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Es ist der 15. Juli 2021. Vivien, ihr Mann Harry und ihre sieben Monate alte Tochter sind unterwegs zum Haus der Schwiegereltern im Landkreis Ahrweiler. Dass sich dort in der Nacht die schlimmste Naturkatastrophe in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg ereignete, wissen sie noch nicht. Ebenso wenig, dass weder die Schwiegereltern noch der jüngere Schwager diese Nacht überlebten. Erst mehrere Wochen später werden die Körper von Hans und Ella, Harrys Eltern, gefunden. Sein Bruder Franky bleibt vermisst. Vivien Neufeld berichtet aus ihrer Sicht, schildert ihre Wahrnehmungen, ihre Gefühle und Erinnerungen an das, was vor der Flut war, und stellt sich die Frage: "Was bleibt?" Sie schreibt über ihre Trauer und darüber wie sie all das dennoch überstehen. Am Ende findet sie für sich eine Antwort darauf, was bleibt, auch wenn alles andere vergeht.
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Seitenzahl: 301
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Vivien Neufeld (Jg. 1993) wuchs im Ahrtal auf. Sie arbeitet bei einem großen deutschen Unternehmen in Bonn, wo sie mit ihrem Mann und den gemeinsamen Töchtern lebt. Sie liebt es zu reisen, Neues zu sehen und Schönheit in den kleinen Dingen zu entdecken.
www.vonwort.de
WAS FÜR IMMER BLEIBT: GLAUBE, HOFFNUNG, LIEBE
Es ist der 15. Juli 2021. Vivien, ihr Mann Harry und ihre sieben Monate alte Tochter sind unterwegs zum Haus der Schwiegereltern im Landkreis Ahrweiler. Dass sich dort in der Nacht die schlimmste Naturkatastrophe in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg ereignete, wissen sie noch nicht. Ebenso wenig, dass weder die Schwiegereltern noch der jüngere Schwager diese Nacht überlebt haben. Erst mehrere Wochen später werden die Körper von Hans und Ella, Harrys Eltern, gefunden. Sein Bruder Franky bleibt vermisst. Vivien Neufeld erzählt aus ihrer Sicht, schildert ihre Wahrnehmungen, ihre Gefühle und Erinnerungen an das, was vor der Flut war. Sie schreibt über ihre Trauer, darüber, was sie durch diese schwere Zeit trägt und wie Gott sich durch liebevolle Kleinigkeiten immer wieder bemerkbar macht. Am Ende findet sie für sich eine Antwort darauf, was bleibt, auch wenn alles andere vergeht.
»42.000 Menschen waren im Ahrtal von der Flut im Juli 2021 betroffen. Eine äußere und vor allem innere Katastrophe. Dieses Buch gewährt tiefe Einblicke in das Schicksal einer Familie. So persönlich und ehrlich erzählt, so ergreifend und bewegend. Vivien beschönigt nichts. Und Hoffnung trägt wirklich.«
Sascha Neudorf, Fluthelfer und Leiter des »Hoffnungswerk e.V.«
»Vivien erzählt von ihrem Erleben nach der Flut. Von ihrem Umgang mit Trauer, Wut, Unverständnis und wie sie Frieden in allem finden konnte. Ein bemerkenswertes Buch, das mich tief beeindruckt hat.«
Elke Janßen, Systemische Beraterin und Autorin
»Der Tag, an dem mein, unser Sommer zu Ende ging, war ein extrem einschneidendes und traumatisches Erlebnis für mich. Ich bin unendlich dankbar für dieses Buch als Zeitzeugnis unserer Familiengeschichte. Für mich war es sehr bewegend, sehr schmerzhaft und auch sehr tröstend in Viviens Erinnerungen einzutauchen und zu sehen, wie sorgsam sie jeden noch so kleinen Lichtblick festgehalten hat. Das Buch zeichnet ein umfassendes, wundervoll buntes Bild einer sehr prägenden Zeit meines Lebens. Es erzählt von Dunkelheit, Chaos, Licht, Hoffnung und vor allem von Liebe.«
Harry Neufeld, Ehemann der Autorin
SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7640-8 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6237-1 (lieferbare Buchausgabe)
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Weiter wurden verwendet:
Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung
Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft,
Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten. (NGÜ)
Umschlaggestaltung: Astrid Shemilt // Büro für Gestaltung:
www.astridshemilt.com
Titelbild: Henrik Donnestad (unsplash.com)
Autorenfoto: Sebastian Heim
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Widmung
Anmerkung der Autorin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Danke
Anmerkungen
Für Harry.
In dieser Geschichte gibt es keinen objektiven Erzähler. Ich arbeite nicht die gesamten Umstände auf oder berichte als Außenstehende über andere Schicksale. Ich kann nur erzählen, was ich erlebt habe, wie ich empfinde und was ich von meinem direkten Umfeld mitbekommen habe. Dabei möchte ich andere Empfindungen, Sichtweisen und den Umgang mit der Situation weiterer in verschiedenster Weise betroffener Personen nicht negieren oder relativieren.
Es gibt Tage, an die erinnert man sich selbst nach einer gewissen Zeit noch so, als wären sie gerade erst vergangen. Der 15. Juli 2021 – ein Donnerstag – war für mich ein solcher Tag.
Harry, der sich zu der Zeit immer vor seinem 9-Uhr-Meeting um unsere sieben Monate alte Tochter kümmerte, weckte mich an dem Tag aber etwas früher als sonst, um circa 8:15 Uhr. Seine Stimme war ruhig, aber alarmierend zugleich: »Kannst du Kaia übernehmen? Ich muss nach Ahrweiler. Meine Eltern brauchen Hilfe beim Kellerauspumpen.«
Ich bat ihn darum, mir fünf Minuten zu geben, um wach zu werden und kurz ohne Kind ins Bad zu gehen. Dort nahm ich mein Handy zur Hand und öffnete völlig nichts ahnend meine neuen Nachrichten.
Meine beste Freundin war am Vorabend aus Koblenz zu ihren Eltern nach Remagen gefahren, weil der kleine idyllische Bachlauf, der durch ihren Garten führt, nach dem vorherigen Tag des Starkregens schon weit übergetreten war. Sie befürchtete daher, dass ihre Eltern Hilfe beim Trockenlegen des Erdgeschosses brauchen würden, sollte das Wasser noch weiter steigen und sich eventuell durch Toiletten und andere Abflüsse hochdrücken. Ich hatte ihr meine Hilfe angeboten und wollte unbedingt wissen, wie die Lage dort war. Zuerst hörte ich eine kurze Sprachnachricht von ihr ab, die sie mir um kurz vor 1 Uhr in der Nacht geschickt hatte. Ich ging fast schon davon aus, dass der Bach weiter gestiegen war und sie die ganze Nacht gegen das Wasser zu kämpfen hatten. Doch sie berichtete davon, dass sie über Social Media Fotos und Videos aus Orten an der Ahr, wie Dernau, Mayschoß oder Rech, gesehen hatte, in denen Wohnwagen von den Wassermassen durch Brücken gedrückt und zusammengefaltet worden seien. Vorstellen konnte ich mir das nicht, obwohl ich schon am Tag zuvor ab 17 Uhr immer wieder Fotos von Bekannten auf Instagram gesehen hatte, die den steigenden Ahrpegel in Altenahr dokumentierten und auch davon berichteten, dass ganze Autos nicht mehr da seien. »Klar«, dachte ich, als ich das hörte. »Wenn ich sehen würde, dass das Wasser steigt, dann würde ich mein Auto auch wegfahren.« Auf die Idee, dass diese Autos von der Ahr weggespült worden waren, kam ich gar nicht.
Die nächste Nachricht meiner Freundin, gesendet um 8 Uhr, lautete: »Ich möchte weinen. In Heimersheim gibt es wohl schon eine Ertrunkene. Leute sitzen auf den Dächern und warten, dass der Heli kommt, um sie zu evakuieren.« Heimersheim, der Nachbarort meiner Schwiegereltern. Ich antwortete ihr nicht direkt, sondern öffnete den nächsten Chat.
In unserer Familiengruppe schickten meine Brüder schon am frühen Morgen Fotos von meterhohem Wasser in Ahrweiler und der Innenstadt von Bad Neuenahr, die sie nachts von Freunden bekommen hatten. Ich brauchte einen kurzen Moment, um genau einzuordnen, wo diese Fotos aufgenommen worden waren. Ein Foto zeigte einen Platz, auf dem man die Häuser ringsum nur ab dem ersten Stockwerk sehen konnte, weil alles darunter unter Wasser war. Man sah Autos, die auf diesem Platz »schwammen« oder viel eher dorthin gespült worden waren. Das alles war so surreal. Es war surreal, die Stadt so zu sehen, in der ich zur Schule gegangen und zum größten Teil aufgewachsen war und in der meine Eltern immer noch wohnten. Kaum begreifend, was ich da gerade gesehen hatte, und dennoch wie vom Blitz getroffen, fuhr ich mit meinem Morgenprogramm fort, putzte im Eiltempo meine Zähne und machte mich fertig.
Als ich aus dem Bad stürmte, teilte ich Harry mit, ich würde mitkommen, unsere Tochter in der Trage verstauen und hätte so zwei freie Hände zum Helfen. Er hatte in der Zwischenzeit schon seinen Teamleiter informiert, dass er nicht am regulären Meeting teilnehmen und sich später dann aus Ahrweiler einloggen würde, um zu arbeiten.
Wir packten also das unserer Meinung nach Wichtigste zusammen – Windeln, Trage, Brei, ein Spielzeug und Harrys Laptop – und machten uns keine Viertelstunde nach meinem Aufwachen auf den Weg von Bonn in Richtung Ahrweiler.
Harry fuhr und ich saß hinter ihm, um im Notfall die Kinderbespaßung zu übernehmen.
Nebenbei las ich – immer noch nicht wirklich wach – mehr über das, was da im Ahrtal in den letzten Stunden passiert sein musste: Nachrichten in der Familiengruppe mit meinen Schwiegereltern und Schwagern. Ein Schwager berichtete, dass er niemanden erreichen könne, alle Leitungen seien tot. Er habe aber Fotos vom direkt angrenzenden Heimersheimer Bahnhof gesehen, der komplett unter Wasser sei. Durch die Worte, mit denen Harry mich kurz vorher geweckt hatte, war ich bis dahin davon ausgegangen, dass er bereits mit seinen Eltern oder seinem Bruder, der bei ihnen wohnte, Kontakt gehabt hatte. Bei dem Nachrichtenaustausch in der Gruppe wurde mir aber bewusst, dass auch er noch nichts von ihnen gehört hatte.
Nachrichten erster regionaler Zeitungen ploppten auf, die zu diesem Zeitpunkt von vier Toten durch »Unwetterchaos« berichteten. Durch die Verkehrsmeldungen im Radio erfuhren wir, dass die A61, über die wir ursprünglich zu fahren planten, durch den Starkregen am Tag zuvor teilweise unterspült worden und daher aus Richtung Bonn komplett gesperrt sei.
Wir fuhren also noch in Bonn von der Autobahn ab, um über die B9 am Rhein entlang in Richtung Ahrtal zu gelangen, und informierten Harrys ältere Halbbrüder in der Familiengruppe, dass wir uns unseren Weg zu seinem Elternhaus suchten.
Noch während wir durch Bonn fuhren, fiel mir auf, dass ich einen Löffel für Kaias Mittagsbrei vergessen hatte. »Halb so wild«, sagte Harry. »Bei meinen Eltern in Heppingen haben wir ja Löffel.«
Mittlerweile war auch ein reger Schriftwechsel in der Familiengruppe meiner Familie inklusive Onkel, Tante, Cousins und Oma zu lesen. Meine Mutter berichtete, dass sie in Ahrweiler bereits seit dem Vorabend keinen Strom mehr hätten und dass auch die Wasserversorgung nicht mehr funktioniere. Ich bot mich noch an, etwas für meine Eltern und meinen Bruder, der gerade zu Hause war, einzukaufen, da in der Stadt selbst logischerweise auch das Einkaufen ohne Stromversorgung schwierig war. Die Antwort folgte prompt: »Ihr kommt gar nicht nach Ahrweiler. Die A61 ist in Teilen unterspült.« Zudem, schrieb meine Mutter, seien die Brücken nicht passierbar.
In der Zwischenzeit hatten wir unsere Abfahrt erreicht. Ich schaute auf den Sitz neben mir, auf dem unsere Tochter friedlich schlief. Vor uns staute es sich. Kurz vor Bad Bodendorf, zwei Dörfer entfernt von Heppingen, dem Ortsteil von Bad Neuenahr-Ahrweiler, in dem Harrys Eltern wohnten. Autos wendeten. Nach einigen Minuten des Wartens merkten wir, dass es hier wirklich nicht weiterging. Auch wir wendeten und wollten nun durch Sinzig fahren. Doch kaum wieder abgefahren, standen wir Hunderte Meter vom eigentlichen Flussbett der Ahr entfernt vor einem dreckigen, reißenden Fluss. Die Brücke, die uns auf die andere Ahrseite führen sollte, war kaum noch zu sehen. Feuerwehr und Polizei sperrten die Straße.
Wir überlegten, wie wir um die Ahr herum doch noch unser Ziel erreichen konnten, und entschieden uns für einen Weg durch die höher gelegenen Dörfer, auf der anderen Ahrseite entlang. Unterwegs hatten wir immer wieder kein Netz. »Vielleicht kann sich deswegen auch niemand bei uns melden«, dachte ich.
»Da steht ein Auto im Feld«, sagte Harry, als wir wieder in der Talebene ankamen. Ich schaute nach draußen. »Da ist Wasser«, bemerkte ich. »Das Auto steht im Wasser.« Ich traute meinen eigenen Augen kaum. Konnte das wirklich sein? »Nein«, sagte Harry. »Da ist doch kein Wasser.«
Ich widersprach nicht. »Noch eine Kurve und über die Brücke, dann sind wir da«, dachte ich. Doch kaum abgebogen, sahen wir wieder … Wasser. Wasser in einer Absenkung vor der Brücke über die Ahr. Rote Rettungsboote, die dort unterwegs waren. Kein Durchkommen. Dabei trennten uns unter normalen Bedingungen keine zwei Minuten mehr von unserem Ziel. Mittlerweile waren wir schon fast zwei Stunden unterwegs für eine Strecke, die uns sonst nicht mehr als 25 Minuten kostete.
Also wieder umdenken, wieder eine neue Route überlegen. Wir blieben zunächst auf der »falschen« Ahrseite. Es kämen ja noch genügend Brücken, zumindest dachten wir das. Wir bewegten uns im Schneckentempo durch Heimersheim. Überall Feuerwehr, andere Hilfs- und Rettungskräfte, Schläuche, die aus Häusern herausragten, mithilfe derer Wasser auf die Straßen geleitet wurde. Und noch bevor wir die nächste Brücke erreichten, war da wieder fließendes Wasser auf der provisorisch abgesperrten Straße. Wir sprachen kaum, abgesehen von der ständigen Neuplanung unserer Route, starrten ungläubig aus dem Fenster, wenn wir sahen, wie nah die Ahr an Straßen herankam oder wie weit außerhalb ihres Flussbettes sie toste. Mit jedem Weg, den sie uns versperrte, fuhren wir weiter einen alternativen Weg. Was blieb uns auch anderes übrig?
Schließlich kamen wir in Bad Neuenahr am Krankenhaus an. Doch auch hier konnten wir wieder Boote auf der Straße weiter unterhalb sehen. An einer Kreuzung sperrte das THW eine Abbiegung ab, und wir fragten letztlich nach, welchen Weg wir auf die andere Ahrseite nehmen konnten. Die Antwort erreichte zwar meine Ohren, aber so richtig verarbeiten konnte mein Kopf sie in dem Moment nicht: »Am besten nach oben, in Niederzissen auf die Autobahn und von Süden kommend über die große Ahrtalbrücke dann in Ahrweiler abfahren. Alle anderen Brücken gibt es nicht mehr.« Die Ahrtalbrücke, über die in 55 Meter Höhe die A61 über die Ahr führt. Und die sollte jetzt die einzig passierbare Brücke auf die andere Seite sein? Wir schwiegen und fuhren wieder weiter nach oben.
Meine Mutter kündigte in der Gruppe an, dass sie ihr Handy ausmachen würde, um Akku zu sparen, und dass mein Vater und Bruder unterwegs seien, um haltbare Dinge wie Knäckebrot und Konserven in Niederzissen zu besorgen und um unterwegs im Auto die Handys zu laden.
Je mehr ich sah, je mehr ich las, je mehr ich mitbekam, desto mulmiger wurde mir zumute.
»Warum meldet sich denn niemand von Harrys Eltern?«, fragte ich mich im Stillen. »Sein Bruder müsste doch genügend Powerbanks haben, um zumindest mal sein Handy am Laufen zu halten und eine kurze Nachricht zu schicken. Haben sie wirklich kein Netz? Oder sind sie einfach schon so damit beschäftigt, die Folgen der Nacht zu beseitigen, dass sie keinen Blick auf ihre Handys werfen können? Oder …?« Den Gedanken, der sich in dem Moment wie eine schlimme Vorahnung anfühlte, konnte ich nicht zu Ende denken.
Ich brach auf dem Rücksitz leise in Tränen aus. Gerade jetzt, in dieser ungewissen Situation, wollte ich Harry nicht noch zusätzlich beunruhigen, wollte für ihn ruhig und besonnen sein. Ich versuchte, mich zu beruhigen und sagte dann nur leise: »Ich hoffe, deinen Eltern geht es gut.«
Parallel schrieb ich Nachrichten an drei unserer Freunde, die auch im Ahrtal lebten, um zu hören, ob sie in Sicherheit waren. Ein Freund wohnte nah an einem Ort, von dem mein Bruder morgens ein Foto geschickt hatte. Eine Freundin eigentlich sehr weit weg von der Ahr. Kurz nach dem Absenden fragte ich mich schon, warum bei ihr nicht »alles gut« sein sollte. Und der Dritte wohnte direkt gegenüber von Harrys Eltern. Etwas erhöht, am Hang der Weinberge. Ich hatte die Hoffnung, dass er sagen konnte, wie es Harrys Familie ging. Während ich auf Antwort wartete, schweifte mein Blick nach draußen. Der Himmel war blau, vereinzelt einige Wolken, gerade so, als hätte es den Wolkenbruch des Vortages nie gegeben. Es war ein warmer, schöner Sommertag.
Am Tag zuvor hatte es noch in Strömen geregnet. Ich war mit Kaia in der Stadt gewesen und hatte auf eine nachträgliche Geburtstagsnachricht antworten wollen, doch vor lauter Regen hatte ich mein eigenes Wort nicht verstanden. Ich schüttelte den Kopf, als mich die Antwort meiner Freundin aus meinen Gedanken riss: »Bei uns ist alles gut.« Ich war so erleichtert, diese Handvoll Worte zu lesen, auch wenn ich mit ihnen gerechnet hatte, dass ich erst mal gar nicht weiterlas und mein Handy kurz zur Seite legte.
Um kurz vor 11 Uhr passierten wir endlich das Ortsschild von Heppingen, nach fast zweieinhalb Stunden Fahrt in und durch das Krisengebiet. Wenige Meter vor unserem Ziel waren wieder Sperrungen aufgebaut, die wir beiseiteschoben, um weiterzufahren, nur um kurze Zeit später von Hilfskräften angehalten zu werden. Glücklicherweise war ein ehemaliger Schulkamerad von Harry unter den Hilfskräften, der ihn erkannte, uns anwies am Straßenrand zu parken und seine Kollegen bat, in Richtung Haus zu gehen und zu rufen.
Da standen wir nun in einer großen, dreckigen Pfütze, etwa 120 Meter von der Einfahrt des Hauses meiner Schwiegereltern entfernt. Auf der anderen Straßenseite lag ein nasser Erdhaufen. Im höher gelegenen Weinberg hatte es einen Erdrutsch gegeben. Es roch beißend nach Öl und Benzin.
Meine Schuhe waren schon nach den wenigen Schritten zur anderen Autotür matschig. Ich nahm Kaia schlafend aus ihrem Autositz und setzte sie mir vorne in die Trage. Während ich ihre regelmäßigen Atemzüge wahrnahm, versuchte ich mich auf diese Ruhe und Beständigkeit zu konzentrieren: Sie schlief einfach weiter, während um sie herum Chaos herrschte! Harry tauschte seine Flipflops gegen geschlossene Schuhe und wir gingen gemeinsam den Hilfskräften hinterher. Schon hinter der nächsten Kurve standen wir vor Wasser. Kein stehendes, stilles Gewässer, sondern ein fließendes. Ein reißender Strom.
Ich sah an einem Gebäude links von uns einen BMW an einem Zaun gelehnt auf dem Kopf stehen. Wortwörtlich. Die Motorhaube war unten, der Kofferraum ragte in den blauen Sommerhimmel. Am kurzzeitig neuen »Flussufer« blieb ich stehen. Harry ging noch ein Stück weiter ins Wasser, bis er angewiesen wurde, dort stehen zu bleiben, da der Strom noch immer zu stark sei. Keine Fahrzeuge oder Boote konnten zu dem Zeitpunkt zum Haus, denn das stand einfach mitten in der Ahr, die normalerweise an dieser Stelle des Flusslaufs etwa 20 Meter und sehr flach und nun Hunderte Meter breit und offensichtlich sehr tief war.
Als ich Harry mitten im Wasser stehen sah, beobachtete ich ihn aufmerksam. Ich sah ihn nicht gern alleine dort stehen. Die Hilfskräfte riefen etwas und erhielten Antworten von den Nachbarn meiner Schwiegereltern. Sie standen auf den Balkonen und machten winkend auf sich aufmerksam. Aber ich hörte keine mir bekannten Stimmen und sah das Haus von Hans und Ella nicht. Ich konnte nicht sehen, ob auch jemand aus der Hausnummer 33 winkend am Fenster stand oder sich anders bemerkbar machte. Innerlich wurde ich unruhig, und mein Herz wurde ganz schwer. Ich achtete auf Kaias Atem. Einatmen – Ausatmen – Ruhe. Diese Sekunden kamen mir wie Stunden vor.
Direkt hinter mir kam ein Auto zum Stehen. Zwei junge Frauen stiegen aus und sagten, sie seien auf der Suche nach ihrer Freundin und: »Ihr Haus ist jetzt nicht mehr da.« Wie so oft an diesem Tag hörte ich die Worte, aber verstand sie nicht. »Ihr Haus ist jetzt nicht mehr da«, wiederholte die andere. »Das ganze Haus ist einfach weg. Wir machen uns Sorgen.« Aus dem angrenzenden Neubaugebiet, das etwas unterhalb der Straße lag, auf der ich stand, kam ein Amphibienfahrzeug. Leute saßen in Rettungsdecken gehüllt auf der Ladefläche. Mein Blick traf den eines Mannes, ich lächelte ihn an, so als würde man jemanden im Supermarkt grüßen, und merkte, dass sein Blick leer war. Er schaute mich an, aber auch durch mich hindurch. Als sich das Fahrzeug aus dem Wasser hob und die riesigen tropfenden Reifen sich auf der Straße an mir vorbeischoben, schauderte ich. Erlebte ich das gerade wirklich? War das ein schlechter Traum? Ich kam mir vor wie in einem Katastrophenfilm. So viele Eindrücke, so vieles, das nicht in meine heile Welt passte.
In der Familiengruppe wurden zwischenzeitlich Fotos vom Haus meiner Schwiegereltern geteilt, die von dem gegenüberliegen Berg aus aufgenommen worden waren. Das Wasser stand in der gesamten Einfahrt. Es sah aus, als würde das Haus auf dem Wasser schwimmen. Die Kellerschächte waren nicht sichtbar. Wasser und Boden des Erdgeschosses waren auf einer Höhe und man konnte sehen, dass das Wasser zum Höchststand bis zur Decke des Erdgeschosses gestanden haben musste.
Beim Empfangen und beim Senden von Nachrichten registrierte ich plötzlich, dass es hier Empfang gab. Ich hatte Netz. Sie müssten sich also doch langsam mal melden!
Die Stimme hinter mir riss mich aus meinen Gedanken: »Und zu wem wollen Sie?«
Die Stimme gehörte zu einem Mann, der offenbar in der Gegend wohnte. Er wirkte müde. Seine Hose war voller Schlamm. »Meine Schwiegereltern wohnen in der Hausnummer 33«, antwortete ich nur. Ich bemerkte ein kurzes Zucken in seinen Augen und dann den betroffenen Blick. »Oh«, sagte er, während er in Richtung des Hauses zeigte. »Aus der Richtung haben wir nachts Schreie gehört. Da muss es schlimm gewesen sein.«
Er erzählte mir, dass er nachts seine ältere Nachbarin gerettet habe, die im Erdgeschoss wohne. Ich sah die Wasserlinie an ihrem Haus. Sah, dass die Fassade bis zum Boden des ersten Obergeschosses durch das Wasser und alles, was darin geschwommen war, braun gefärbt war.
Im nächsten Atemzug sprach er davon, dass seine Wertgegenstände glücklicherweise verschont geblieben seien. Es erschien mir in dieser Situation so unwichtig, über Dinge nachzudenken – egal wie wertvoll oder historisch sie waren –, während sich Menschen um ihre Liebsten sorgten. Als ich sah, dass Harry zurückkam, entzog ich mich dem Gespräch.
»Die konnten keinen Kontakt aufnehmen. Die Nachbarn sagen, dass ein Mann und eine Frau weggetrieben wurden.« Ich hielt den Atem an. »Deine Eltern?«, fragte ich nur. Harry nickte: »Scheinbar.«
»Und Franky?«, fragte ich weiter. »Keine Ahnung«, antwortete Harry. »Wurde wohl nicht gesehen.« Er hielt kurz inne. »Warum sind sie nicht einfach nach oben gegangen?«
Ein Feuerwehrmann kam zu Harry. »Die Nachbarn stehen draußen, wenn du willst, kannst du hingehen und selbst mit ihnen reden. Hier an der Seite ist das Wasser nur knöcheltief, da ist die Strömung nicht so stark.«
Während Harry sich seinen Weg zu besagten Nachbarn bahnte, griff ich nach meinem Telefon und wählte die Nummer seiner Schwägerin. Es klingelte nicht einmal, da hob sie schon ab: »Hallo, Liebes.«
Ohne Begrüßung, ohne einleitende Worte sagte ich nur: »Die Nachbarn sagen, es wurden Menschen weggetrieben.« Meine Stimme brach, die Tränen liefen mir über das Gesicht und tropften auf Kaias Kopf.
»Oh nein, Liebes.« Ich merkte, wie am anderen Ende der Leitung auch ihr das Herz in die Hose rutschte. Ich weiß nicht mehr, was ich noch sagte, worüber wir sprachen. Aber in dem Moment war es auch nicht wichtig zu sprechen. Es war gut zu wissen, dass da am anderen Ende jemand war, der mitfühlte.
Nach dem Telefonat ging ich ein Stück zurück in Richtung Auto, weg von den Menschen, die da noch warteten. Ich wollte nicht, dass Harry mich weinend antraf, wenn er wiederkam.
Vor dem Auto traf ich ein älteres Paar in Regenkleidung. Die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen schauten sie auf ihr Haus. Es hatte nur ein Stockwerk, direkt darauf aufgesetzt war ein steil zulaufendes Dach und seitlich im Dachgiebel ein kleines rundes Fenster. Kurz darunter die Wasserlinie. Wir kamen ins Gespräch. »Wir sind gestern Abend weggefahren, als wir hörten, was an der oberen Ahr passiert ist«, sagte die Frau. »Wir haben nur noch das, was wir anhaben, und ein paar wichtige Unterlagen«, ergänzte der Mann. »Ich bin so dankbar, dass wir nicht geblieben sind. Das hätten wir nicht überlebt.«
Ich blickte auf das Haus und das Grundstück. Eine große Sonnenblume stand noch im Vorgarten. »Wieso ist diese Sonnenblume nicht umgeknickt, aber das Auto liegt auf der Motorhaube?«, fragte ich mich in Gedanken.
»Und Sie sind die Schwiegertochter von Neufelds?«, fragte mich die Frau. »Ja«, antwortete ich. »Aber wir haben noch nichts von ihnen gehört.«
»Das tut mir leid. Vielleicht sind sie ja auch gefahren oder wurden von jemandem mitgenommen. Sie waren immer nette Nachbarn, so gastfreundlich.«
In diesem Moment schämte ich mich kurz, dass ich so schnell die Hoffnung aufgegeben hatte. Wer sagte eigentlich, dass es wirklich Harrys Eltern gewesen waren, die die Nachbarn hatten wegtreiben sehen?
»Die Nachbarschaft war so gut. Aber wir werden hier wohl nie wieder wohnen«, fuhr die Frau fort.
Ich ging zurück, um auf Harry zu warten, der offensichtlich immer noch mit den Nachbarn sprach.
Das Erste, was ich sah, als er wieder in mein Blickfeld trat, war die Sorge und Wut in seinem Blick. Er erzählte, er habe mit dem Nachbarn von gegenüber gesprochen. Mit unserem Freund, dem ich auch eine Nachricht geschickt, aber noch keine Antwort erhalten hatte. Immerhin wusste ich jetzt, dass es ihm gut ging. Harry sagte, dass dieser Freund seine Eltern in der Nacht gehört habe.
Da hatte ich die Antwort auf die wiederkehrende Frage in meinen Gedanken: »Wer sagt eigentlich, dass es Harrys Eltern waren, die weggetrieben wurden?« Und ich wusste, dass er sie kannte, dass er ihre Stimmen ihnen eindeutig zuordnen konnte. Er hatte sie zuvor sehr oft gehört, an den unzähligen Tagen und Abenden, die wir im Garten bei Harrys Eltern zusammen verbracht hatten.
Ich sah die Wucht des Wassers, die Höhe der Wasserlinien, hatte die Berichte der Nachbarn gehört und für mich war klar: Wer im Wasser gewesen war, hatte keine guten Chancen gehabt zu überleben.
»Warum sind sie nicht einfach nach oben gegangen?«, fragte Harry wieder.
Die Hilfskräfte rieten uns, eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufzugeben. Mehr könne man in der aktuellen Situation nicht tun. Immerhin waren wir dafür schon auf der richtigen Ahrseite.
Während er seine nassen und verschlammten Schuhe auszog und gegen die sauberen im Kofferraum tauschte, beobachtete ich Harry. Sein Blick drückte Unglaube aus. Ich war mir nicht sicher, ob er merkte, dass er immer wieder den Kopf schüttelte. Und ich bildete mir ein, seine Sorgenfalte sei in den letzten Minuten deutlich tiefer geworden.
Anders als sonst stieg ich vorne ins Auto. Es erschien mir wichtiger, ganz nah bei Harry zu sein, als neben unserer schlafenden Tochter zu sitzen. Ich nahm seine Hand, als wir losfuhren, und ließ sie nicht ein einziges Mal los, bis wir anhielten. Immer wieder fragte ich mich in Gedanken, was hier eigentlich gerade passierte. Meiner besten Freundin schrieb ich: »Fahren jetzt zur Polizei. Keine Spur von denen. Man kommt nicht zum Haus. Sie sind nicht auf dem Dach oder draußen. Der Nachbar hat erzählt, dass er Hilferufe gehört hat. Ich hab’ so Angst. Man hat da Netz. Aber von niemandem haben wir was gehört.«
Schon unterwegs versuchten wir, telefonisch eine Vermisstenmeldung aufzugeben. Das erste Mal wählten wir den Notruf, kaum dass wir losgefahren waren. Doch schon bald bekamen wir zu hören: »Sie müssen Ihren Standort wechseln. Ich kann nichts verstehen.« Harry äußerte sein Anliegen erneut, aber wieder: »Sie sind nicht zu verstehen. Es ist ganz abgehackt.« Also legten wir auf und riefen noch zwei weitere Male an – ohne Erfolg –, bis wir bei der Polizeiwache in Ahrweiler ankamen.
Harry ging allein hinein, während ich bei Kaia blieb. Wie immer, wenn ich mir nicht zu helfen wusste, rief ich bei meinen Eltern an. In diesem Fall bei meinem Vater. Ich wusste ja, dass er mit meinem Bruder unterwegs war, und hoffte, dass das Netz gut genug war, um mich zu verstehen.
Kaum hörte ich seine Stimme, liefen mir schon wieder die Tränen die Wangen herunter. Ich schilderte ihm die Lage, sagte, dass Harry eine Vermisstenmeldung aufgab und dass wir irgendwo einen Löffel für Kaias Mittagessen auftreiben müssten, das eigentlich schon überfällig war.
»Dann kommt zu uns«, sagte er. »Wir haben zwar kein Wasser und keinen Strom, aber einen Löffel haben wir da. Wir sind auch auf dem Rückweg und bald wieder zu Hause.«
Ich telefonierte noch, da kam Harry um die Ecke und ich verabschiedete mich kurz und legte auf. »Und?« fragte ich. »Das ging ja ganz schön schnell.«
»Ja«, antwortete Harry. »Ich konnte sie hier aber auch nicht als vermisst melden. Es gibt eine Hotline, bei der das geht. Der Polizist meinte, dass es auch Auffanglager gibt, wo sie sein könnten. In Heimersheim an der Schule zum Beispiel. Da sollen wir mal gucken und nachfragen.«
Unsere Odyssee durch das Ahrtal setzte sich also fort. Wenigstens kannten wir jetzt einen Weg auf die andere Ahrseite. Nun las ich auch endlich die Nachricht meiner Freundin zu Ende, in der sie berichtete, dass sie selbst und ihre Eltern von der Flut verschont geblieben seien, die Wohnung ihres Bruders allerdings betroffen sei. Abschließend fragte sie: »Bei euch und euren Eltern alles gut?«
Ich antwortete, dass bei uns alles gut sei, aber von Harrys Familie jede Spur fehle. »Selbst mit schwerem Gerät kommen die Hilfskräfte nicht zum Haus, weil alles überschwemmt und die Strömung zu stark ist.«
Wir fuhren gerade wieder über die Ahrtalbrücke, da klingelte Harrys Handy. Am anderen Ende eine Freundin seiner Mama, die Mutter seines Kindheitsfreundes. Sie war für Harry so eine Art »zweite Mutter« und wohnte im Nachbarort, in Heimersheim. Sie war auch durchs Ahrtal unterwegs und fragte, ob Harry etwas von seiner Familie gehört habe. Harry berichtete, dass wir gerade unterwegs zum Auffanglager seien. Die Verbindung war schlecht. Immer wieder hörte man nur abgehackte Wortfetzen. Aber so viel verstanden wir: dass sie, sollten sie dort jetzt nicht sein, das Auffanglager in Heimersheim für uns im Auge behalten und sich melden wolle, falls im Laufe des Tages oder der nächsten Tage dort Harrys Familie auftauchen würde.
»Was sagt denn Google, wo Franky ist?«, fragte ich Harry. Er und sein Bruder hatten sich gegenseitig den Standort freigegeben, sodass beide in Echtzeit sehen konnten, wo der andere gerade war.
»Na, zu Hause«, sagte Harry, während ich schon Google Maps auf seinem Handy öffnete. Tatsächlich. Ich sah Frankys Profilbild. Es war grau. So sieht das aus, wenn der Standort nicht mehr aktuell ist. Und darunter stand: »Zuletzt aktualisiert vor 11 Stunden«. Der letzte Standort war etwas ahraufwärts gesetzt, aber mit einem riesigen Radius, in dem die getrackte Person sich befinden konnte, der auch Harrys Elternhaus umfasste. Das GPS-Signal war dort des Öfteren schwächer. Er konnte zuletzt wohl nicht mehr auf den Meter genau geortet werden. »Aber nur weil das Handy nicht geortet werden kann, muss das ja nicht auch automatisch das Schlimmste bedeuten«, dachte die Hoffnung in mir. »Wenn man im Flugmodus ist, schlechten Empfang hat oder das Handy aus ist, dann kann man ja auch nicht geortet werden.« Ich überlegte, ob er vielleicht nicht einfach ganz oben in seinem Bett lag und friedlich schlief. Es wäre zumindest nicht ungewöhnlich, dass er nach einer Gaming-Nacht erst mittags aufwachte. Aber war es möglich, dass man so eine Naturgewalt einfach verschlief? Und was, wenn …? Ich stockte. Den Gedanken wollte ich lieber nicht weiterdenken und doch tat ich es. Was, wenn er am PC gewesen und von dem Wasser überrascht und eingeschlossen worden war? Anders als sein Bett, das im Dachgeschoss des Hauses stand, lag sein »Freizeitraum« mit PC und Studio-Set-up nämlich im Erdgeschoss der angrenzenden Wohn-Scheune. Noch näher am Garten, noch näher an der Ahr. Und definitiv komplett unter Wasser.
Mittlerweile hatten wir uns unseren Weg zur Schule in Heimersheim gebahnt. Auf dem Parkplatz vor der Schule standen ein großer Löschzug und noch weitere Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr, THW und Rotem Kreuz. »Das ergibt keinen Sinn«, sagte Harry, während er im Begriff war auszusteigen, und drehte sich zu mir um. »Das ergibt keinen Sinn, oder? Das ist ja die andere Ahrseite. Wie sollen sie denn hierhin gekommen sein?«
Im selben Moment meldete sich Kaia von hinten. »Sie hat Hunger. Wir müssen mal einen Löffel besorgen«, sagte ich, ohne zu antworten.
Unverrichteter Dinge machten wir uns also auf den (Um-)Weg zu meinen Eltern. Obwohl wir auf der richtigen Ahrseite waren, wussten wir auch, dass es mindestens eine Stelle auf unserer Route gab, die wir nicht passieren konnten, und fuhren daher von oben über die Dörfer vorbei an der Katastrophenschutzschule zu meinem Elternhaus, das glücklicherweise hoch genug lag, um nicht betroffen zu sein. Fuhr man aus dieser Richtung nach unten, wirkte alles so wie immer, als wäre nie etwas gewesen. Als wäre das Chaos weiter unten nur ein böser Traum. Bei meinen Eltern angekommen, kamen wir uns vor wie in einer anderen, einer heilen Welt.
Noch auf der Straße traf ich den Nachbarn meiner Eltern und erzählte ihm, dass wir Harrys Familie noch immer nicht finden konnten. Ich werde nie vergessen, wie sich sein Blick veränderte, als ich sagte, dass die Nachbarn von fortgetriebenen Personen erzählt hatten. Er wurde ganz ernst und wirkte ehrlich besorgt. Er, der sonst immer ein Lächeln auf den Lippen und ein aufmunterndes Wort parat hatte.
Ich hatte mich in den vorhergehenden Stunden ständig zwischen Hoffnung und Verzweiflung befunden, zwischen dem, was mein Herz sich sehnlichst wünschte, und dem, was der Kopf wusste. Aber mit diesem Blick des Nachbarn nahm mein logisches Denken und die Vermutung, dass es nicht gut um die drei stehen konnte, endgültig überhand.
Meine Eltern nahmen uns noch vor der Haustür in Empfang. Ihre Umarmung war noch fester als sonst und ich sah auch in ihrem Gesicht die Sorge, obwohl ich glaube, dass sie versuchten, uns nicht zu sehr zu zeigen, wie besorgt sie wirklich waren. Das Erste, was ich meinem Bruder sagte, als ich ihn im Flur umarmte, war: »Harry will sofort weiterfahren. Bitte fahr mit ihm, ich kann nicht. Ich will nicht, dass er allein ist.«
Er schaute mich an und nickte: »Keine Sorge.«
Meine Mama nahm Kaia auf den Arm und ich begab mich in Richtung Toilette. »Unten kannst du wahrscheinlich noch normal spülen, ansonsten steht da auch der Eimer mit Wasser zum Nachkippen. Nur das Toilettenpapier bitte nicht in der Toilette, sondern im Mülleimer entsorgen!« rief mir mein Vater hinterher. Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht. Kein Wasser, kein Strom. Das bedeutete nicht nur, kein Licht und keine Dusche zu haben, sondern auch keinen Kühlschrank und keine Toilettenspülung.
Noch als ich auf dem Weg nach oben ins Esszimmer war, hörte ich, wie mein Bruder Harry fragte, ob er gleich mit ihm fahren sollte, so als wäre es ganz allein seine Idee gewesen.
Harry verneinte: »Nein, alles gut. Musst du nicht.«
»Ich kann echt mitkommen. Brauche ja selbst zum Lernen Strom, weil alles auf dem MacBook ist«, erwiderte er und Harry lenkte ein.
Wir beschlossen zudem, während wir Kaia fütterten, dass mein Bruder am Abend mit uns nach Bonn kommen würde, da er sich in der Klausurenphase befand und in ganz Ahrweiler keine Möglichkeit hatte, seine Geräte zu laden.
Harry trank sein Glas leer, schaute mich an und fragte: »Kommt ihr klar?« Ich nickte. »Ja, fahrt ruhig.« Er stand auf, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und war schon unterwegs nach unten, als ich ihm noch hinterherrief: »Seid bitte vorsichtig.«
Ich stand am Fenster im Esszimmer, Kaia auf dem Arm, und beobachtete, wie das Auto die Straße entlangpreschte, bis es abbog. Weder Harry noch mein Bruder warfen auch nur einen Blick zurück. Ich drehte mich um und sackte, nachdem ich Kaia meiner Mutter in den Arm gedrückt hatte, weinend auf dem Boden zusammen. Ich fühlte mich so hilflos, so hoffnungslos, so besorgt und doch so leer.
Als ich mich einigermaßen gefangen hatte, versuchte ich zuerst, das Krankenhaus in Ahrweiler zu erreichen. Kein Netz. »Natürlich nicht«, dachte ich und scrollte durch meine diversen unbeantworteten Nachrichten, unter anderem auch eine von Harrys Tante: »Vivi, wisst ihr was von Neufelds?« Puh. Überbringe ich jetzt schon schlechte Nachrichten? Ich entschied mich für den neutralen Weg: »Nein, wir sind noch auf der Suche nach ihnen. Man kann noch nicht zum Haus. Da ist überall Wasser.«
Meine beste Freundin, der ich nach der Nachricht auf dem Weg zur Polizei nicht mehr geantwortet hatte, fragte, ob es irgendwelche Neuigkeiten gebe. Ich brachte sie auf den neuesten Stand der Dinge und schob noch hinterher: »Also, ganz ehrlich, auch wenn das hart klingt. Ich mache mir keine Hoffnung, dass man noch jemanden von den dreien lebend findet.« Die Antwort kam prompt: »Die Hoffnung geben wir als Allerletztes auf.«
Es waren keine fünf Minuten seit der Antwort an Harrys Tante vergangen, da fand ich mich in der Familiengruppe von Harrys Familie mütterlicherseits wieder. Gefühlt im Minutentakt wurde nach Neuigkeiten gefragt. Gleichzeitig wurde eine Gruppe mit den Geschwistern von Harrys Papa gegründet und auch hier gab es viele Nachfragen zum Stand der Dinge. Vielleicht war das meine Aufgabe. Vielleicht konnte ich so doch für Harry da sein, indem ich all diese Anfragen beantwortete. Ich war gerade dabei zu schreiben, dass Harry wieder unterwegs zum Haus sei, da leuchtete mein Display auf. Ein Anruf von »Unbekannt«. Mein Herz sprang kurz. Vielleicht einer der drei.