Der Sündenfresser: Shikhu - Loki Feilon - E-Book

Der Sündenfresser: Shikhu E-Book

Loki Feilon

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Beschreibung

Skelesh - Die neue Welt. Geboren aus der Asche des großen Krieges, erbaut auf den Trümmern ausgelöschter Zivilisationen. Als Auftragsmörder hat Kain seine Berufung gefunden, doch der Preis dafür ist Einsamkeit –bis er eines Tages auf einen seltsamen Bibliothekar trifft. Kains Leben stürzt unwiederbringlich ins Chaos. Alte, blutige Erinnerungen treiben ihn immer tiefer in den Wahnsinn und fördern eine längst vergessene Prophezeiung zu Tage, die den Untergang der neuen Welt bedeuten könnte. Kain beschließt, endlich nach dem Grund seiner rätselhaften Existenz zu suchen, doch ein mysteriöser Kult, Verrat und blutleere Leichen verwandeln seine Reise in ein tödliches Unterfangen.

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HYBRID VERLAG

Ebook-Ausgabe

11/2019

 

 

 

 

 

 

 

 

© by Loki Feilon

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat: Paul Lung

Korrektorat und Buchsatz: Petra Schütze

Autorenfoto: privat

Illustration ›Kain‹ © by Freya Petersen

Karte Skelesh © by Loki Feilon

 

 

Coverbild ›Wonders Macht‹

© by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Shevon‹

© by Andrea Gunschera; magi digitalis|media production

 

 

ISBN 978-3-96741-017-4

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

 

Loki Feilon

 

 

Der Sündenfresser

 

 

Shikhu

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dark Fantasy

Inhaltsverzeichnis

[Der Sün|den|fres|ser]

[Pro|log]

[Re|gen]

[Rei|se]

[Geist]

[Zeit]

[Schau|spiel]

[Schwarz]

[The|a|ter]

[Sucht]

[Spie|gel]

[Band]

[Jagd]

[Schran|ke]

[Süh|ne]

[Ta|lent]

[Frag|ment]

[Sün|de]

[Ge|fühl]

[Phö|nix]

[Ver|än|de|rung]

[Schwe|be]

[Wahr|heit]

[Sün|den|fall]

[Bo|den]

[Flie|gen]

[Grup|pe]

[Per|fek|tion]

[Kon|trol|le]

[Zu|kunft]

Loki Feilon

Danke!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Kain.

 

 

 

[Der Sün|den|fres|ser]

Substantiv. Maskulin.

Keine bekannte Definition.

 

 

Wir haben gewonnen.

Und doch hat der Sieg uns alles gekostet.

 

Unsere Städte liegen in Trümmern. Dreitausend Jahre voll technischer Errungenschaften sind leerem Ödland gewichen. Die Metropolen unserer Welt, Meredith, Neu Jersaya, all die anderen, mit ihren imposanten Wolkenkratzern und hunderttausenden Einwohnern; sie ragen nicht einmal mehr über meine Stiefel hinaus.

Nahezu alle Völker sind vollkommen vernichtet worden. Ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben. Alles ist verloren.

Die Bibliotheken, die Universitäten, unsere Autos und Flugzeuge. Hoffnung.

Die letzten Magier sind fort, ich weiß nicht, wohin sie gegangen sind. Unsere Kultur existiert nicht mehr. Unser Lebenswerk vernichtet. Unsere Kinder sind tot.

An den umgepflügten Pfaden, die wir Straßen schimpfen, türmen sich Schädel, stumme Augenzeugen der Verheerung. Einsamen Wanderern werfen sie aus leeren Augenhöhlen vorwurfsvolle Blicke zu, als wollten sie uns grausam zuflüstern: Ihr seid selbst schuld.

 

Das sind wir: schuldig.

Wir haben die Magie und die Technik an ihre Grenzen getrieben. Wir waren wie besessen. Haben den Gefahren unserer Gesellschaft keine Beachtung geschenkt. Haben weggesehen, als die Schwachen uns gebraucht hätten, sie zu schützen. Bis sie sich erhoben, uns zu vernichten. Es geschieht uns nur recht. Das unvermeidbare Schicksal unserer Arroganz.

Ich weiß, manche denken anders darüber. Doch vielleicht ist es auch unser Schicksal, die alte Welt hinter uns zu lassen, um mit Stöcken und Steinen eine neue Welt zu bauen. Die Welt der Menschen. Nichts wollen wir mitnehmen in die neue Zeit. Nicht, dass es noch etwas gäbe, was man mitnehmen könnte; außer der keimenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Fehler der Vergangenheit im Gedächtnis.

Der Tod ist allgegenwärtig.

Doch wir sind am Leben. Und wir tun das, was wir Menschen am besten können.

Wir klopfen uns den Dreck von den Mänteln, stehen auf und fangen von vorne an. Es gibt nicht mehr viele von uns. Einige Menschen sind in den Norden gegangen, was auch immer sie dort vorzufinden glauben. Wir aber wollen hierbleiben. Hier, wo einst unsere Heimat war. Wir werden ein Stück Land finden, auf dem noch Leben möglich ist. Wir werden uns aufteilen, niederlassen und neue Städte gründen. Weitermachen. Leben.

Unsere neue Welt soll Skelesh heißen:

Kontinent der vergessenen Seelen.

Und zum ersten Mal seit Zeitaltern schreiben wir das Jahr Eins.

Eins nach Kriegsende.

 

Kontinentalbibliothek.

Sadith Stadt.

Nachkriegschroniken aus dem Jahre 01 n.K.

[Pro|log]

Substantiv, maskulin.

[…] Vorspiel eines dramatischen Werkes.

 

Mervha. 891 n.K.

 

»Wie ist es eigentlich so, wenn man sich an nichts mehr erinnert?«

Mercutios Stimme klang nur dumpf zu ihm herüber. Tänzerinnen und Tänzer stürmten die Bühne, wildes Johlen brach los im gesamten Keller. Leute schleuderten ihre Krüge über die Tanzfläche, schubsten, verschütteten Drinks auf die Umstehenden. Wippten und nickten im harten Takt der Musik, würden nicht aufhören, bis die ersten Sonnenstrahlen durch die schlampig vernagelten Fenster traten. Manchmal trat auch die Miliz hindurch, aber das spielte für den Ablauf in der Nebelhöhle keine Rolle. Mervhas Abschaum kroch zurück in dunkle Löcher, die Putzkolonne fegte alles unter den Teppich, der Inhaber bezahlte irgendein Bußgeld und am nächsten Abend ging das Spiel von vorne los.

Kain wandte sich seufzend seinem Whiskey zu. Eigentlich liebte er diesen Club. Wenn sein Schädel nicht so verdammt laut dröhnen würde. Außerdem fühlte seine Zunge sich so trocken an, dagegen war die sikathische Staubwüste ein echter Witz. Wenn er nicht mindestens alle halbe Stunde ein Glas Wasser trank, verwandelte sie sich in einen pelzigen Klumpen, der ihn an letzte Nacht erinnerte. Oder vielmehr daran, dass er sich nicht erinnerte. Als wäre es nicht schon schlimm genug, in einem illegalen Nachtclub Wasser zu trinken.

Dabei war es gar nicht die überlaute Musik oder der beschissene Brand in seiner Kehle, der den Abend so furchtbar machte. Sondern dieser Typ. Mercutio. Sprach immer eine Tonlage zu hoch und sah aus wie eine verzogene Göre im falschen Körper. Drahtig, mit schmalem, femininem Gesicht. Zu gut gekleidet. In jeder Hinsicht absolut lästig. Am liebsten hätte er ihm einfach den Hals umgedreht, aber irgendwie konnte er ihm nicht wehtun. Es ging einfach nicht. Es war, als wollte er ein Hundebaby schlagen und immer, wenn er an den Dolchknauf griff, fühlte er sich furchtbar. Tja. Und jetzt saß er hier.

Kain lehnte sich auf dem Barhocker zurück und schloss die Augen. Ließ sich mit dem Dröhnen der Musik treiben, bis seine Gedanken langsam, aber sicher zu einer belanglosen, rauschenden Masse verschwammen. Bassrym – lief seit Erfindung des Echokristalls in jedem Club, der etwas auf sich gab. Schnell. Dumpf. Laut genug, um jeden unangenehmen Gedanken zu vergessen.

»Hörst du überhaupt zu?« klang Mercutios Stimme gedämpft an sein Ohr. Mit einem halbherzigen Nicken betrachtete Kain die Masse aus Menschen, die sich auf dem Weg zur Tanzfläche an ihnen vorbeidrückten wie Ratten, und sank dabei tiefer in den Barhocker. Versuchte, das ständige Rempeln zu ignorieren, genau wie den Drang, ihnen allen die verdammten Köpfe abzureißen.

»Du solltest echt zum Doktor gehen. Ich glaube, die haben dir gestern zu hart auf den Kopf geschlagen«, gab Mercutio beleidigt von sich, ehe er sich näher zu ihm schob und schnipsend vor seinem Gesicht herumwinkte. Genervt massierte sich Kain die Stirn, suchte seine Mitte, doch es war unmöglich, den Kerl auszublenden. Er packte ihn am Handgelenk, drückte zu, bis sein ungeliebtes Anhängsel sich auf die Zunge biss. Erst dann ließ er ihn wieder los, um seine nach Arbeit lechzenden Finger zurück an das Whiskeyglas zu legen, anstatt um den dürren Hals seines Gegenübers.

Mercutio warf ihm einen finsteren Blick zu, während er sich nahezu dramatisch den Arm rieb. »Wirklich sehr erwachsen. Du hast doch gesagt, ich soll meine blöden Fragen endlich stellen.«

»Und verschwinden.«

»Ganz genau, in dieser Reihenfolge.« Sein Gegenüber rutschte immer näher und Kain drückte ihn mit einem angestrengten Seufzen zurück auf den Hocker.

»Also gut. Bringen wir es endlich hinter uns.«

Wie ein Hund, der sich nach einem Leckerchen verzehrte, rutschte Mercutio auf seinem Sitz herum, betrachtete ihn aufmerksam, als wüsste er gar nicht, wo er anfangen sollte, bis seine bernsteinfarbenen Augen dieses aufgeregte Funkeln unschuldiger Neugier bekamen. »Wie ist es so, wenn man sich plötzlich nicht mehr an seine Vergangenheit erinnern kann? Fehlt dir nicht etwas? Hat dich schon einmal jemand erkannt, den du nicht kanntest?«

Eine Weile fixierte Kain das Glas zwischen seinen Händen, schweigend, drehte es mit den Fingern im Kreis. »Ich kann mich nicht daran erinnern, wie es ist, sich zu erinnern. Das muss doch selbst für einen Idioten wie dich logisch klingen.«

Unzufrieden sah die Nervensäge ihn an. »Ist dein Hang zu Beleidigungen eigentlich angeboren?«

»Ich würde es dir zu gerne sagen. Wenn ich mich erinnern könnte«, gab Kain ungerührt zurück und zuckte hämisch mit den Mundwinkeln.

Schweigen. Mercutio wandte sich beleidigt ab, wickelte sich eine Haarsträhne aus dem langen, schwarzen Zopf um den Finger. Ließ sie zurückschnalzen. Und von vorne. »Schon klar, mach dich nur lustig. Entschuldige, dass ich nach der Sache gestern ein paar Fragen habe.«

»Die Sache gestern ist vorbei. Vergiss es einfach«, winkte Kain kopfschüttelnd ab, doch Mercutio fuhr empört von dem Hocker auf, wild in seine Richtung gestikulierend.

»Spinnst du? Du hast mein Leben gerettet und ich weiß nicht einmal, wieso. Und dann hast du auf die Straße gekotzt und bist eingeschlafen. So etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nie passiert.«

»Ich war betrunken, okay?« Kain rollte mit den Augen und stürzte einen großen Schluck Whiskey herunter. Zugegeben, bei ihm war betrunken zwar ein Zustand, der andere wohl töten würde, doch gestern hatte er sich offenbar selbst übertroffen. Seine Erinnerung bestand aus Fetzen, seine Haut strotzte vor blauen Flecken und durch ein Nasenloch bekam er keine Luft mehr. Dieses ständige, einseitige Pfeifen; es machte ihn wahnsinnig.

»Wie du diese Räuber verprügelt hast!«, fuhr Mercutio begeistert fort und ahmte ein paar Schläge nach. »Der eine Typ so: Verpiss dich, Fickfresse! und du so: Halt’s Maul, Arschgeige! und dann zückte der Kerl sein Messer und – ehrlich gesagt, ich habe noch nie gehört, wie eine Nase bricht«, verzog er schmerzlich das Gesicht, zwischen ein paar Luftschlägen. »Also, ich hoffe, dass es nicht deine war.«

Stumm schüttelte Kain den Kopf. Seine Nase fühlte sich zwar ramponiert an, saß aber an der richtigen Stelle.

Schließlich senkte sein Anhängsel die Fäuste wieder, umfasste stattdessen das kunstvoll gegossene Glas, das der Wirt ihm vor die Nase schob und schlürfte durch ein Bambusröhrchen an der goldweißen Flüssigkeit. Coco Cabana. Kaum Alkohol der Scheiß und viel zu süß. »Ich musste dich ganz schön viele Straßen hinter mir herziehen, bis zu meiner Wohnung. Mal ehrlich, ich lasse meinen Retter nicht in einer Pfütze ertrinken, total egal, was du davon hältst. Das nennt sich Anstand!«

Kain schnaubte. Anstand. Natürlich. Diese Arschlöcher gestern konnten von Glück sagen, dass er zu viel getrunken hatte. Sonst hätte er ihre hässlichen Fratzen für immer in Mervhas schlammige Gassen eingebettet, anstatt ihnen nur die Nasen zu brechen. Sehr wahrscheinlich wäre dieser Verrückte dann einfach abgehauen, anstatt ihm am Arsch zu kleben wie ungeliebte Toilettenpapierreste.

Seufzend schwenkte er seinen Whiskey, trank den letzten Schluck und stellte das leere Glas vor sich ab, ohne es loszulassen. In Skelesh gab es nicht allzu viele Regeln für das Zusammenleben, aber eine ungeschriebene davon besagte, Leute, die reglos im Dreck lagen, am besten einfach liegen zu lassen. Entweder waren sie tot oder lagen dort aus gutem Grund.

Mercutio musterte ihn verständnislos von der Seite und Kain wich seinem Blick gezielt aus, betrachtete stattdessen die Karte mit den Angeboten des Abends. Shura Kisa und dazu eine Nebelfrikadelle. Zum halben Preis, ein echtes Schnäppchen.

»Du versuchst, mich zu ignorieren? Gut. Aber wenn dir alles so furchtbar egal ist, wieso hast du mich überhaupt gerettet? Du hättest nicht dazwischengehen müssen.«

»Ich schätze, ich hatte einfach Lust dazu«, gab Kain beiläufig zurück und blätterte durch das Flugblatt. Morgen war Whiskey:96-Tag und er hatte noch nichts vor. Perfekt.

»Lust, mich zu retten, oder Lust, dich zu prügeln?«

»Nerv nicht, ich denke nach!«

»Tu ich nicht, ich will nur …«

»Ist doch egal, verdammt! Du lebst, ich lebe. Reicht das nicht?«, fuhr Kain ihn gereizt an und schob sein leeres Glas weit genug über die Theke, damit der Wirt es bemerken konnte.

Sein Gegenüber setzte schon zu einer Erwiderung an, zuckte aber mit einem Mal erschrocken zusammen: Die Musik schwoll an, die Menschen in der Nebelhöhle grölten auf, pfiffen sich die Seele aus dem Leib, als die Tänzerinnen und Tänzer ihre Röcke zusammen mit sämtlichem Fummel abstreiften und in die Menge warfen.

Kain schob seinen Mantelärmel zurück und sah auf die Uhr. Fünf vor zwölf. Niemand betrat die Nebelhöhle. Seltsam. Hoffentlich lag sein Arbeitsdate nicht längst tot in irgendeiner Gasse, das wäre ziemlich ärgerlich bei all dem Aufwand, den er bisher betrieben hatte. Nachdenklich drehte er an dem Rädchen neben der Glasfassung und sofort bekamen die Zeiger neuen Elan. Genau wie der Idiot neben ihm, der wie vom Blitz getroffen von seinem Stuhl fuhr. »Eine letzte Frage habe ich noch.«

»Raus damit! Und dann verschwindest du.« Murrend fuhr Kain sich durch die Haare, strich ein paar verirrte, schwarze Strähnen aus dem Gesicht und lehnte sich zurück. Sah zu, wie der Wirt kam, sein Glas mit Whiskey füllte und Mercutio fragend ansah, bevor er die Flasche zukorkte. Sein Anhängsel winkte dankend ab, zog ein paar Schlucke Coco Cabana durch das Röhrchen, so laut und nervenzehrend, dass Kain seinen Kopf am liebsten in den Drink geschlagen hätte. Seine Laune sank mit jeder verdammten Minute zusammen mit der Hemmschwelle in der Nebelhöhle, und er wollte lieber hier raus sein, bevor beides den Nullpunkt erreichte. Die nächsten kaputten Möbel musste er nämlich aus eigener Tasche ersetzen.

Mercutio suchte eine Weile nach Worten, sah ihn an, als würde er beim fleischgewordenen Fürst der Finsternis vorsprechen. »Also gut, dann mal frei heraus: Was bitte ist ein Blutritus?«

Kain spuckte den Whiskey zurück auf die Theke. Hustete. Verfickt nochmal, er hatte ja mit wirklich allem gerechnet, nur nicht damit. »Was hast du da gerade gesagt?«, wollte er ungläubig wissen und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, ohne die Diva aus den Augen zu lassen.

»Blutritus. Was soll das sein?« Unbeeindruckt sah Mercutio ihn an, als hätte er genau diese Reaktion erwartet und als würden sie verdammt nochmal über die Farbe von Gardinen plaudern.

Räuspernd rieb Kain sich den Hals, doch er fand keine zufriedenstellende Antwort darauf. Blutritus. Dieses bescheuerte Wort, es verfolgte ihn bis in seine Träume. Genau wie der kalte Lagerraum im Schiffsbauch, Wellengang und Hunger. Dann nur noch Schwarz.

Sofort begannen seine Finger zu zucken. Seine Brust fühlte sich schlagartig viel zu eng an, sein Herzschlag beschleunigte, bis er ihm in den Ohren trommelte. Es ging schon wieder los. Nur, weil er an dieses beschissene Wort dachte.

Langsam biss er sich auf die Zunge, versuchte, die brodelnde Wut herunterzuschlucken. Doch sie blieb ihm im Hals stecken, fest verankert zwischen Atemnot und dem unwiderstehlichen Drang, zu töten. »Ich weiß nicht, was ein Blutritus ist. Du bist doch Bibliothekar, schlag es einfach nach und nerv mich nicht!«, presste er bemüht beherrscht hervor und schüttelte den Kopf. Scheiße, er hätte weitergehen sollen. Einfach weitergehen. Keine Ahnung, was er sich dabei gedacht hatte, sich in eine fremde Schlägerei zu werfen, aber Karma leistete mal wieder ganze Arbeit.

»Du hast also keine Ahnung, was ein Blutritus ist?« Mercutio lehnte sich näher zu ihm, als wollte er sein Betrunkenheitslevel überprüfen. »Natürlich. Ich erzähle dir jetzt mal was. Du hast heute Nacht schreiend um dich geschlagen und lauter wirres Zeug geredet. Meine arme Nachbarin hat vier Mal geklopft! Und was machst du? Murmelst etwas von einem Blutritus, ziehst lauter Waffen aus all diesen …«, er fuchtelte unbedarft in Richtung seines Mantels, »… diesen Taschen und zerstückelst meine schönen Kissen. Ich habe mein Leben eingesetzt, um dich stillzuhalten, ich verdiene Antworten!«

Kain erwiderte seinen Blick ausdruckslos. »Du hast mich mit Plüschhandschellen an die Toilette gefesselt.« Zumindest war er heute Morgen dort aufgewacht. Mit Rückenschmerzen des Todes.

Schnaubend winkte Mercutio ab. »Was hättest du bitte getan, wenn ein tollwütiger, mervhischer Bluthund auf deinem Sofa wütet? Ich habe die erstbeste Gelegenheit ergriffen, dich unschädlich zu machen.«

Kain sah mit einem gedehnten Seufzen zur Seite. Wenn er sich doch nur erinnern könnte. Wenn er an gestern Abend zurückdachte, fühlte er nur die aufgeweichte Straße im Gesicht, danach herrschte der totale Blackout. Aber wenn er tatsächlich einen seiner Alpträume auf der Couch dieses Verrückten ausgelebt hatte, war es kein Wunder, dass dieser ihm mit tausend Fragen hinterherlief.

»Du wartest auf jemanden«, stellte besagter Idiot fest und verschränkte beide Arme vor der Brust.

Vielleicht sollte es aufmüpfig wirken, aber er sah einfach nur aus wie ein Bündel Lauch. »Ich sehe doch, dass du wartest. Du schaust die ganze Zeit zur Tür.«

Kain tat genau das, ehe sein Blick zurück zum aufmüpfigen Lauch glitt. »Stimmt. Deswegen kannst du leider nicht bleiben. Also, mach es gut. Auf Nimmerwiedersehen!« Immun gegen die Hektik um sie herum holte er einen länglichen Lederbeutel hervor und klappte ihn auf, versuchte krampfhaft, den Verrückten an seiner Seite auszublenden, doch dieser machte keinerlei Anstalten zu gehen. Stattdessen rümpfte er angewidert die Nase und deutete auf den Beutel.

»Du willst hier unten ernsthaft rauchen? Ich ersticke jetzt schon.«

Schulterzuckend zerpflückte Kain den Tabak in zwei kleine Portionen und atmete aus reinem Protest extra tief durch. Leider hatte sein Anhängsel recht und die Nebelhöhle verdiente ihren Namen: stickige Luft, schwer von ätherischen Ölen. Ohne eine gewisse Routine in solchen Gefilden konnte man kaum klar denken. Vorsichtig riss er zwei Pappfilter aus einem daumengroßen Block, schob sich einen zwischen die Lippen und rollte den anderen zusammen. »Wieso trinkst du nicht einfach aus, nimmst dir ein Lustmädchen oder einen Lustjungen und verschwindest? Ich zahle auch. Ich bezahle alles, was du willst«, versuchte er es ein letztes Mal und hoffte, dass der Idiot ihm endlich einen Preis nennen würde, bei dem er bereit war, den Abflug zu machen. Um sein Angebot zu bekräftigen, griff Kain in eine der Mantelinnentaschen, holte ein paar Münzen hervor und ließ sie nacheinander klimpernd auf den Tresen rieseln, genau vor Mercutios Nase. Dieser blinzelte ihn entsetzt an, als hätte er gerade vorgeschlagen, in einer verdammten Kloake zu vögeln. Missmutig zog Kain beide Brauen zusammen und nickte zu den Münzen. »Was? Zu wenig? Oder bist du etwa eines dieser bescheuerten nur-hetero Arschgesichter?«

»Ganz. Sicher. Nicht!«, fuchtelte sein Anhängsel abwehrend mit den Händen, als hätte man ihm einen Mord vorgeworfen. »Aber …« Er fuhr mit einem Finger über das Polster des Barhockers, auf dem er saß, und betrachtete das klebrige Etwas auf seiner Fingerspitze. Angewidert verzog er das Gesicht und wischte seinen Finger an der Theke ab. Was sich, seinem gequälten Ausdruck nach zu urteilen, als schlechte Idee entpuppte.

Heftig schüttelte Mercutio schließlich den Kopf und fegte sämtliche Gedanken mit beiden Händen entschieden zur Seite. »Hier? Auf gar keinen Fall! Außerdem will ich nicht gehen.« Er sah trotzig über die Schulter auf die Tanzfläche. »All das hier ist so unglaublich aufregend. Meine Eltern sagen nämlich immer, ein Club ist kein Ort für …« Er hielt augenblicklich mit offenem Mund inne, verengte beide Augen und reckte den Hals. »Bei den Götterzeiten, was tun die nackten Menschen da hinten?«

Kain seufzte, zog zwei dünne Papierstreifen aus dem Beutel und legte Tabak hinein. Er knetete sein Werk zu einer sauberen Rolle, leckte die Papers mit der Zunge an und drehte nacheinander zwei perfekte Kippen zusammen. Dann folgte er Mercutios Blick zu einer Gruppe nackter Menschen, die nahezu verschwörerisch im Kreis saßen und zitternd auf eine leichtbekleidete Frau in der Mitte starrten, die Nadeln auf eine Spritze setzte. »Die da? Die spritzen Nartiko.«

»Diese Droge?« Ungläubig sah die Nervensäge ihn aus großen Augen an, doch anstatt zu antworten, schob Kain ihm gehässig grinsend eine Kippe zwischen die Lippen. In einer fließenden Bewegung zog er das Zündholz über die Theke und hielt ihm die Flamme hin, dann steckte er sich die zweite Kippe selbst in den Mundwinkel und zündete sie an.

Verdammt, er liebte den ersten Zug; wie der Rauch langsam, samtweich über seine Lippen floss und auf dem Weg zur Decke fantastische Formen bildete. Er konnte Stunden zusehen.

»Krass, mein erster Glimmstängel«, bemerkte Mercutio sichtlich angetan, hustete fasziniert Rauch aus, stoßweise, wie ein verstopfter Kamin. »Widerlich, aber irgendwie nett.« Er klopfte sich auf die Brust, zog diesmal länger. Hustete. Zog und hustete. »Ich hatte gerade die Idee. Ich meine, eine wahre Erleuchtung. Weißt du, …« Mit einem lautlosen Seufzen schloss Kain die Augen, während Mercutios Stimme unaufhaltsam weiter an sein Ohr drang, eine Flut aus Worten, die seine Sinne überschwemmte. Der Kerl merkte nicht einmal, wenn man abschweifte. Er redete einfach weiter. Und redete. Und redete. Kain streckte sich auf dem Barhocker aus, verschränkte beide Arme hinter dem Kopf, spürte die Vibration der Musik, im Stuhl, in der Luft, in der Brust. Wenn der Bass nur etwas lauter wäre, er würde den Rhythmus seines Herzens durcheinanderbringen. Zumindest fühlte es sich so an.

»Und? Was sagst du?«

Vorsichtig lugte er zur Seite. Die Nervensäge strahlte ihn an wie die goldenen Tempelanlagen Sadiths zur Sommersonnenwende. Irgendeine verrückte Idee war wohl durch sein windungsreiches Hirn geschossen, aber verdammt, er hatte keine Ahnung, worum es ging. Kain versuchte, besonders nachdenklich dreinzusehen, während er ein Rauchwölkchen auspustete. »Weiß nicht. Wenn du das sagst.«

»Du bist ein blöder Arsch!«, gab Mercutio gekränkt murmelnd zurück und fläzte sich auf die Theke, bedachte ihn dabei mit dem niedergeschlagenen Blick eines Welpen, dessen Herrchen verboten hatte, aufs Bett zu pinkeln. »Aber du hast mich gerettet. Dafür mag ich dich mehr, als ich dich blöd finde.«

»Das sind ja tolle Nachrichten«, bemerkte Kain mit einem übertriebenen Lächeln. »Ich mochte dich auch mehr, als ich dich nicht kannte.«

»Danke, das weiß ich zu schätzen. Sag mal, kommt dein Date noch?«, wollte der Verrückte wissen und drehte die Kippe fasziniert zwischen zwei Fingern, als wäre sie ein Geschenk der Götter.

Kain schielte unter halbgeschlossenen Lidern zu ihm herüber. »Keine Sorge. Mein Date taucht schon noch auf.« Wie jeden Mittwoch, wenn der Kerl die Nebelhöhle besuchte, um Junkies zu vögeln. Ein paar Stunden später zog er dann mit der Hure seiner Wahl ab, versuchte sich im Rinovino Geldzu erspielen, woran er, abgesehen von einem einzigen glücklichen Zufall, regelmäßig kläglich scheiterte. Was auch langsam seiner Ehefrau negativ aufzufallen schien; jedenfalls, er beschattete ihn seit Wochen. Der Typ würde hier aufkreuzen. Ganz sicher.

»Und was macht ihr dann?« Mercutio sah ihn an, als glaube er ihm kein Wort, während Kain gemächlich sein Glas leerte und einen letzten, tiefen Zug seiner Kippe nahm.

»Ich werde ihn umbringen und er wird sich dabei wahrscheinlich in die Hose pissen. Wenn du mich also entschuldigst, ich muss los.« Er drückte seine Kippe in den Aschenbecher und glitt vom Barhocker, den Blick auf die Kellertür gerichtet.

Mercutio sah seltsam eingefroren hinterher. Musterte den hageren, glatzköpfigen Kerl, der gerade seinen Mantel in der Garderobe ablegte und dem Türsteher lässig ein paar Münzen in die Hand drückte. Sofort begann Mercutio ungeduldig auf dem Barhocker herumzurutschen und lud offensichtlich Fragen für sein loses Mundwerk nach. Entweder das, oder er würde gleich wieder einen seiner Vorträge halten. Dieser Idiot war echt unverwüstlich, obwohl er aussah wie ein verdammtes Weichei. »Deswegen hast du die Räuberbande so fertiggemacht. Du bist ein Mörder. Also, ein echter Killer. Wahnsinn. Und dann sitzt du hier so herum, so … so normal, als würdest du nicht gleich … also …«

»Wie sollen Mörder denn sonst sitzen?« Amüsiert zuckte Kain mit den Mundwinkeln, woraufhin sein Gegenüber nur kopfschüttelnd mit der Zunge schnalzte.

»Das meinte ich nicht!«, gab Mercutio nachdrücklich zurück und musterte ihn, als würde er ihn zum ersten Mal betrachten. »Ich wusste ja, dass du komisch bist, aber das …«

Kain wandte sich einfach ab, wollte sich schon durch die Menge schlängeln, als ihn eine Hand an der Schulter packte und festhielt. Der Kerl ließ echt nicht locker. Wie eine verdammte Zecke, die sich festgebissen hatte. Langsam drehte er sich zurück, warf Mercutio einen Todesblick zu, den dieser gekonnt überging.

»Hör mal …«, fing sein Gegenüber leise an, sah sich verschwörerisch um und senkte die Stimme. »Es ist total voll hier unten, wie willst du den Kerl überhaupt töten?«

Unberührt wischte Kain die Hand von seiner Schulter. »Lass das mal meine Sorge sein.« Er wandte sich ab, doch die Nervensäge schob sich vor ihn, klammerte sich an die Knopfleisten seines Mantels und sah bettelnd zu ihm herunter.

»Wie ist das so? Jemanden zu töten?«

»Wie jeder andere Beruf auch, lass los und geh zur Seite!«

»Darf ich zusehen?«

»Scheiße, nein! Bist du als Kind vom Wickeltisch gefallen?« Fassungslos schob Kain ihn heftig von sich und erwiderte seinen Blick verstört. Also, das hatte echt noch niemand gefragt. Wie abartig. Bewundernswert abartig.

Mercutio reckte schmollend das Kinn und nahm seine aufmüpfige Lauchpose an. »Ich habe keine Angst vor dir. Egal, wie viel Mühe du dir gibst.«

Einen Moment lang sah Kain ihn einfach nur an. Dann zuckte er lieblos mit den Mundwinkeln. Ohne Vorwarnung packte er Mercutios Arm, verdrehte ihn auf seinen Rücken, griff ihm in die Haare und drückte seinen Kopf schwungvoll auf die Theke. Zwei Sekunden. Gar nicht schlecht für seinen Zustand. »Hör gut zu«, flüsterte er leise an dem Ohr seines Gegenübers. »Du kannst nicht mitkommen, nicht zusehen und ich werde dir dazu keine Fragen mehr beantworten. Verstanden?«

»Verstanden! War deutlich«, gab Mercutio elendig quiekend von sich und sah zu ihm auf wie ein gequältes Hundebaby. Winselnd und wimmernd. Kaum zu ertragen.

Mit einem Ruck ließ Kain ihn los, machte ein paar Schritte rückwärts und sah ihn ratlos an. »Ich verstehe echt nicht, was du eigentlich willst.«

»Ich glaube, dass weiß ich selbst noch nicht wirklich«, gab sein Anhängsel heiser zurück, ehe er sich vorsichtig aufrichtete und sich den Hinterkopf rieb. »Aber das waren die aufregendsten zwei Stunden meines Lebens, also, wollen wir vielleicht noch was trinken, wenn du, ehm, fertig bist?«

Eine ganze Weile lang starrte Kain ihn einfach nur ausdruckslos an. »Ich erzähle dir, dass ich ein Mörder bin, und das Erste, was dir einfällt, ist, mit mir auszugehen?«

»Tut mir leid, ich dachte nur …« Mercutio zuckte mit den Schultern und senkte den Blick. »Wenn ich nicht frage, dann …« Er schniefte leise und scharrte mit einem Fuß über den Boden.

Langsam fuhr Kain sich mit einer Hand übers Gesicht und schüttelte ungläubig den Kopf. Dieses Drama. Es tat beinahe körperlich weh. »Zehn Minuten. Warte oben. Und ich betone, das ist kein Date.«

»Echt jetzt? Der Hammer!«, jubelte der Verrückte ihm derart strahlend entgegen, dass Kain unwillkürlich zurückzuckte, aus blanker Angst, geknuddelt zu werden. Der letzte Mensch, der ihn so voller Freude angesehen hatte, war der Bürgermeister von Seyk gewesen, als er ihm versprechen musste, für den Rest seines Lebens nie wieder einen Fuß in die Stadt zu setzen. Und der Penner hatte ihn verdammt nochmal umarmt. Kain wandte sich zurück zur Theke, nahm die Münzen, die er vor Mercutios Nase hatte rieseln lassen, und platzierte sie stattdessen auf dem Tresen. Der Wirt verpasste einem gespülten Glas den letzten Schliff, dann schwang er sein Handtuch über die Schulter und kam zu ihnen herüber. »Hi, Kain. Nimmst du ein Zimmer?«

»Heute nicht. Ich brauche nur ein Zimmermädchen.«

»Klar. Ich sage Rosalie Bescheid.«

»Danke, Vik.«

Viktor nickte und ließ die Münzen mit einer geschickten Bewegung unter dem Tresen verschwinden, während Mercutio langsam von dem Hocker rutschte und seinen Mantel von der Lehne griff. Dabei sah er Viktor skeptisch an, welcher leise pfeifend davontrottete, sich ein neues Glas zum Polieren schnappte und sie nicht weiter beachtete. »Zimmermädchen. Ist das so ein Codewort?«

Mit einem gehässigen Grinsen verschränkte Kain beide Arme vor der Brust. »Blitzmerker. An dir ist ein echter Assassine verloren gegangen.«

»Pff, mach dich nur lustig über mich. Du blöder Idiot!« Schnippisch reckte sein Gegenüber das Kinn und versuchte, die zerzauste Haarsträhne, die ihm dabei mitten ins Gesicht segelte, professionell zu ignorieren.

Kain winkte ihn lieblos in Richtung Ausgang davon. »Verschwinde endlich!«

»Ja, ja, ich gehe ja schon. Ich warte oben.« Die Lippen geschürzt, warf Mercutio sich schwungvoll in seinen Mantel und lief tatsächlich los, ohne sich umzudrehen. Kain sah ihm eine stumme Weile nach. Dann wandte er sich ab und bahnte sich einen Weg durch die tanzende Menschenmenge.

[Re|gen]

Substantiv, maskulin.

[…] Niederschlag, der in Form von Wassertropfen zur Erde fällt.

 

Irgendwo in der Nähe von Vimos. 901 n.K.

 

Regen. Nichts als strömender Regen.

Kain fluchte, befreite seine Stiefel ruckartig aus dem Schlamm und zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Dieses blöde Wetter, es kam so unpassend, wie es nur sein konnte. Endlich hatte er sich erfolgreich an die Fersen dieses komischen Kuttenträgers geheftet, um in einer dunklen, menschenleeren Ecke aus dem Scheißkerl herauszuprügeln, warum er ihn seit Tagen so stümperhaft beschattete, da verschwand der Typ einfach aus der Stadt. Ohne ersichtlichen Grund. Ein paar Anwohner hatten die Kutte draußen auf den Feldern gesehen. Doch kaum, dass er die Spur aufgenommen hatte, war dieser verdammt heftige Sturm losgebrochen, als hätte irgendeine höhere Macht etwas dagegen, dass er ihn fand. Sämtliche Fußabdrücke sanken immer tiefer in den aufgeweichten Boden, verwischten, liefen auseinander, und konnten genauso gut von jedem anderen Idioten stammen, der vor kurzem über die Felder spaziert war.

Murrend stapfte Kain auf einen nahen Grasfleck und schmierte seine Stiefel an einem der herumliegenden Steine ab. Die Sache mit dem Kuttenträger stank bis zum Himmel, aber langsam war er zu müde, darüber nachzudenken. Seit der Kerl ihm im Nacken klebte, schlief er kaum noch, seine Augenringe nahmen mittlerweile völlig absurde Dimensionen an, wie bei einem beschissenen Nartiko Junkie.

Nachdenklich sah er zu, wie die tosenden Wassermassen sich flutartig über die Felder ergossen, alles Mögliche mit sich spülten, Eimer, herrenlose Schuhe, während der Wind gefährlich rauschend durch die Bäume pfiff. Er hasste es, aufzugeben. Aber bei nahender Dunkelheit und Sturm durch ein Waldmoor zu irren, war nicht nur selten dämlich, sondern hochgradig lebensgefährlich. Sein Stalker konnte praktisch unter jedem Farn lauern, die ganze verdammte Nacht lang und es gab tausende Farne, Büsche, Bäume und Höhlen da draußen. Ganz zu schweigen von dem hungrigen Viehzeug, das im Gebirge lebte. Nein danke. Auf eine Moorbestie konnte er gut und gern verzichten.

Ein Donnergrollen dröhnte über die Felder und Kain sah auf. Die grauen Wolken verliefen langsam aber sicher in tiefes Schwarz, als hätte jemand dunkle Farbe auf Wattebällchen verschüttet, achtlos, ohne die überschüssigen Reste aufzuwischen. Der Wind nahm zu und am Horizont zerteilte ein Blitz den Himmel.

Einundzwanzig. Zweiundzwanzig.

Wieder ein Donnergrollen. Zeit, zu verschwinden.

 

Vimos. Dorfkneipe.

 

»Ich soll dir wirklich keine trockene Kleidung holen?« Die Wirtin musterte ihn mit einer Mischung aus Besorgnis und Mitleid über den Tresen hinweg und deutete dann stolz durch die winzige, liebevoll eingerichtete Kneipe, in der gerade einmal sechs Tische Platz fanden. »Willkommen im Geflickten Stiefel. Ich bin übrigens Resha, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, wie unhöflich. Also, falls du etwas brauchst, ruf mich einfach.«

Kain nickte und rieb sich die Stirn. Er saß hier seit knapp fünf Minuten und schon ging diese Resha ihm auf den Sack. Mit ihrer Bemutterung, ihrem verdammten, verständnisvollen Blick, den sie sonst wohl für ausgemergelte Straßenköter oder ausgesetzte Babykätzchen benutzte. Dabei wollte er einfach nur in Ruhe seine Niederlage in Whiskey ertränken. War das zu viel verlangt?

 

Seufzend leerte er sein Glas in einem Zug, drehte es zwischen den Fingern und sah nach draußen.

Der Sturm tobte unaufhörlich, drückte die dünnen Bäume vor den Fenstern zu Boden, wie gespannte Katapulte. Keine Ahnung, ob er je so heftige Winde gesehen hatte. Ein Schwall Wasser klatschte gegen die Scheibe, verwischte die Außenwelt zu unscharfen Konturen und Kain senkte den Blick zurück auf seine Hände. Heftig. Einfach nur heftig.

»Du erkältest dich noch. Setz dich doch wenigstens vor den Kamin.«

»Whiskey wäre mir lieber. Am besten gleich einen Doppelten«, erwiderte er mürrisch, schob sein leeres Glas über den Tresen und sah demonstrativ zur Seite.

Die Wirtin griff nach einer bernsteinfarbenen Flasche, zog den Korken heraus. Schenkte ihm nach, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Bist du nicht müde? Du siehst müde aus. Im Ernst, wenn du Hilfe brauchst, bei egal was …«

»… dann muss ich nur rufen«, beendete er ihren Satz mit einem übertriebenen Lächeln. Feinfühlig wie ein Stein, diese Frau. »Aber sag mal, gibt es hier oft solche Stürme? Das Gewitter kam ja wie aus dem Nichts.«

Resha setzte die Flasche ab und drückte den Korken drauf. »Eigentlich nicht. Also, jedenfalls früher nicht. Seit einigen Monaten treten sie hin und wieder auf, verwüsten die Felder und töten das Vieh auf den Weiden. Beim ersten Sturm sind auch eine Menge Leute umgekommen, weil er so plötzlich aufgetaucht ist. Der Astrologe sagt, das sei ganz normal und dem Ejos geschuldet. Kennst du den Vulkan? Der große Berg im Nynd-Gebirge, nicht weit hinter der Stadt«, fügte sie an und deutete hinter sich.

»Habe ich gesehen.« Es war praktisch unmöglich, den Vulkan nicht zu bemerken, wenn man nach Vimos einritt. Er prägte das gesamte Stadtbild, thronte nahezu unheilvoll über den Bergspitzen, wie ein uraltes, schlafendes Monster.

Resha seufzte niedergeschlagen. »Weißt du, normalerweise kommen viele Menschen her, um den Ejos zu sehen, aber da er seit neuestem wieder aktiv ist, halten wir uns auf Rat des Astrologen von ihm fern. Leider vertreibt der erwachte Riese auch alle Besucher. Es sind schwere Zeiten.«

Unberührt nippte Kain an seinem Whiskey und wischte sich ein paar nasse Strähnen aus dem Gesicht. Keine Ahnung, seit wann genau Vulkane Stürme verursachen konnten, aber diese Geschichte klang mehr als seltsam, und wenn er raten müsste, war daran irgendetwas faul. Außerdem kamen sämtliche Wetterberichte ausschließlich vom Amt für Astrologie und Sternenkunde in Issengey. Es gab schlichtweg keine Astrologen, die auf eigene Faust irgendwohin reisten und dubiose Prognosen stellten.

Die Wirtin griff ein neues Glas zum Polieren und prüfte es fachmännisch auf Makel. »Der Astrologe meinte, dieses Phänomen müsse dringend untersucht werden, wo es doch nach hunderten von Jahren zum ersten Mal wieder auftritt. Er will uns helfen, das Wetter in den Griff zu bekommen. Hoffentlich kommen die Besucher auch wieder zurück. Sonst kann ich bald dichtmachen.«

Skeptisch schwenkte Kain seinen Whiskey, musterte Resha, die von der ganzen Geschichte fest überzeugt schien. Das Wetter in den Griff bekommen. Ja klar. Wenn es sonst nichts war. »Hat dieser Forscher auch einen Namen?«

Die Wirtin hielt inne und starrte nachdenklich in die Luft. Kurz darauf schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht, er hat sich immer als der Astrologe vorgestellt.«

»Und niemand hat ihn je nach seinem richtigen Namen gefragt?«, setzte Kain ungläubig hinterher. Mann, die lebten hier doch echt hinter dem Mond.

»Nein, wieso denn? Er kommt doch hierher, um uns zu helfen. Er hat sogar alle Bewohner auf dem Platz versammelt, um sich vorzustellen und uns zu beruhigen. Ein netter Kerl. Findest du nicht?« Ihr leerer Blick verriet, dass sie nicht mehr wusste und sich auch sonst eher wenig Gedanken zu machen schien.

Kain zuckte mit den Schultern. Vulkane, die aktiv wurden, dubiose Astrologen jenseits des Sternendoms – ehrlich gesagt, er war zu nass und viel zu angepisst, um groß darüber nachzudenken. Es war ihm auch scheißegal, ob irgendwelche falschen Sternenforscher unterwegs waren, um gutgläubige Bauerndörfer zu verarschen. Er war wegen eines Auftrags hier, nicht um den Helden zu spielen.

»Ach ja, bevor ich es vergesse.« Resha legte das Poliertuch zur Seite und griff unter den Tresen. »Kurz vor dem Sturm kam eine Frau hierher, die eine Nachricht für dich abgab.«

Verständnislos sah Kain auf das Papier zwischen ihren Fingern, doch die Wirtin zuckte nur mit den Schultern. »Ich habe nachgefragt, für wen der Brief denn sein soll, und die Frau sagte, ich zitiere: Für den schlechtgelaunten Kerl mit dem zerschlissenen Ledermantel und den Kreuzgurten. Na ja, die Beschreibung passt wohl am ehesten zu dir. Niemand in Vimos rennt so … kleidet sich … so.«

Kain nahm den Umschlag entgegen und drehte ihn einmal in alle Richtungen. Das Wachssiegel ließ keinerlei Schlüsse auf den Absender zu und auch der Satz der Botin gab leider keinen Hinweis darauf, von wem der Brief stammte. Dabei hasste er Überraschungspost. Vor allem, seit eine Vipernschleiche in einem unbeschrifteten Paket ihn fast umgebracht hatte. Überhaupt, er bekam nie Post. Wie auch, wo er ständig unterwegs war. Misstrauisch starrte er eine Weile auf den Brief, schüttelte ihn, drückte darauf herum. Okay, eine Schlange passte sicher nicht hinein, aber für ein paar Käfer oder anderen Scheiß reichte es allemal.

»Die Botin sagte, sie komme aus Mervha und arbeite für einen wichtigen Mann.« Resha schenkte ihm ein breites Lächeln gefolgt von einem aufmunternden Kopfnicken. »Sie sah recht gepflegt aus, bis auf den Schlamm. Falls dir das hilft.«

»Mervha?« Wen kannte er denn bitte aus Mervha? Er war seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr dort gewesen. Das letzte Mal in der Nebelhöhle, vor zehn … verfickt. Ohne Zögern riss er das Siegel ab und faltete den Brief auf:

 

Hallo, Kain.

Ich weiß, es sind ein paar Jahre vergangen, aber ich bin mir sicher, du erinnerst dich an mich.

 

Unbewegt starrte er auf das Papier. Blinzelte.

Keine Ahnung, wie Mercutio ihn hier draußen aufgespürt hatte. Unmöglich, das konnte einfach nicht sein. Kain rieb sich die Augen und tastete mit einer Hand nach dem Whiskey. Kannte er vielleicht noch einen anderen Mercutio? Da gab es doch diese Hure, wie hieß der Kerl noch gleich … ach nein, ganz anders.

Resha sah ihn erwartungsvoll an und er richtete seinen Blick zurück auf die Zeilen.

Erst dieser beschissene Kuttenträger, jetzt der Brief. Woher wussten diese Leute, wo er sich aufhielt? Er besaß keinen bürgerlichen Namen und egal, wo er Zimmer buchte, benutzte er diverse Decknamen. Er mied die offene Straße, reiste am Rand der Zivilisation, schlief in der Wildnis. Vimos hatte er sogar bei Nacht angesteuert, um seine Ankunft nicht allzu öffentlich zu machen. Doch dieser Brief hatte ihn erreicht und ließ alle Vorsichtsmaßnahmen wie unbedarfte Kinderspiele wirken. Ungeduldig wippte er mit einem Fuß über den Boden, überflog die nächsten Zeilen. Dieser Verrückte lud ihn doch tatsächlich zu seinem dreißigsten Geburtstag ein. Dabei kannten sie sich eigentlich kaum. Ein paar Nächte, ein paar mehr Drinks.

 

Ich habe etwas herausgefunden. Etwas, das ich dir nur persönlich sa-gen kann. Du weißt, worum es geht. Bitte, komm zu meiner Party.

 

Langsam ließ Kain den Brief sinken. Starrte aus dem Fenster.

Ja verdammt, er wusste, worum es ging. Zumindest ahnte er es, denn seit ihrem ersten Treffen in der Nebelhöhle versuchte Mercutio wie besessen, mehr über diesen blöden Blutritus herauszufinden. Er selbst wusste ja nicht einmal, ob es so etwas überhaupt gab. Blutritus. Es war nur ein bescheuertes Wort aus einer verschwommenen Erinnerung. Mercutio war ein Idiot, wenn er glaubte, es steckte mehr dahinter.

Gereizt bohrte Kain seine Finger in das Papier, bis es elendig knarzte. So eine verfickte Scheiße. Er hatte gerade ziemliche Lust, aufzustehen und am Kartentisch nebenan Stress zu machen.

»Stimmt etwas nicht?«, wollte Resha besorgt wissen und sah von ihrem Poliertuch auf. Naive Rehaugen, die sich durch seine Wut frästen und sie von innen erstickten. Er hasste diesen Blick. Und er hasste es, dass er funktionierte.

Mit einem unterschwelligen Knurren entkrampfte er seine Finger, einen nach dem anderen, ehe er den knittrigen Brief unter seinen Mantel schob. »Nein, schon gut.« Er würde sich später an seinem Ziel auslassen. Leiche blieb Leiche, ein paar Verstümmelungen mehr oder weniger interessierten wirklich niemanden.

Die Wirtin schenkte nach, warf ihm dabei einen verwirrten Blick zu. »Du siehst nicht gerade aus, als wären es gute Neuigkeiten.« Mit einem lieblosen Lächeln wartete Kain stumm, bis sein Glas gefüllt war, dann kippte er es in einem Zug herunter. Schob es schwungvoll über die Theke, direkt in Reshas Hände.

»Ich reise morgen ab. Bring mir die Rechnung auf mein Zimmer. Ich brauche mein Pferd, gesattelt, so gegen Nachmittag«, überging er ihre Frage und prüfte kurz seine Taschen.

»Jetzt schon?« Sichtlich enttäuscht räumte Resha sein Glas in das Spülbecken. »Was ist mit der Suppe? Sie ist gleich fertig.«

»Schenk sie jemandem, der sie braucht. Ich muss los.« In einer flüssigen Bewegung glitt Kain vom Barhocker, packte seinen Mantel samt Kreuzgurten von der Lehne und schlüpfte in beides hinein. Er justierte die Schwerter auf seinem Rücken und warf einen letzten, prüfenden Blick durch das Fenster. Der Sturm tobte munter vor sich hin, kein Ende in Sicht. Na ja, nichts zu machen. Er musste da raus und ehrlich gesagt, er war ohnehin nass bis auf die Knochen.

Routiniert warf er sich die Kapuze über den Kopf, prüfte den Sitz seiner Stiefeldolche und den Mechanismus der Unterarmklinge. Am liebsten hätte er sein Ziel früh morgens im Wald gekillt, aber das stand nicht mehr zur Debatte. Er musste es jetzt tun, wenn er rechtzeitig nach Mervha wollte und das bedeutete wohl, ihm einen Hausbesuch abzustatten. Auch wenn er es hasste, Leuten in ihrem Zuhause aufzulauern. Es war unbekanntes Terrain, die Gänge in der Regel viel zu eng für seine Schwerter und jegliche Art von Gebrüll weckte die gesamte Nachbarschaft auf. Die eleganteste Lösung war meist, das Ziel in der Toilette zu ertränken. Oder es zu erdrosseln, mit was auch immer grade herumlag, wobei er stark zu Hundeleinen tendierte. Griffig und stabil.

»Was ist mit dem Unwetter?« Resha folgte seinem Blick durch die schmutzigen Fenster und zuckte zusammen, als ein Ast gegen die Scheibe knallte.

Kain schenkte ihr ein liebloses Lächeln, während er seinen Mantel zuknöpfte. »Keine Sorge. Dem Unwetter passiert schon nichts.«

[Rei|se]

Substantiv, feminin.

[…] der Erreichung eines bestimmten Ziels dienende Fortbewegung über eine größere Entfernung.

 

Mervha. 901 n.K.

 

Schwer zu sagen, wann Mervha sich so verändert hatte. Oder wie alles begann. Aber kein verdammter Stein stand mehr auf dem anderen. Jedenfalls nicht so, wie er es kannte.

Kain spähte an einer Traube Menschen vorbei, soweit der hohe Torbogen es erlaubte. Keine schlammigen Gassen, keine heruntergelebten Absteigen. Selbst der unterschwellige Geruch von Pisse mit einem Hauch nasser Hund wehte ihm nicht mehr entgegen. Wohin man blickte, standen steinerne Villen, mehrstöckige Fachwerkhäuser oder bunte Blumenkübel.

»Was jetzt? Rein oder nicht? Du stehst im Weg.« Die Wache in dem Torhäuschen nickte ungeduldig in seinen Rücken, zu einer Schlange aus Menschen und Karren.

Seufzend folgte Kain seinem Blick, betrachtete den Andrang auf der Straße, die gründlichen Kontrollen, die ein paar uniformierte Männer und Frauen an diversen Kutschen vornahmen; alles neu. Langsam schnallte er sich die Kreuzgurte vom Rücken und legte sie auf dem kleinen Tisch ab, dann öffnete er den Mantel. Der Wachmann musterte ihn von oben bis unten und deutete auf die Gurte. »Die Lizenz zum Waffentragen in Städten, bitte.« Kain tastete suchend über das Leder, holte seinen Geldbeutel aus einer der Innentaschen und warf eine gestanzte Metallkarte zu den Schwertern auf den Tisch. Der Wachmann legte die Karte auf eine Waage, prüfte die Stanztiefe und das Datum, dann nickte er zufrieden. »Alles klar, durch mit dir. Etwas schneller, wenn es geht.«

Mit einem knappen Nicken steckte er seine Karte zurück, nahm die Kreuzgurte vom Tisch und warf sie im Laufen über. Das war also das neue Mervha: Hübsch gepflasterte Straßen auf dem Dreck der Vergangenheit errichtet. Keine dubiosen Gestalten an dunklen Gassenecken, keine Drogendealer zwischen kaputten Kisten und vollgepinkelten Hauswänden. Irgendwie schade. Er passierte das Tor, drehte sich einmal im Kreis, sah sich um, all den Eindrücken ausgesetzt, die er bloß durch den Steinbogen hatte erhaschen können.

So viele Händlerwagen, noch mehr Menschen. Überall hingen Schilder nach überallhin – wer sollte sich hier bitte zurechtfinden?

Überfordert zückte er Mercutios Brief aus der Tasche und überflog die Wegbeschreibung zur Traumgrube. Alles klar, zuerst nach da drüben, am besten durch das Gildenviertel. Also dort vorne irgendwo links abbiegen und dann immer weiter geradeaus. Na, das klang doch machbar.

»Hey, du da!«

Blinzelnd hob Kain den Kopf. Blickte umher. Musste zweimal hinsehen, um einen kleinen Mann in schmutzgrauer Kleidung von der Hauswand zu unterscheiden. Er war vielleicht Mitte fünfzig, trug das Abzeichen der Händlergilde auf der Brust. Beinahe schleichend kam der Kerl aus dem Schatten seines Wagens, um einmal bedächtig um ihn herumzutigern, die Finger fachmännisch ans Kinn gelegt. »Hmmm, was sehe ich denn da? Deine Schwerter sind schön, aber wirklich abgegriffen. Sehen aus wie aus dem letzten Jahrhundert«, kicherte er schließlich, als hätte er einen verdammten Witz gemacht.

Kain sah ihn unbeeindruckt an.

Der Händler räusperte sich in einem unauffälligen Hüsteln und stellte sich vor ihn. »Wie dem auch sei, ich habe genau das Richtige für dich. Hier, sieh mal, wirklich schöne Stücke. Scharf, glänzend, nagelneu.« Er deutete hinter sich in den Wagen, wo einige Schwerter an einer Leine hingen, wie Wäsche.

»Will ich nicht«, gab Kain trotzig zurück und verschränkte beide Arme vor der Brust.

»Ich verstehe. Ein echter Nostalgiker.« Der Mann trat zur Seite und scharrte laut quietschend einen Waffenständer über den Boden, um ihn in den Vordergrund zu rücken. Mit einer siegessicheren, ausladenden Handbewegung deutete er auf die fünf Schwerter darin, alle unterschiedlich lang und pseudo abgenutzt. »Ich habe hier auch auf alt getrimmte Schwerter, siehst du? Zuverlässige Klingen, astreines Schwarzstahl-Imitat. Ein völlig neuer Verbundstoff. Schau dir nur diese Optik an. Fast wie echt.«

Schnaubend wandte Kain sich ab, doch der Kerl schob sich erneut vor ihn, diesmal dichter, tatschte ihm mit einer ringbestückten Hand gegen die Brust. Ganz schön lebensmüde.

»Hör mal, ich meine es doch nur gut. So kannst du nicht zu Mercutios Party gehen, mit diesen abgegriffenen …«

In einer flinken, flüssigen Bewegung zog Kain ein Schwert aus den Kreuzgurten und hielt es dem vermeintlichen Händler direkt unter die Nase. Nur einen Hauch davon entfernt, ihm mit der Spitze einen hübschen Bart ins Gesicht schnitzen zu können. Der Mann hob erstarrt beide Hände, sein panischer Blick spiegelte sich in dem Metall, wie in einem klaren Bergsee bei Nacht. Einige Momente blieb es peinlich still zwischen ihnen.

Langsam schob Kain die Nase des Händlers mit der Schwertspitze ein Stück nach oben. »Schau mich an! Na los!«

Sein Gegenüber schielte über die Länge der Klinge hinweg zu ihm und räusperte sich verhalten, ohne sich auch nur ein Stück zu bewegen. »Ehm, das sind schöne Schwerter, ja wirklich. Hat man ihnen gar nicht angesehen, ha ha. Ich habe fast vergessen, wie hübsch Schwarzstahl in der Abendsonne glitzert. Und wie scharf es ist. Ha, ha«, fügte er wenig lustig an und schluckte.

Kain zuckte lieblos mit den Mundwinkeln. »Woher kennst du Mercutio?«

»Soll das ein Scherz sein?«

Er gab etwas mehr Druck auf die Klinge.

»Au, tut mir leid. Ich, ehm, ich meine, also, jeder hier kennt ihn.« Der Händler zuckte vorsorglich zusammen, doch als keine Schmerzen folgten, gab er sich augenblicklich größte Mühe, das Lächeln eines unterwürfigen Dieners wiederaufzunehmen.»Wer kennt Mercutio nicht? Wäre die bessere Frage.«

Unberührt sah Kain ihn an. »Wieso ist er so bekannt?«

»Na ja, er besitzt die Traumgrube und seine Partys sind legendär. Die halbe Stadt besucht sein Etablissement. Jedenfalls die, die es sich leisten können.«

»Und woher weißt du, dass ich dort hin will?«

»I-ich habe das Siegel erkannt. Auf dem Brief, vorhin, als du … na, als du drin gelesen hast.«

»Aha.« Verständnislos zog er beide Brauen zusammen und drückte die Schwertspitze hauchzart in weiche Haut über der Oberlippe, was den Händler dazu brachte, nachdrücklich und verzweifelt mit den Armen zu wedeln.

»Das ist die Wahrheit, ich schwöre bei den Götterzeiten.«

Mit kunstvollem Schwung ließ Kain sein Schwert zurück in die Kreuzgurte gleiten und schüttelte den Kopf. Kaum zu glauben. Zehn verdammte Jahre und die verzogene Göre stellte eine ganze Stadt auf den Kopf. Wie auch immer er das fertiggebracht hatte.

Der Mann rieb sich nervös über die Nasenwurzel, als traue er der vermeintlichen Milde nicht. »Ich kann dich hinbringen, wenn du willst?«, schlug er ergeben vor.

»Verschwinde!«, fuhr Kain ihn gereizt an und der Händler stolperte sofort zurück in seinen Stand, nicht, ohne sich eintausend Mal zu verbeugen und beschwichtigend mit den Armen zu wedeln, als wollte er einen Wildhund beruhigen. Schnaubend wandte Kain sich ab, faltete den Brief erneut auseinander und prüfte seine Position. Richtig, über die Brücke und dann links.

Er tauchte in das Meer aus Menschen ein, ließ sich mit dem langsamen Strom der Haupthandelsstraße treiben, betrachtete Stände, Marktschreier, Artisten. Hunderte Artikel, noch mehr verschiedene Ausführungen, überall Farben. Völlig überfordert hätte er beinahe die zweimannhohe Mauer übersehen, die laut Karte das gesamte Gildenviertel Mervhas vom Rest abgrenzte. Gerade noch rechtzeitig drängelte er sich aus den Menschenmassen hinaus, stieß fluchend mit einer Passantin zusammen, schob sich an ihr vorbei, passierte eine kleine Brücke. Das Tor zum Gildenviertel stand offen – und dahinter erstreckte sich eine völlig neue Welt.

Kain blieb stehen, drehte sich einmal im Kreis. Nochmal. Versuchte vergeblich, all die Details zu erfassen, die seine Erinnerungen sprengten. Hallen und Gebäude, dicht an dicht, jede Lücke zugebaut. Und alle Häuser so verdammt hoch.

Aus dem kleinen Schmiedeladen an der Ecke war eine regelechte Produktionslinie geworden. Schmelzöfen glühten, reihten sich aneinander, wie eine Gruppe Soldaten. Schwarzer Rauch zog in den Himmel, das Klopfen der Schmiedehämmer war allgegenwärtig und stach aus der Masse von Geräuschen, wie ein schlecht gestimmtes Instrument. Die Wäscherei, damals nur ein paar Bottiche, war zu einer automatisierten Waschstraße gewachsen. Kleidung lief auf Bändern durch Walzen, wurde in Wasserbäder gedrückt, von den fahrenden Leinen gepflückt, aufgehängt, gebügelt.

Mechanisch setzte er sich in Bewegung, versuchte den kitzelnden Geruch von Kohlestaub und Waschmittel aus der Nase zu bekommen. Es war viel zu voll zu hier. Handwerker eilten an ihm vorbei, fuhren Sand und Erze in Schubkarren. Zwei Männer trugen einen langen Holzbalken auf den Schultern und die Leute duckten sich ganz selbstverständlich darunter hinweg, ohne ihnen auch nur Beachtung zu schenken. Sogar der Kerl, der seine Nase tief in der Zeitung vergraben hielt und seelenruhig durch die Mervha Modern blätterte. An einem der Werkhäuser hing ein Schild − Zeit ist Geld – und verdammt, das wurde ziemlich ernst genommen. Ein Kurier scheuchte sein Pferd hektisch über das Pflaster und Kain sprang gerade noch zur Seite. Hatte der blöde Penner keine Augen im Kopf?

Fluchend hustete er sich einen Weg aus der Staubwolke, als er plötzlich etwas ganz Anderes entdeckte: Zwischen gegerbtem Leder und gefärbten Stoffen stand eine Werkstatt für Luftschiffteile. Zwei Männer rollten ein Zahnrad samt Propeller an, während eine Handvoll anderer Arbeiter mit Seilen alle Mühe hatte, den dazugehörigen Motor auf eine seltsame Konstruktion zu spannen.

Kain lugte an den Männern vorbei zu dem lauten Ungetüm dahinter. Das musste diese neue Dampfmaschine sein. Er hatte schon davon gehört, aber noch nie eine zu Gesicht bekommen. Beeindruckend. Ein großes Metallrad drehte sich, eine Übersetzung trieb Zahnräder an, die präzise ineinandergriffen. Der Kolben sprang auf und ab, Dampf schoss abwechselnd links und rechts heraus. Einer der Männer befeuerte einen Ofen seitlich der Konstruktion. Kain sah auf die Uhr. Leider keine Zeit. Außerdem wurde er dauernd angestoßen und bekam schwer Lust, zurück zu rempeln. Mit seiner Faust in irgendein Gesicht.

Er riss sich von dem Anblick los, wich einem weiteren Kurier aus und fand auf die Hauptstraße des Gildenviertels zurück.

Die skeptischen Blicke der Leute trafen ihn dabei wie Bolzen bei jedem Schritt, er war ein Fremdkörper im geschäftigen Konstrukt von Werkbänken und Produktionshallen, hier, wo man sich kannte. Zu dunkel gekleidet, zu langsam. Zu ruhig. Hin und wieder erhaschte er Wortfetzen von nervösem Getuschel, aber das meiste verstand er nicht. Wollte er auch gar nicht verstehen. Lediglich ein kleines Mädchen, das neben einem Schreinertisch saß, deutete direkt mit dem Finger auf ihn.

»Mama! Guck mal, ein Geist!«

»Nein, Liebling, das ist kein Geist. Das ist einer dieser Rechtsvollzieher. Er ist nur so blass, weil er nicht die ganze Zeit draußen arbeiten muss.« Die Frau an der Werkbank warf ihm einen abfälligen Blick zu und sprach laut genug, um das ganze Viertel darüber zu informieren. Blöde Kuh. Als könnte er etwas dafür, dass ihr Leben scheiße lief. Aber es war egal. Sie würde lange vor ihm verrecken, genau wie ihre Tochter. Selbst deren Kinder würden wahrscheinlich ins Gras beißen, bevor er irgendwann die Augen zumachte. Er musste gar nicht alle Menschen töten, die ihn nervten. Sie starben mit der Zeit von ganz allein.

Du kannst sie ohnehin nicht alle töten.

Einen Moment lang blieb Kain stehen. Klopfte sich skeptisch gegen die Schläfe.

Es bringt nichts, mich zu ignorieren.

»Die letzten Wochen hat es ganz wunderbar funktioniert«, gab er zurück und unterdrückte mit Mühe ein Seufzen.

Nur, weil du eine halbe, illegale Mhayze-Plantage aufgeraucht hast.

»Halt die Klappe. Was man im Wald findet, darf man behalten.« Murrend rempelte er einen verwirrten Passanten zur Seite und schob sich an einem Bataillon Fässer vorbei.

Keine Ahnung, wo die Stimme vor Jahren hergekommen war, oder warum sie nicht einfach verschwand. Manchmal glaubte er, es waren bloß seine Gedanken, die lauter klangen, als andere. Oder die dauernde Einsamkeit trieb ihn doch in den Wahnsinn.

Immerhin gab es Wochen, in denen er nicht ein Wort mit anderen Menschen wechselte. Zumindest nicht mit den Lebenden und die Toten waren nicht besonders gesprächig. Was er an Letzteren übrigens besonders schätzte. In Gedanken versunken hielt er erst inne, als er einen aufwendig verzierten Torbogen erreichte. Dunkelblaue Mosaiksteine waren nahezu lückenlos aneinandergereiht und wurden von goldfarbenen Steinchen durchbrochen, die einen Rebstock zeichneten, der sich entlang des Bogens rankte. Daneben stand ein blau gestrichener Mast mit einigen Wegweisern. Auf eines der kleinen Blechschilder hatte jemand ein äußerst poetisches Fickt euch, ihr goldscheißenden Säcke geritzt. Na also. Wenn das mal nicht der Eingang zum Reichenviertel war. Hinter dem Tor prangten hübsch drapierte Büsche, zu Kranichen und anderen Vögeln gestutzt. Die Vorgärten waren penibel bepflanzt, jede Blume saß an einem inszenierten Platz. Er hasste es jetzt schon. Seufzend setzte sich Kain erneut in Bewegung und drehte im Vorbeilaufen einen lockeren Wegweiser in die falsche Richtung.

Die Abendsonne tauchte längst in das Stadtbild hoher Villen und warf ihre Schatten auf kunstvolle Mosaike, die sich goldfarben und meerblau über die gesamten Straßen des Reichenviertels erstreckten. Obwohl der Herbst nahte, ruhte die Hitze des Nachmittags einem flimmernden Ozean gleich über dem Pflaster. Staute sich, beinahe anhänglich. Eine weiche Umarmung, die einem langsam aber sicher den Atem raubte. Apropos.

Zielsicher tastete er in seine Mantelinnentasche, holte eine vorgerollte Kippe heraus und schob sie sich zwischen die Lippen. Zündete sie an. Schlenderte gemütlich durch kleine Parkanlagen zwischen den Häusern, ignorierte die pikierten Blicke in seine Richtung. Zum Glück war nicht viel los. Als niemand hinsah, drückte er seinen Kippenstummel in der Hand eines Porzellanzwergs mit roter Mütze aus, der ihn über eine kniehohe Gartenmauer psychopathisch anlächelte. Bei der Finsternis, dass sich jemand etwas so abartig Hässliches in den Vorgarten stellte.

Dann endlich ein Schild. Traumgrube. Ein Pfeil, der nach links zeigte. Kain folgte dem Weg um die Ecke – und fand sich in einer Sackgasse mit nur einer einzigen Villa wieder. Wobei Palast es beinahe besser traf.

Den Kopf weit in den Nacken gelegt, sah er an der pompösen Fassade nach oben. Betrachtete die kunstvollen Verzierungen. Jeder Zentimeter schimmerte in metallischem Glanz, es brannte beinahe in den Augen. Kaum bekleidete Frauenkörper schmiegten sich in Fresken um die Säulen vor dem Eingang, etwas weiter oben sahen nackte Männerbilder auf sie herab, oder beäugten einander voller Gier. Nein, das hier war ganz offensichtlich keine Kneipe und auch kein teures Wohnhaus. Das hier war mehr eine Art … na ja.

Puff. Mit Edelnutten und Bling-Bling.

Noch immer fassungslos starrte Kain auf die Villa. Nicht gerade die beste Bezeichnung, aber besser als alles, was ihm dazu einfiel. Nur wie zur verfickten Finsternis hatte Mercutio es geschafft, in so kurzer Zeit so viel Geld aufzutreiben? Alles an der Traumgrube war dekadent, selbst die Gartenbüsche trugen silberne Zierde, in der sich die letzten Sonnenstrahlen spiegelten. Kain machte ein paar Schritte auf den polierten, eisernen Zaun zu, an dem ein Schild hing:

Willkommen in der Traumgrube. Inhaber: Mercutio Thieva. Termine nur nach Absprache.

Kopfschüttelnd sah er erneut zur Traumgrube auf und öffnete das Gartentor. Ficken nach Termin. Unglaublich.

Die Eingangstür der Villa schwang mit einem Mal auf. Ein Mann mit penibel gebügeltem Hemd und silberner Weste trat heraus und machte augenblicklich den Eindruck, einen Stock im Arsch zu haben. »Guten Tag. Mein Name ist Melbho. Kann ich dir weiterhelfen? Du siehst aus, als hättest du dich verlaufen«, meinte er sichtlich um Höflichkeit bemüht, auch wenn er klang, als hätte er eine Kanalratte in seiner Unterwäscheschublade gefunden.

Kain schielte an sich herab. Zugegeben, er sah nicht gerade wie einer dieser Goldscheißer aus. Aber vielleicht lag es ja gar nicht an ihm, dass der Kerl so dreinsah. Vielleicht hatte er immer so ein verkniffenes Gesicht, immerhin arbeitete er für Mercutio und musste Nerven aus Stahl haben. Harfenklänge drangen aus dem Türspalt in den Vorgarten und füllten die peinliche Stille. Wie kitschig. Die Nervensäge schien sich kein Stück verändert zu haben.

Silberweste kam nicht einen Schritt näher, blieb beharrlich auf dem oberen Stufenabsatz stehen. Er musterte ihn pikiert von unten bis oben, untermalte die Prozedur mit seinen Brauen, als könnte der bloße Anblick dreckiger Stiefel und abgetragener Mäntel sein Hemd beschmutzen. »Ich frage noch einmal: Hast du dich verlaufen?«

Unberührt zog Kain die Einladung aus seiner Manteltasche und hielt sie mit einem lieblosen Lächeln gut sichtbar zwischen zwei Fingern hoch. Widerwillig seufzend setzte der Butler sich daraufhin in Bewegung, nahm die Treppe in den Vorgarten, als hätten die Götter ihn verlassen. Er fischte ihm den Brief mit blütenweißen Handschuhen und einem halben Meter Sicherheitsabstand aus den Händen – überflog ihn kurz – und sah schließlich skeptisch auf. »Es tut mir leid, aber ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.«

Noch ehe Kain darüber nachdenken konnte, den Kerl an seiner perfekt gebundenen Seidenfliege zu packen, flog die Tür zur Traumgrube gänzlich auf. Eine schmale, große Silhouette tauchte im Rahmen auf und kurz darauf erklang eine ihm wohlbekannte, viel zu hohe Stimme.

»Du bist es wirklich!« Ohne Zögern flog Mercutio regelrecht über die wenigen Stufen hinweg und sprang ihm vollkommen schamlos um den Hals. Peinlich berührt drückte Kain ihn von sich, doch es fühlte sich an, als versuchte er, eine Katze vom Sofa zu ziehen.

»Langsam. Merc. Scheiße, nicht so fest«, zischte er an seinem Ohr.

»Verzeihung! Ich dachte nur, du kommst nicht mehr.« Natürlich quetschte die Nervensäge ihm trotzdem die Luft ab. Wieso mussten Menschen einander immer erwürgen, wenn sie sich freuten? Und wenn er sowas tat, war es gleich Mord.

Mercutio betrachtete ihn ausgiebig, ehe er ihm breit grinsend mit einem Finger gegen die Brust tippte. »Du hättest an der Galdinbrücke nur links abbiegen müssen, statt durch das ganze Gildenviertel zu dümpeln, du Dummerchen. Wofür habe ich dir die Karte geschickt?«

Mit einem heftigen Ruck schob Kain ihn endgültig von sich. Machte einen Schritt rückwärts, während er mit einer Hand zielsicher den Dolchknauf an seinem Gürtel fasste. »Woher weißt du, wo ich war?«

Lachend sah Mervhas schillerndste Diva sich kurz um, dann winkte er den Butler wie eine lästige Fliege davon und beugte sich wieder näher, dasselbe verschwörerische Glitzern im Blick wie vor zehn Jahren. »Also, der Schwerthändler an der Brücke, der ist gar kein echter Händler. Er ist einer meiner Spione. Ich habe ein kleines Geschäft im Geschäft, wenn du weißt, was ich meine.«

Kain sah ihn ausdruckslos an. »Und das erzählst du mir im Vorgarten?«

»Direkt mit den Tatsachen herauszurücken habe ich von dir gelernt. Ist doch auch egal.« Völlig ungerührt winkte der Verrückte ab. »Ich hasse belanglose Gespräche. Ich muss den ganzen Tag irgendwelche reichen Ärsche verhätscheln und dabei über das Wetter reden, als wäre jeder Sonnenstrahl eine ernstzunehmende, göttliche Offenbarung. Ich habe eine Vorliebe für klare Worte entwickelt.«

Schief grinsend rieb sich Kain über den Nacken.

»Was?«, schnappte sein Gegenüber und deutete hinter sich auf die Traumgrube. »Was ist so falsch daran? Wie du siehst, funktioniert es wunderprächtig.«

»Klischeehafter geht es halt echt nicht«, gab Kain amüsiert zurück und verschränkte beide Arme vor der Brust.

»Mach dich nur lustig, du blöder Idiot.« Beleidigt sah Mercutio ihn an. Doch nur wenige Sekunden später formten seine Lippen ein aufgeregtes Lächeln; das Lächeln eines Jungen, der ihm seine neuen Spielsachen zeigen wollte. »Komm, lass uns reingehen! Du hast so einiges verpasst.«

»Das ist der Sinn von Verschwinden.« Abwehrend hob Kain beide Hände, aber die Diva packte ihn so selbstverständlich am Handgelenk, dass er alle Einwände herunterschluckte. Mercutio zog ihn mit sich nach drinnen, an dem Butler vorbei, dem Kain ein hämisches Grinsen schenkte, während er einige Mühe hatte, nicht hinter seinem Gastgeber herzustolpern wie ein Idiot. Vor allem, als ihm auffiel, wie voll die Traumgrube war. Überall standen Menschen. Schick gekleidet, bis über beide Ohren voll mit allem nur erdenklichen Pomp des Adels bewaffnet. Glitzernde Gürtelschnallen, Ringe, mit Steinen so groß wie Erdbeeren und ebenso rot. Eines der Kleider fiel ihm besonders auf, weil es sich in sämtlichen Regenbogenfarben schimmernd eng um seine Trägerin schmiegte, als würde sie die Haut einer Schlange zur Schau tragen. Alle starrten ihn an, als wäre er gerade aus der Kanalisation gekrochen, doch glücklicherweise zog Mercutio ihn um die nächste Ecke.

Auf diesem Flur war es um einiges ruhiger.

Einige Gäste saßen auf bequem wirkenden Sofas vor Türen, aus denen eindeutige Geräusche drangen. Andere liefen mit Lustmädchen auf und ab, erzählten, lachten. Die Flure der Villa schienen im dämmrigen Abendlicht endlos, aber nicht ungemütlich. Hohe Decken ließen jedem Gedanken genug Platz, der Boden war poliert, glänzte in hellem Marmor. Alles war voll von Skulpturen und Bildern, manche ästhetisch, manche grenzwertig geschmacklos. Wie die Statue eines nackten Schriftstellers, der in fragwürdiger Pose auf seinem Buch ritt, als hätte er den Trip seines Lebens. »Wie hast du den ganzen Mist eigentlich bezahlt?«