Der süße Betrug des Lebens - Sándor Zsigmond Papp - E-Book

Der süße Betrug des Lebens E-Book

Sándor Zsigmond Papp

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Beschreibung

Drei Familien bewohnen nacheinander dieselbe Wohnung im Randbezirk einer rumänisch-ungarischen Stadt. Sie alle sind durch ein schicksalhaftes Ereignis verbunden: Beim Versuch, die nahe gelegene Grenze zu überqueren, kam vor einigen Jahren ein junger Hausbewohner ums Leben. Die genauen Umstände blieben im Dunkel. Stück für Stück weitet sich die Geschichte des Hauses zu einem Panorama mitteleuropäischer Geschichte aus, das zeigt, wie die Folgen der sozialistische Diktatur weit über die Öffnung des Eisernen Vorhangs hinausreichen.

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Das Buch

Drei Familien bewohnen nacheinander dieselbe Wohnung im Randbezirk einer rumänisch-ungarischen Stadt. Sie alle sind durch ein schicksalhaftes Ereignis verbunden: Beim Versuch, die nahe gelegene Grenze zu überqueren, kam vor einigen Jahren ein junger Hausbewohner ums Leben. Die genauen Umstände blieben im Dunkel. Stück für Stück weitet sich die Geschichte des Hauses zu einem Panorama mitteleuropäischer Geschichte aus, das zeigt, wie die Folgen der sozialistische Diktatur weit über die Öffnung des Eisernen Vorhangs hinausreichen.

Der Autor

Sándor Zsigmond Papp, geboren 1972 im rumänischen Radautz, studierte Philosophie in Klausenburg, ehe er eine Laufbahn als Journalist einschlug. Zehn Jahre arbeitete er für Ungarns größte Tageszeitung Népszabadság. Sándor Zsigmond Papp lebt in Budapest. Der süße Betrug des Lebens ist sein erster Roman.

Sándor Zsigmond Papp

DERSÜSSE BETRUGDES LEBENS

Aus dem Ungarischenvon Christina Kunze

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem TitelSemmi kis életek bei Libri Kiadó, Budapest

Unter www.heyne-encore.de finden Siedas komplette Encore-Programm.

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Copyright © 2011 by Sándor Zsigmond Papp

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Eva Zador

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign,unter Verwendung eines Motivs von photocase.de (Tim T.)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-22158-4V001

www.heyne-encore.de

Für Saci, für wen sonst.

»Was ich gern möchte«, sagte Lucien, »ist, eine Geschichte erzählen, in der es nicht um einen Helden geht, sondern um einen Ort – nimm zum Beispiel eine Parkallee wie diese hier –, ich möchte erzählen, was hier vom Morgen bis zum Abend geschieht.«

André Gide: Die Falschmünzer,deutsch von Hans Hinterhäuser

»Ich versuchte aufzuschauen. Aber die Dunkelheit hatte mich schon eingehüllt. Eine unsichtbare Hand zog behutsam das kurze Schwert aus meiner Brust. Sogleich quoll mir noch einmal ein Blutstrom aus dem Mund, und dann versank ich für immer in der Finsternis des Lichts.«

Akutagawa Ryūnosuke: Im Dickicht,deutsch von Jürgen Berndt

I.

1.

Die Straße des Fortschritts 79 war ein massives, graubraun vertrocknetes Eckhaus. Weitab vom Zentrum, aber noch diesseits der Stadttore hatte offensichtlich niemand mehr Lust gehabt, die Dinge übermäßig zu komplizieren, und so hatte man die vier Etagen einfach nur aufeinandergestapelt. Einige Straßen weiter stadteinwärts hätte man dem Haus vielleicht Gipsengel und straßenseitige Balkone zugestanden. Den üppigen Überfluss des Materials. So aber sah es aus wie ein Offizier nach der Degradierung. Ein kleiner Dreyfus.

Auch hatte es rechtzeitig erkannt, wie es sich drücken konnte: Von den Bombardierungen war es verschont geblieben, von der neuzeitlichen Stadtplanung eben nur gestreift worden. Es stand an der Kreuzung von Engels-Straße und Straße des Fortschritts, aber die Engels machte vor dem Rendezvous, als müsste sie es sich noch einmal überlegen, einen tückischen kleinen Abstecher und bog bei den Platanen am Park der Steinewerfer in Richtung Zentrum ab. Der halbmondförmige Platz, eigentlich kaum größer als der Park selbst, konnte sich nie zum Vollmond runden, denn er wurde an einer Seite von der pfeilgeraden Straße abgeschnitten, die vom Bahnhof her kam. Vielleicht wegen der Kurve oder weil man durch die verlockende Ruhe der Bäume leicht die Geschwindigkeit vergaß, waren Unfälle hier beinahe die Regel. Wenn der Nebel in dichten Schwaden vom Csemergi-Hügel herabzog oder wenn bleierner Regen prasselte, brauchte man sich nur an ein Fenster im ersten Stock zu setzen und zu warten, wann sich der Platz mit Flüchen füllte. Dann durfte ein wenig Dampf abgelassen werden, endlich konnten sich alle ehrlich verhalten, man musste nicht über Worte und Sätze nachdenken, nichts filtern oder zurückhalten. Das war Erregung pur, ein Hauch von Freiheit. Und dann gab es auch keine Probleme mit den Polizisten, niemand beklagte sich wegen der nicht vorhandenen Verkehrsschilder oder fragte sich, warum sie nicht wenigstens einen Spiegel an die Ecke der Straße des Fortschritts stellen könnten, das alles war dann egal, völlig egal.

Toroczkays blutdruckgeplagte Mutter hatte wohl das engste Verhältnis zu der Kreuzung. Leise murmelnd redete sie mit ihr und gab ihr Kosenamen. Nur noch die Kreuzung ertrug sie, und Dallas. Zeitung las sie nicht, den Nachbarn ging sie aus dem Weg. Aber die Unfälle klassifizierte sie wie Erdbeben. Für einen Aufprall der Stärke eins lohnte nicht einmal der Blick aus dem Fenster, bei einem Sechser wurde nicht mehr lange gefackelt, man lief nach dem Krankenwagen, alle waren hektisch und machten sich wichtig. Beim Achter wandten die Frauen den Kopf ab und riefen die Kinder hoch, und der Zehner war eine rein theoretische Möglichkeit, um das Ganze abzurunden. Trotz aller Routine brach die alte Margit schon beim Siebener in Schweiß aus. Das Blut erinnerte sie nämlich an den Krieg, an den stillen Sonntagnachmittag, als eine Bombe den Personenzug aus Bükkvárad bei der Einfahrt in die Stadt getroffen hatte. Gott, was da los gewesen war! Alles war zerfetzt und zerrissen, als hätte man den ganzen Zug durch den Fleischwolf gedreht. Aber auch das Lebensmittellager in der Nähe musste etwas abbekommen haben, denn noch eine Woche später konnte man vom Hauptplatz getrocknete Bohnen auflesen. Wenn einem denn danach war.

Sie hätte es niemals zugegeben, aber ihr ganzes Wesen dürstete nach einem Zehner. Ohne ihn war die Skala letztlich sinnlos: Wozu sollte man etwas bezeichnen, das es gar nicht gab? Und vielleicht käme er dem damaligen Erlebnis am nächsten, jenem eher theoretischen Grad von Grauen, den man nicht mehr anschauen, nicht mehr ertragen konnte: Denn wie konnte es sein, dass die Trümmer eines Zuges in ein Taschentuch passten? Erst als sie heimgekommen war, kreidebleich und mit Herzrasen, nachdem sie ein paar Schlucke Kognak hinuntergewürgt hatte und aufs Kanapee gesunken war, erleichtert, weil Rauch und Ziegelstaub ihr nicht mehr in der Lunge brannten, da war ihr alles klar geworden. Die kaum zu verbergende Freude des Daseins, an die sie sonst nicht einmal gedacht hatte, überraschte sie: Ja, sie lebte, sie atmete, wenn auch vielleicht nur eine halbe Minute, einen Augenblick länger als die, die sich schon bereit gemacht hatten, aus jenem Zug auszusteigen. Diese hauchdünne Freude, die sie sich kaum ohne Scham eingestehen konnte, brachte sie dazu, sich Tag für Tag ans Fenster zu setzen. Manchmal kämmte sie sich auch, schminkte sich dezent den Mund, damit sie das Schaudern nicht unvorbereitet traf. Und wenn sie danach wieder wochenlang nicht schlafen konnte, wenn der Teufel wieder käme, um seine Schulden einzutreiben, dann würde sie ihren Sohn bitten, zu ihr zu ziehen, das war ohnehin schon lange fällig. Weder sie noch Pista kamen ja mit der Kopfration aus, aber wenn sie ihre Findigkeit, die selbst das Nichts zu vermehren vermochte, und die Verschwendung ihres Sohnes zusammenlegten, dann würde gewiss auch sie Düfte hervorbringen können, wie sie hinter der Tür von Rakucsinec zweimal am Tag waberten und sich schwer auf das Haus legten. Denn wozu sollte man es leugnen, darum drehte sich letztendlich alles. Wer das Ganze hier erfunden hatte, wusste genau: Den Magen konnte man nicht ausschalten. Der lauerte, lauschte und schwatzte anstelle von allen anderen. Und das war auch gut so. Wenn schon Gottes Platz leer geworden war, musste doch irgendeine innere Stimme bleiben.

Die Lebensmittelmarken, die man am Ende des Monats abholen konnte, glichen am ehesten einem Lottoschein: ohne Garantie eines Gewinns, doch mit der Erlaubnis zum Spiel. Theoretisch konnte jeder ein Kilo Schweinefleisch im Monat bekommen, ein Kilo Zucker, ein Pfund Reis, ein halbes Pfund Butter, wenn er gut aufpasste. Und Rakucsinec war einer, der schon am Geruch erkannte, wohin man markenfreies Hühnerklein gebracht hatte und wohin Bohnenkaffee. Wenn er Bescheid gab, kam das Haus in Bewegung. Man trug Schemel und Stühle, nicht selten auch Feldbetten herbei. Der Trick bestand darin, sich in aller Frühe, wenn es noch nicht einmal dämmerte, hinter das Geschäft zu stellen, damit man bei Ladenöffnung eine möglichst gute Position hatte. Schließlich konnte man nie wissen, wann der Vorrat ausging und wie viel unter dem Ladentisch weggegeben wurde.

Etwas Besseres als das Schlangestehen hätte man kaum erfinden können. Es ersetzte Fernsehen und Zeitung: Was hier keine Nachricht war, würde es nirgends mehr sein. Legenden entstanden und vergingen binnen Augenblicken, nur die Politik ließ man aus, schließlich hatte man ja nicht vollkommen den Verstand verloren. Streithähne söhnten sich aus oder zerstritten sich noch mehr, denn die langen Morgenstunden verschonten nichts und niemanden: Hier war sogar derjenige ehrlich, der selbst dann log, wenn er seinen Namen nannte. Der Vorposten wurde alle zwei Stunden abgelöst, so konnte jeder ein bisschen schlafen, aber wenn sich die Tür näherte, holten sie sogar die Kinder herunter, denn nur Anwesende zählten. Berufen konnte man sich natürlich auf alle möglichen Leute: auf bettlägerige Großeltern, Ehemänner mit gebrochenen Beinen, schwangere Ehefrauen, aber darauf reagierte ein routinierter Verkäufer nicht einmal. Als hörte eine Mutter ihren quengelnden Sprösslingen zu. Das System verlangte ständige Wachsamkeit und eine gewisse Flexibilität, denn innerhalb weniger Augenblicke musste das Familienmittagessen, ein Verwandtenbesuch oder das Kino am Nachmittag verschoben werden, wenn Rakucsinec gerade mit der Nachricht hereinplatzte oder sich unterwegs vor dem Gemischtwarenladen eine vielversprechende Schlange bildete. Vor einem Geschäft ungestraft stehen zu bleiben war gar nicht möglich, denn hinter zwei Leute stellte sich, ohne nachzudenken, sofort eine dritte Person und eine vierte, und eine halbe Stunde später reichte die Schlange schon bis zur Ecke, während sie nervös von der immer gleichen Frage durchwogt wurde: Was wird verteilt, was wird verteilt? Eigentlich war das auch gar nicht wichtig. Hauptsache Schlange.

Rudolf legte den Bleistift hin. Er konnte nie mehr als ein paar Seiten am Stück schreiben. Etwas in ihm ermüdete, dann musste er sich rekeln, sich die eingeschlafenen Glieder massieren oder ein wenig um den Tisch herumgehen, um die Schreiblust in sich wiederzufinden. Aber es kam auch vor, dass sich die Inspiration für den Tag verabschiedet hatte, dass er sich vergeblich über das Blatt beugte und nur die vergehenden Stunden mehrte.

Vielleicht würden sie ihm nicht glauben, aber auch zum Spitzeln brauchte man eine gewisse Routine. Es war wie die Arbeit eines Klempners oder Tischlers: Solange man nicht die grundlegenden Griffe heraushatte, quälte man sich nur und pfuschte. Meistens vor der Nase des Kunden. Wobei ihm hier freilich niemand zuschaute. Natürlich hatte er seinerzeit einige Ratschläge bekommen, worauf er achten, was er wohin schreiben sollte, aber es war trotzdem nicht leicht. An manchen Tagen saß er nur verloren vor dem bereitgelegten Blatt und hatte keine Ahnung, wie er anfangen könnte. Er war allein wie im Mutterleib. Wie sollte der alles entscheidende erste Satz lauten? Sollte das Ganze einen Bogen haben oder nur im Gänsemarsch aus reinen Fakten bestehen? Welcher Tonfall war überzeugender: der zurückhaltend langweilige oder der vertraulich leserfreundliche? So viele Entscheidungen an einem einzigen Tag …

Gerade das war es, was Rudolf an sich selbst nicht mochte. Aber so war er eben erzogen worden. Immer so zu handeln, als wachte über jedem Satz und jeder Geste das ewige Gewissen, eine Lehrerin im Kattunkleid. Vielleicht hatte sein Sohn doch recht: Er hätte dieses trockene, humorlose Frauenzimmer gleich ganz am Anfang flachlegen müssen, dann hätte sie ihn an nichts mehr gehindert. Wie hätte ihm dann noch irgendwer befehlen sollen? Sie oder die Mutter, die Lehrer oder seine Freunde, wenn sie doch alle Komplizen in derselben, allumfassenden Heuchelei waren? Was geschehen war, war gesetzmäßig geschehen, und vielleicht war es auch gesetzmäßig, dass er diesen Preis zu zahlen hatte.

Er erinnerte sich, dass man ihm nach dem Unterschreiben dieses jämmerlichen Papiers in der Krypta geraten hatte, in solchen Momenten sei es am besten, nach Hause zu gehen und sich auszuweinen. Mutig. Männlich. Denn wenn er das nicht täte, würden der angestaute Stress und die Verzweiflung sich negativ auf seine Arbeit auswirken.

Was hätte er dazu sagen können? Als ginge das so einfach. Als müsste man nur nach dem Baden den Stöpsel herausziehen, damit die schmutzige Brühe abfloss.

Nach dem Mittagessen spülte er so wie sonst auch die Teller ab und legte sich auf dem Küchentisch den Bleistift bereit, daneben leere Blätter, außerdem stellte er sich ein Glas Sodawasser hin, weil er vor Aufregung ständig Durst bekam. In letzter Zeit fühlte er sich nur noch hier in der Küche wohl. Diesen engsten Raum der Wohnung, der nur eine Armlänge Platz bot, konnte er noch beherrschen. Die Gläser hinter den Scheiben der Kredenz, die auf dem Boden der Töpfe festgetrockneten Speisen, den vom Kochen braun gewordenen Herd. Hier gehorchten ihm die Dinge noch. Augenblicke der Gnade waren dies, der Läuterung. Es tat gut zu sehen, wie sich die Zeit nach einigem Widerstand dem Papier ergab. Die Erinnerungen, wie sie sich schließlich zwischen den Zeilen aneinanderklammerten, als hätte sie schon immer die Ordnung reglementiert. Dabei hielt er wahllos alles fest. Alles, was ihm unterkam. Er hatte das Gefühl, es sei nicht seine Aufgabe abzuwägen, einzelne Details hervorzuheben. Das Schreiben selbst wühlte sich das Flussbett, er folgte ihm nur gehorsam.

Zu dieser Zeit umhüllte nicht nur die Wohnung, sondern das ganze Haus seine eigene Stille. Sogar die Hunde wurden auf Zehenspitzen auf die Straße geführt, und kein Knopffußballspiel war so spannend, dass nicht elterliche Strenge es unterbrochen hätte, wenn die Fans ihre Mannschaft allzu laut anfeuerten. Die Ruhezeiten hielten ausnahmslos alle in Ehren. Man raunte, dass verantwortungslose Elemente, die in der Stadt einen Aufstand vom Zaun brechen wollten, bis drei Uhr am Nachmittag damit fertig sein müssten, denn danach würde die ganze Revolution im Stehen einschlafen. Der Mittagsschlaf halte den Kommunismus am Leben, sagte Rudolf immer wieder. Er hatte nämlich einmal ausgerechnet, dass ein Aufstand, der wirklich als solcher gelten wollte, mindestens drei Tage in Anspruch nehmen würde, dass man also von vornherein mit drei Schwachpunkten am Nachmittag zu rechnen hatte, denn die Besetzung der Zentrale des Inneren und des Parteihauses, die Blockade der wichtigsten Straßen, die sorgfältige Zerstörung der Schienen, die Überzeugung und der Übertritt der Armee wären selbst bei perfekt organisierten Kräften nicht schneller durchführbar, wenn man die mögliche Anzahl der Widerständler berücksichtigte, sie durch die Eingänge der Häuser dividierte und soundso viel Munition voraussetzte.

Alles in allem hatte er für diesen Text die meiste Aufmerksamkeit bekommen. Sogar Nicu Zmeură war gekommen, um sich den Mann anzusehen, der mit akribischer Genauigkeit das Ende des Regimes vorausgesagt hatte. Und es hatte auch Ereigniswert, dass dieser grantige, präzise Offizier, der sonst schon beim bloßen Gedanken an Ausschreitungen einige unmenschliche Ohrfeigen verteilte, damals Wein bringen ließ und Rudolf diesen guten wer weiß für welchen Anlass aufbewahrten Muskateller geradezu aufzwang.

Seither betrachteten sie ihn mit anderen Augen. Sie spotteten nicht über ihn, wenn er als Wochenbericht einen ganzen Roman abgab, dabei hätte er nun wirklich etwas kompakter, mehr aufs Wesentliche konzentriert schreiben können. Aber jetzt war alles gut, so wie es war. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er nichts falsch machen können. Zwei Jahre nachdem er den Stift zum ersten Mal in die Hand genommen hatte, war das sein erster wirklicher Erfolg gewesen.

Was das Rohmaterial anging, so hatte er Gott sei Dank keinen Augenblick Grund zur Klage. Diese Stadt, diese Straße und dieses Haus waren so beschaffen, dass immer etwas aufgeschrieben werden wollte. Eine zwischen Hügeln gezwängte, zugige Landschaft, die niemanden wirklich duldete. Auch der Fluss beschleunigte plötzlich, wenn er hier ankam, unberechenbare Strudel wühlten das Wasser auf, jedes Jahr ertranken ein paar waghalsige Schwimmer. Von Wurzeln und Traditionen sprach man selten, und wenn doch, dann klang es meist wie das Kichern nicht mehr ganz junger Frauen. Doch wenn jemand absolut darauf bestand, zeigte man ihm einige Sehenswürdigkeiten: den Feuerlöschturm, den aus alten Zeiten verbliebenen Hauptplatz, das protzige Gebäude der Universität oder ein paar Statuen von Menschen, die niemals in der Stadt gewohnt hatten. So viel und nicht mehr. Hier wurde einem das Maßhalten schon in Kindertagen eingebläut. Selbst im Tiefschlaf wusste jeder, vor wem er kuschen und wer wen zuerst grüßen musste.

Die vergangenen Jahre hielt man in Erinnerung wie zweifelhaften Ruhm oder eine Rechnung, die unbedingt beglichen werden musste. Zudem tat es gut zu wissen, dass sich hier Beton, Holz und alles, was dem Bau diente, anders verhielten und dass ein unbewachter Augenblick sehr wohl ausreichte, um den Zerfall in Gang zu setzen. Doch davon wussten nur wenige, weil es nicht guttat, darüber nachzudenken, wenn man über das Ganze auch lachen konnte. Die aufgesetzte Fröhlichkeit galt als eine Art lokales Merkmal wie der Baggersee ein paar Kilometer südlich und die Polenta mit Speck und Frischkäse. Bücher wurden nur selten geschrieben, und wenn doch, dann waren es meist unlesbare Konfusitäten, aber ins Theater gingen alle gern. Die Schauspieler wurden mehrfach auf die Bühne gerufen, der Applaus rauschte minutenlang, auf der Straße wurden sie jedoch schon allein aus Trotz nicht erkannt. Künstler gehörten möglichst nicht in Zivilkleidung. Das Reisen bedeutete vielleicht noch etwas, denn der eine oder andere war schon einmal jenseits der Hügel gewesen, weiter, als man auf einer dürftig skizzierten Landkarte zeigen konnte. Aber vergeblich hättest du jemanden nach seinen Erlebnissen gefragt, ob das Meer wirklich so salzig war und ob es stimmte, dass man dort tatsächlich mehrere Käsesorten im selben Laden kaufen konnte, denn darauf wollte niemand mehr antworten. Sie bezeichneten das Ganze als anstrengend oder grinsten allwissend vor sich hin. Höchstens die braun gebrannten Gesichter und einige grelle Kleidungsstücke, die man nur draußen in den Schrebergärten trug, weil sie zu nichts passten, hätten etwas verraten können.

Die vollbusige Eszter Koltai aus der Nummer drei im Parterre hatte einmal vom Weltjugendtreffen in Havanna einen rothaarigen Kerl mit Sommersprossen mit nach Hause gebracht. Er behauptete, Ire zu sein, und redete viel davon, dass es auch bei ihnen Berge gebe. Schließlich bekamen sie ein rothaariges Kind mit einem Froschgesicht und blonden Augenbrauen und Wimpern. Den Knirps konnte man gar nicht ansehen, ohne lachen zu müssen. Den zweiten Geburtstag wartete der Ire nicht mehr ab, er ging im Baggersee baden und sprang nicht dort ins Wasser, wo man es ihm gesagt hatte. Seither stand da ein Schild am Ufer, damit nicht der Wächter für die Dummheit anderer verantwortlich gemacht werden konnte. Damals war im See einen Monat lang kein rechter Fang zu machen gewesen, selbst wenn man fette Würmer, Maden und Brotkrumen mitnahm und rund um den Steg in Milch eingeweichten Mais streute. Aber die Angler taten niemandem leid, dabei hatten auch sie Familien.

Unten klapperte Kalcsek, der Vorsitzende der Hausgemeinschaftsleitung. Dem Geräusch nach zu urteilen, rollte er die Mülltonnen auf den Gehweg hinaus. Neuerdings waren die Müllmänner bequem geworden, sie nahmen nur noch mit, was man ihnen vor die Nase schob. Dabei gab er ihnen Geld, extra dafür, ja, er bewirtete die grölenden, schmutzigen Männer sogar mit Kaffee, aber es gab eben Dinge, die man weder mit Koffein noch mit Kumpanei lösen konnte. Der arme Kalcsek wusste es noch nicht, aber am nächsten Tag würde er wieder lange zum Aufwachen brauchen. Nicu Zmeură hatte sich schon vor einer Woche angekündigt, und nach seinem Zwinkern zu urteilen, konnte Rudolf sich sicher sein, dass er außer dem heimischen wieder irgendeinen ausländischen Alkohol mitbrachte, extra für den Vorsitzenden. Zmeură kam gewöhnlich um sieben, bis dahin blieben Rudolf nur noch zwei Stunden.

2.

Sicher, dass es unsere ist?

Das war Mártas erste Frage, nachdem sie aufmerksam durch die leere Wohnung gegangen war und sogar die Wände befühlt hatte. Sie schaute erschrocken, aber ihre Augen strahlten. Weil sie noch immer als frisch verheiratet galten, hatte man ihnen auf dem Amt die erste Monatsmiete erlassen. Sie werden jetzt ohnehin viel zu tun haben, hatte die Sachbearbeiterin mit dem aufgetürmten Haar erklärt und sie so streng angesehen, als wollte sie am liebsten persönlich kontrollieren, ob sie wohl nach dem Einzug sofort mit der umsichtigen Familienplanung begannen oder – wie sie annahm – die ihnen zugewiesene Zeit eher mit Faulenzen verschwendeten. Rudolf hatte da gar keine rechte Lust mehr gehabt, die Papiere zu unterschreiben. Wäre Márta nicht dort gewesen, die ihn die ganze Zeit aufgeregt in die Seite stieß, hätte er das Büro auf der Stelle verlassen.

Dieses Wunder an Geräumigkeit verwirrte sie vollkommen. Sie hatten einander unmittelbar nach dem Krieg in einer Notwohnung zu ertragen gelernt, und nun war der Zwang auf einen Schlag verschwunden. In den Durchgangszimmern, in der halbdunklen Küche konnte man sich verstecken, und das taten sie auch. Márta zog sich nicht mehr jeden Abend vor ihm aus, und wenn Rudolf etwas von ihr wollte, musste er ihre Brüste mit den trotzigen dunklen Brustwarzen wie aus einer Höhle unter dem Nachthemd hervorlocken. Sie erlaubte nicht einmal mehr, dass Rudolf einfach zur Sache kam: Erst musste er lange ihre Hand halten, den makellosen Samt ihres Handgelenks massieren, mit geschickten Bewegungen den Wächter zwischen den Schenkeln bestechen, doch nach der Bestechung war Márta wieder nicht mehr als Fleisch. Eine lebende, dampfende Masse.

Innerhalb eines Nachmittags hatten sie die Eckwohnung im dritten Stock bezogen. Sie hätten sich gar keine bessere als die Siebenunddreißig aussuchen können: nicht im Erdgeschoss, wo jeder durchs Fenster klettern konnte, aber auch nicht ganz oben, wo sich im Sommer das Blech aufheizte und im Winter die durchs Dach eindringenden Fröste Probleme machten. Drei Zimmer im Winkel, wie sie es nannten, in die immer die Sonne strahlte, gegen die man sich später regelrecht verbünden musste. Sie setzten Verdunkelungsvorhänge, später Rollläden ein, um den Sonnenschein hinauszukomplimentieren, denn Márta war dieses sicher geglaubte, schamhafte Halbdunkel gewohnt.

Das kleine Zimmer zur Straße richteten sie schließlich nicht ein. Das war eigentlich auch nicht möglich. Die paar Möbel, die sie mitgebracht hatten, lungerten in den anderen beiden Zimmern herum wie Straßenjungen, die ihre Hände in die Hosentaschen steckten und hier weder jetzt noch später etwas zu suchen hatten. Lassen wir es so, bat Márta mit einem verschmitzten Lächeln und dennoch ernst, weil sie vielleicht ahnte, dass diese paar leeren Quadratmeter entscheiden sollten, was aus ihnen würde. Denn je nach Laune des Schicksals hätte hier ein lautes Kinderzimmer entstehen können, eine Kammer voller Lachen oder aber mangels besserer Ideen ein zweites Wohnzimmer. Man musste ihr glauben, auch wenn der gesunde Menschenverstand etwas anderes sagte. Rudolf spürte selbst, als er das kalte, ungeheizte Zimmer betrat, dass er dort dem Unbekannten ins Auge blickte, dass er die Zukunft sah, die sich ständig allen Antworten entzog. Aber wäre es möglich gewesen, ihr zu entgehen? Hätte er rechtzeitig eine Liege in das Zimmer geschoben und dort einige bibbernde Nächte verbracht, hätte er später auch Márta dorthin genötigt und nicht auf ihre Proteste und ihr Geschrei gehört, hätte er ihr das Kleid heruntergerissen, sie sich einfach genommen und das Zimmer von seinen Unglücksverheißungen befreit, wäre es dann möglich gewesen, ihr zu entgehen?

Er sollte es nie erfahren.

Dreißig Jahre hatten ausgereicht, um hier alle einst gewesenen Zweifel und Gefühle auszulüften; geblieben waren schließlich nur die beinahe völlig zerfallenen, kahlen Wände. Gut möglich, dass sie auch selbst schuld gewesen waren. Denn hier hatte es keine glühende Liebe gegeben, die Luft war ihnen nicht knapp geworden. Eher herrschte eine Art stummer Demut vor dem Willen der vorbeihuschenden Jahre, den man nicht Schicksal und schon gar nicht Vorsehung nennen konnte. Márta dachte manchmal, nichts anderes würde ihr mehr Freude bereiten, als das Wissen um ihre Unentbehrlichkeit: Rudolf brauchte sie, und sie selbst brauchte dieses Gebrauchtwerden, denn auch sie lebte Tag und Nacht davon, besonders nachts, wenn niemand allein sein wollte. Und auch nicht alt werden und sterben, nur sich an den anderen schmiegen wie ein Stein, denn auch darin konnte Freude liegen, Verlangen und Erfüllung, wenn auch nicht so, wie es in den Büchern stand. Es konnte auch Liebe sein, wenn Menschen einander keine Minute lang belogen. Sie gaben, was mit Worten nicht auszudrücken war. Das war schön, weil es sowieso nie mehr anders würde.

Nur Balázs’ Geburt brachte vielleicht für ein paar zwanglosere Jahre Bewegung in ihr Leben. Dabei war auch das ein Zufall gewesen. Eines Montags war sie aus dem Büro in der Zuckerfabrik nach Hause gekommen, sie sei schwanger, noch ein paar Tage, und sie würde die Frist überschreiten, in der man noch etwas tun könne, also müssten sie dringend darüber reden. Wenn sie nicht darauf bestünden, wenn sie es aus irgendeinem Grund nicht haben wollten, wüsste Márta eine Kollegin, deren Mutter sich damit beschäftigte, zum Glück machte sie es nicht mit der Stricknadel und, soweit es möglich war, steril, dennoch müsste sie ein paar Tage lang liegen; Gott sei Dank waren ihr noch ausreichend freie Tage geblieben, und Geld hatte sie auch schon zur Seite gelegt. Was sollte also werden? Von ihrer Hose rieselte frischer Schnee und sammelte sich zu einer Pfütze um ihre Schuhe. Ohne auch nur den Mantel abzulegen, stand sie in der Küchentür, erschrocken, mit glänzenden Augen, das Einkaufsnetz fest umklammert, als wollte sie schon im nächsten Moment mit der Antwort wieder umkehren. Was sollte werden? Und da schob er den Teller beiseite, klopfte die Krümel ab und ging zu Márta, die mit starrer Miene jede seiner Bewegungen beobachtete, weil sie auf alles gefasst war, auf die Abtreibung genauso wie aufs aufgeregte Aussuchen von Kinderkleidung. Vielleicht hatte sie sich unterwegs darauf vorbereitet oder bereits hier im Treppenhaus, und jetzt war sie gehorsam und diszipliniert wie ein Soldat im Dienst. Als Rudolf sie umarmte, regte sich in seinem Magen endlich der Nerv, den er weder vor dem Priester noch beim Junggesellenabschied gespürt hatte, und er wusste auch, dass er diese beklemmende Nervosität von nun an mangels eines besseren Wortes Liebe nennen würde. Als er seine Frau an sich zog, diesen durchgefrorenen, fleischlosen Leib, da begannen auch Mártas Schultern, sich zu schütteln. Lautlos und nur etwas signalisierend, über das man einfach keine Worte mehr verlieren musste. Nun konnte er sich wieder an seinen Teller setzen und weiteressen. Es gab Kartoffelsuppe. Mit Estragon, wie er sie mochte.

Dann war es lange so, als wohnten sie gar nicht hier.

Sein Vater hatte immer gesagt, ein gutes Haus sei wie eine Glucke, es schare immer die Bewohner um sich, die zu ihm passten. Darin lag noch eine prickelnde, lebendige Erfahrung von Ordnung, dass sich Gleiches zu Gleichem gesellte, sich das Teil dem Ganzen anpasste und dass so oder so jeder seinen Platz unter der Sonne hatte. Sollten sie hierhergehört haben? Sollten sie etwa von jener Sorte sein wie Mecseki, der wie ein Italiener aussah, wie Toroczkay oder die Kalcseks? Wer könnte das heute noch sagen? In dem Haus waren längst alle wie in einem großen Topf zu einem Brei verkocht. Und diese Masse gebar keine Helden, sie reproduzierte nur sich selbst, zäh und unverwüstlich, um jeden freigelassenen Spalt auszufüllen. Hätte ein ehrgeiziger Künstler aus der Geschichte der Stadt, der vergehenden Zeit, eine Sehenswürdigkeit meißeln wollen, denn Platz gab es reichlich, dann hätte er diesem miteinander verschmorten Nichts eine Form geben müssen, der verdorrten Stimmung sonntäglicher Mittagessen, der stillen Verpflichtung gegenüber dem Dasein, was hier Gleichgültigkeit bedeutete oder eine sonderbare Teilnahmslosigkeit.

Vielleicht waren sie zu lange geblieben. Hatten zu lange gezaudert. Bis dahin hatten sich der Putz, die in den Ziegeln erstarrte Zeit, der Salpeter in sie hineingefressen, hatten sie bis auf die Knochen entblößt, und was stattdessen wuchs, war nicht mehr ihr Fleisch. Nur noch irgendein irreführender Kunststoff. Auch deshalb sahen sie seltener in den Spiegel, denn sie hatten Angst, ja, es graute ihnen davor, dass ihnen nicht mehr ihr eigenes Gesicht entgegenblicken könnte. Und dann rief man entweder den Krankenwagen oder stürzte sich aus dem Fenster. Nach dem Rummel um den Aufprall waren Fernsehen und Speck für Wochen eine Wohltat. Das Leben versprach wieder ein bisschen Aufregung.

3.

Jemand drückte mit aller Kraft auf die Klingel.

Als das feine Kratzen des Bleistifts verstummte, wurden die Geräusche vom Hof lauter. Die Mittagsruhe musste schon vorbei sein. Rudolf sah verdrießlich auf die Uhr, kurz vor halb sechs.

»Wer ist da?«, rief er aus der Küche.

Stille. Der vor der Tür hörte ihn entweder nicht oder wollte ihn nicht hören. Dann fiel ihm, als er zur Tür schlurfte, bereits ein, wer da wahrscheinlich draußen stand. Am Tag zuvor hatte man gegenüber der orthodoxen Kathedrale Hühnchen verteilt, Hühnerklein, tacîmuri, wie man hier sagte, aber an diesem Tag war ihm das Glück irgendwie hold gewesen: Außer den üblichen gelb-lila Hälsen, Füßen, Flügeln und Rücken fanden sich auch zwei gesunde Schenkel in der Tüte. Vielleicht waren sie gar nicht für ihn gedacht gewesen. Das Problem war nur, dass er unfähig gewesen war, seine Freude über den großen Fang zu verbergen; als er den Laden verließ, machte sich auf seinem Gesicht sofort das Gefühl des Triumphs breit. Und Rakucsinec, der immer das Ende der Verteilung abwartete, um zu sehen, wer was bekam, hatte sich ihn sofort herausgepickt. Man konnte nicht sagen, dass dieser Möchtegernschlosser, dieser Hilfsnazi, wie er hinter seinem Rücken genannt wurde, sich das Beste von den Portionen geschnappt hätte. O nein. So tief wäre er nie gesunken. Er machte es eher so, dass er nach den Beschaffungen, für die er die Tipps gegeben hatte – aber langsam gab es keine mehr, zu denen die Tipps nicht von ihm gekommen wären –, bei einigen Nachbarn vorbeischaute, sich höflich erkundigte, ob sie zufrieden seien, ob es für das Geburtstagsessen oder die lang angekündigte Torte denn reiche. Und dann gehörte es sich, ihm ein paar Eier anzubieten, ein Stück Fleisch, eine Portion Kaffee, und schon anstandshalber gab ihm niemand die Reste, die Fettstücke.

»Habe die Ehre«, grinste er in der Tür stehend.

»Ich wusste, dass Sie es sind.« Rudolf nickte.

»Der Instinkt, was? Ich sage ja immer, der Instinkt kann manchmal Leben retten«, säuselte Rakucsinec und drängte den Alten bis ins Vorzimmer zurück. Von hier war es nur noch ein Schritt bis in die Küche. »Hätte mein Schwager auf seinen Instinkt gehört und nicht verkatert angefangen, mit nassen Händen den Boiler zu reparieren, dann hätte er jetzt noch etwas, womit er seine Frau streicheln könnte.« Er verstummte plötzlich. Der Geruch von gebratenem Hähnchen schlängelte sich aus der Küche. Ein würziger, intensiver Duft. Rakucsinec fuhr zusammen, als hätte man ihm ein Messer in die Rippen gerammt.

»Aber Sie sind doch wohl nicht gekommen, um mir das zu sagen?«, fragte Rudolf.

»Ich mag es, dass man bei Ihnen nicht um den heißen Brei herumreden muss. Sie kommen immer gleich auf den Punkt.«

»Wissen Sie wieder etwas? Ein bisschen Zucker käme gerade recht.«

»Warum sagen Sie denn nicht Bescheid, Herr Nachbar, warum sagen Sie nichts?!« Rakucsinec ließ nervös die Finger knacken. Der Geruch drang immer kräftiger hervor. Er spürte ihn schon in seinem Kopf, in der Wirbelsäule.

»Jetzt sage ich ja Bescheid.«

»Jetzt, jetzt … Aber ich bin kein goldener Fisch, dass ich Ihren Wunsch sofort erfüllen kann.«

»Der erfüllt ja auch normalerweise drei.«

»Diese Sorte ist schon lange ausgestorben.«

»Tja, wenn ihn niemand ins Wasser zurückwirft, muss man sich auch nicht wundern.«

Rakucsinec wurde unsicher. Die bildliche Rede war nicht gerade seine Stärke, es ermüdete ihn, wenn er lange um die Dinge herumreden musste. Dann zog er sich so entschlossen das Hemd zurecht, als wollte er das Muster von den Kunstfasern schütteln.

»Vielleicht nächste Woche. Am Victoria-Kino … Aber das ist noch nicht sicher, es wäre besser, wenn das unter uns bliebe.«

»Das brauchen Sie nicht extra zu sagen.«

»Ich sage es aber! Man kann ja nie wissen, wo man sich verplappert.«

»Soll ich es dann einpacken, oder nehmen Sie es in der Hand mit?«

»Was denn?« Rakucsinec sah ihn verblüfft an.

»Was Sie fressen wollen. Den schönen kleinen Hähnchenschenkel.«

Dem Schlosser entglitten die Gesichtszüge. Damit hatte er nun nicht gerechnet. Mit diesem Angriff oder was. Denn jetzt konnte er entweder sagen, dies käme doch gar nicht infrage, und dann war er einfach dämlich, ganz zu schweigen davon, was er von seiner Frau zu hören bekäme, oder aber sich darauf einlassen, dann jedoch würde er den Stempel nie wieder loswerden, dass er so durchschaubar zu Werke ging.

»Also, wenigstens in Papier, wenn Sie nichts anderes haben.«

»Wird gemacht.«

Rudolf begann zwischen den Zeitungen zu suchen. Rakucsinec wischte sich, einen Schritt vom Eingang entfernt, die Stirn. Man sah ihm an, dass er es nicht wagte, näher zu kommen. Zu beobachten, welche Keule er bekam. Denn sie waren nie genau gleich. So verloren hatte er vielleicht auch letztes Jahr dagestanden, als man ihn vor Weihnachten aus der Obstschlange geworfen hatte. Apfelsinen hatte es gegeben, und er hatte sich mit seinen Kumpels schon früh um drei angestellt. Im Haus hatte er niemandem Bescheid gesagt, was verständlich war: Er wollte eine Überraschung, ein bisschen Apfelsinenduft unter dem Baum. Der konnte sich so schön auf dem Flur verteilen, durch die Fensterritzen kriechen, den Menschen in die Nase, geradewegs bis an die Nerven! Bis um fünf hatten sie sich alle Schwiegermutterwitze erzählt, und dann kam einer von ihnen auf die Idee, dass der Schlosser schnell das Päckchen Karten holen sollte, weil die Zeit bei einer Partie Ulti doch schneller vergehen würde. Sie legten auch gleich ein Brett über die Mülltonnen, das sollte der Tisch sein. Rakucsinec wohnte am nächsten, also konnte er eigentlich auch nichts einwenden. Zu Hause, in der Wärme der gemachten Betten, empfand er die Sache dann doch nicht mehr als so dringlich. Das Haus war bis zum Überlaufen voll mit dem süßen, ruhigen Atem des Schlafes. Wie Honig umfing er ihn von allen Seiten. Er würde nur kurz die Schuhe ausziehen, dachte er, die Jungs merkten es gar nicht, wenn er fünf Minuten später käme. Er würde sich selbst einstellen, um Viertel stünde er schon wieder in der Schlange. Sein Gehirn war wie der beste Wecker. Mein Kopf ist aus der Schweiz importiert!, prahlte er gern mit diesem Blödsinn. Er schlüpfte unter die Bettdecke, dort war es schön warm.

Grelles Licht weckte ihn. Die Wohnung war leer, niemand regte sich. Seine Frau hatte ihn nicht geweckt! Aber warum hätte sie es auch tun sollen, fuhr es ihm durch den Kopf, er hatte sich ja gestern Urlaub genommen. Sie hatten ihn ausschlafen lassen. Hektisch zog er sich seine Kleider an. Eine Minute, und er war am Tor, zwei bis zum Ende der Straße des Fortschritts, noch zwei bis zur Petru-Groza-Straße. Der Gehweg war von der Menschenmenge schon ganz schwarz. Nirgends ein bekanntes Gesicht. Wo mochten seine Kollegen sein? Nichts und niemand würde ihm Zutritt zu dem Geschäft verschaffen, damit er sich wenigstens umsehen konnte. Er wolle nichts kaufen, er wolle nur mal schauen, brüllte er. Sie lachten ihn aus. Ein Mann mit Pelzmütze zerrte ihn am Kragen vom Eingang weg. Lernen Sie erst einmal, was Ordnung ist, schrien einige. Die Schlange war nicht wiederzuerkennen: Sie war gewachsen, angeschwollen. An der Tür des Gemüseladens standen sie schon in Dreierreihen. Das Ende reichte außerdem bis zur Straße des 1. Mai, vielleicht sogar bis zur elektrischen Uhr. Das wäre ein ganzer Nachmittag, stellte er bleich fest. Die Leute trugen die Apfelsinen in Tüten davon, faustgroß waren sie, und es waren wirklich nur wenige grüne dabei. Kubanische, sagte jemand. Dünnschalig. Am liebsten wäre er in Ohnmacht gefallen. Dann lungerte er nur noch herum, sah zu, wie sie voranrückten, wie ihr Gesicht vor dem Eingang aufleuchtete. Er war allein. Wusste nicht, wann er zum letzten Mal so geweint hatte.

»Wissen Sie, ich spiele sehr gut Karten.« Rakucsinec drehte sich in der Tür um. Er sprach vertraulich, als wollte er die Scharte auswetzen. Jetzt war es an Rudolf, überrascht zu sein: War Rakucsinec etwa nicht wegen des Hähnchens gekommen?!

»Poker, Ulti, Canasta, mir ist es egal. Aber wenn es sein muss, lerne ich auch was Neues. Es reicht, wenn man es mir einmal zeigt«, sagte er hastig.

»Und warum erzählen Sie mir das?«

»Na, wenn Ihnen noch jemand fehlt, dann können Sie mir ruhig Bescheid sagen. Ich halte auch bis morgens durch, wenn es keinen Stromausfall gibt.« Er lachte. Seine schmalen Kinderzähne blitzten.

Rudolf verstand ihn nicht, und es ärgerte ihn, dass er nicht begriff. Warum sollte er mit diesem jämmerlichen Kerl Karten spielen? Aber auch der Schlosser wurde unruhig.

»Bekommen Sie nicht jede Woche Besuch? Ich dachte, da käme ein vierter Mann gerade recht.«

»Von wem haben Sie das gehört?«

»Alle reden davon.«

»Von wem?!«

»Mecseki und Dan Vlahilă verbreiten das. Ich will ja nichts sagen, aber sie würden auch mitmachen …«

Das war allerhand! Das war ja wirklich allerhand! Mecseki konnte man noch verstehen, denn seit er einen Fleck auf der Weste hatte, nutzte er jede Gelegenheit, sich reinzuwaschen, aber was mochte der Kinderarzt wollen? Der hatte doch sein Auskommen. Kein Patient, der nicht etwas Brauchbares mitgebracht hätte. Schlechtere Zigaretten als Kent hatte Rudolf in seinem Mund noch nie gesehen. Die Gedanken rasten ihm durch den Kopf. Natürlich! Auf Nicu Zmeură hatten sie es abgesehen! Auf seinen Gast. Diese Dummköpfe! Diese schleimigen Rindviecher! Dachten sie, bei einer Partie Karten könnte man mit jedem warm werden? Dass ihnen jemand, mit dem sie einmal zusammen getrunken hatten, nicht mehr ins Bein biss? Na gut, er konnte eigentlich nicht leugnen, dass sich Zmeură bei ihm tadellos verhielt. Blut war noch nicht geflossen, falls sie das gedacht haben sollten. Auch den Aschenbecher leerte er selber, das konnte er ihnen zeigen. Aber sie sollten sich mal Kalcsek ansehen! Sobald er heraufkam, machte er sich über den Schnaps her, es dauerte keine Stunde, und er war schon sturzbetrunken. Denn so hörte und sah er wenigstens nichts. Wenn etwas geschähe, wäre er nicht Komplize, sondern höchstens stiller Teilhaber. Dabei hatte er dem Hausverantwortlichen schon mehrfach zu erklären versucht, dass er sich nicht in die Hose machen solle, weil Zmeură, so sonderbar das auch sei, komme, um sich zu unterhalten. Um abzuschalten. Weiter nichts. Aber Feri Kalcsek wiegte nur seinen traurigen, struppigen Kopf, er habe das mit seiner Frau schon beredet, und Rudolf solle glauben, so sei es am besten, am sichersten für sie alle. Kalcsek sah das natürlich nicht, aber in letzter Zeit glänzte seine Haut wächsern, sein Gesicht aber hing schlaff herunter, als wisse er selbst nicht, wozu er gut sei. Irgendwie hatte der ganze Mann ausgedient wie ein abgetragener Mantel, über den man selbst auf dem Flohmarkt lachte. Da half es nichts, dass er die Hände in die Taschen steckte, sie zitterten auch dort. Die Kinder zeigten schon hinter seinem Rücken mit dem Finger auf ihn, weil er mit den Händen in den Taschen aussah, als ob er von früh bis spät an seinem Ding herumfummeln würde. Niemand wusste, warum er so schnell alterte. Obwohl er fünf Jahre jünger war als Rudolf, sah er aus wie siebzig. Wohin die Eile? Oder war das eine raffinierte Art des Selbstmords?

Es war nicht einmal vier Jahre her, dass Kalcsek mit seinem Sportfernseher auf den Csemergi-Hügel gestiegen war, um dort die Vorrundenspiele zu empfangen. Im Hof kam nämlich außer der inländischen Propaganda alles grießig an, als wäre die ganze Welt scharf auf diesen hartnäckigen Brei, als wäre auch dies Propaganda. Aber damals munkelte man schon, seine Sportbegeisterung sei nur Tarnung, eine geistreiche List, Kalcsek interessierten eigentlich die politischen Sendungen. Er habe sich in den Kopf gesetzt, dass die Amerikaner in der Region bald für Ordnung sorgen würden, denn da drüben, so verbreitete der Mechaniker, habe ein echter Revolverheld die Macht übernommen, und solche Leute fackelten nicht lange, und so würde er den Russen schon über kurz oder lang die bittere Pille zu schlucken geben. Wegen dieser Pille ging Kalcsek angeblich auf den Csemergi-Hügel. Woche für Woche. Auf das Erdgeschoss legte sich nach einer Weile eine Mischung aus Angst und Zuversicht. Ein Gefühl des Wartens, das einem die Knie zittern ließ, denn es gab keinen einzigen Bewohner, der nicht wenigstens einmal gesehen hatte, wie John Wayne auf Indianerleichen hinabsah und grinste. Und etwas Dämlicheres auf der Welt als die Hoffnung gab es wohl kaum. Man merkte es nicht einmal und begann, sich so zu verhalten, als könnte man mitten innerhalb der Absperrung für die Feierlichkeiten lauthals Witze machen, als könnte man in seinem Parteiausweis herumkritzeln, und es verkrampfte sich einem nicht einmal der Magen, wenn man sich ausweisen musste. Wenn man Glück hatte, hielten einen die harten Jungs schlicht und ergreifend für verrückt und machten ein paar Späße, denn auch sie brauchten ja ein bisschen Entspannung. Aber wenn nicht, kamen schwere Jahre auf einen zu, nach denen man zu Recht für vollkommen schwachsinnig gehalten wurde. Außer man machte sich zwischenzeitlich in die Hölle davon, um Kohle zu schaufeln. Aber die Bewohner richteten sich so ein, als hätten sie von der Hölle nie gehört, oder wenn doch, als würden ihnen dort irgendwelche Girls Juice servieren und Kalcsek säße auf dem Platz des Teufels, in echten stonewashed Jeans. Sie nahmen nachlässige und veraltete Gewohnheiten an, so lasen sie bei dampfendem Tee die Morgenzeitung, als schriebe sie nicht Tag für Tag dasselbe, und sie winkten den Polizisten mit der Maschinenpistole zu sich heran, als wäre es seine heiligste Pflicht, ihnen den Weg zu weisen und nach dem Regen die Kleider der Frauen vor den rasenden Autofahrern zu schützen. Vergeblich legte Kalcsek sein kariertes Heft mit den Olympiaergebnissen und der Gruppeneinteilung der Fußball-WM auf die Veranda, alle beobachteten erwartungsvoll sein Gesicht, wenn er von seinen Ausflügen zurückkam. War die Pille schon da, oder musste man noch ein paar Tage warten?

Wer weiß, was passiert wäre, wenn der Fernseher der Veterényis in der Nachbarschaft nicht rechtzeitig angefangen hätte, Russisch zu sprechen.

Der Maschinenbauingenieur Veterényi und sein älterer Sohn Lajos hatten sich ausgedacht, eine Antenne zu bauen, mit der ungarische Quizsendungen mit dem Showmaster György Rózsa ins Haus kämen und man nicht bis zur Schutzhütte hinaufsteigen musste, um sie zu empfangen. Kalcsek holten sie sich als Assistenten. Zuerst versuchten sie es mit monströsen Konstruktionen, länger als der Blitzableiter. Sie reichten bis in die niedrig ziehenden Wolken hinauf. Diese drehten sie in alle Richtungen, aber vergeblich: Auf dem Bildschirm des Orion war nur Schneegriesel zu sehen. Danach versuchten sie es mit fast allem, was ihnen in die Hände kam. Rudolf gefiel der verbogene Grillrost am besten, zu dem Kalcsek die Aluminiumflügel zusammengeklaut hatte, weil man damit angeblich Wunder bewirken konnte. Aber da war der ganze Hof schon neidisch, weil sie wussten, wenn das klappte, hätten sie das große Los gezogen: Die hausierenden Gábor-Zigeuner mit ihren großen Hüten würden ihnen für die Konstruktion schon unbesehen Devisen und zwei Stangen bulgarische Zigaretten bieten.

Lajos war für das Grieseln verantwortlich. Er beobachtete starr den Bildschirm, während Kalcsek und sein Vater oben ihre neueste Idee einstellten, und meldete über die Dachbodentreppe sofort jede noch so kleine Veränderung. Nach einigen Tagen konnte er schon zwischen dichtem, knisterndem Griesel und blinkenden milchweißen Flocken unterscheiden, bei denen nie etwas Gutes herauskam. Aber an jenem Tag im März überzogen unbekannte, graue Schneegriesel den Bildschirm des Orion, dann ein paar schwarze Streifen, und als das Ganze plötzlich nachließ und es schien, als klarte es auf, als fänden die bisher hin und her schwirrenden Flocken sich zu erkennbaren Flecken zusammen, brüllte er sofort das Ergebnis hinauf. Und wirklich: Ein paar Minuten später erschien hinter dem grauen Schleier eine menschliche Gestalt mit Dauerwelle, die ein Blatt Papier in der Hand hielt. Fraglos eine Ansagerin. Als dann sein Vater das Gerät zurechtrückte und vorsichtig an den Knöpfen drehte, kam gurgelnd und unsicher auch der Ton. Sie wagten sich kaum zu bewegen. Durch den bevorstehenden Erfolg waren sie fast wie gelähmt. Angespannt lauschten sie, um aus dem Tongewirr so schnell wie möglich verständliche Wörter herauszufischen. Kalcsek bewegte aufgeregt den Mund, als suchte er so nach dem Sinn der fernen Sprache, und Veterényi beugte sich ganz nah an den Lautsprecher. Beinahe gleichzeitig richteten sie sich auf und traten zurück ins Innere des Zimmers.

»Was ist?«, schrie Lajos seinen Vater an.

»Nichts«, sagte der endlich. »Sie spricht Russisch.«

Seine Frau sah nicht einmal hin. Demonstrativ richtete sie ihr Kleid und fing an, das Porzellan in der Vitrine abzustauben. Stück für Stück knallte sie es auf den Tisch. Veterényi übersetzte leise ein paar aufgeschnappte Wörter, Kalcsek aber grinste, als hätte er mit nichts anderem gerechnet. Denn wo wir auch hinsehen, das ist alles, was es gibt, dieses Nichts, Nichts, Nichts, wiederholte er noch am Tag danach. Wer ihn hörte, wusste nicht, was er denken sollte. Spielte er vielleicht auf die alles einspinnenden, unsichtbaren Wellen an, von denen hier infolge eines Irrtums außer den heimischen und diesem russischen Schrottsender nichts ankommen konnte? Obwohl, wenn wir es recht bedenken, fügte Rudolf hinzu, wirbelt die ganze Welt hier über unserem Dach, wir müssten nur den Arm ausstrecken, und alles würde durch uns hindurchkribbeln.

Einig waren sich jedoch fast alle darin, dass dieses Unglück verheißende Vorzeichen das ganze Unternehmen sprengen konnte. Zu der Zeit überraschte Kalcsek am Morgen keiner mehr mit einem Kaffee, und man lachte ihm beinahe ins Gesicht, als er im Haus-Toto zwei Hunderter darauf setzte, dass die Italiener Weltmeister würden. Aber der Mechaniker beugte sich den Tatsachen nicht, er stieg immer öfter den Hang hinauf und klopfte alle zwei Wochen mit einer findigen Idee bei den Veterényis an. Edelstahllegierung, Kugelkonstruktion, Importkabel … Aber es half nichts: Das milchweiße Nichts hatte sich endgültig im Orion eingenistet. Der Haufen Alteisen auf dem benachbarten Schrottplatz lenkt die Wellen ab, erklärte Kalcsek eines regnerischen Nachmittags und betrachtete streng die dunklen Hügel am Rand der Wohnsiedlung, als wollte er sie mit seinem Blick forttragen.

Dann wendete sich doch alles zum Guten: Die Italiener verdreifachten unter Rossis Führung Kalcseks Hunderter, und auch die Angst kehrte in ihr altes, sicheres Bett zurück. Sie trat erst wieder über die Ufer, als die Nachricht kam, dass man in Moskau Breschnew aufgebahrt habe und der Werklautsprecher einen Tag Staatstrauer anordnete. Zu allem Überfluss wies nichts darauf hin, dass in diesem kritischen Augenblick ein amerikanischer Panzerwagen am Ende der Straße des Fortschritts erschiene, um, wenn schon keinen anderen, so doch wenigstens Kalcsek zu retten. Denn zu der Zeit hätte dafür, dass der Mechaniker einmal eine Rente bekäme, kein vernünftiger Mensch mehr auch nur einen roten Heller gegeben. Kalcsek würde man gewiss lebendig begraben. Und mit Veterényi geschähe, was eben geschähe.

Hinter den Tönen der Fernsehübertragung am Trauertag war nämlich – darauf hätten einige geschworen – das Quaken deutlich zu hören.

Das Erscheinen der Kerle in Lederjacken überraschte alles in allem niemanden mehr. Man möchte sagen, das war das Mindeste. Die packten hämisch lachend das Aluminium und die Kupferkabel samt einigen Fachbüchern zusammen. Sie warteten nicht einmal bis zum Mittag. Kalcsek war zwar rot im Gesicht, zeigte aber nicht einmal einen Anflug von Reue. Er setzte sich hinaus auf die Schwelle und rauchte. Man konnte ihn kaum ansprechen. Und auch am nächsten und übernächsten Tag wurde er nicht in Handschellen abgeführt, man schlug ihm die Nase nicht blutig, sie schoben ihn nicht einmal ab, um gleichsam die Gegend zu desinfizieren. Selbst Toroczkay fand sich in den Ereignissen nicht mehr zurecht, dabei ergriff er sogar auf den Parteiversammlungen regelmäßig das Wort, denn entweder war Kalcsek jetzt ein Held, vielleicht ein Seher, oder hatte mächtig Schwein gehabt, so viel war todsicher, erklärte er den Verständnislosen. Einige Wochen später wurde Kalcsek auf Anweisung von oben einstimmig zum Vorsitzenden der Hausgemeinschaftsleitung gewählt. Er versah seine Aufgaben mit einer solchen Gewissenhaftigkeit – sogar die Streunerei stellte er ein –, dass außer dem hitzköpfigen Toroczkay niemandem in den Sinn kam, ihn abzulösen.

»Sehen Sie, am besten wird es sein, wenn Sie jetzt brav nach Hause gehen und das Ganze so schnell wie möglich vergessen«, sagte Rudolf endlich zu Rakucsinec, der an der Tür wartete.

Rudolf bemühte sich, ein möglichst wohlwollendes Gesicht zu ziehen, aber eine Zurückweisung war auch dann eine Zurückweisung, wenn man dazu lächelte. Das Ergebnis blieb nicht aus. Es tat gut zu sehen, wie die Gekränktheit, die eingebildete Ungebührlichkeit den zuvor noch so selbstsicher dastehenden Schlosser nach und nach aufblies. Schon schwebte er über Rudolfs Kopf wie ein widerspenstiger Luftballon.

»Wenn Sie anderen nicht helfen, brauchen Sie auch nicht zu hoffen, dass wir Ihnen helfen«, sagte er schließlich mit erhobener Stimme, woraus sich schließen ließ, dass Rudolf den Zucker für ein paar Wochen abschreiben konnte. Wenn er sich denn nicht ans Fenster setzte und aufpasste, wann auf dem Hof Unruhe aufkam, wann die anderen mit dem Einkaufsnetz loszogen, und ihnen verstohlen hinterherschlich. Aber das wäre noch schlimmer gewesen, als offen um Verzeihung zu bitten. So war es auch Öcsi Keller ergangen, dem ewigen Schnüffler. Ihn und seine Mutter konnte Rakucsinec nicht ausstehen. Vielleicht, weil früher einmal das ganze Haus ihr Eigentum gewesen war und sie immer noch nicht ganz aufgehört hatten, es als ihren Besitz zu betrachten. Vor allem Kellers Mutter nicht, die auch jetzt noch so in die eine oder andere hintere Wohnung hineinsah, als käme sie die Dienstmädchen kontrollieren. Und wenn Rakucsinec jemanden verachtete, dann mussten denjenigen alle schneiden, denn Rakucsinec’ Frau gab viel auf Solidarität. Sie führte Buch über die Verhältnisse im Haus, und man erzählte sich, dass sie sogar in ein Schulheft schrieb, wer gerade wem verpflichtet war und in welchem Maße, von wem in Zukunft was zu erwarten sei, und wenn die Bilanz nicht stimmte oder sich irgendwo eine Lücke zeigte, dann konnte der Schuldige in dieser Woche seine Suppe aus Wasser kochen, weil ihm niemand auch nur einen Knochen lieh.

Es hätte gutgetan, trotzig die Tür zuzuziehen und Rakucsinec nicht zu belauern, wie er das Treppenpodest erreichte, aber da war nichts zu machen. Bei Vlahilă legte er seine Gekränktheit bereits ab und konnte in seinem eigenen gemessenen, akkuraten Tempo weitergehen. Denn ich weiß nicht, ob Sie das schon mal bemerkt haben, hatte er einmal gesagt und sich zu Rudolf gebeugt, wer eine Mission hat, wer auch nur ein bisschen zählt, der hat es niemals eilig. Mit dem Schicksal kann man nicht um die Wette laufen, hatte der Schlosser mit einem überlegenen Lächeln hinzugefügt. Und so eilte er niemals irgendwohin, trabte höchstens mit seiner sich selbst auferlegten Langsamkeit der rumpelnden Straßenbahn hinterher oder legte einen Zahn zu, wenn er sein Portemonnaie im Laden vergessen hatte.

Rudolf stand hilflos auf dem Laubengang und konnte nur noch rätseln, ob wohl der größere Hähnchenschenkel dieses kleine Intermezzo ausgleichen könne. Ob er wohl bis zu Hause den patzigen Tonfall vergessen hätte oder sich sofort bei seiner Frau beklagte. Er wartete, bis Rakucsinec zu seiner Tür geschlurft war, die in Papier eingepackte Beute übergeben hatte, und auch, bis die Frau schließlich herüberwinkte, worauf er sofort zurückwinkte, denn wer seinen Kaffee nicht bitter trinken wollte, wer am liebsten auch das Leitungswasser mit zwei Löffeln Zucker gesüßt hätte, der sollte nicht zimperlich sein, nicht den Beleidigten spielen, sondern tief hineinkriechen, wenn schon jemand so gnädig war, seine Hose gerade vor seiner Nase herunterzulassen.

4.

Die Nase kann man nicht irreführen. Müde kann sie vielleicht werden, aber hereinlegen lässt sie sich trotzdem nicht. Mártas Haar, ihr Nacken, die feinen Krater ihrer Poren verströmten vom ersten Tag an denselben Geruch, versprühten dasselbe Parfüm: den unentrinnbaren Duft von Schimmel. Eine Zeit lang konnte man darüber Witze machen: Fleming und das Penicillin, und dann Käse, unerreichbar delikate Käsesorten – was wäre die Welt ohne sie? Im Dunkel des Kinos, das das Selbstvertrauen förderte, oder auf der Terrasse der Konditorei, wo der Luftzug immer im rechten Augenblick über die Tische fegte, ließ sich das noch aushalten, aber im Bett, im Gefängnis der frischen Laken, war schon jedes unpassende Wort eine Beleidigung, eine unentschuldbare Grobheit.

Solange es nur möglich war, log sie: mit sowjetischem Parfüm, Netzstrümpfen, ziellosen Spaziergängen in den Laubengängen am Fluss oder damit, dass sie sich das Rauchen angewöhnte. Schließlich gab es nichts, das im Qualm nicht begehrenswerter wurde, aber sie übertrieb es ein wenig, denn zwei Schachteln am Tag mussten es mindestens sein. Ihr Ziel erreichte sie jedoch: Alles bekam denselben ekelhaften Geruch. Die ganze kleine Wohnung schwamm in verräuchertem Odeur, und in diesem süßlichen Wurstgeruch konnten auch ein paar gelangweilte Sätze mehr bedeuten, so konnten sie leichter Hingabe mimen und brachten die Flitterwochen einfacher hinter sich, obwohl sie auf Mártas Bitte am dritten Tag einen Abstecher zum Baggersee machten.

Die junge Frau hatte recht gehabt. Die Kühle des Wassers war eine Wohltat, und ebenso gut tat es ihnen, sich unter dem Vorwand, jemand müsse auf die Sachen am Strand aufpassen, voneinander loszureißen und bis zur Mitte des Sees nicht einmal anzuhalten. Sich aufs Wasser zu legen und das unvergleichliche Alleinsein zu genießen. Als wäre unter dem Wasser ein anderer, ein größerer See: der See der Ruhe. Dorthin strebte der erschlaffende Körper erschöpft, doch mit angespannten Muskeln, eine dumme, sich selbst eliminierende Hoffnung. Da draußen, in einer anderen Welt, nannte man so etwas Einsamkeit und verbarg es mit Bedauern, aber hier konnte niemand mehr als das bekommen. Und wenn Rudolf noch weiter hinausschwamm, auch die letzte Boje hinter sich ließ, dann überraschten ihn bereits rätselhafte, kalte Strömungen, die ihm eine Gänsehaut machten, ihn weiterlockten, immer weiter. Man erzählte sich, dass in jenem Jahr mehr Menschen im See ertrunken seien als je zuvor. Als wäre dieser uferlose, unverdiente Friede gefährlicher als der Krieg selbst.

Doch Rudolf hatte nie etwas auf Gerüchte gegeben. Nach langen Wochen spürte er jetzt zum ersten Mal, dass er einen klaren Kopf bekam. Mitten auf dem See, in dieser wiegenden Einsamkeit war er endlich in der Lage, seine Gefühle vom Zwang der Pflicht zu trennen, und das gab ihm jetzt vielleicht genügend Mut, um Márta zu gestehen: Diese plötzliche Ehe war nichts anderes als ein dummes Missverständnis. Eine instinktive Antwort auf eine peinliche und unüberschaubare Situation, die ihnen das gesamte Leben zerstören konnte, wenn sie nicht beizeiten behoben wurde. Es konnte doch nicht wahr sein, dass Márta niemals daran gedacht hatte! Hatte sie die verräterischen Zeichen denn nicht bemerkt?! Sah ein Mann, der seine Angetraute liebte, bis dass der Tod sie schied, etwa so aus wie er? Einer, der glücklich war, wenn er sich auch nur für eine Stunde freimachen konnte? Und ihre Hochzeitsnacht! Über die wollte er lieber gar kein Wort verlieren. Sie sollte ihm doch einmal sagen, zu was für einem erbärmlichen Ehemann einer werden musste, der selbst in der wichtigsten Nacht mehr mit seiner Bequemlichkeit im Bett beschäftigt war als mit den Kurven seiner geduldig wartenden Frau? Brauchte es denn noch mehr Beweise?

Aber wenn Márta es trotzdem für gut hielt, dass sie weitermachten, dann würde er eben weitermachen. Man hatte ihn so erzogen, dass er niemals jemanden im Stich ließ. Er wäre nun wirklich der Letzte gewesen, der sein einmal gegebenes Wort brach und sich abwandte. Selbst wenn das Ausharren schon längst seinen Sinn verloren hatte. Wenn er schon wusste, dass alles Abwarten den Sinn aus sich selbst gewann: Ausharren bedeutete eigentlich, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben. Den immer nackten Wahnsinn einzukleiden, weil man ihn sich so, wie es einem passte, zurechtlügen konnte: zu Treue, zu Anhänglichkeit oder sogar zu Liebe. In solchen Momenten drängten sich die Worte geradezu in ihm. Aber wenn Márta auch jetzt nicht verstand, wenn sie ihr Leben um jeden Preis in dieser Falle verbringen wollte, wenn sie lieber eine Heldin sein wollte als lebendig, dann würde er, Rudolf, versuchen, diese Falle so wohnlich zu gestalten, wie es ihm nur möglich war.

Mit diesem Entschluss schwamm er an das Ufer zurück.

Als Márta ihn erblickte, lächelte sie ihm sofort zu wie ein mit einer Feder betriebener, feiner Mechanismus und fragte ihn dann mit ihrer dünnen Kinderstimme aus, wie das Wasser sei. Wunderbar, antwortete er mit fast schon unangemessener Begeisterung, aber das Handtuch wies er zurück. Er hatte es schon immer gemocht, wenn die Sonne seine Haut erwärmte. Wozu sollte man verderben, was doch gut war, hatte sein Vater tagein, tagaus gepredigt, und jetzt hörte er den Tonfall des Vaters aus seinem eigenen heraus. Seine süßlichen Lügen. Über Mártas Gesicht huschte eine gewisse Besorgnis, verlegen faltete sie das Handtuch zusammen und blinzelte in Richtung See. Die Maisonne wurde immer heißer, und hier, auf der schattenlosen Böschung, immer unbarmherziger. Auf Rudolfs Haut glitzerte das Wasser, und dieses Glitzern lockte Márta immer durstiger. Sie schaute, sehnsuchtsvoll und doch nüchtern, als wollte sie, dass der See herkäme, dass er bis an die Decke kröche, weil sie dann keinen Schritt tun müsste, denn wie sah das aus, ihren Mann schon in den ersten Tagen allein zu lassen? Rudolf packte schließlich das Mitleid. Geh nur, sagte er, es wird dir guttun.

Von der Böschung konnte man den ganzen See überblicken. Gegenüber die kleine Bucht mit den morschen Booten der Fischer, dahinter die buckligen Bergehalden. Links drängten sich erschrocken die letzten Häuser des Bergbaudorfes. In großen Körben trugen von dort Frauen mit breiten Hüften ihre Wäsche zum Damm, von denen die Zeit alle Weiblichkeit abgerieben hatte. Rechts aber wand sich der den Hügeln ausweichende, kahle Uferabschnitt bis zum Wald von Eperjes. Am Ufer hatte man so lange immer wieder Bäume gepflanzt, bis endlich einige stehen blieben, der Feldweg dahin war hingegen mit einer Schranke abgesperrt. Manche sagten, zwischen die Bäume sollten Villen gebaut werden, andere glaubten, man würde einen Bunker und schwere Flakstellungen anlegen. Die Sowjets würden die Amerikaner nämlich irgendwo hier aufhalten, hier versetzten sie ihnen den entscheidenden Schlag, wenn sie nicht auch sie bis nach Stalingrad lockten. Dabei hatten sie sich gerade erst an den Frieden gewöhnt, an die frischen Regeln fürs Überleben. Aber wenn er es genau bedachte, konnte auch das die Leute wahnsinnig machen: diese Stille ohne das Rattern der Maschinengewehre. Das nervenaufreibende Wissen, dass jederzeit wieder geschossen werden konnte. Die Bäume waren noch kümmerlich, durch ihr kraftloses Laub blitzte die Rostfarbe der Erde auf, vorerst verdeckten sie nicht einmal einen Menschen, erst recht keine Flakbatterie, aber wieso sollte man gerade die Unsinnigkeit nicht vorausplanen können?

Seine Frau entfernte sich immer weiter vom Ufer. Vielleicht spürte sie jetzt dasselbe. Vielleicht begann die Stille, auch sie zu locken. Der See unter dem See. Wenn er ihr ein bisschen Zeit ließe, würde vielleicht sie das alles entscheidende Wort aussprechen. Würde sie selbst die Trennung anregen. Nur hatte er nicht einmal mehr dazu Zeit! Jeder einzelne gemeinsam verbrachte Tag legte sich wie eine unerträgliche Last auf ihn. Stampfte ihn immer sicherer in den Boden. Am Morgen schien noch alles leicht, aber am Abend schleppte er seine zentnerschweren, tauben Glieder bereits zähneknirschend voran. Doch was sollte er machen, wenn seine Frau so vorsichtig war, so extrem ängstlich, dass sie sich ohne Erlaubnis nicht einmal einen Splitter aus der eigenen Ferse ziehen würde?

Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und begann, sofort zu brennen. Er drehte sich auf die Seite, schlug die ausgebreitete Decke an einer Ecke um und starrte auf die platt gedrückten Grasbüschel. Die zerquetschten, entstellten Käfer, die wenige Minuten vorher noch lebendig irgendwohin geeilt waren. Das Ganze machte ihm schlechte Laune. Er, der gerade drauf und dran war, zu morden, urteilte noch?! Konnte er es doch kaum erwarten, jemanden endlich zu vernichten. Dafür sammelte er seine Kräfte. Was sollte daran anders sein als am Krieg? War es nur deshalb menschlicher, weil es sich nicht um eine Kugel oder Granate handelte, die eindrucksvoll das Fleisch zerfetzte? Er lachte auf. Was für ein dämlicher Gedanke! Márta würde nie im Traum mit den in Blut erstarrten, verstümmelten Körpern tauschen, die man unter den Trümmern ausgegraben hatte. Das Leben war gerade wegen solcher Herzwirren lebendig. Wie viele Menschen würden mit Freude so eine popelige Trennung in Kauf nehmen, wenn sie dafür ihren Arm, ihre Frau, ihre Familie zurückbekämen? Warum sollte man Márta das Leben ersparen? Warum sollte er sein Leben mit Leichenflecken fristen? Lächerlich! Wenn sie dafür zahlten, ließe sich vielleicht sogar dafür sorgen, dass von ihrer Ehe keine Spur zurückbliebe. Die Ämter hatten ja gerade erst zu arbeiten begonnen. Noch konnte jedes Papier verloren gehen. Jeder konnte unaufmerksam sein. Wegen der paar dummen Tage sollten sie nicht gleich geschieden und gebrandmarkt sein. Vielleicht müsste er damit beginnen. Mit dem überraschenden Farbenreichtum des Lebens.

Wäre da nicht diese Kleinigkeit dazwischengekommen, hätte er es ihr gesagt.