Der Sündenfresser: Nazreth - Loki Feilon - E-Book

Der Sündenfresser: Nazreth E-Book

Loki Feilon

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Beschreibung

Auf der Suche nach Cisco erreichen Kain und Killian endlich Ashkanan. Doch der Kontinent im Norden hat so gar nichts mit Skelesh gemein. Unbekannte Magie-Technik, gesellschaftliche Gepflogenheiten und totgeglaubte alte Freunde stellen Kains Nerven auf eine harte Probe. Eine Enthüllung jagt die nächste. Lügen und Anschläge lassen den beiden Sündenfressern keine Pause. Trotzdem scheint der Mistkerl Ephraim ihnen immer einen Schritt voraus. Die Spur des Magiers führt die beiden schließlich ins sagenumwobene Niemandsland. Einen durch eine riesige Mauer abgeriegelten Bereich Ashkanans. Betreten verboten. Und das aus verdammt gutem Grund ...

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2020

 

 

© by Loki Feilon

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat: Paul Lung

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: privat

Illustration ›Kill‹ © by Freya Petersen

Karte Ashkanan © by Loki Feilon

 

Coverbild ›Wonders Macht‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Halbwesen‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Jack Morane‹

Coverbild Front und Back gezeichnet: © 2018 by Illustrator Ertugrul Edirne in Zusammenarbeit mit BECKER! Illustrators

Umschlaggestaltung: © 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Das Geheimnis von Talmi’il‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Artwork by Mika Jänisen

 

ISBN 978-3-96741-072-3

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Loki Feilon

 

Der Sündenfresser

 

Nazreth

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dark Fantasy

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Kill.

 

 

[Ne|bel]

[Mär|chen]

[Schuld]

[Dä|mon]

[Wol|ken]

[Wel|le]

[Schick|sal]

[Un|ter|ton]

[Wind]

[Ver|lust]

[Zäh|ig|keit]

[Ge|heim|nis|se]

[In|stinkt]

[Lü|gen]

[Far|ben]

[Schat|ten]

[My|thos]

[Pa|ra|sit]

[Zu|fall]

[Ego|is|mus]

[Los|las|sen]

[Na|me]

[Tech|nik]

[Plan]

[Sturm]

[Schein]

[Fol|gen]

Nachwort

Glossar

Loki Feilon

Danke!

Hybrid Verlag …

 

 

[Ne|bel]

Substantiv, maskulin.

[…] für das Auge undurchdringliche Trübung der Luft.

 

 

 

Über dem Nordmeer. 901 n.K.

Etwa zwei Monate nach Ciscos Verschwinden.

 

Es war seine Schuld. Die Sache mit Cisco.

Er hatte seinen Begleiter oft genug schlecht behandelt und dieser hatte es wieder und wieder weggesteckt. Ganz selbstverständlich. Ohne ihn dafür zu hassen oder zu verurteilen. Jetzt klaffte da nur dieses verdammt tiefe Loch. Wie bei allen scheinbar selbstverständlichen Dingen. Der Schmerz kam erst, wenn sie fehlten.

Kain seufzte und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab. Er tunkte die Bürste zurück in den Putzeimer, ließ sie kurz abtropfen und verlagerte sein Gewicht in eine angenehmere Position. Dann schrubbte er weiter über das hölzerne Deck. Von wegen Überfahrt in den Norden. Das hier glich der totalen Sklavenarbeit.

Killian lungerte unweit auf einem der Klappstühle an Deck. Anstatt in seiner Pause irgendetwas Sinnvolles zu tun, sah ihm der sadistische Mistkerl lieber beim Arbeiten zu. Völlig entspannt. Beide Arme hinter dem Kopf verschränkt. Fehlte nur noch, dass ihm eine exotische Schönheit mit einem Palmenwedel Luft zufächerte. Der andere Sündenfresser reckte kurz den Kopf, als er seinen Blick bemerkte und lehnte sich demonstrativ tiefer in den Stuhl. »Schön weiterschrubben«, gab er eine Spur zu genüsslich von sich. »Sonst wirft der Kapitän uns über Bord.«

»Wenn du nicht die Klappe hältst, werfe ich dich über Bord.« Kain murrte und sah zur Seite, als er ein Flattern hörte. Ein Vogelschwarm kreuzte ihren Weg und fegte in einigem Abstand über das Deck hinweg. Sofort zog sich sein Magen elendig zusammen. Diese gefiederten Arschlöcher mussten ihn dauernd daran erinnern, dass die Dragme knapp vierhundert Meter über dem Boden flog. Blöde Scheißviecher.

Killian grinste nur amüsiert. »Du kannst mich nicht über Bord werfen. Du kackst dich zu sehr ein mit deiner Höhenangst.«

»Bla, bla.« Genervt verlagerte Kain sein Gewicht erneut, warf die Bürste lieblos in den Eimer und schloss einen Moment lang die Augen. Genoss die Wärme der Herbstsonne auf seinen Wangen.

»Ich weiß, es ist kein Luxusflug.« Killian gähnte und streckte beide Beine von sich. »Aber wir hatten Glück, dass wir überhaupt noch eine Überfahrt bekommen haben.«

»Zwei Typen beim Pissen hinter der Taverne zu killen, nennst du Glück?« Langsam rollte Kain mit den Schultern und schnaubte.

Der andere Sündenfresser lächelte ungerührt. »Ich weiß wirklich nicht, was du meinst.«

»Klar weißt du nicht, was ich meine. Du standest ja nur da und hast meine Dolchhaltung kritisiert. Als wüsste ich verfickt nochmal nicht, wie man einen Dolch benutzt. Ich bin ein Assassine, verdammte Scheiße.«

»Deswegen musst du deinen Dolch trotzdem nicht halten wie ein Wilder.« Killian winkte ab. »Außerdem waren diese Matrosen die einzige Möglichkeit, unserem Glück auf die Sprünge zu helfen.«

»Ja, weil dein ach so toller Kontakt unbedingt ins Gras beißen musste.«

»Gerade deswegen. Du hast die Wartelisten gesehen. Die nächsten zwei regulären Plätze hätten wir erst im Dezin bekommen und auch nur während des Lichterfests. Und weißt du, was man am Lichterfest nicht macht? Reisen.«

»Als würdest du dich für dieses Scheißfest interessieren.« Missmutig richtete Kain seinen Blick zurück auf die Planken. Leider stimmte es. Im Herbst quollen die Passagierlisten der Schiffe förmlich über. Händler, die ein letztes Mal reisten, bevor es zu kalt und die Überfahrt zu gefährlich wurde. Dabei wollten die meisten von ihnen gar nicht in den Norden, sondern stiegen auf irgendwelchen blöden Inseln aus. Wovon es einige gab. Und, na ja, ein Luftschiff zu finden, das nach Virunsk oder Tiberith flog, entpuppte sich als nahezu unmöglich. Laut ihrem Kapitän, Gerret Fesk, war es auch eine komplizierte Sache. Man musste die Flugdauer beachten, die Antriebskristalle bei einem Zwischenstopp tauschen und ständig auf der Hut vor Luftpiraten sein. Nicht viele Kapitäne gingen das Risiko ein, bei einem solch langen Flug Fremde mitzunehmen.

Fesk schien da aus anderem Holz geschnitzt. Neben der Mannschaft, die aus knapp zwanzig Matrosen und Technikern bestand, gab es noch einige andere komische Leute an Bord. Ein gruseliges Mädchen, das nur ab und zu an der Reling stand und in die Ferne starrte, wie ein trauriges Gemälde. Einen dauerunzufriedenen Mechaniker, der nicht die Kleidung von Fesks Crew trug. Seinen Sohn, der ständig irgendwas fallenließ und sich anstellte wie der letzte Mensch ohne Hände. Und dann noch diese Frau. Die gerade wieder unter Deck hervorkam und sich die Finger an einer Küchenschürze abrieb. Serza, wenn er sich richtig erinnerte. Ihre streichholzlangen, glatten Haare leuchteten wie Obsidian in der Sonne, genau wie ihre Kleidung und Haut. Ein Kunstwerk aus Schwarztönen. Faszinierend und irgendwie gefährlich: Ihr wachsamer Blick kam nämlich einer verdammten, revierverteidigenden Alpha-Hyäne gleich.

Starr sie nicht so an.

Mit einem Mal sah die Frau zu ihm auf. Als hätte sie seine Gedanken oder die Stimme gehört. Dann hob sie lächelnd eine Hand in seine Richtung. Kain zog irritiert beide Brauen zusammen. Bis er bemerkte, dass sie gar nicht ihm winkte, sondern Killian. Dieser hob ebenfalls kurz die Hand. Sah ihr nach, wie sie eine Runde an Deck drehte und sich streckte.

»Die ist total komisch«, brummte Kain, als Serza hinter dem Mast aus seinem Sichtfeld verschwand. Er drehte den Kopf so, dass Killian seine missmutige Miene gut sehen konnte, doch dieser schaute ihr noch immer hinterher.

»Komisch? Weil sie nicht wie eine Frau aus Skelesh aussieht, oder weil sie mich lieber mag als dich?«

»Du hältst echt zu viel von dir selbst.«

»Wirklich?« Killian wandte sich zu ihm um und grinste schief. »Serza ist echt in Ordnung. Hab in der Küche nicht viel mit ihr geredet, aber mit Messern hat sie es drauf. Ehrlich. Wie sie die Kartoffeln gehackt hat, geht fast als Kunst durch.«

»Komisch«, beharrte Kain und pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Unberührt zuckte Killian mit den Schultern. »Hättest du der Spülhilfe nicht fast die Finger abgehackt, könntest du sie besser kennenlernen. Und müsstest jetzt nicht hier sitzen und das Deck schrubben.«

»Ich will gar nicht zurück in die Küche. Das ist eine verfickte Gladiatorenarena.« Kain rieb sich missmutig den Nacken. Zu viele Menschen auf zu engem Raum, alle bewaffnet mit Messern, jeder hackte auf irgendetwas herum. Wie sollte er bei dem Stress keine Anfälle bekommen?

Killian schob sich die Dunkelbrille auf den Haaransatz und wirkte kein bisschen gestresst von ihrer Lage, als wäre das hier ein verdammter Urlaub. »Jetzt schau nicht so gequält. Gleich hast du Pause und es gibt Essen.«

»Essen.« Kain schnaubte. »Du meinst Bettlerfraß, der sich als Essen ausgibt.«

»Du solltest dankbar sein, dass du überhaupt etwas bekommst. Wenn Fesk wüsste, dass du zwei seiner Matrosen auf dem Gewissen hast, würde er sicher zurückfliegen, um dich mit ihren Überresten zu füttern.«

»Ich habe sie auf dem Gewissen?«

»Du hast ihnen die Kehlen aufgeschlitzt.«

»Du standest genau neben mir!« Mürrisch schmiss Kain die Bürste in den Eimer, setzte sich auf, streckte beide Beine aus und das Gesicht in die Sonne. Mann, hätte der Blutkult bei Sündenfressern nicht irgendetwas gegen Rückenschmerzen einbauen können? Sein Kreuz brachte ihn um. Seine Knie taten weh. Er hatte Hunger und es gab immer nur etwas, was aussah wie Kotze und schmeckte wie Scheiße.

Killian grinste ihn schadenfroh von der Seite an. Dieser blöde Sadist genoss es viel zu sehr, ihn auf Knien herumrutschen zu sehen. Doch dann sah er über ihn hinweg. Kain folgte seinem Blick und entdeckte Fesk an Deck, der mit ein paar Matrosen sprach. Oder sie vielmehr durch die Gegend scheuchte. Schließlich verschränkte der Kapitän die Arme auf dem Rücken und steuerte sie beide an. »Na toll, da kommt der Sklaventreiber.«

Killian setzte sich auf und zog sich die Dunkelbrille ganz aus dem Gesicht. »Nimm lieber wieder die Bürste in die Hand und schrubbe um dein Leben.«

»Vielleicht schrubbe ich dir damit dein blödes Gesicht weg, wenn du schläfst.« Ohne sich aus seiner bequemen Position zu rühren, sah Kain lediglich auf, als Fesk direkt vor ihnen stehen blieb.

Obwohl der Kapitän im Gegensatz zu den meisten Matrosen an Bord wesentlich schmaler anmutete, besaß er eine imposante Ausstrahlung. Seine Züge glichen denen eines alten, knorrigen Baumes, wettergegerbte Haut traf in tiefen Rillen auf einen dünnlippigen Mund, der mehr einen schmalen Schlitz bildete. Dazu harte, braune Augen, die gnadenlos jeden Fehler bemerkten. Aber irgendwie wirkte er im Gegensatz zu sonst ziemlich aufgewühlt. Stand da, als hätte ihm jemand vor fünf Minuten eine Klobürste in den Arsch gesteckt. Und zwar nicht Stiel voran. Schließlich verzog Fesk beide Brauen zu einem strafenden Ausdruck und sah zwischen ihnen hin und her. »Ich stelle mit gewissem Unmut fest, dass ihr herumlungert. Faulpelze werden ausgepeitscht, kapiert?«

»Klar.« Kain griff lieblos nach der Bürste, tunkte sie ein paar Mal in den Eimer und setzte sie auf die Planken. Vielleicht würde er auch Fesks Gesicht schrubben. Gerade bekam er jedenfalls schwer Lust dazu.

Dessen Blick gewann an Härte und er zog beide Arme auf den Rücken. »Na ja, deswegen bin ich nicht raufgekommen. Ich rede nicht gerne drumherum, also komme ich gleich zur Sache: Ich habe einen Steckbrief aus Skelesh erhalten.« Er sah zu Kain herunter, als würde er einen Bluthund betrachten. Einen, der eigentlich eingeschläfert gehörte. »Die Hafenbehörde und die Miliz suchen dich. Und nicht gerade wegen Kleinigkeiten.«

Ungerührt erwiderte Kain seinen Blick. Na super. Ein Steckbrief. Wenn ihr Sklaventreiber entscheiden sollte, deswegen umzudrehen, mussten sie ihn töten. Und wahrscheinlich auch den Rest der Crew. Aber weder er noch Killian konnten ein Luftschiff fliegen.

Der Kapitän blieb eine ganze Weile stumm. Überlegte. Dann klopfte er auf die Brusttasche seiner braunen, abgenutzten Lederjacke, wo der Steckbrief einige Zentimeter weit herausragte. »Es sind fünfzig Goldstücke ausgeschrieben. Das sieht man nicht alle Tage. Dazu kommt, ihr habt mich dreckig belogen. Ihr seid keine Hilfsarbeiter.«

Schweigend lugte Kain zu Killian, der wenig begeistert eine Hand auf dem Heft seines Katanas abgelegt hielt. So gerne er seinem Partner auch dabei zusehen wollte, wie er den Kapitän zerfetzte, es brachte nichts. So würden sie niemals nach Virunsk kommen. Niemals Cisco finden. Was verdammt nochmal nicht in Frage kam. Seufzend raffte Kain sich vom Boden auf, um wenigstens halbwegs mit dem Kapitän auf Augenhöhe zu sein. Er wischte seine Hände am Mantel ab, verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. »Und wieso genau werde ich angeblich gesucht?«

»Brandstiftung in Vimos, Entführung, Mord, versuchter Betrug und Diebstahl am mervhischen Hafen und Asansward.« Klang, als hätte Fesk den Steckbrief auswendig gelernt. »Da gab es noch ein paar Punkte, aber die sind so klein gedruckt, ich kann sie ohne Brille nicht lesen.«

»Und?« Kain gab seine verschränkte Haltung nicht auf. »Habe ich hier jemanden umgelegt? Belästigt? Angezündet?«

»Vermisst jemand seine Wertgegenstände?«, hakte Killian unschuldig mit ein.

Der Kapitän verzog keine Miene. »Nein.«

Ratlos zuckte Kain mit dem Schultern. »Wo ist dann das verdammte Problem?«

»Das Problem ist, ich weiß genau, wie das bei euch Schwerverbrechern läuft.« Fesk schnaubte. »Denkst du, ihr seid die ersten Gesetzlosen, denen ich begegne? Ihr habt keine Hemmungen zu töten, was euch im Weg steht. Das möchte ungerne ich sein. Aber jetzt sind wir unglücklicherweise in dieser angespannten Lage, gemeinsam auf einem Luftschiff auszuharren. Meinem Schiff. Daher bin ich gekommen, um … unsere Interessen abzugleichen.« Fesks Mundwinkel zuckte leicht, während er sie betrachtete, als müsste er eine schwierige Rechnung kalkulieren. »Außerdem haben wir einen Deal geschlossen. Ich bin kein Mann, der seine Besatzung von Bord wirft oder sein Wort bricht. Ich brauche euch außerdem, das wisst ihr. Die Männer und Frauen können nicht noch mehr arbeiten.« Er warf einen kurzen Blick über die Schulter auf seine Matrosen an Deck. »Aber, wenn ich mich selbst und meine Crew schon in Gefahr bringe, weil ich euch dulde, will ich etwas davon haben.«

Killian schnaubte. »Und was soll das sein?«

»Einhundert Silber. Ist ein guter Preis dafür, dass ich euch nicht über die Reling werfe, oder auf der nächsten Insel zum Sterben absetze. Und euch auch nicht gesehen habe, wenn jemand fragt.« Unnachgiebig schnalzte der Kapitän mit der Zunge und verzog das Gesicht. Als wäre er verdammt nochmal in einen großen, stinkenden Haufen Scheiße getreten.

»Einhundert?«, fuhr Killian ihn fassungslos an.

Fesk nickte mechanisch. »Sind harte Zeiten.«

»Wir haben schon fünfzig Silber für uns beide bezahlt, und das, obwohl wir arbeiten! Außerdem haben wir uns hier absolut nichts zu schulden kommen lassen!«

»Mag sein. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Ihr seid heiße Ware und ich möchte mir im Falle kleinerer Verbrennungen genügend Löschwasser leisten können.«

»Also, das mit dem Verbrennen kriegen wir hin«, knurrte Killian und lehnte sich nach vorne, um Fesk gleich hier und jetzt mit seinem Katana in zwei Hälften zu schneiden.

Kain sah zwischen den beiden hin und her. Hundert Silber klang nach einem echten Schmierpreis-Schnäppchen, wenn man bedachte, was der Tempel oder Blutkult für ihn zahlen wollte. Außerdem würde Fesk sein Wort ziemlich sicher halten. Er schien nach festen Prinzipien irgendeiner Kapitänsehre zu leben, immerhin sprach er sie auf den Steckbrief an, anstatt sie klammheimlich hintenrum an die Miliz zu verpetzen. Wahrscheinlich mochte er die pseudorechtschaffenden Wichser auch nicht besonders. Na ja. Seufzend schloss Kain die Augen. Er wollte Fesk das Silber wirklich geben. Eine einfache, stressfreie Lösung, und eigentlich war der Kerl echt okay. Aber scheiße, so viel Silber besaßen sie nicht. Mercutio wartete noch immer darauf, dass er seine privaten Geldreserven ohne Risiko anzapfen konnte und sie hatten gerade so genug für die Überfahrt von zwei Personen zusammenkratzen können. Hundert Silber waren zu viel. Die Hälfte würden sie vielleicht noch irgendwie schaffen. Ein Diebstahl hier, eine Erpressung da. Mehr ging einfach nicht. Kain schob Killian mit einem Ruck zur Seite und stellte sich selbst vor Fesk. »Fünfzig Silber.«

»Auf keinen Fall.« Fesk winkte unwirsch ab. »Da fliege ich lieber zurück.«

»Du meinst, du versuchst, zurückzufliegen.« Finster knurrend zog Kain beide Brauen zusammen. »Ich bin eigentlich echt nicht in Stimmung, das ganze Schiff zu zerlegen.«

»Wenn ihr uns alle tötet, wird die Dragme abstürzen. Ihr sterbt dabei ebenfalls«, beharrte Fesk. Trotzdem klang er wesentlich unsicherer als noch vor wenigen Sekunden. Sah ihm immer wieder nervös in die Augen. Scheiße. Kam das Rot etwa durch?

Kain senkte den Kopf und blinzelte ein paar Mal. Atmete tief ein und aus. Die Schatten verstummten immer mehr. Zogen sich zurück und verklangen zu einem fernen Echo seiner Seele. Langsam sah er wieder zu Fesk auf und verzog beide Mundwinkel trocken. »Weißt du was? Du hast recht. Ich werde euch nicht töten. Ich werde euch fangen. Und foltern. Und ich bin verdammt sicher, dass deine Matrosen nicht so hart drauf sind, wie du.« Dabei sah er demonstrativ zu einer Gruppe junger Männer und Frauen, die beim Aufwickeln der Taue fröhlich vor sich hin tratschten.

Der Kapitän verzog stumm das Gesicht. Sah ihm erneut in die Augen. Suchte nach dem Rot darin. Seine Kiefer mahlten grimmig aufeinander, während er seine Optionen abzuwägen schien. Keine Ahnung, woran er wirklich dachte. Die Atmosphäre zwischen ihnen bekam etwas Gefährliches, als würde die Dragme jeden Moment in Flammen aufgehen, wenn sie sich nicht einigten. Schließlich nickte Fesk. »Verstehe. Fünfzig Silber und alle sind glücklich. Nun gut.« Er wirkte unsicher, ob er gerade ein gutes Geschäft gemacht hatte, oder es bereute, sie mitgenommen zu haben. »Aber ich muss das jetzt fragen: Wenn ihr uns alle so einfach umbringen könnt, wieso tut ihr es nicht? Wir haben Silber und Waren an Bord, ihr würdet eine Menge verdienen. Außerdem versuche ich, euch zu erpressen.«

»Wir wollen kein Geld, sondern nach Virunsk«, gab Killian zurück und trat neben Kain, ohne die Hand von dem Katana zu nehmen. »Wenn du uns das Leben schwermachst, sieht die Sache aber verdammt nochmal anders aus.«

Kain zuckte hämisch mit den Mundwinkeln. »Weißt du, wenn ich erst einmal anfange, fällt es mir echt schwer, wieder aufzuhören.« Er nickte zu dem Zipfel des Steckbriefs in Fesks Brusttasche und der Kapitän folgte seinem Blick. Überlegte offensichtlich, doch mal seine Brille zu suchen, um das Kleingedruckte zu lesen.

Schließlich schüttelte Fesk den Kopf und die etwas steife Version eines amüsierten Schmunzelns trat auf seine Lippen. »Ihr scheint ziemlich miese Schweine zu sein. Aber wenigstens habe ich das Gefühl, ihr seid im Kern ehrliche miese Schweine.« Er hielt ihnen eine Hand hin.

Killian ergriff sie fest und nickte knapp.

Fesk nickte ebenfalls. Dann deutete er zufrieden hinter sich. »Da das nun geklärt ist: Das vordere Deck muss noch geschrubbt werden. Und du, ab in die Küche«, dirigierte er Killian mit einer harschen Geste unter Deck. Dann wandte er sich ab und lief in viel zu aufrechter Haltung davon, bellte Befehle und scheuchte Matrosen durch die Gegend, als wäre verdammt nochmal nie etwas gewesen.

Kain packte seinen Putzeimer vom Boden und warf die Bürste trotzig hinein. Der Kerl hatte echt Nerven, sie nach diesem Gespräch so herumzukommandieren. Er starrte Fesk mit einem astreinen Todesblick hinterher. Leider fiel der Penner nicht um.

Killian packte ihn mit einem Mal an der Schulter und riss ihn zu sich herum. »Das hast du ja mal wieder ganz toll hinbekommen. Wusstest du etwa von dem Steckbrief?«

Kain zuckte mit den Schultern. Erwiderte seinen Blick unschuldig.

»Scheiße, wieso hast du nichts gesagt?«

Stumm wiederholte Kain seine Geste. Na ja, er hatte ein paar von den Dingern abgerissen und als Zündstoff für Kippen benutzt. Aber irgendein übereifriger Idiot von der Behörde hatte offenbar verdammt gute Laune gehabt und voller Motivation ganz Sadith damit zugekleistert.

»Ich fasse es nicht. Das gefährdet unseren ganzen Plan!« Killian zischte ihm bemüht leise entgegen und sah sich um, ob jemand zuhörte. »Wie kann man nur so ein egoistischer Wichser sein. Und wie willst du die fünfzig Silber, die du ihm da versprochen hast, überhaupt bezahlen? Wir haben nichts mehr. Nichts! Es reicht vielleicht noch so für Stockbrot und etwas zu trinken. Was glaubst du denn, was Fesk tut, wenn wir nicht zahlen? Er wird jedem scheiß Idioten auf dieser Welt erzählen, dass du dich jetzt in Virunsk aufhältst!«

Missmutig riss Kain sich los. »Erst einmal müssen wir irgendwie in Virunsk ankommen. Vorher brauchen wir das beschissene Geld nicht. Außerdem haben wir noch vier Tage Zeit bis zur Landung. Uns fällt schon noch etwas ein.«

»Nein, nicht uns. Dir fällt etwas ein. Und zwar besser früher als später.« Killian stieß ihn zur Seite und drängte sich fluchend an ihm vorbei in Richtung Küche. Schnaubend sah Kain ihm nach. Schön, sollte er doch beleidigt sein. Er hatte ihnen gerade den Arsch gerettet und wenn Killian das anders sah, dann war es sein verficktes Problem.

»Hey, du da, hilf mir mal!«

Langsam wandte Kain sich um. Entdeckte den alten Matrosen mit seinem schusseligen Sohn im Schlepptau. Ekho, wenn er sich richtig erinnerte. Beide voll beladen mit Maschinenteilen. Der Alte winkte in seine Richtung und deutete auf einen Haufen Werkzeug auf dem Boden. »Nimm das mit und komm!«

Irritiert folgte Kain dem Fingerzeig zu ein paar Eisenstangen und einer Kiste voller Schraubenschüssel, die überquollen wie Schnittblumen aus einer viel zu kleinen Vase. Na ja. Wenigstens bekam er so eine Pause vom Schrubben. Er stellte seinen Eimer ab, klemmte sich ein paar kurze Stangen unter den Arm und nahm die Werkzeugkiste, ehe er den beiden Männern schweigend folgte.

Sie überquerten das enge Deck voller Truhen und Segeltaue, liefen über nasse, glänzende Planken bis zu der Treppe, die ins Innere der Dragme führte. Doch kurz vor der Tür rutschte Ekho aus. Ging mit einem spitzen Aufschrei und rudernden Armen zu Boden. Ließ dabei die Kiste in seinen Händen fallen. Drähte und Zahnräder verteilten sich krachend in alle Richtungen. Dann kehrte beschämende Stille ein.

Ekhos Vater stemmte beide Hände in die Hüften und strafte seinen Sohn mit einem enttäuschten Blick. »Du hättest an der Uni bleiben sollen.«

»Tut mir leid, Vater.« Kleinlaut richtete Ekho sich auf und begann sofort, alles hektisch wieder einzusammeln. Als würden sie seinen Unfall vergessen, wenn er die Spuren nur schnell genug verwischte.

Hey, sieh mal, da ist wieder dieses Mädchen.

Kain stellte den schweren Koffer ab und rollte mit den Schultern, ehe er den Kopf zur Reling wandte. Tatsächlich. Da stand dieses gruselige Mädchen und starrte am Rande des geschäftigen Treibens melancholisch in die Ferne. Jedes Mal, wenn er sie musterte, fielen ihm andere Dinge an ihr auf. Die langen, weizenblonden Haare, zu einem geflochtenen Zopf gebunden. Die schmutzige rosa Mechanikerbrille, die ihrem ruppigen Äußeren zu trotzen versuchte. Ihre Hände waren übersäht von Kratzern, Ölflecken und Verbrennungen. Die typische frauliche Kurve um ihre Hüften fehlte komplett. Ihr Kreuz schien vielmehr etwas breiter als ihr Becken und sah nach schwerer Arbeit aus.

Was sie wohl hier macht?

Keine Ahnung. Sie wechselte nie ein Wort mit irgendjemandem.

»Hey, starr das Mädchen nicht so an. Du bist hier zum Arbeiten und nicht zum Vögeln.« Der alte Matrose brummte in seine Richtung, ehe er Ekho die Treppen herunterscheuchte. Kain rollte mit den Augen. Er hob den Werkzeugkoffer wieder an und setzte sich in Bewegung. Verdammte Sklaverei.

Er folgte den beiden unter Deck, vorbei an der Küche, vorbei an den Kajüten, bis zu einer weiteren Treppe. Im Maschinenraum brannten keine Laternen, aber das brauchte es auch nicht. Der melonengroße Antriebskristall, in eine Fassung aus Schwarzstahl eingelassen, strahlte in hellem Eisblau und tauchte den gesamten Raum in unwirkliches, kaltes Licht. Ein bisschen, als stünden sie unter Wasser. Kain stellte den Kofferauf dem Boden ab, klopfte sich den Mantel sauber und warf einen langen Blick umher. So sah das Herz der Dragme also aus. Ein tiefer, runder Raum, voll von Eisenteilen und irgendwelchen Maschinen, die alle ineinandergriffen. Faszinierend. Auf eine künstlerische Art und Weise. Das blaue Schimmern schmiegte sich um die Maschinenteile und verband sich mit ihnen, ohne wirklich verbunden zu sein. Wie ein Überzug aus reiner Magie. Er bildete sich sogar ein, die Energie zu fühlen, die von dem Kern in der Mitte ausging.

»Hier, halt mal.« Der alte Matrose drückte ihm ein paar Schrauben und verschiedene Schlüssel in die Hände, dann legte er sich auf ein kleines Rollbrett und schob sich unter eine mannshohe, würfelförmige Konstruktion aus Zahnrädern und Übersetzungen, auf deren Vorderseite eine dicke Gravur prangte: MT-1 Zuschaltmotor. »Mein Sohn kann nicht einmal einen Schraubendreher von einem Achtkanter unterscheiden. Dabei will er Mechaniker werden.«

Kain sah auf die Schrauben in seinen Händen. Dann zu Ekho, der wie verprügelt dastand. Nichts als deprimierende Dekoration. Seufzend schüttelte Kain den Kopf. Super. Er liebte fremde Familiendramen.

»Ist das zu glauben?« Der Alte wechselte die Position und streckte sich, was seiner Stimme einen abfälligen Klang verlieh. »An der Uni haben sie ihn rausgeworfen. Weil er nur geträumt hat, statt was zu lernen. Meine ganzen Ersparnisse sind weg. Für nichts.«

Unbehaglich trat Kain von einem Fuß auf den anderen. Wünschte sich kilometerweit weg auf eine Liege mit einem Glas Whiskey. Dazu eine Palme gegen die Sonne. Etwas Strand wäre auch nicht schlecht.

»Tut mir leid.« Ekho starrte stumm auf seine Füße, knallrot im Gesicht. Aber er wirkte nicht sonderlich überrascht von den Sprüchen seines Vaters. Offenbar erzählte sein alter Herr so ziemlich jedem, was er von ihm hielt.

»Nein, es tut dir nicht leid. Sonst wärst du an der Uni geblieben und hättest deinen Abschluss gemacht«, brummte der Matrose unter dem Konstrukt hervor.

Hilfesuchend sah Ekho über die Mechanik zu ihm herüber, doch Kain zuckte nur abweisend mit den Schultern. Nein, er würde ganz sicher nicht Partei ergreifen. Er würde diesem Typen seine Werkzeuge reichen und verschwinden.

»Gib mal die Rohrzange her.«

Mit einem leisen Seufzen bückte Kain sich über den Koffer und griff hinein. War schon eine Weile her, dass er Zulo beim Zusammenschrauben von irgendwelchen Dingen geholfen hatte. Kurz wühlte er sich durch den Inhalt. Zog mehrere Werkzeuge heraus und musterte sie prüfend. Das Teil hier müsste es eigentlich sein. Er nahm die gebogene Zange heraus, legte die anderen Teile zurück und die auserkorene Waffe in die offene Hand des Alten.

»Danke. Na endlich ein kompetenter Mitarbeiter. Sieh gut zu, Kind, damit du was lernst.«

»Ja, Vater.« Ekhos Zustimmung verging in einem Murmeln. Die peinliche Stille von vorhin kehrte zurück. Hin und wieder durchbrochen von mal hohem, mal dumpfem Klackern der Zange auf Metall. Kain schloss die Augen. Mann, sogar der blöde Putzeimer rief in Gedanken seinen Namen.

Plötzlich fuhr ein heftiger Ruck durch die Dragme. Fluchend stolperte Kain vorwärts und sah zur Decke. Das Luftschiff schwankte. Kippte zur Seite, wie ein Boot mit zu wenig Fahrtiefe. Er verlor jeglichen Halt, ruderte mit den Armen und knallte gegen die Wand, die mittlerweile fast den Boden bildete. Ekho flog mit einem erstickten Schrei hinterher, genau wie der verdammte Werkzeugkoffer. Schraubenschlüssel und Nägel fetzten wie Bolzen aus dem Kasten. Direkt neben ihnen prallte ein Seitenschneider schrill an der Schwarzstahlvertäfelung ab. Fast gleichzeitig erklang das Geräusch brechender Knochen. Gefolgt von einem verzweifelten, erstickten Schrei und einem ekelhaft schmatzenden Ton. Als hätte jemand eine verdammte Armee Schnecken mit Häuschen zertreten. Doch noch bevor Kain darüber nachdenken konnte, krachte es erneut. Der würfelartige Motor löste sich quietschend aus der provisorischen Verankerung im Boden und rauschte unbarmherzig auf sie zu. Kain packte Ekho am Arm und zerrte ihn mit sich zurück. Schubste ihn hinter ein mannhohes, fest verschraubtes Zahnrad aus Stahl und warf sich selbst hinterher. Der Motor rutschte mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen den Schiffsbauch. Die gesamte Dragme erzitterte und vibrierte. Ewige Sekunden lang. Dann verklang das Scheppern.

Kain spähte vorsichtig über das Zahnrad auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatten. Der ausgebaute Motor steckte halb in der dicken Schwarzstahlvertäfelung. Darunter prangte das Rollbrett. Abgebrochen. Rot glänzend.

Langsam trat Kain hinter dem Stahl hervor. Scheiße, was für ein Anblick. Der alte Matrose lief einer zerquetschten Tomate gleich auf dem Boden aus. Wie die Spur eines Eiswürfels, der langsam abschmolz, wenn man ihn mit Druck über eine Oberfläche schob. Nur halt mit Gedärmen.

Ekho raffte sich desorientiert neben ihm auf, stolperte wimmernd hinter dem Zahnrad hervor. Sah dabei mehr zufällig auf die Reste seines Vaters und kotzte augenblicklich auf den Boden. Nochmal. Und noch einmal.

Kain verdrehte die Augen. »Hör mal …“, fing er an, doch die Dragme kippte mit einem Mal zurück in ihre ursprüngliche Position. Er hielt sich gerade so an einer Stange fest. Ekho hingegen verlor gänzlich den Halt. Rutschte durch seine eigene Kotze, knallte auf halbem Weg mit dem Motor und den Überresten seines Vaters zusammen. Dann blieb er reglos liegen.

»Scheiße.« Kain blinzelte verstört. Wehe, wenn der tollpatischige Idiot jetzt auch noch wegstarb. Er war sein einziger Zeuge für diesen absurden Zwischenfall. Fesk würde ihm nach der Steckbriefsache niemals glauben, dass der Tod des Mechanikers nicht auf seine Kappe ging.

Und was willst du sagen? Ein Stück Metall hat ihn getötet?

»Ganz genau.« Kain wartete einen Moment. Keine heftige Schieflage, kein Zittern. Er ließ die Stange los und lief zu Ekho herüber. Er ging neben ihm in die Hocke, prüfte seinen Puls. Der Kerl sah verdammt nochmal aus, als hätte er sich abwechselnd in Blut, Gedärmen und Kotze gewälzt. Na ja. So gesehen stimmte das auch. Mit sanfter Gewalt klatschte Kain ihm ein paar Mal ins Gesicht. Nichts. Dann holte er weiter aus und setzte zu einer saftigen Ohrfeige an.

Ekhos Kopf flog zur Seite. Er riss die Augen auf, sah sich panisch um. In Sekundenbruchteilen schien ihm alles wieder einzufallen, denn er rollte sich apathisch schniefend zur Seite und blieb einfach liegen. Okay. Nicht ganz die Reaktion, die er sich erhofft hatte, aber definitiv besser als tot. Er piekste Ekho mit einem Finger zwischen die Rippen, doch der zuckte nicht einmal. »Komm schon, steh auf.«

»Ich … das …« Der Junge schluckte und würgte, als wollte er eine ganze Schlange herunterbekommen. Oder heraus. »Das ist … das ist zu viel für mich.«

»Du hättest wirklich an der Uni bleiben sollen.« Mit einem letzten missmutigen Blick auf das Massaker richtete Kain sich auf. Sah skeptisch zur Decke. Momentan schien die Dragme stabil. Die Frage blieb nur, wie lange. Er nahm die Tür nach draußen und rannte los. Stürmte die Treppe nach oben. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Im Gang zu den Zimmern kam er kaum weiter, Matrosen rannten durcheinander, schrien sich wild Befehle zu. Drängelnd bahnte Kain sich einen Weg, lugte in die Küche, konnte Killian aber nirgendwo entdecken. Seinen Namen zu schreien würde gar nichts bringen. Jedes Wort ging im Gebelle der Männer und Frauen unter.

Rücksichtlos kämpfte er sich weiter an Deck, doch hier herrschte noch viel größeres Chaos. Nebel stand wie dicke Suppe am Himmel, keine Spur mehr von Herbstsonne. Vom Deck erkannte er kaum noch die Hälfte. Matrosen rannten durcheinander, duckten sich unter dem Hauptsegel hindurch, das gefährlich schwankte, versuchten, die Seitensegel stabil zu halten, die wie kleine Drachenflügel zu beiden Seiten des Schiffs ragten. Kain wich gerade so einer Gruppe Männer aus, denen eine Frau händefuchtelnd voraneilte. »Sichert die Segel! Die Piraten dürfen nicht entern. Na los!«

Verdutzt sah er ihnen nach. Piraten? Was bei der Finsternis …?

Neben ihm knallte es mit einem Mal heftig und er zuckte erschrocken zusammen. Ein Enterhaken grub sich in die Außenverkleidung aus Holz und keine Sekunde später kippte die Dragme erneut zur Seite. Kain griff nach einem tief hängenden Tau, hielt sich fest und hörte zwei weitere dumpfe Einschläge, irgendwo im Nebel. Klasse. Ein beschissener Überfall.

Er zog ein Schwert aus den Gurten und trennte den Haken samt einem Stück der Holzverkleidung ab. Das Schiff schwankte augenblicklich zurück, diesmal in die andere Richtung und Kain schwappte fluchend hinterher, wie Wasser.

»Haken! Löst die Haken!« Fesks Stimme donnerte über ihre Köpfe hinweg. Er stand mitten im Getümmel, brüllte konzentriert Befehle und half einer Gruppe Matrosen, die Seitensegel neu zu justieren. Aber wo auch immer irgendjemand einen Enterhaken vom Schiff löste, tauchten zwei neue auf. Von beiden Seiten schlugen die Krallen ein. Bis die Dragme schließlich festgenagelt mitten in der Luft zum Stillstand kam und das Holz vor Anspannung knarzte.

»Kapitän, die Drachenflügel sind stabil!« Ein Matrose salutierte vor Fesk und dieser nickte.

»Gut, sag den Männern und Frauen, sie sollen sich bewaffnen. Noch ist nichts verloren.«

Der Matrose eilte Befehle brüllend davon und Kain nutzte den Moment, um zum Kapitän vorzudringen. »Wo kommt der Nebel her?«, wollte er wissen.

Fesk schnaubte. »Sie nutzen seit neuestem Fluchpapier.«

Skeptisch zog Kain eine Braue hoch. Fluchpapier war nichts, was man an jeder Ecke kaufen konnte und schon gar nichts, das er sich in Händen von Piraten vorstellte. In Skelesh benutzten die Leute es für die kleinen Dinge im Leben. Ein Lagerfeuer entzünden, etwas abtauen, einen Baum wachsen lassen. Und auch nur die, die es sich leisten konnten, denn das Zeug war richtig teuer. Die wenigsten Magier Skeleshs konnten einen Zauberspruch auf Papier bannen, auch wenn die Nutzung sich denkbar einfach gestaltete. Zettel zerreißen und abwarten. Nachdenklich sah Kain einmal rundum. »Das muss aber ein ziemliches großes Fluchpapier sein.«

Mit einem abfälligen Schnauben folgte der Kapitän seinem Blick. »Keine Ahnung, woher sie es haben, oder wieso es so mächtig wirkt. Kein ordentlicher Magier würde auch nur einen verdammten Geburtstagsgruß für Piraten herstellen.« Finster sah der Kapitän von dem Nebelmeer zurück an Deck. »Wir müssen etwas tun. Meine Frauen und Männer sind gute Leute, aber wenn es zu viele Piraten sind, haben wir keine Chance.«

»Hast du Killian gesehen?«

»Nein.« Fesk biss sich nervös auf die Unterlippe, während er durchzählte.

Ein lautes Krachen über ihren Köpfen ließ sie beide zusammenfahren. Ein ziemlich großer Enterhaken schlug im oberen Hauptmast ein und stellte die Dragme auf eine Zerreißprobe. Das Holz knarzte malträtiert, die Schwarzstahlbeschläge quietschten elendig, während das dicke Drahtseil am Enterhaken sich immer mehr spannte und das Schiff beinahe auseinanderriss.

Der Kapitän sah grimmig aber hilflos zu dem Haken, der sich in dem Hauptmast verbissen hatte, wie ein wildes Tier. »Sie kommen über die Leine.«

»Die Leine?«

»Das habe ich am Hafen aufgeschnappt. Es ist eine neue Masche.«

Keine Sekunde später erklang ein Surren, wie von Bienen. Unheilvoll kam es näher, ließ die Matrosen an Deck verharren und lauschen. Niemand wagte es, sich zu bewegen. Ein paar Hälse reckten sich hektisch zu allen Seiten, doch der Nebel umhüllte sie wie eine magische Wolke.

Das Surren schwoll an. Leder auf Metall, reibend. Und dann kam der erste Pirat. Mit wildem Kampfschrei brach er durch den Nebel, beide Hände an jeweils einem Gürtelende, mit dem er über das Metallseil des großen Enterhakens rauschte. Ohne Zögern zog Kain einen Dolch aus seinem Stiefel und warf ihn dem Arschgesicht entgegen. Die Klinge surrte durch die Luft und bohrte sich präzise in die Kehle des Piraten. Dessen Finger lösten sich von dem Gürtel und er krachte in den Abgrund, noch bevor er das Schiff erreichte.

»Da kommen noch mehr!« Fesk deutete in den Nebel und keinen Augenblick später kam eine ganze Horde von Piraten in Sicht. Sie rutschten nacheinander über die provisorische Seilbahn, mit höchstens einem Meter Abstand zueinander. Noch ehe Kain einen weiteren Dolch zücken konnte, sprang der erste Räuber an Deck, der zweite folgte ihm mit einem recht galanten Sprung und gemeinsam schafften sie mit ihren Säbeln Platz für die anderen.

Kain zog die beiden Wurfdolche seiner Armschiene ab und warf sie auf die Männer, die noch an der Leine hingen. Einen erwischte er an der Hand und der Angreifer folgte seinem ersten Kollegen schreiend in den Abgrund. Den Mann dahinter erwischte er im Gesicht, genau, als dieser den Gürtel losließ und er krachte in einen anderen Piraten, den er mit sich zu Boden stieß.

Fesk wandte sich ab, stieg auf die Erhöhung am Hauptmast und zog seinen Säbel vom Gürtel. »Zu den Waffen! Kämpft!«

»Zu den Waffen!«, klang es wie ein Lauffeuer zurück.

»Holt euch die Bastarde!«

»Keine Gnade!«

Das Getöse nahm ohrenbetäubende Ausmaße an. Überall krachte und schepperte es. Die Piraten kamen einer nach dem anderen über die Seilbahn, ließen sich mit wildem Kampfschrei an Deck fallen und schlugen um sich, was das Zeug hielt.

Kain griff sein Schwert fester und stellte sich dem nächstbesten Piraten in den Weg. Ein Typ mit wirren Haaren und gut sichtbaren Narben an Hals und Armen. Er grinste so breit und siegessicher, dass Kain nicht umhinkam, seine Geste zu erwidern.

Von links nach rechts? Oder doch lieber von rechts nach links?

Wieso nicht mal wieder von rechts nach links? Mühelos parierte er den Säbelhieb seines Gegners, einmal, zweimal, dann öffnete er seine Deckung. Wirrhaar schlug zu. Er wich aus. Trat ihm gegen den Oberschenkel, dann gegen das Knie, hob die Klinge und rammte sie dem Kerl in den Mund. Zog sein verblasstes Grinsen von rechts nach links nach. Wirrhaar ging mit einem gurgelnden Laut zu Boden, gleich neben seinem Unterkiefer.

Der nächste Gegner fand sich sofort. Ein hagerer junger Kerl mit einer riesigen Narbe am Arm und einem abgebrochenen rostigen Kurzschwert in der Hand. Der Pirat schlug nach ihm, ungelernt, wedelte vielmehr mit der Waffe hin und her. Kain passte einen seiner Schläge ab und rammte ihm die Klinge durch den Hals.

Ein spitzer Schrei erklang und Kain fuhr herum. Am Bug des Schiffes stießen Piraten zwei von Fesks Leuten in die Tiefe. Scheiße. Sie durften nicht zu viele Besatzungsmitglieder verlieren.

Wollen wir Wetten abschließen?

»Klappe!« Knurrend drängte er sich durch die Kämpfe, die auf jedem Meter Deck tobten.

Schreie, Metallklirren, dazu der Wind, der in den Ohren pfiff. Ein riesiges Chaos aus Matrosen, Piraten und Nebelschwaden. Fesk konnte er nirgends mehr entdecken. Doch er erkannte den Koch und einen der Küchenjungen nahe des Bugs, die sich nur mit Mühe gegen drei grimmige Gestalten zu behaupten versuchten. Kain drückte sich an zwei Kämpfenden vorbei, duckte sich unter einem blinden Hieb hinweg und schwang sich um den Hauptmast.

»Er ist so fett und lustig, wir sollten ihn behalten.« Der Bärtige der drei Piraten lachte und deutete auf den Jungen. »Wie ein kleines niedliches Schweinchen.«

»Denk nicht mal daran, Arschloch!« Der Koch schob sich dazwischen, hob sein Schwert und ging auf die drei Männer los.

Kain hechtete die letzten Meter über die Holzplanken und rammte dem hintersten der drei Piraten das Schwert durch den Rücken. Für den Koch kam die Hilfe leider zu spät. Er ging noch im selben Moment am Bauch durchbohrt zu Boden.

Sofort fuhren die überlebenden beiden Piraten zu ihm herum. Sahen zu, wie ihr Räuberkollege zuckend zusammensackte. Blut spritzte auf den Boden, als Kain seine Klinge aus dem leblosen Körper zog. Ohne Zögern machte er einen Satz über den Toten hinweg, hielt das Schwert vor sich, bereit, den anderen beiden die Köpfe von den Schultern zu schlagen. Doch plötzlich packte ihn jemand von hinten. Schlug ihm das Schwert wuchtig aus der Hand, schlang beide Arme um seine Brust und hob ihn von den Beinen. Als wäre er ein verdammtes Kind. Zappelnd verrenkte Kain den Hals, erkannte eine wahre Riesin von Frau hinter sich, die ihn mit einem grimmigen Ausdruck im Gesicht beinahe zerquetschte. Wie eine verdammte sadither Ringkämpferin. Seine eigenen Arme steckten in ihrem Griff fest. Er konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Nur vor sich hin zappeln und mit den Füßen gegen seine Peinigerin treten, deren belustigtes, tiefes Lachen an seinem Ohr hallte. Ihr Atem stank nach vergorener Fischsuppe. Widerlich.

»Jetzt guckste blöd, was?« Bartgesicht, an dessen Klinge noch das Blut vom Koch klebte, umfasste seinen Säbel siegessicher und stieß seinem Kollegen mit dem Ellenbogen in die Seite, der daraufhin amüsiert gluckste.

Da will wohl jemand deine Eingeweide sehen.

Kein Zweifel. Verkrampft biss Kain die Zähne zusammen und knurrte vor Frustration. Er kam nicht aus diesem bescheuerten Griff heraus und würde wohl einfach als Eintopf enden.

Zeit für eine Schattenparty.

Es war viel zu riskant. Ephraim besaß überall Augen und Ohren, und wenn auch nur ein Pirat überlebte, würden die Gerüchte um den wabernden Schatten an Bord eines Handelsschiffs in null Komma nichts das Festland erreichen. Vollkommen egal, auf welcher Seite des Meeres. Als Fleischsuppe zu enden, war aber irgendwie auch keine Option. Und wo zur verfickten Finsternis blieb Killian?

»Hey, ihr Flachpfeifen«, ertönte plötzlich eine feste, weibliche Stimme hinter ihnen.

Die Riesin fuhr zuerst herum und erlaubte somit auch ihm zu sehen, was vor sich ging. Das Mädchen mit der verrußten Brille stand breitbeinig vor ihnen. Sie hielt eine Art Steinschleuder in der Hand, aber nicht aus Holz oder Ästen, sondern aus Metall. Das Ding sah beinahe aus wie eine kleine Armbrust, mit zwei Zahnrädern an beiden Seiten. Mehrere Sehnenstränge liefen an den Wurfarmen zusammen, in dem Lederkörbchen lag eine haselnussgroße Kugel, bereit zum Abfeuern. Das Mädchen hielt den Blick unnachgiebig auf die Riesin gerichtet und zog die Schleuder langsam, kraftvoll aus, bis die Zahnräder sich mit einem leisen Klicken verhakten. Mit einem Daumenschnippen klappte sie eine dünne Stange aus dem Gerüst, auf welcher sie den Wurfkorb einrasten ließ.

»Was will die Schlampe?«, wollte Bartgesicht über das Getöse hinweg wissen und sein Kollege, der ihm kaum bis zur Brust reichte, zuckte mit den Schultern.

»Ich glaube, sie will den Kleinen da.«

Grimmig wandte Kain seinen Kopf zu dem Zwerg. »Nenn mich noch einmal Kleiner, du blöder Wichser, und ich lasse dich an deinem eigenen Darm vom Schiff baumeln!«

Der Räuber winkte ungerührt ab und zog einen verschlissenen Streitkolben vom Gürtel, ehe er sich neben die Riesin stellte.

Das Mädchen verspannte sich, verzog aber keine Miene. »Ich habe euch gewarnt.« Ohne Zögern schoss sie. Die Mechanik der Schleuder ratterte und was auch immer sie da geladen hatte, fetzte mit unglaublicher Geschwindigkeit heraus. Instinktiv zog Kain den Kopf ein, keine Sekunde später ertönte ein dumpfes Fump. Die Arme, die ihn hielten, fielen schlaff von ihm ab und er krachte unvorbereitet zu Boden. Die Riesin landete direkt neben ihm, Gesicht voran. Ihr Kopf rollte leblos zur Seite. Tote Augen blickten ihm entgegen. Kain starrte auf das beeindruckende, verschmorte Loch in ihrer Stirn. Ehrlich gesagt, er konnte gar nicht wegsehen.

Plötzlich schrie das Mädchen schrill auf und Kain sprang sofort auf die Füße. Die Piraten zerrten sie mit sich durch das Gedränge davon.

Sofort sammelte er sein Schwert auf, steckte es zurück in die Kreuzgurte und bahnte sich einen Weg durch die Masse. Während er über zwei Leichen hinwegstieg, hob er ein aufgerolltes Seil von den Planken, fädelte gekonnt eine Schlaufe hinein und zog sie fest. Quetschte sich an den Kämpfenden vorbei, reckte den Hals, verlor die Kleine fast aus den Augen.

Zwei Piraten traten ihm entschlossen entgegen und versperrten ihm endgültig die Sicht. Der Typ mit dem Bandana um die Stirn stach planlos auf ihn ein und Kain machte ein paar Schritte rückwärts. Der andere Pirat holte ebenfalls aus, wollte ihm den Säbel in die Seite rammen.

Kain wich dem Hieb aus, schoss nach vorne, schlang die Schlaufe um den Hals des Bandana-Idioten, rammte ihn gegen den Hauptmast neben sich und trat ihm das Kurzschwert aus den Fingern. Er duckte sich unter dem Hieb des anderen Piraten hinweg, packte dessen Handgelenk und verdrehte es mit einem Ruck, bis auch dieser Pirat seinen Säbel fallenließ. Dann machte er einen schnellen Schritt an ihm vorbei, wickelte ihm ein Stück Seil um den Hals. Sprang auf die kleine, eckige Holzplattform am Mast, die zum Ausguck hochgefahren werden konnte. Er band das Seilende fest um das Sturzschutzgeländer und legte den Hebel um. Sofort setzte die Plattform sich langsam in Bewegung. Die beiden Piraten zappelten wie festgebunde Hunde und versuchten, nach ihren Waffen zu greifen, doch das Seil spannte sich und zog sie hoch.

Einen Moment lang betrachtete Kain sein Werk zufrieden, dann lehnte er sich über das Sturzschutzgeländer und sah sich nach dem Mädchen um. Obwohl der Nebel sich langsam verflüchigte, konnte er kaum etwas erkennen. Unzählige Menschen tummelten sich auf engstem Raum. Die Plattform fuhr höher, verschaffte ihm einen besseren Überblick und endlich fand er sie. Die Piraten zerrten das Mädchen zur Reling. Fluchend fummelte Kain seine Lederhandschuhe aus dem Mantel, streifte sie über und trat mit einem Fuß auf das Geländer. Drückte sich kraftvoll ab und sprang an eines der Stützseile des Hauptmasts. Er bekam es zu greifen, federte seinen Schwung ab. Ließ sich abwärts rutschen. Spürte die Hitze der Reibung unangenehm unter seinen Fingern. An seinem angestrebten Landeplatz tobte ein Kampf und Kain zog beide Beine an. Mit Wucht raste er einem der Piraten ins Kreuz, warf ihn um, landete auf seinem Rücken. Er trat ihm ein paar Mal fest auf den Hinterkopf, bis der Kerl sich nicht mehr regte, dann rannte er weiter. Ihn trennten nur noch wenige Meter und noch weniger Kämpfer von dem Mädchen und ihren Peinigern. Doch die Arschlöcher hoben sie hoch und hängten sie über die Reling.

Kains Magen verkrampfte sich unangenehm. »Hey!«, brüllte er so laut er konnte und fuchtelte mit den Armen, aber weder das Mädchen noch die Männer hörten ihn. Irgendjemand schwang sein Schwert blind herum und Kain duckte sich gerade rechtzeitig, um seinen Kopf zu behalten. Das Mädchen zappelte und schrie, die Piraten hielten sie nur noch an einem Bein. Zogen sie immer wieder hoch und runter. Kain drängte weiter, als ihm plötzlich ein Pirat von rechts in den Weg stolperte. Mann, er hatte echt keine Zeit für diese Scheiße.

Genervt packte er den Kerl am Kragen, drehte ihn zu sich und rammte ihm die Unterarmklinge durch den Unterkiefer. Schubste ihn zur Seite und machte einen Satz zwischen zwei Kämpfenden hindurch.

Die Männer lachten … und ließen das Mädchen einfach los.

Kain sprang an die Reling, lehnte sich gefährlich weit darüber. Die Kleine fiel. Sie hielt eine Hand nach ihm ausgestreckt, die Augen vor Todesangst aufgerissen. Er konnte nichts tun. Außer, sie anzustarren. In wenigen Sekunden würde ihr Körper auf der Meeresoberfläche zerplatzen wie eine Melone. Er sah es förmlich vor sich.

»Platz da, du hässlicher Affe!«

Kain fuhr herum. Killian zog sein blutüberströmtes Katana aus dem Rücken eines Piraten. Doch noch ehe er dem anderen Sündenfresser einen Vortrag über Zuspätkommen halten konnte, machte dieser einen Satz an ihm vorbei und rollte sich seitlich über die Reling in die Tiefe. Kain verkrampfte sich und krallte seine Finger in das Holz. Irgendeine dämliche innere Regung ließ ihn beinahe hinterherspringen.

Mit klopfendem Herzen lehnte er sich weiter über das Geländer. Dieser blöde Idiot. Setzte sein Leben für irgendwelche Menschen aufs Spiel, dabei hatten sie verdammt nochmal eine Mission. Unruhig trat Kain von einem Fuß auf den anderen. Sah kurz über die Schulter. Haufenweise tote Männer und Frauen lagen auf dem Boden. Größtenteils Piraten. Die meisten trugen eindeutig Killians Handschrift. Gut, das verschaffte ihnen ein bisschen Zeit.

Ein gequältes Stöhnen zu seinen Füßen riss ihn aus seinen Gedanken. Der Lehrling des Kochs drückte sich neben ihn an die Holzverkleidung. Eindeutig im Schock. Angst kroch aus jeder Faser seines Körpers und er zitterte heftig. »K-kann ich hierbleiben? B-bitte.«

Kopfschüttelnd erwiderte Kain seinen Blick. »Nein, du kannst nicht bleiben. Ich bin nicht dein Aufpasser und …«

»Feuer!« Mit einem Mal starrte der Junge aus großen Augen an ihm vorbei, zuckte zusammen und kroch auf allen Vieren zwischen ein paar Fässern davon.

Kain fuhr herum. Auf der anderen Seite des Schiffes brannte eines der Seitensegel lichterloh. Schwarze Ölschlieren tropften von dem züngelnden Drachenflügel an Deck und drohten, alles andere in Brand zu stecken. Alarmiert sah er nach links, rechts, packte zwei vorbeieilende Matrosen an den Schultern. »Los, holt Eimer! Kein Wasser, verstanden? Kein Wasser!«

Die Matrosen nickten und eilten weiter. »Holt den Sand! Wir brauchen Sand!«

Kain wollte hinterher, helfen, als die Luft vor seiner Nase vertraut flimmerte. Keine Sekunde später tauchte Killian auf. Das Mädchen hing leblos in seinem Griff. Aber sie atmete. Flach und leise. Im Gegensatz zu seinem Partner, der schwer keuchend in sich zusammensackte und gierig Luft einsog. »Ganz schön knapp.«

»Zu knapp. Du Idiot.« Kain sah ihn mit finsterem Blick an. Kurz lugte er zu dem Feuer, das einige Matrosen beanspruchte und den Piraten mehr Raum zum Kämpfen gab. Dazu kamen neue Angreifer über die Leine nach. Wenn sie nicht bald etwas unternahmen, hörte das nie auf.

Killian rieb sich den Schweiß von der Stirn. »Wieso bin ich der Idiot? Du wolltest sie auch retten. Du warst nur zu langsam.«

»Ja klar, bist du jetzt fertig?« Die Augen verdreht deutete Kain nach rechts. »Da kommen nämlich immer mehr Piraten. Und die Dragme brennt.«

Sofort fuhr Killian herum und sondierte die Lage. »Scheiße.«

»Große Scheiße.« Es gab nur eine Möglichkeit, die Leben der meisten Matrosen noch zu retten und dadurch irgendwie wohlbehalten in Virunsk anzukommen. Sie mussten alle Piraten möglichst auf einmal auslöschen und vor allen Dingen den Enterhaken am Hauptmast kappen. Kain reichte dem anderen Sündenfresser eine Hand. »Kennst du das Stück Kriegerschatten?«

Killian legte das Mädchen vorsichtig an Deck ab, packte seine Hand und zog sich auf die Beine. «Nicht dein Ernst.«

»Wieso nicht?«, gab Kain schulterzuckend zurück. »Was soll schon schiefgehen?«

»Ungefähr alles.« Missmutig rieb Killian sich die Schläfen, als müsste er einen üblen Gedanken wegwischen.

Kain seufzte. »Du bist zwar total außer Puste, aber ich nicht. Und wenn ich das richtig sehe, kannst du beim Teleportieren von meiner Kraft zehren.«

Mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis sah Killian ihn an. »Bist du ganz alleine dahintergekommen?«

»Halt die Fresse.«

»Schon gut. Kriegerschatten. Na von mir aus.« Während Killian seinen Mantel richtete und sich das Haarband fester zog, wandte Kain sich zu dem Lehrlingsjungen um, der wie angewurzelt noch immer zwischen den Fässern kauerte.

»Hey, du da. Pass auf das Mädchen auf, verstanden?«

Der Junge sah ihn aus großen Augen an, als fühlte er sich der Verantwortung alles andere als gewachsen. Aber nach einem Blick auf die Bewusstlose schien sich etwas in ihm zu regen und er nickte schwach. Kain zückte seinen letzten Stiefeldolch und drückte ihn dem Lehrling in die Hand. »Außerdem hast du nicht gerade gesehen, wie jemand aus dem Nichts aufgetaucht ist. Klar soweit?«

Der Junge schluckte schwer, nickte abermals. Dann rückte er zur Seite, machte Platz in seinem Versteck, damit Killian das Mädchen zu ihm legen konnte. »Ich passe auf sie auf. Und ich habe nichts gesehen, vor allem keinen Teleport.«

Am liebsten hätte Kain ihm eine reingehauen, doch Killian stupste ihn von der Seite an und hielt ihm auffordernd einen Arm hin. »Bereit?«

Nickend schloss er seine Finger fest um den ihm angebotenen Unterarm, wie bei einem Kriegergruß. »Leg schon los, ich langweile mich.«

Killian grinste nur schief. Dann verzog sich die Realität.

Fallen. Leere. Nichts. Nur einen winzigen Augenblick lang.

Plötzlich wieder Licht, Farbe und Geräusche. Auftauchen. Boden unter den Füßen. Kain stolperte unbeholfen nach vorne, direkt in einen anstürmenden Piraten hinein.

Killian blockte gerade so den Schwerthieb des Drecksacks ab, stieß diesen mit einem heftigen Tritt zurück in die kämpfende Menge. »Das sah nicht gerade aus wie bei Kriegerschatten. Eher wie ein desorientiertes Kalb nach der Geburt.«

»Mit dieser Teleportscheiße muss man erst einmal klarkommen«, knurrte Kain und kaum, dass er sein Gleichgewicht wiederfand, trat er ebenfalls einen taumelnden Piraten zurück in eine Traube Matrosen. »Wie weißt du dabei überhaupt, wo du bist?«

Amüsiert verstärkte Killian den Griff um seinen Arm. »Übung.«

Wieder fallen. Wieder nichts.

Gleich Auftauchen. Er fühlte es.

Jetzt.

Intuitiv öffnete Kain die Augen, packte eines der herabhängenden Taue vor seiner Nase mit der freien Hand und hielt sich mit der anderen an Killian fest. Er stemmte sich in die Luft und trat einen vorbeirennenden Piraten wuchtig über die Reling. Killian zog ihn zu sich und Kain folgte dem Zug. Ließ sich einmal herumschleudern. Er krachte gegen den nächsten Piraten und rammte ihm dabei die Unterarmklinge durch die Eingeweide. Na, das lief doch prächtig.

Als er sich wieder aufrichtete, entdeckte er zwei Piraten, die hinter Killian auf sie zugestürmt kamen. Er ließ den anderen Sündenfresser los und nickte kurz in dessen Rücken. Sein Partner verstand sofort, was er wollte und ging in die Hocke. Verschränkte beide Hände zu einer Trittfläche. Kain nahm zwei Schritte Anlauf, trat kraftvoll hinein und sprang ab. Er flog über Killian hinweg und schlug wie eine Bombe in die beiden Männer ein. Dem Linken stieß er noch im Flug die Unterarmklinge in den Hals, den zweiten Piraten rang er mit Wucht zu Boden und schnitt ihm die Kehle in einem Zug auf.

»Das war schon eher wie bei Kriegerschatten«, erklang Killians Stimme zufrieden hinter ihm und Kain drehte sich um. Erwiderte dessen breites Grinsen und wischte sich mit dem Ärmel Blut von der Wange. Sie sollten öfter zusammen trainieren.

»Feuer ist gelöscht!« Ein Matrose rannte an ihnen vorbei. »Feuer ist gelöscht!«

Irgendwoher erklang Fesks Stimme. »Treibt sie an die Reling, stoßt sie vom Deck! Vorwärts!«

Alles ging drunter und drüber. Über das Kampfgetöse hinweg erklang ein elendiges Knarzen vom Hauptmast. Die dicke Enterleine steckte noch immer darin und zog die Dragme ganz langsam in Schieflage. »Scheiße.« Kain folgte der Leine mit seinem Blick, doch sie verlief sich in Nebelsuppe. »Die Penner kappen das Seil nicht.«

»Sie wollen uns abstürzen lassen, wenn sie uns nicht haben können.« Killian verschwand von seiner Seite und tauchte auf dem Ausguck am Mast auf. Er stieß seine Klinge gegen das dicke Metallseil, doch dieses zitterte nur unbeeindruckt. Immer wieder schlug der andere Sündenfresser zu. Ohne Erfolg.

Deine Schwerter.

Was sollte damit sein? Killians Katana bestand aus Schwarzstahl, genau wie seine eigenen Schwerter. Wenn er es nicht durchtrennen konnte …

Willst du abstürzen und draufgehen? Und was wird dann aus Cisco?

»Es bringt nichts, hast du nicht zugehört, verdammt?«

Wirf ihm eines hoch. Na los.

»Schön, Klugscheißer.« Knurrend zog Kain eines der Schwerter aus den Kreuzgurten und legte den Kopf in den Nacken. »Kill, nimm das!«, rief er hoch und warf die Klinge schwungvoll und möglichst gerade nach oben.

Sein Partner sah von dem Ausguck zu ihm herunter und fischte das Schwert aus der Luft. Skeptisch sah er zwischen seiner neuen Waffe und ihm hin und her, dann holte er aus und schlug zu. Das Drahtseil glitt sauber auseinander, als hätte er die Klinge durch verdammte Butter gerammt. Der Druck auf dem Mast ließ sofort nach. Die Dragme stabilisierte sich.

Einen Moment standen sie beide still und ungläubig da. Killian sah mit gehobenen Brauen auf das Schwert und schien sich ähnliche Fragen zu stellen, wie die, die Kain gerade durch den Kopf schossen. Eine Sekunde später tauchte der andere Sündenfresser wieder neben ihm an Deck auf und gab ihm schweigend seine Waffe zurück.

Schulterzuckend nahm Kain sein Schwert entgegen. Immerhin stellte Killian keine Fragen. Er selbst hatte dazu nämlich verdammt nochmal keine Antworten. Schweigend eilten sie weiter zur Reling, durchschnitten die kleineren Enterhaken, deren Seile lediglich aus Tauen bestanden, und befreiten die Backbordseite Stück für Stück von den eisernen Klauen.

Als Kain den letzten Enterhaken durchtrennte, brach hinter ihm bereits tosender Jubel los. Durch den Nebel drang das ferne Gebrüll frustrierter Krimineller, die den Rückzug antraten.

Killian ließ sich neben ihm auf den Boden fallen, die Beine ausgestreckt, schnaufend. Einen Arm unter dem Kopf, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Schief grinsend sah Kain auf ihn herab und stupste ihn mit der Stiefelspitze in die Seite. Killians Antwort war ein Mittelfinger, den Kain geflissentlich ignorierte, ehe er über seinen Partner hinwegstieg und sich umsah.

»Gute Arbeit.« Fesk tauchte aus dem Getümmel vor ihm auf. »Vielleicht ist es ja doch Schicksal, dass ihr auf diesem Schiff seid.« Beinahe euphorisch wandte der Kapitän sich dann an seine Crew und riss beide Arme hoch. Die Besatzung jubelte wie auf Kommando und Fesk gönnte es ihnen. Erst, als die Matrosen sich glücklich und teilweise weinend in die Arme fielen, hob er seine Stimme erneut: »Sammelt euch! Durchzählen!«

Langsam lichtete sich das Durcheinander und ging in geordnete Bahnen über. Die Männer und Frauen meldeten sich nacheinander mit Namen, listeten die Gestorbenen auf. Reihten die toten Matrosen nebeneinander und warfen die leblosen Piraten einfach über Bord.

»Hilfe! Wir brauchen Hilfe im Maschinenraum!« Ekhos Stimme stach aus dem Stimmengewirr an Deck und drang bis zu ihnen durch.

Kain wandte sich um. Der Junge lief zittrig und sichtlich neben der Spur auf sie zu. Blieb neben ihnen stehen und holte tief Luft. »Irgendetwas stimmt nicht. Es rattert und macht komische Geräusche da unten.«

»Tut es das nicht immer irgendwie?«, wollte Kain wissen und unterdrückte den Drang, sich Luft zuzuwedeln. Ekho roch noch widerlicher, als er aussah. Wie ein Haufen Müll.

»Nein, es klingt definitiv anders als immer. Falsch. Und es liegt nicht an dem Blut und den … Innereien«, gab der Junge nervös zurück und sah auf seine Schuhe, an denen noch Reste von Leber klebten.

Fesk war mit einem Mal ganz Ohr. »Was ist? Gibt es Probleme?«

»Im Maschinenraum.« Ekho deutete unter Deck. »Es rattert so komisch.«

»Kapitän!« Wie gerufen kam einer der Matrosen angelaufen und atmete ein paar Mal tief durch, bevor er sprach. »Die Dragme ist stark beschädigt. Wir schaffen es nicht bis zur Ladeinsel. Unmöglich. Der linke Drachenflügel ist teilweise abgebrannt und die Steuerung klemmt, wir können den Kurs nicht ändern. Außerdem klingt der Motor, als wäre er erkältet.«

»Wo ist Haskon?« Suchend sah der Kapitän sich an Deck um. »Er muss es reparieren, bevor wir …«

»Haskon ist tot, Kapitän. Es tut mir leid.« Der Matrose senkte den Kopf.

Schweigen. Nur das Rauschen des Windes und das Trampeln der anderen. Fesk rieb sich einige Male durch den unordentlich gestutzten Bart, dann hob er die Stimme, damit ihn alle hören konnten: »Kennt sich noch jemand mit Maschinen aus? Irgendjemand?«

Kollektives Kopfschütteln. Betretenes zur Seite starren. Der Kapitän brummte unzufrieden. »Ekho, was ist mit deinem Vater? Wollte er nicht nach der Steuerung sehen?«

Ekho öffnete den Mund, doch seine Unterlippe begann so stark zu zittern, dass er kein Wort herausbekam. Stattdessen brach er in Tränen aus. Sah zur Seite, ging in die Hocke und hielt sich wippend an seinen eigenen Knien fest.

Kain seufzte schwer und sah zu Fesk auf. »Genaugenommen sieht sein Vater gerade nach der Steuerung. Vielmehr ist er auf der Steuerung. Verteilt. Also, überall. Und dazwischen wahrscheinlich auch.«

Ekhos Wimmern schwoll an und Kain zuckte entschuldigend mit den Schultern. Wofür er sich einen vernichtenden Blick ihres Kapitäns einfing. »Hast du ihn etwa umgebracht?« Fesk machte einen Schritt auf ihn zu, um ihn zu packen, doch er hielt knurrend inne. Anscheinend fiel ihm wieder ein, wen er da so sorglos angrabschen wollte.

Beide Arme verschränkt legte Kain den Kopf schief und wollte schon etwas erwidern, doch Ekho kam ihm zuvor. »Er hat nichts damit zu tun.« Langsam stand der Junge wieder auf, offenbar gefangen zwischen Schock und Pflichtbewusstsein. »Er hat mich gerettet, aber für Vater kam jede Hilfe zu spät.«

»Ehrlich gesagt habe ich keine Lust mehr auf diese Verdächtigungsscheiße.« Kain wandte sich entschieden ab und schnaubte. So viel zum Thema Dankbarkeit. Die konnten ihn mal kreuzweise am Arsch lecken. Alle zusammen.

»Warte, willst du deinem Freund nicht helfen?«, versuchte Fesk es etwas versöhnlicher und tippte ihm vorsichtig auf die Schulter.

»Ist mir egal, er kann selber laufen. Außerdem ist er nicht mein Freund.« Kain wischte die Hand von seiner Schulter und lief einfach weiter. Niemand unternahm einen Versuch, ihn aufzuhalten. Endlich. Diese Idioten hatten ja keine Ahnung, dass er kurz davorstand, komplett auszurasten und alles in kleine Stückchen zu zerlegen. Überall roch es nach Blut. Es kitzelte in der Nase, ließ seine Finger zucken. Seit ihrem Kampf mit Ephraim in Asansward war alles nur noch schlimmer geworden. Intensiver. Schwieriger. Als riefen die Schatten nach ihm. Eine Droge, die sofort abhängig machte. Frei sein. Töten. Blut. Konnten diese verdammten Matrosen die Sauerei nicht schneller wegwischen?

Kain rempelte sich seinen Weg zu den Kajüten frei und schlug die Tür hinter sich zu. Viel zu laut da draußen. Die Geräusche mischten sich mit dem Pochen in seinen Schläfen zu einem disharmonischen Orchester, dem der Dirigent fehlte. Bemüht ruhig zog er den Lederrucksack unter seiner Pritsche hervor, zerrte die Riemen auf und leerte den Inhalt auf den Boden.

Wo war das verfickte Zeug? Seine Sicht begann zu verschwimmen. Nein. Nicht jetzt.

Dezmael hat gesagt, er packt die Pillen in einer Phiole in die Bandagen.

Richtig. Die Bandagen. Kain wickelte eine Rolle ab — nichts. Die nächste. Nichts. Er packte die dritte, doch sie rollte ihm aus der Hand und kullerte unter Killians Pritsche. Scheiße. Das Zimmer verzerrte sich, verlief in Schlieren. Die Hitze kam zurück. Das Pochen. Heftig, unaufhaltsam. Wieso musste die Welt ihn verdammt nochmal ständig so aufregen?

Um Konzentration bemüht rieb er sich die Stirn, bückte sich unter die Pritsche, tastete nach der Rolle. Wenn sein beschissener Kopf wenigstens tatsächlich mal explodieren würde, dann wäre er diesen ganzen Stress los. Doch den Gefallen tat sein Schädel ihm leider nicht. Da. Die Bandage. Endlich.

Mit zitternden Fingern zog er sie heraus, rollte sie ab und fand in der Mitte die Phiole mit den grünbraunen Pillen. Eine Mischung aus Drogen und Medikamenten. Reiner Mhayze Blütenstaub und irgendein Beruhigungsmittel. Denk daran, sie nur im absoluten Notfall zu nehmen — er sah Dezmael mit erhobenem Finger praktisch vor sich — Normalerweise wird diese Zusammensetzung nur bei großen Wildtieren benutzt. Es wird dich umhauen. Und nimm nie mehr als eine. Hast du verstanden?