger Zeit las ich in der israelischen Tageszeitung Ha’aretz einen Artikel über Ruth und Boas. Ganz im Sinne der jahrhundertealten exegetischen Tradition verfaßt, triefte er förmlich vor Anstand und Moralinsäure. Der Autor wollte mich unbedingt davon überzeugen, daß Ruth und Boas in jener Nacht auf dem Dreschboden in Bethlehem nicht der süßen Sünde frönten. Ich muß sagen, es ist ihm nicht gelungen.

Als Reaktion sandte ich der Zeitung einen eigenen Artikel, und die Folge war der Auftrag, weitere Beiträge über diverse biblische Geschichten zu verfassen. So entstand eine Kolumne mit dem Motto »Die Bibel heute«. Das vorliegende Buch ist eine Sammlung der meisten meiner Beiträge für diese Kolumne; darüber hinaus enthält es einige weitere, die hier nun zum ersten Mal erscheinen.

Ich wuchs in einer weltlichen Familie auf, die sich aber viel mit der Bibel beschäftigte. Die hitzigen Diskussionen über König Saul sind mir noch gut in Erinnerung. Er war der Lieblingsheld meiner Mutter, während mein Vater höchstens Mitleid für ihn empfand. Meine Eltern machten mit mir Ausflüge ins Land Dan, wo sie mir den Geburtsort des Helden Samson zeigten. Sie fuhren mit mir zum Hafen von Japho, von wo aus der Prophet Jona vor Gottes Auftrag nach Tharsis floh. In Megiddo folgten wir dem Lauf des Kison-Flusses, wo Siseras Wagen versenkt [8] wurden. Joseph, Elia, Samuel und Jonathan waren nicht weniger die Helden meiner Kindheit als Käpt’n Nemo und Tarzan.

In der Schule lernte ich, wie der junge David auszog, Goliath zu erschlagen. Wie mir weisgemacht wurde, standen die fünf Kieselsteine, die sich David aus dem Bachtal suchte, für die fünf Bücher der Thora. So wurde die Textstelle von den großen jüdischen Weisen interpretiert und, von ihnen beeinflußt, auch von meiner Lehrerin.

Mein Vater sah die Sache ganz anders. Er nahm mich mit auf das vorzeitliche Schlachtfeld im Terebinthental und zeigte mir, wo die Israeliten lagerten und wo die Philister sich aufgestellt hatten. Er erklärte mir, daß Davids Steinschleuder ganz anders funktioniert hatte als die Schleudern, mit denen wir Kinder spielten, und suchte für mich fünf Kiesel zusammen. Neben meinem Vater in dem ausgetrockneten Flußbett hockend, befühlte ich mit meinen Fingern die glatte, kühle Oberfläche eines der Steine. Er war wie der, den David in seine Hirtenschleuder eingespannt hatte. Um mich herum verwandelte sich die Szene, und plötzlich war David ein kleiner Junge mit Brille, der mit der Schleuder in der Hand die Kräfte des Bösen bezwang.

Die traditionelle Bibelexegese hat über Generationen hinweg immer wieder versucht, die biblischen Geschichten zu beschönigen, die Helden zu glorifizieren und ihre Sünden und Verbrechen wegzuerklären. Die Texte wurden »gezähmt« und für religiöse Zwecke tauglich gemacht. Die vielen Leserbriefe, die ich infolge meiner Kolumne erhielt, zeigten mir, daß gläubige Menschen dazu neigen, die Bibel als ihr Privateigentum zu betrachten, und daß nicht alle [9] weltlichen Leserinnen und Leser der Bibel auf ihrem Recht bestehen, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Meine Bibel ist eine andere. Ihre Verfasser sind ebenso Menschen aus Fleisch und Blut wie die darin vorkommenden Protagonisten. Meine Bibel wurde weder von Gott geschrieben, noch sind ihre Helden heilig oder rein von Sünde. Ich möchte weder den gebildeten Forscher noch den religiösen Exegeten spielen. Die Bibel ist ein aufregendes Buch, in dem ich immer wieder gern lese. Sie enthält vielerlei Botschaften – politische, religiöse, philosophische und auch erotische. Sie regt förmlich dazu an, immer wieder auch über das Geschehen im Hier und Jetzt nachzudenken. Aus diesem Gefühl heraus entstanden die Kapitel dieses Buches.

Meir Shalev

[10] Vorwort zur Übersetzung

Das vorliegende Buch ist aus dem Hebräischen übersetzt – der Sprache, in der die Bibel ursprünglich verfaßt wurde. Es enthält Auslegungen des hebräischen Wortlautes der Bibel und nimmt Bezug auf die jüdische Exegese, die ›unsere Weisen‹ (wie die Rabbiner des klassischen Judentums häufig genannt werden) hervorbrachten. Somit steht es in der rund zweitausend Jahre alten jüdischen Tradition der Um- und Neudeutung des Hauptbelegtextes des Judentums. Dabei ist auch zu beachten, daß der christliche Bibelkanon dem jüdischen zwar ähnlich ist – beide bestehen aus neununddreißig Einzelbüchern –, sich jedoch in der Kategorisierung unterscheidet. Der jüdische Kanon besteht aus den drei Kategorien »Lehre« (Thora), »Propheten« (Newi’im) und »Schriften« (Ktuwim), während sich der christliche Kanon aus den »Geschichtsbüchern«, den »Lehrbüchern« und den »Prophetischen Büchern« zusammensetzt. Die Zuordnung der jeweiligen Einzelbücher zu den drei Kategorien der Kanons ist ebenfalls unterschiedlich – eine von der Kirche bewußt vorgenommene Änderung.

Die Übersetzung dieses Buches warf die Frage auf, welcher deutschen Bibelübersetzung die Zitate entnommen werden sollen. Die Auswahl deutschsprachiger Bibeln aus dem christlichen Umfeld ist groß, doch eignen sie sich aufgrund ihrer religiösen Färbung nicht immer als Belegtext [11] für das vorliegende Buch, das der jüdischen Tradition entspringt. Die vor dem Hintergrund der jüdischen Exegese ins Deutsche übertragenen Bibeltexte (z.B. Buber und Rosenzweigs gemeinsame Übertragung Die Schrift, oder Tur-Sinais Die Heilige Schrift, um nur zwei zu nennen) hätten zur Folge gehabt, für jede Textstelle das jeweils passendste Pendant zu übernehmen und dessen Ursprung zu kennzeichnen. Das hätte allerdings den nichtwissenschaftlichen Rahmen dieses Buches gesprengt und die Lesbarkeit zusätzlich erschwert.

So habe ich im Rahmen dieses Buches die Bibelzitate mit der Zielsetzung, so nahe am Ausgangstext wie möglich zu bleiben, neu übersetzt. Dabei erhebe ich keineswegs den Anspruch, die endgültige deutsche Version ge- oder erfunden zu haben, da keine Übersetzung das Original je ersetzen wird: Gerade der Versuch, den Bibeltext adäquat zu übersetzen, macht deutlich, daß eine wirklich originalgetreue Übersetzung nicht immer möglich ist und eine Übersetzung nie etwas anderes sein wird als eine originalnahe Interpretation. Dies gilt um so mehr für christlich-deutsche Übersetzungen der Bibel, da sie dazu dienen, die jüdischen Inhalte in christliche umzuwandeln. Bereits der christliche Name »Altes Testament« ist ein Hinweis darauf, daß es sich nicht um »Die Lehre« handelt – im Christentum sind die Evangelien von größerer Bedeutung, sie sind das »Neue Testament«, das das »Alte« zwar nicht ersetzt, aber in den Schatten rückt. »Israel« erhält die Konnotation »die Kirche«. So wurde der von Juden für Juden verfaßte Hauptbelegtext des Judentums für deutschsprachige Christen in der Weise in die deutsche Sprache übertragen, wie der jeweilige [12] Übersetzer sie verstanden wissen wollte (einige dieser Unterschiede werden in Anmerkungen zum Text anhand eines Vergleichs mit der Luther-Bibel aufgezeigt.)

Aus diesem Grund liegt das eine oder andere berühmte Zitat nicht in der gewohnten christlich-deutschen Variante vor. Genau das war jedoch meine Absicht, denn es schien mir nötig, im Kontext dieses Buches eine ungewohnte Lesart des allzu bekannten Textes zu präsentieren.

Wie in allen Sprachen, die nicht mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden, erweist sich die Transkription des Hebräischen immer als problematisch. Eine einheitliche Umschreibung existiert nicht; selbst im wissenschaftlichen Kontext gibt es verschiedene Varianten, die zudem nicht lesefreundlich sind. Um jedoch die Lektüre durch ungewohnte Schreibweisen von Eigennamen nicht unnötig zu erschweren, wurde, mit einer einzigen Ausnahme, auf die Luthersche Version der biblischen Namen zurückgegriffen, die – obwohl sie häufig weder der hebräischen Schreibweise noch der Phonetik folgt – im deutschen Sprachraum weite Verbreitung gefunden hat. Die teilweise stark vom hebräischen Original abweichenden Namen sind im Anhang noch einmal zusammen mit ihren phonetischen Entsprechungen aufgelistet.

Ruth Melcer

[13] Liebe auf den ersten Blick

Die Geschichte von Jakob und Rahel

»Und Jakob diente sieben Jahre um Rahel, und sie waren in seinen Augen wie einige Tage, da er sie liebte.«

Genesis 29,20

Von allen biblischen Helden gibt es nur einen, den ich beneide: Jakob. Nicht etwa, weil er so viele Schafe sein eigen nannte oder weil er der Vater der zwölf Stämme Israels war. Nein, ich beneide ihn um die erste Begegnung mit seiner Herzallerliebsten Rahel am Brunnen im Land der Söhne des Ostens. Jeder Mann, der sich je mit den Mühen und Nöten gequält hat, die mit ersten Begegnungen einhergehen, wird wissen, wovon ich spreche, und kann meine Gefühle nachvollziehen.

In einer amerikanischen Zeitschrift stieß ich einmal auf eine Anzeige für ein neu erschienenes Buch – ein Handbuch für den Mann mit Tips für Annäherungsversuche an Frauen. Unter anderem versprach die Anzeige dem Käufer des Werks fünfzig fabelhafte Eröffnungssätzchen – witzig-spritzig, geistreich und beeindruckend –, die nur einem Ziel dienten: dem Herzen der begehrten jungen Frau das Zaubernetz männlichen Scharfsinns überzuwerfen. Sätze, die zu erfinden Kopfzerbrechen bereitet und deren Wirkung unvorhersehbar ist.

[14] Natürlich könnte man dieses Buch als eine weitere ›amerikanische Modeerscheinung‹ abtun, doch damit würde man sich die Sache zu leicht machen. Bei aller Lachhaftigkeit muß man zugeben, daß hinter dieser Veröffentlichung ein echtes Männerproblem steckt. Schließlich sind wir nicht alle mit dem Gesicht eines Robert Redford, der Figur eines Burt Reynolds oder dem Sprachvermögen unseres Politikers David Levy gesegnet. Somit ist das Syndrom der ›ersten Begegnung‹ vielen Männern vertraut. In der Steinzeit erlegten Herzensbrecher Bären, um ihre behaarte Auserwählte zu beeindrucken. Heutzutage müssen wir weniger gefährliche, dafür aber weit lächerlichere Manöver absolvieren. Wir sind gefordert, unsere pseudointellektuellen Pfauenräder zu schlagen, uns mit Erfolgen zu brüsten, mit unserem Humor zu brillieren, die Namen berühmter Bekannter in die Unterhaltung einfließen zu lassen und unsere Intelligenz unter Beweis zu stellen. Jeder, der sich an die Sintflut leerer Worte, an den Schwall von Zitaten, an die sprühenden Feuerwerke erinnert, die er während einer ersten Verabredung losließ, hat Grund genug, Jakob um seine erste Begegnung mit Rahel am Rand des Brunnens zu beneiden.

In Genesis, Kapitel 27 ist nachzulesen, wie Rebekka und ihr Lieblingssohn den blinden, greisen Isaak täuschten und damit Esau um seinen Segen brachten. In Genesis, Kapitel 29 begegnen wir dem treuherzigen Zeltbewohner Jakob, den Segen seines Vaters in der Tasche, auf der Flucht vor der Rache seines Bruders. Jakob hatte sich aufgemacht, weit nach Osten, nach Haran, zur Familie [15] seiner Mutter zu wandern. Am Brunnen im Land der Söhne des Ostens begegnete er Hirten, die ihre Herden zur Tränke trieben. Jakob war weder ein »Mann des Feldes« Genesis 25,27 (wie sein Bruder) noch ein Abenteurer. Man kann sich also vorstellen, wie erleichtert er war, von den Hirten zu erfahren, daß sie seinen Onkel Laban kannten. Um das Kleinvieh zu tränken, erzählten sie ihm, müsse der Stein, der die Brunnenöffnung bedeckte, von allen Hirten mit vereinten Kräften weggewälzt werden. Die Größe des Steins und sein Gewicht stellten sicher, daß nicht einer allein ihn abnehmen konnte, um seine Herde außer der Reihe zu tränken und sich mehr als den ihm zustehenden Anteil an dem kostbaren Naß zu nehmen.

Just in dem Augenblick kam eine hübsche Schäferin auf den Brunnen zu, und die Schäfer eröffneten Jakob, dies sei seine Cousine Rahel. Da erblickten seine Augen zum ersten Mal das junge Mädchen, das seine große Liebe und schließlich seine Frau werden würde. Zwischen Jakob und Rahel entspann sich eine Liebesgeschichte, deren es nicht viele gibt. (Übrigens ist Rahel die einzige Frau, die von der Bibel mit der doppelten Schönheitsbeschreibung »schön von Gestalt und schön von Angesicht« Genesis 29,17 bedacht wurde.)

Als diese anmutige junge Frau ihren Auftritt am Brunnen hatte, wurde Jakob von starken Gefühlen der bekannten Art erfaßt. Dies bewegte ihn zu einer Tat, die wir eher dem Helden Samson1 zugemutet hätten als dem treuherzigen Zeltbewohner aus dem Lande Kanaan: »[…] da trat Jakob hinzu und wälzte den Stein von der Brunnenöffnung und tränkte das Kleinvieh Labans, des [16] Bruders seiner Mutter. Und Jakob küßte Rahel, und erhob seine Stimme und weinte.« Genesis 29,10–11

Jakob war kein Kriegsheld und auch kein Muskelprotz. Das einzige Muskelspiel, das von ihm bekannt wurde, ist sein mysteriöser Kampf mit dem Engel Gottes beim Durchqueren des Jabbok, aber das war Jahre später. Im Gegensatz zu seinem ungehobelten Bruder Esau – und auch später im Gegensatz zu seinen gewalttätigen Söhnen – wird Jakob als stiller und friedliebender Mann beschrieben, dem Kraftprotzerei fernlag. Trotzdem mobilisierte der Anblick seiner lieblichen Cousine die in ihm schlummernden Kräfte, und er wälzte den schweren Felsbrocken – laut der veranschaulichenden Erklärung unserer Weisen saß er auf dem Wasserloch wie ein Stöpsel in einer Flasche – im Alleingang vom Brunnenrand.

Zweifellos versetzte Jakob mit seiner beeindruckenden Meisterleistung sämtliche Anwesenden in Staunen, insbesondere Rahel. Sie wußte natürlich noch nicht, daß dieser großartige Fremde der Sohn ihrer Tante Rebekka aus dem Heiligen Land war. Zu ihrer großen Überraschung begnügte sich der unbekannte Mann nicht etwa mit dem Öffnen des Brunnenlochs, sondern machte sich auch eilends daran, ihre Schafe zu tränken. Und während sie, seine Körperkraft und seine galante Art bestaunend, wie angenagelt dasteht, springt der Fremde auf sie zu und gibt ihr vor versammelter Korona einen überschwenglichen Kuß. Selbst heute gibt es kaum jemanden, der sich gleich bei der ersten Begegnung so weit vorwagen würde; es gehört sich einfach nicht, solange man nicht besser miteinander vertraut ist. Und im fernen Osten, noch [17] dazu in jener Zeit, war solch ein Verhalten garantiert nicht angesagt.

Man beachte Jakobs cleveres Vorgehen: Zuerst ermittelte er Rahel, dann wälzte er den Stein beiseite, tränkte die Herde, küßte Rahel und brach in Tränen aus – und erst danach stellte er sich als ihr Cousin aus Kanaan vor. Der alte Knigge hätte dieses äußerst merkwürdige Benehmen bestimmt nicht gutgeheißen. Aber in Jakobs Fall erwies es sich als goldrichtig, um Rahels Herz zu erobern. Hätte er sich nämlich an die Regeln der einschlägigen Benimm-Lexika gehalten und sich erst einmal vorgestellt, wäre der ganze Überraschungseffekt dahin gewesen.

Aus Rahels Sicht war der Fremde gütig zu ihr: Er wälzte den Stein vom Brunnenrand und tränkte ihre Herde. Anschließend bewies er Wagemut und Chuzpe, indem er sie küßte. Und am Ende heulte er los und gab sich als »Rebekkas Sohn« Genesis 29,12 zu erkennen. Da begriff Rahel, wieso Jakob sich ihr gegenüber diese Freiheiten herausgenommen hatte, und eilte zu ihrem Vater, um den Gast anzukündigen. Doch der erste Eindruck, der sich in ihr festgesetzt hatte, war das Erlebnis einer Begegnung zwischen Liebenden, nicht zwischen einem Cousin und seiner Cousine. Für Rahel war der Kuß, den Jakob ihr am Brunnen gegeben hatte, der Kuß eines Verehrers.

Natürlich erregte der berühmte Kuß am Brunnen die Gemüter der Bibelkommentatoren. Es konnte und durfte nicht sein, daß Jakob – der Stammvater, Vater der zwölf Stämme, Gerechter aller Gerechten, dessen Name von Gott nach dem Kampf am Jabbok in ›Israel‹ Genesis 32,29 geändert [18] wurde – an seiner Lüsternheit scheiterte und gegen die Regeln des Anstands verstieß. Der Ramban kommentierte diesen Kuß folgendermaßen: »Rahel war noch klein und erregte nicht die männliche Lust, und das ist gemeint mit ›und Jakob küßte Rahel […]‹, denn grammatikalisch gesehen ist dieser Kuß kein Kuß auf den Mund2. Er küßte sie nur auf den Kopf oder auf die Schulter.« Nun ja, bestimmt weiß er, wovon er redet. Im Jalkut Schim’oni steht geschrieben: »Jeder Kuß entspringt der Lüsternheit, mit Ausnahme von dreien: ein Kuß der Größe (wie der Kuß, den Samuel Saul gab, als er ihn zum König salbte – Samuel I 10,1), ein Kuß der Erleichterung (wie der Kuß zwischen Mose und Aaron nach ihrer langen Trennung – Exodus 4,27) und ein Abschiedskuß (wie der, den Orpa Naomi gab – Ruth 1,14).« Im Tanchuma wird hinzugefügt: »Auch ein Familienkuß, ein Kuß zwischen Verwandten, ist kein Kuß aus Lüsternheit, denn es steht geschrieben: ›und Jakob küßte Rahel‹, und sie war seine Verwandte.«

Ob ein Kuß zwischen Liebenden eine Frage der Lüsternheit ist, wird jeder anders beurteilen. Eines darf allerdings nicht vergessen werden: Zu dem Zeitpunkt, als Jakob Rahel einen Kuß gab, hatte sie keinen blassen Schimmer, daß es sich um einen ›Familienkuß‹ handelte – eine Tatsache, die Rabbi Tanchuma kaum entgangen sein kann. Jakob wußte jedenfalls genau, was er da tat. Er war ein cleveres und listiges Bürschchen; nicht umsonst schob er es bis auf den letzten Moment hinaus, sich seiner hübschen Cousine zu erkennen zu geben: Jener gewagte Kuß am Rand des Brunnens brannte sieben volle Jahre auf ihren Lippen.

[19] Jakobs lautstarkes Weinen gleich nach dem Kuß zeugt eindeutig von seiner heftigen Erregung; auch dazu gaben die Exegeten ihren Kommentar ab. Einige meinten, Jakob habe geweint, weil er keine Geschenke mitgebracht hatte. Schließlich war Elieser, der greise Diener Abrahams, unter der Last der Geschenke schier zusammengebrochen, als er seinerzeit auf der Suche nach einer guten Partie für Isaak unterwegs gewesen war. Ein weiterer Kommentator behauptet, Jakob habe dank seiner prophetischen Fähigkeiten bereits vorausgesehen, daß Rahel nicht neben ihm begraben würde. Ein dritter Exeget schließlich witterte hinter Jakobs Tränen Scham; er habe bemerkt, wie entsetzt die Hirten darüber waren, daß er gewagt hatte, seine junge Cousine Rahel zu küssen.

Wenngleich jede Auslegung ihren eigenen Charme hat, besteht wohl kein Zweifel daran, daß Jakobs Tränen auch Tränen der Erleichterung waren. Er war vor der Rache seines Bruders geflohen, war tagelang in ständiger Angst vor lauernden Gefahren durch wildfremdes Gebiet geirrt und hatte sich unendlich einsam gefühlt. Nun war er in Sicherheit; er konnte sich entspannen und sich, geschützt vor Esaus Rache, bei seiner Familie geborgen fühlen. Und da seine seherischen Fähigkeiten ihm noch nicht offenbart hatten, welch ein Schuft sein Onkel Laban war, erlaubte sich Jakob, loszulassen. Die Zeit des Herumwanderns war vorbei, und am Horizont erstrahlte der Stern seiner ersten Liebe.

Jakobs Tränen verfehlten nicht ihre Wirkung auf Rahel. Binnen kürzester Zeit spürte die junge Schäferin aus Heran, daß ihr Leben nun eine neue Wendung nehmen [20] würde. Ein Fremder war aus einem fernen Land gekommen, hatte sie mit seiner Körperkraft und seinem Wagemut beeindruckt, ihr die Arbeit abgenommen und sie geküßt. Nun sah sie, daß er auch ein weiches und empfindsames Herz hatte.

Aus diesem Schäferstündchen am Brunnen zogen Jakob und Rahel die nötige Kraft, um die harten Prüfungen zu bestehen, die sie in den kommenden Jahren noch erwarteten.

Den zweiten Kuß des Tages bekam Jakob von Laban, dem Bruder seiner Mutter und dem Vater Rahels. Es war seine erste Begegnung mit dem Mann, der ihm die nächsten zwanzig Jahre lang das Leben schwermachen würde. Den Kommentaren zufolge hatte Jakob ja vorausgesehen, daß Rahel nicht neben ihm begraben würde. Welch ein Jammer, daß es ihm nicht vergönnt war vorauszusehen, wie Laban ihn hinters Licht führen würde. Dabei war Labans Methode derjenigen, die Jakob unlängst an seinem blinden Vater im fernen Kanaan praktiziert hatte, gar nicht unähnlich.

Jakob weilte bei seinem Onkel zu Gast und arbeitete bei ihm. Nach einem Monat wollte Laban wissen: »Sag mir, was dein Lohn sein soll.« Genesis 29,15 Um das Salär wurde nicht lange gefeilscht – ein Fehler, der Jakob teuer zu stehen kam. »Ich werde dir sieben Jahre um Rahel, deine jüngere Tochter, dienen«, Genesis 29,18 antwortete er Laban. So lieferte sich Jakob eigenhändig seinem herzlosen Onkel ans Messer. Dieser ungehobelte, verachtungswürdige Mann erfaßte sofort, wie sehr Jakob seine Tochter liebte und wie viel er bereit wäre, um ihretwillen zu opfern. Just in jenem [21] Augenblick wurde in seinem Kopf die List geboren, die er nach Ablauf der sieben Jahre in die Tat umsetzte.

Liebe macht blind, wie es so schön heißt, doch die Liebe gab Jakob auch die Kraft, sich für die junge Rahel zu verdingen. Sieben körperlich und seelisch qualvolle Jahre rackerte er sich für seine Herzallerliebste ab. Zwanzig Jahre später, als Jakob vor Laban floh, schleuderte er seinem Onkel die Wut über seine Sklaverei ins Gesicht: »War es Tag, verzehrte mich die Hitze, und bei Nacht der Frost, und der Schlaf floh meine Augen.« Genesis 31,40

Dennoch sagt die Bibel: »Und Jakob diente sieben Jahre um Rahel, und sie waren in seinen Augen wie einige Tage, weil er sie liebte.« Genesis 29,20 Jedesmal, wenn ich diesen Vers lese, verkrampft sich mir das Herz vor Neid. Neid auf den, der die Geschichte geschrieben und diesen schönsten aller Sätze formuliert hat. Und Neid auf Jakob, dem eine so große Liebe begegnete und der es verstand, sich ihr zu widmen und sie zu seinem Lebensinhalt zu machen.

Zwar mögen Jakob diese Jahre »wie einige Tage« Genesis 31,20 vorgekommen sein; als er jedoch viele Jahre später zu Laban sagt: »[…] der Schlaf floh meine Augen«, Genesis 29,40 öffnet er uns einen Spaltbreit die Tür zu seiner Seele und gibt den Blick frei auf die abgrundtiefen Qualen, die er durchlitten hat. Dies waren schlimme, harte Jahre für Jakob gewesen. Allein seine Liebe hatte ihn am Leben erhalten und ihm Kraft gegeben. Jakob war in jeder erdenklichen Hinsicht ein Sklave im Hause Labans – der Sklave eines eiskaltberechnenden Mannes, der zwei Dinge haargenau wußte: erstens, daß sein Opfer aus Angst vor Esaus Rache nicht [22] nach Hause zurückkehren konnte, und zweitens, wie sehr dessen Herz an seiner jüngeren Tochter Rahel hing.

Doch Jakob war vor allem ein Sklave der Liebe. Das Leben im Lande Haran vor viertausend Jahren hatte mit dem heutigen Leben in einem Studentenwohnheim wenig gemeinsam. Jakob mochte wohl hier und da einen Blick auf sein Herzblatt ergattern, wenn er gerade von der Weide zurückkehrte. Doch hatte er kaum Gelegenheit, mit ihr allein zu sein oder gar ein intimes Stelldichein zu organisieren. Die Heilige Schrift widmet diesen sieben Jahren nur einen einzigen Vers. Jakobs Sehnsucht, sein Herz, von dem er meinte, es müßte ihm zerspringen, seine Einsamkeit, die ihn zur Verzweiflung trieb – das alles müssen, sollen oder dürfen wir uns bei der Lektüre selbst ausmalen.

Mühelos lassen sich im gesamten Bibeltext Parallelen zum Hier und Heute finden. Die Vielfalt politischer und militärischer Persönlichkeiten, die zahlreichen religiösen und kriegerischen Intermezzi, das Anbringen treffender Verse in einer Unterhaltung und nicht zuletzt Quellenvergleiche bereiten jedem Vergnügen, der die Bibel gerne durch die Brille eines zeitgenössischen politischen Bewußtseins liest. Hätte Josua, der Sohn des Nun, eine halbe Tonne Dynamit gehabt, hätte König Ahab eine moderne Panzerdivision befehligt, hätte man unter König Salomo demokratische Wahlen abgehalten – alles hätte sich in der Bibel ganz anders zugetragen. Nur ein sich vor Liebe und Sehnsucht verzehrendes Herz wie das des Jakob schlägt heute noch genauso verzweifelt wie damals am Brunnen im Land der Söhne des Ostens.

[23] Doch selbst der schwer geprüfte, geduldige Jakob hätte sich nicht träumen lassen, daß sein Hochzeitstag, der allen Qualen ein Ende setzen sollte, zum Gipfel der Prüfungen und Opfer werden würde, die er im Namen seiner Liebe auf sich genommen hatte.

Sein ganzes Leben lang konnte Jakob nicht den Morgen vergessen, an dem er aufwachte und sich seine junge Braut besah – »[…] siehe, da war es Lea«. Genesis 29,25 In solchen Augenblicken dringen Erkenntnis und Verständnis anscheinend nur sehr langsam bis zum Bewußtsein vor. Zunächst begriff Jakob lediglich, daß er einer furchtbaren List zum Opfer gefallen war. Später, überwältigt von Gefühlen der Scham und des Ekels, stiegen in seinem schmerzenden Kopf Bilder aus der Hochzeitsnacht hoch: wie er in der blickdichten Dunkelheit den warmen, heiß ersehnten Körper in die Arme geschlossen hatte, wie sein geflüstertes »Rahel, Rahel« die falschen Ohren erreicht hatte, und wie er zu Lea gekommen war – mit der ganzen Intensität seiner Liebe und seines Verlangens, die er sieben volle Jahre für Rahel aufgespart hatte.

Erst da wurde Jakob klar, welch abgrundtiefes Unglück die beiden Schwestern erlitten haben mußten: Die eine lag in seinem Bett und hatte sich die ganze Nacht lang seine Liebes- und Zärtlichkeitsbekundungen angehört und genau gewußt, daß sie nicht ihr galten. Die andere hatte bis zum Morgengrauen still in einem anderen Zelt wach gelegen und versucht, sich vorzustellen, was auf der Lagerstatt des frischgebackenen Paares vor sich ging. Solch eine Verstrickung ist wie geschaffen, um von großen Künstlern bearbeitet zu werden. Uns [24] hingegen bleibt lediglich der Versuch, die Intensität der Gefühle, die Wellen der Lust und des Schmerzes zu erahnen, die unter dem Himmel von Haran durch die Nacht wogten.

Der einzige, der in jener Nacht paradiesisch schlief, rundum satt und unbekümmert, war der Syrer Laban. Seine Träume müssen von einer vollkommenen Selbstzufriedenheit erfüllt gewesen sein. Seine List hatte funktioniert, und es war nicht einmal schwierig gewesen. Daß es für die Beteiligten die Hölle auf Erden war, ließ ihn kalt. Rahel gegen Lea auszutauschen war eine Untat, die nur aus einer niederträchtigen Grundhaltung wie der Labans geboren werden konnte. Allein jemand wie er war fähig, die Gefühle anderer derart zu verletzen, und das zu dem ausschließlichen Zweck, sich für weitere sieben Jahre einen kostenlosen Arbeiter zu sichern. Laban handelte weder aus Rachsucht noch aus Sadismus oder Feindschaft, sondern allein aus der gnadenlosen Habgier eines nimmersatten Großgrundbesitzers. – Wer sich vom ungezügelten Stil meiner letzten Zeilen vor den Kopf gestoßen fühlt, dem kann ich nur sagen: Ich hasse Laban aus tiefstem Herzen, obwohl ich nicht die ›Ehre‹ hatte, ihn persönlich kennenzulernen. Genau darin aber liegt die Größe und Stärke der Bibel: uns dazu zu bringen, ihren Protagonisten gegenüber derart starke persönliche Gefühle zu entwickeln.

Jakob war allerdings auch kein Unschuldsengel. Man wird das Gefühl nicht los, daß die Hochzeitsnacht eine direkte Strafe für den Betrug war, den er, angestiftet von seiner Frau Mama und gemeinschaftlich mit ihr [25] handelnd, an seinem Vater und seinem Bruder verübt hatte. Rebekka hatte seine glatten Arme in Ziegenhaut gehüllt, damit der blinde Isaak ihn für den behaarten Esau halten würde. Isaak bemerkte bei sich: »Die Stimme ist Jakobs Stimme, doch die Hände sind Esaus Hände.« Genesis 27,22 Trotz seiner Verwunderung tappte er jedoch in die Falle und gab dem jungen Schwindler seinen Segen. Auch das war eine schlimme Tat, und sowohl für Esau als auch für Isaak ein schwerer Schlag. Der Segen eines Vaters war in jenen Tagen nichts, was man auf die leichte Schulter nahm. Als der Betrug aufflog, reagierten sie um einiges schärfer als Jakob, nachdem er Lea in seinem Bett entdeckt hatte. Isaak »fuhr in großem Schreck zusammen«, und Esau tat »einen lauten und überaus bitteren Schrei«. Genesis 27,33–34

Sowohl Rebekka als auch Laban setzten auf die Sehschwäche ihrer Opfer: Isaaks Augen waren vom Alter trübe, Jakob tappte im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln – eine kaum zu übersehende Ähnlichkeit in der Methode. Schließlich waren Rebekka und Laban verwandt, und hinsichtlich ihrer betrügerischen Art sowie des niederen moralischen Niveaus standen sie einander in nichts nach.

Labans Einschätzung, Jakob würde als Gegenleistung für Rahel weitere sieben Jahre dienen, erwies sich als richtig. Verheiratet mit zwei Schwestern und traumatisiert von seiner Hochzeitsnacht, stand Jakob nun vor der langen Prüfung seiner Liebe zu Rahel. Bislang hatte diese Liebe der harten Zerreißprobe von Aufopferung und Erwartung standgehalten. Nun aber mußte sie der banalen Prüfung namens Eheleben standhalten, das durch Jakobs [26] komplexe Beziehungen innerhalb seiner eigenen Familie zusätzlich belastet wurde.

Die biblische Darstellung der ersten Phase des Ehelebens präsentiert uns eine fruchtbare und gehaßte Lea und eine unfruchtbare und geliebte Rahel. Auf dieser Grundlage nimmt das vielschichtige Unglück dieser problematischen Familie seinen Lauf. Jakob machte nie einen Hehl daraus, daß er Rahel eindeutig bevorzugte: »[…] und er liebte auch Rahel, mehr als Lea«, Genesis 29,30 so der Verfasser des Buches Genesis.

Und ebenso eindeutig steht geschrieben: »Und der Ewige sah, daß Lea gehaßt wurde, da öffnete er ihren Schoß; Rahel aber war unfruchtbar.« Genesis 29,31 Der herzzerreißende Kummer Leas – ebenfalls ein Opfer der Schliche ihres Vaters – findet seinen schmerzlichen Ausdruck in den Namen der Söhne, die sie Jakob, einen nach dem anderen, gebiert: »Und Lea wurde schwanger und gebar einen Sohn, da nannte sie ihn Ruben, denn sie sprach: ›Der Ewige hat auf mein Elend gesehen, nun wird mein Mann mich lieben.‹ Und Lea wurde wieder schwanger und gebar einen Sohn, und sie sagte: ›Da der Ewige gehört hat, daß ich gehaßt werde, daher hat er mir auch diesen gegeben.‹ Genesis 27,32–35 Und sie nannte ihn Simeon. Und sie wurde wieder schwanger und gebar einen Sohn und sagte: ›Diesmal wird sich mein Mann mir anschließen, denn ich habe ihm drei Söhne geboren‹; daher nannte man ihn Levi.«3

Die Namen der Söhne waren Leas Wehgeschrei. Ob sie Jakob bereits vor ihrer Ehe geliebt hat, wissen wir nicht; jetzt aber, da sie von ihm gehaßt wird, ist sie offensichtlich wild entschlossen, seine Zuneigung zu gewinnen. [27] Ihre Waffe: Fruchtbarkeit. Mögen wir diese Taktik auch als anstößig empfinden – die Zukunft zeigte, daß sie mit ihren Überlegungen richtig lag.

Zur selben Zeit genoß Rahel noch immer den Status der geliebten Ehefrau. Es dürfte jedem klar sein, daß Jakob fast seine gesamte Freizeit mit ihr verbrachte, und wer würde ihm das verübeln? Während er seine Ehe mit Lea als Zwangssituation erachtete, hatte er mit seiner Liebe für Rahel nie hinter dem Berg gehalten. Trotz alledem war Jakob aber auch Familienvater, und seine vier kleinen Söhne Ruben, Simeon, Levi und Juda erfüllten sein Herz mit glühender Liebe. Im Laufe der Zeit schwappte von diesen Gefühlen auch etwas auf ihre Mutter Lea über. Und so entwickelte sich zwischen den beiden Schwestern eine gegenseitige Eifersucht: Lea beneidete Rahel um Jakobs Liebe, und Rahel beneidete Lea um ihre Mutterschaft. Diese spannungsgeladene Situation erschütterte zunehmend die innerfamiliären Beziehungen, die ja von Anfang an auf wackligen Beinen gestanden hatten. Langsam, aber sicher verliert Rahel gegenüber Lea an Boden. Jakob ist nicht mehr der junge Schäfer, der, krank vor Liebe, sieben Jahre um Rahel gedient hat. Er ist jetzt Vater, Ehemann und Züchter einer großen Schafherde, die verbitterte, unfruchtbare Rahel nur noch ein schwacher Abglanz des schönen jungen Mädchens am Brunnen im Land der Söhne des Ostens. Die Geschichte erreicht einen Höhepunkt – der erste große Streit ist im Anzug.

Der Streit bricht aus, als Rahel von Jakob fordert: »Schaffe mir Kinder, wenn nicht, sterbe ich!« Genesis 30,1 Dieser Forderung waren mit großer Wahrscheinlichkeit Streit und [28] Sticheleien zwischen den beiden Schwestern vorangegangen – Szenen, die Jakob kaum gefallen haben dürften. Rahels Ausbruch klingt verzweifelt, hysterisch; vielleicht entfachte dieser Ton Jakobs Zorn, denn seine grobe Antwort lautet: »Bin ich anstelle Gottes, der dir die Leibesfrucht verwehrt hat?« Genesis 30,2 An dieser Stelle sei an ein anderes, zur Unfruchtbarkeit verdammtes biblisches Paar erinnert, Hanna und Elkana, die Eltern des Propheten Samuel. Gleich im ersten Kapitel des Ersten Buches Samuel ist eine geliebte, aber unfruchtbare Ehefrau mit einer fruchtbaren Rivalin konfrontiert. Auch in dieser Geschichte reagiert die unfruchtbare Frau übersensibel und entnervt. Wenngleich ich meine Zweifel habe, ob Elkana fähig gewesen wäre, für Hanna sieben Jahre seines Lebens hinzugeben, so zeigt er sich doch wenigstens als liebe- und verständnisvoller Ehemann: »Hanna, warum weinst du? Und warum ißt du nicht? Und warum ist dein Herz betrübt? Ich bin dir doch besser als zehn Söhne«, Samuel I 1,8 sagt er zu Hanna. Zugegeben, keine besonders intelligente Feststellung, doch sie zeugt von Wärme und Verständnis. Solch einer Empathiebekundung war Jakob offensichtlich nicht fähig.

Das 30. Kapitel des Buches Genesis ist eine ausgiebige Feier der Fruchtbarkeit: Wir sehen Leidenschaft, Brunft, den Genuß von Mandragora-Früchten, Kopulationen, Kreuzungen, Befruchtungen, Empfängnis, Schwangerschaft und Trächtigkeit – und am Ende haufenweise Lämmer und Babys. Mensch und Tier erfüllen das Gebot aus Genesis 1, »Bringt Frucht hervor und mehrt euch […]«. Genesis 1,28 In seinem Buch Joseph und seine Brüder bezeichnet Thomas [29] Mann, ein kluger Schriftsteller, die Ereignisse dieses Kapitels mit dem treffenden Ausdruck »ein stiller Greuel«. Während Jakob draußen auf der Weide mit großem Erfolg seine Schafe kreuzt und die Herde vermehrt, gesellen sich in seinem Haus auch die Dienstmägde Bilha und Silpa zum Kreis der Gebärenden. Es hat ganz den Anschein, als würde alles, was Jakob anblickt, schwanger – mit Ausnahme von Rahel. Der Streit um die Mandragora, der zwischen Rahel und Lea entbrennt, symbolisiert die Erschütterung von Rahels Vormachtstellung als geliebte und bevorzugte Ehefrau im Hause Jakobs.

Und da geschieht das Wunder. Nach sechs Söhnen und einer Tochter, die Lea geboren hat, und nach vier Söhnen, die die Dienstmägde in die Welt setzten, öffnet sich auch Rahels Schoß, und sie gebiert Joseph.

»Hinweggenommen hat der Ewige meine Schmach!« Genesis 30,23 sagt die Frau, deren Ehemann sich vierzehn Jahre für sie hat versklaven lassen. Dieser Vers zeugt von der Tragödie, die die Liebe Jakobs zu Rahel heimgesucht hat. Es sind die Normen jener Zeit (und sie geistern bis zum heutigen Tag durch die Gesellschaft!) – Normen, die die Frau zu einer Gebärmaschine reduzieren und Söhne zum Maßstab für Männlichkeit machen –, die die Beziehung zwischen den beiden entstellten und letztendlich zerstörten. Von dem anfänglichen Liebesfeuerwerk aus unerschöpflicher Opferbereitschaft und unübertroffener Selbstlosigkeit blieb am Ende nichts weiter übrig als abgeschmackte Kalkulationen in punkto Herdenbuchhaltung. Als ginge es um einen ›Liebespfennig‹ von der Rentenversicherungsanstalt für Romantikpensionäre.

[30] Unser Stammvater Abraham hatte zwei Söhne, ebenso sein Sohn Isaak. Nur in Jakobs Familie wurde die Fruchtbarkeit in Haus und Stall zur höchsten Tugend erhoben. Nach der offiziellen Geburtenchronik in Genesis 46 folgten Jakobs Söhne dem Beispiel ihres Vaters und setzten ebenfalls mehr Kinder in die Welt als Abraham und Isaak – allerdings ohne den Rekord ihres Vaters zu brechen. Das erste Opfer des Unternehmens ›Warme Wiege‹ war Rahel. Sie opferte nicht nur ihr Glück und ihre Position, sondern letztlich auch ihr Leben.

Bei seiner Rückkehr ins Land Kanaan verabredet sich Jakob mit seinem Bruder Esau. Es ist ein Treffen, vor dem er sich fürchtet und auf das er sich und seine Familie entsprechend vorbereitet. Was diese Begebenheit für uns interessant macht, ist Jakobs Sorge um Rahel. In dieser Krise gilt ihr wieder sein Hauptaugenmerk – vielleicht, weil sie ihm in der Zwischenzeit einen Sohn geboren hat. Jakob ordnet sein Lager für die bevorstehende Begegnung mit seinem Bruder. Die Dienstmägde und deren Kinder sind an der Spitze des Zugs, dann folgt Lea mit ihren Söhnen. Rahel und Joseph bilden das Schlußlicht: maximale Sicherheit für den Fall der Fälle. Für Rahel muß es wunderbar gewesen sein, wieder der aufgehende Stern am Himmel ihres Mannes zu sein. Überzeugt, daß Joseph der Grund für ihre wiedergewonnene Beliebtheit ist, bemüht sie sich – entsprechend ihren Worten bei der ersten Geburt: »Möge mir der Ewige einen weiteren Sohn hinzufügen«4Genesis 30,24 – um eine weitere Schwangerschaft.

Und tatsächlich, nach dem unerwartet glücklichen Wiedersehen zwischen Jakob und Esau trägt Rahel ein [31] Kind unter dem Herzen. Nun reist die gesamte Familie von Beth-El nach Süden, der Katastrophe entgegen, die sie unterwegs ereilt. »Und es war noch eine Strecke Landes, um nach Ephrat zu kommen«, erzählt die Bibel, »und Rahel gebar; sie hatte es schwer mit ihrer Geburt. Und es war, als sie es schwer hatte mit ihrer Geburt, da sprach die Geburtshelferin zu ihr: ›Fürchte nicht, denn auch dieser wird dir ein Sohn.‹« Genesis 35,16–17 Diese Worte der Geburtshelferin lehren uns, daß Rahel nur einen Gedanken hatte, selbst als sie sterbend auf dem Geburtssessel lag: ihrem geliebten Jakob einen weiteren Sohn zu schenken. Nicht ihr eigenes Leben stand ihr vor Augen, sondern ihre Pflicht als Ehefrau, der Zwang zu gebären – eine Pflicht, für die sie ihr Leben opferte. Rahels aberwitziges Begehren, durch einen weiteren Sohn Jakobs Herz zu gewinnen, erweckt so widersprüchliche Gefühle wie Schmerz und Mitleid, Zorn und Bewunderung für diese Frau, deren Lebensgeschichte ganz anders hätte verlaufen können. Hätte sie einen anderen Vater und eine andere Schwester gehabt, oder zu einer anderen Zeit gelebt, sie hätte ein Leben voller Liebe und Hingabe für den jungen Mann, der sie am Brunnen geküßt hatte, führen können. Doch es hat nicht sollen sein. Rahel mußte einen sehr hohen Preis zahlen – den höchsten –, und wir können von hier und heute aus nichts mehr für sie tun.

Über Jakobs Reaktion auf Rahels Tod schweigt die Bibel sich aus. Er begräbt sie einfach und zieht weiter seines Weges. Doch aus seiner großen Liebe für Joseph und Benjamin können wir später seine Empfindungen für sie ableiten. Seine älteren Söhne machen ihm nichts als eine [32] Menge Ärger, und er widmet all seine Gefühle den Söhnen Rahels. Er ist schon ein alter Mann, dem nur eine angenehme Erinnerung geblieben ist: die Reminiszenzen an seine Jugendliebe. Der Stein auf dem Brunnenrand, jener erste Kuß, die sieben Jahre, die folgten. Jetzt, an seinem Lebensabend, bei seinen hartherzigen Söhnen, Lea und den beiden Dienstmägden, fehlt ihm das Objekt seiner tiefsten Sehnsucht – die einzige, die große Liebe, von der alle träumen und die kaum einer das Glück hat zu finden.

Viele, viele Jahre nach dem Tod der biblischen Rahel schrieb die hebräische Dichterin Rahel, die wie ihre Namensschwester ihren Herzallerliebsten mit einer anderen Frau teilen mußte: »Ja, ihr Blut strömt in meinem Blut, ja, ihre Stimme raunt in mir.« Und ihrem Geliebten schrieb sie ein Trauriges Gedicht: »Ich werde warten auf dich, bis mein Leben erlischt, wie Rahel wartete auf ihren Geliebten.« Diese empfindsame und weise Frau und Dichterin begriff, was viele Generationen von Exegeten nicht begriffen hatten: Jakob wartete sieben Jahre auf Rahel. Sie aber wartete auf ihn, bis ihr Leben erloschen war.

Noch ein letztes Mal erwähnte Jakob seine verstorbene Jugendliebe – in Ägypten, als er seine beiden Enkelsöhne segnete, Ephraim und Manasse, die Söhne Josephs.

Tatterig und schwach setzte sich der alte Jakob in seinem Bett auf und machte sich daran, seinen Enkeln den Segen zu erteilen. Da wurde er – urplötzlich und ohne erkennbaren Zusammenhang mit dem feierlichen Ereignis und dessen Inhalt – von seinen Gefühlen und der Sehnsucht nach Rahel, deren Sohn und Enkelsöhne da vor ihm standen, übermannt. Ein Schrei entfuhr seinem [33] Mund: »Und ich, als ich aus dem Gefilde [Syriens] kam, starb mir Rahel im Land Kanaan, auf dem Weg, als es noch eine Strecke Landes war, um nach Ephrat zu kommen. Und ich begrub sie dort, auf dem Weg nach Ephrat, das ist Bethlehem.« Genesis 48,7 Die Enkelkinder müssen ordentlich gestutzt haben, denn Jakob kriegte sich sofort wieder ein. Schließlich erwarteten die beiden Kinder vor ihm, daß ihr Großvater seinen Segen zu Ende führte. »Wer sind diese?« Genesis 48,7 fragt er Joseph verwirrt, wie das bei alten Leuten häufig vorkommt. Ephraim und Manasse waren vermutlich überzeugt, ihr alter Opa sei nun völlig übergeschnappt. Als in Ägypten geborene Kinder einer ägyptischen Mutter kannten sie die Geschichte ihrer Familie mit allen Irrungen und Wirrungen höchstens aus Erzählungen. Sie hatten keine Ahnung, daß sie gerade miterlebt hatten, wie Jakob ein letztes Mal nach seiner heißgeliebten Rahel rief – ihrer eigenen Großmutter, die längst verstorben war.

Danach segnete Jakob seine Enkel und Söhne und bat sie schließlich, ihn in der Höhle Machpela (›Höhle des Talgrunds‹) zu begraben. »Dort hat man Abraham und seine Frau Sara begraben«, sagte er, »dort hat man Isaak und seine Frau Rebekka begraben, und dort habe ich Lea begraben.« Genesis 49,31

Es sieht ganz so aus, als seien wir nun Zeugen von Leas endgültigem Sieg über Rahel geworden. Ihr war es nämlich beschieden, neben Jakob in die berühmte nationale Begräbnisstätte einzuziehen. Als Bibelfan ist es mir allemal lieber, Rahel an der Kreuzung zweier Landstraßen begraben zu wissen als in Gesellschaft der zänkischen [34] Sara und der betrügerischen Rebekka. Für Jakob dürften diese Überlegungen allerdings kaum von Belang gewesen sein. Warum wollte Jakob lieber neben Lea als neben Rahel in der Erde ruhen? Wollte der Verfasser dieses Textes ihm etwa national-historische Überlegungen zuschreiben? Oder hatte Jakob etwa jetzt, am Ende seines Lebens, begriffen, daß seine Sehnsucht und die Liebe zu Rahel immer gerade dann am größten waren, wenn sie nicht zueinander kommen konnten? So war es zu Anfang, in den berühmten sieben Jahren, und so war es am Ende noch einmal – von Rahels Todestag an bis zu Jakobs eigenem Lebensende.

[35] Mafia-Methoden in Karmel

Die Geschichte von David

»Als David hörte, daß Nabal5 gestorben war, sagte er: ›Gepriesen sei der Ewige, der den Streit meiner Beschimpfung geführt hat gegen Nabal und seinen Knecht zurückgehalten hat vom Bösen; Nabals Schlechtigkeit aber hat der Ewige auf sein Haupt zurückfallen lassen.‹«

Samuel I 25,39

Es waren einmal ein charismatischer Bandenführer, eine schöne und kluge Frau und ihr reicher und hitzköpfiger Mann. Die Sache begann mit der Erpressung von Schutzgeld und endete mit Mord. Die Geschichte ist immer dieselbe – Geld, Gewalt und Liebe –, doch der Schauplatz war nicht Chicago, sondern die Kleinstadt Ha-Karmel in den Hügeln von Hebron vor dreitausend Jahren.

Der charmante Bandit war ein politischer Emporkömmling namens David, Sohn des Isai, der sich mit König Saul, dem damaligen Regenten, überworfen hatte. Dieser David sammelte sich eine Gang von Hunderten von Männern zusammen; dazu gehörten Verwandte und »jeder, der bedrängt, und jeder, der verschuldet, und jeder, der verbittert war« Samuel I 22,2 – kurz, eine ganz üble Gesellschaft. Zunächst lungerten sie im Grenzland der Philister und im [36] Landstrich Adullam herum, später ließen sie sich in der Wüste Judäa südlich von Hebron nieder. Dies war ein schwieriges und wildes Gelände, ein ideales Schlupfloch für Banditen und Revoluzzer. Für David hatte die Gegend einen weiteren Vorzug: Hier war er um die Ecke von zu Hause, in der Nähe von Bethlehem, wo sein Vater Isai wohnte.

Auch ohne maoistische Vorkenntnisse war David schlau genug, um zu begreifen, daß ein König nur mit Hilfe des kleinen Mannes gestürzt werden konnte. Aber genau daran haperte es – leider –, obwohl doch so viel für ihn sprach: der strahlende Sieg über den Riesen Goliath, die Nähe zum Königshaus (er war mit Sauls Tochter Michal verheiratet), die Errettung der Stadt Kegila aus der Hand der Philister. Ein Song von seinen Heldentaten, »Drein schlug Saul mit seinen Tausenden, David mit seinen Zehntausenden« Samuel I 8,7; 21,12; 29,5 war sogar Spitzenreiter der damaligen Charts. Doch all dies schien ihm nichts zu nützen. Zweimal versuchte die Bevölkerung, ihn an König Saul auszuliefern – erst die undankbaren Einwohner von Kegila, dann die Siphiter. Mit anderen Worten: David wollte hoch hinaus, aber seine Aktien standen nicht hoch im Kurs. Da er kein geregeltes Einkommen hatte, mußte er andere Mittel finden, um seine Anhängerschar zu finanzieren. Robin Hood zu spielen war nicht seine Sache, und so kam er auf die Idee, sich in der Schutzgeldbranche einen Namen zu machen. Und damit wären wir schon mitten in der Geschichte um Nabal, die viele Züge des modernen Verbrechens trägt. Darüber hinaus zeigt sie die vielschichtige Persönlichkeit des Schöngeistes David einmal in einem anderen Licht.

[37] »Und es gab einen Mann in Maon, und seine Tätigkeit war in Karmel. Und der Mann war sehr reich; er hatte dreitausend Schafe und eintausend Ziegen. Und es war zur Schur seiner Schafe in Karmel. Der Name des Mannes war Nabal, und der Name seiner Frau Abigail; sie war von gutem Verstand und schönem Aussehen, aber der Mann war hart und böse in seinem Tun. Und er war ein Kalebiter.« Samuel I 25,2–3 Während der Schur in Karmel verdienten sich die Schafzüchter eine goldene Nase und hatten entsprechend viel zu feiern. Für ein Verbrechen der ideale Schauplatz. Aber das war noch nicht alles. Nabal war, wie gesagt, ein Kalebiter – ein Nachfahre des berühmten Kaleb, Sohn des Jephune, Fürst des Stammes Juda und einer der zwölf Männer, die Mose zum Spionieren nach Kanaan eingeschleust hatte. Ein alteingesessener Adliger also, den der wachsende Ruhm des jungen Umstürzlers aus Bethlehem ausgesprochen kalt ließ.

Zu Beginn der Schur schickte David zehn seiner Leute mit einer einfachen Botschaft zu Nabal: »[…] Friede dir und Friede deinem Haus, Friede allem, was dir gehört. Und nun habe ich vernommen, daß bei dir geschoren wird. Soeben waren deine Hirten bei uns, nichts haben wir ihnen zuleide getan, und nichts hat ihnen gefehlt, all die Tage, die sie in Karmel waren. Frage deine Burschen, sie werden dir berichten, und mögen die Burschen Gunst finden in deinen Augen, denn zu einem Festtag sind wir gekommen, gib ihnen doch, was deine Hand findet, deinen Knechten und deinem Sohn David.« Samuel I 25,6–8 Wie gesagt, eine einfache Botschaft, die jedem Barkeeper in Brooklyn, jedem Schafzüchter in Sizilien und jedem [38] Nachtclubbesitzer überall auf der Welt wohlvertraut ist. Eine glasklare Drohung, verpackt in gewählte Worte von ausgesuchter Höflichkeit: »[…] nichts haben wir ihnen zuleide getan« (soll heißen: obwohl wir das problemlos hätten tun können) und: »[…] nun habe ich vernommen, daß bei dir geschoren wird […] zu einem Festtag sind wir gekommen« (soll heißen: ein paar Prozent Beteiligung am Gewinn, und deine Party bleibt ein Erfolg). Die Burschen überbrachten Nabal also die Nachricht von ihrem Boss »und warteten«. Samuel I 25,9 Zeit hatten sie ja zur Genüge.

Wem diese Cosa-nostra-Interpretation zu sehr an die Nieren geht, kann sich bei der Lektüre von Raschi, dem berühmten französischen Bibelexegeten aus dem elften Jahrhundert, erholen. Seiner Auffassung nach waren Davids Männer arme, brave Burschen, die an Rosch ha-Schana bei Nabal vorbeikamen wie Sternsinger an Weihnachten beim Junker, um ein Almosen für ihr bescheidenes Festmahl zu erbitten. Die Fortsetzung der Geschichte mag eine solche Interpretation nahelegen; dennoch würde ich die Sache eher als Vorspiel zu Jom Kippur6 deuten. Doch von dieser unterschiedlichen Auffassung einmal abgesehen, läßt Raschis Wissen über Schafzucht einiges zu wünschen übrig: Ein Züchter, der seine Schafe um Rosch ha-Schana, also im Herbst, scheren läßt, verdient kein Mitleid, wenn die Herde sich eine kollektive Lungenentzündung zuzieht und bis zum Winter krepiert ist.

Anscheinend hatte Nabal die Botschaft nicht verstanden. Er begriff nicht, daß dies ein Angebot war, das er nicht ausschlagen durfte. Man fragt sich, ob er den [39] Namen ›Schuft‹ tatsächlich verdient hat; sicherlich kommen in der Geschichte größere Schufte vor. Doch selbst wenn er seinem Namen nicht genügend Ehre machte, so war er doch ein phantasieloser Tor, als er die Bitte mit dieser herablassenden Antwort abschlug: »Wer ist David, und wer der Sohn des Isai? Heutzutage gibt es viele Knechte, die ausreißen, jeder von seinem Herrn. Und ich soll mein Brot und mein Wasser und mein Fleisch nehmen, das ich für meine Scherer geschlachtet habe, und es Männern geben, von denen ich nicht weiß, woher sie sind?!« Samuel I 25,10–11

Das war eine dreifache Beleidigung. Er bezeichnete David als Knecht, der vor seinem Herrn Reißaus genommen hatte – eine Anspielung auf dessen Flucht vor König Saul. Und er verspottete seine Familie und Abstammung. Am allerschlimmsten aber war, daß er so tat, als habe er nie etwas von David oder seinen Heldentaten vernommen. Kurz, es war, als hätte er gesagt: »David? Nie gehört!«

Die Gang blieb cool und erstattete ihrem Boss Bericht. Nabal hatte einen großen Fehler gemacht, und nun blieb David praktisch nichts anderes übrig, als zu einem verheerenden Schlag auszuholen. Er war schließlich nicht irgendein Provinzkaliber, sondern ein hochangesehener Revoluzzer; außerdem war er von dem kürzlich verstorbenen Hohepriester Samuel gesalbt worden und galt somit als legitimierter Anwärter auf die Krone. Seine Glaubwürdigkeit als Führungspersönlichkeit stand auf dem Spiel.

Mit vierhundert Mann im Schlepptau zog David los – für damalige Verhältnisse ein großes Heer –, um Nabal [40] (und jedem weiteren Lernwilligen) eine Lektion zu erteilen. Nabal wußte es noch nicht, aber er saß tief in der Tinte. Die einzige, die es bereits wußte, war Nabals hübsche Frau »von gutem Verstand«, Samuel I 25,3