9,99 €
Plötzlicher Gedächtnisverlust - ein schreckliches Schicksal! Naomi ist 32, Mutter eines Sohnes - und verliert von einem Tag auf den anderen sämtliche Erinnerungen an ihr Leben nach ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Sie erkennt ihr eigenes Haus nicht wieder, nicht einmal ihren Sohn! Stück für Stück erobert sie sich ihre Vergangenheit zurück. Doch mit ersten Fortschritten erleidet sie verstörende, traumatische Flashbacks - irgendetwas Schlimmes ist in ihrer Vergangenheit geschehen ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 530
Naomi Jacobs
DER TAG, AN DEM MEIN LEBEN VERSCHWAND
Eine junge Mutter verliert ihr Gedächtnis von einem Tag auf den anderen
Aus dem Englischen vonVeronika Dünninger
Plötzlicher Gedächtnisverlust – ein schreckliches Schicksal! Naomi ist 32, Mutter eines Sohnes – und verliert von einem Tag auf den anderen sämtliche Erinnerungen an ihr Leben nach ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Sie erkennt ihr eigenes Haus nicht wieder, nicht einmal ihren Sohn! Stück für Stück erobert sie sich ihre Vergangenheit zurück. Doch mit ersten Fortschritten erleidet sie verstörende, traumatische Flashbacks – irgendetwas Schlimmes ist in ihrer Vergangenheit geschehen …
Naomi Jacobs wurde in Liverpool geboren, wuchs in den West Midlands auf und studierte Psychologie. Heute lebt sie mit ihrem Teenager-Sohn Leo und ihrer Katze Sophia in Manchester.
BASTEI ENTERTAINMENT
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2015 by Naomi Jacobs
Titel der englischen Originalausgabe:
»Forgotten Girl«
Originalverlag: Pan Books, an imprint of Pan Macmillan,
a division of Macmillan Publishers Limited
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelmotiv: © Trevillion Images/ILINA SIMEONOVA
Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin
E-Book-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-8387-0636-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Leo, Simone und Katie – ohne eure Liebe wäre das hier nicht passiert
Du folgst dem Regenbogen in der Hoffnung, eines Tages jenen goldenen Topf an seinem Ende zu finden. Eines Tages vielleicht. Eines Tages.
R. D.
Ich stand still da und starrte auf die Tür des Klassenzimmers.
Ich hatte eine Tasche über der Schulter und einen kleinen Topf, schlammbraun und mit Deckel, in der Hand.
Stolz durchflutete mich. Ich hatte diesen Topf ganz allein gemacht. Ich klopfte an die Tür, und eine unbekannte Stimme forderte mich auf, einzutreten.
Ein Holzhocker stand in der Ecke, und ich ging auf ihn zu und setzte mich. Die Frau, die mir gegenübersaß, war eine Lehrerin; ich wusste, dass ihr Name Rebecca war und dass sie nicht von meiner Schule war, aber sie war da, um mich zu sehen.
Ihr Gesicht war von einem dichten braunen Lockenschopf umrahmt. Sie kniff die Lippen zusammen, nahm mir den Topf aus der Hand und stellte ihn neben sich auf den Tisch. Töpfe in allen möglichen Formen und Größen standen darauf, ein Meer aus leuchtenden Farben. Die größeren waren mit kleinen Spiegelscherben, azurblauen Meerlandschaften und orange-violetten Himmeln verziert. Die kleineren hatten silbern glitzernde Hälse, goldene Hieroglyphen und kleine rote Deckel. Es war eine blendende Schau vollkommener Keramik. In der Mitte stand mein Topf: verloren, erbärmlich, braun und sehr schlicht.
»Du bist durchgefallen.« Sie warf mir einen enttäuschten Blick zu.
»Was? Nie im Leben!«, rief ich.
Ich schaute auf meinen Topf, und er sah entschuldigend zu mir zurück. »Aber ich habe mir wirklich Mühe damit gegeben.«
»Das mag ja sein, aber ich kann dich nicht bestehen lassen. Du bist durchgefallen. Sieh mal, er ist nicht annähernd so gut wie die anderen.«
Ich wusste, dass sie recht hatte. Das hier waren die wertvollen, schöneren, wundervoll kreativ gestalteten Gefäße, mit denen mein kleiner, kümmerlicher Topf nicht mithalten konnte. Ich dachte an all die Mühe, die ich in ihn gesteckt hatte, und wie ein Vulkan brach die Angst vor dem Versagen aus mir heraus. Ich sprang von meinem Hocker auf, schnappte mir meine Tasche und stürmte zur Tür hinaus.
In einem anderen Klassenzimmer, in einem verlassenen Flur, saßen meine Freundinnen an ihren Pulten und unterhielten sich. Ich versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Ich hämmerte gegen die Glasscheibe in der Tür, rief ihnen zu, mich hineinzulassen. Niemand wandte sich um. Stattdessen sah ich, wie sie lachten.
»Leute, ich bin’s: Nay. Macht die Tür auf!«
Eine nach der anderen hoben sie die Köpfe und starrten mich an. Meine beste Freundin Katie tauchte an dem Türfenster auf. »Mach auf«, verlangte ich und rüttelte an der Klinke. »Ich muss da rein.« Katie schüttelte lachend den Kopf und zeigte auf eine Uhr an der Wand des Klassenzimmers, wo schwarze Zeiger langsam über römische Ziffern tickten. Sie ging hinüber zur Tafel und schrieb mit Kreide das Wort échec an. Das französische Wort für »Versager«.
Alle sahen ihr zu und lachten. Wieder hämmerte ich verzweifelt mit der Faust gegen die Tür. Auf einmal hörte ich laute Rufe, die vom anderen Ende des Flurs kamen. Die Megabescheuerten – Mädchen aus unserem Jahrgang, die wir nicht ausstehen konnten – liefen auf mich zu und riefen im Sprechchor: »Versager, Versager, Versager …«
Ich wandte mich wieder zur Tür um. Meine Freundinnen waren verschwunden, und das Zimmer füllte sich mit Uhren – Hunderten von Uhren, überall auf den Pulten, an den Wänden; verschiedene Größen, verschiedene Arten. Standuhren, Kuckucksuhren, Weckuhren. Und dann, kaum waren sie erschienen, begannen sie alle zu verschwinden.
»Du musst Leo holen«, flüsterte eine Stimme.
Während die Mädchen näher kamen, spürte ich, wie mein Körper vor Angst bebte und zitterte. Ich wandte mich ab und rannte auf eine Doppeltür am anderen Ende des Flurs zu.
Mir blieb keine Wahl. Ich drückte sie auf.
Ich trat in helles, gleißendes Licht.
Ich schlang die Arme um meine Brust und schnappte wie wild nach Luft, während ich mich im Bett aufsetzte. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich schluckte Schluchzer hinunter und versuchte zu schreien. Nicht ein Ton kam heraus.
Gegenüber dem Bett war ein kleines Fenster. Ich sah zu ihm hoch, beschwor meinen Atem, sich zu beruhigen. Die Sonne schien fröhlich durch die Vorhänge und erhellte die violetten Blumen, mit denen sie bedruckt waren. Violette Blumen?
Ich schloss die Augen. »Schon gut, Nay, es war nur ein Traum«, sagte ich laut.
Ich fasste mir an die Kehle. Meine Stimme klang … seltsam, anders; heiser und tief. Wie die eines Erwachsenen. Ich schlug die Augen auf und suchte das Zimmer ab, wandte den Kopf langsam nach links und dann nach rechts. Nichts. Ich erkannte nichts. Ich sah an meinem Körper hinunter. Das Pyjamaoberteil, das ich trug, war schweißdurchtränkt. Ich versuchte nachzudenken, und mein Kopf begann zu schmerzen. Das hier war nicht mein Etagenbett. Wo war meine Marilyn-Monroe-Bettdecke? Das hier war nicht das Zimmer, das ich mir mit meiner Schwester teilte. Wo war sie? Wo war Simone? Ich schloss die Augen wieder.
»Ich muss noch immer träumen«, sagte ich in das leere Zimmer. Wieder meine Stimme; sie klang so fremd. Ich sprang aus dem seltsam großen Bett. Hatte es mich im Schlaf entführt und an diesen fremden Ort gebracht? Ich sah mich in dem Zimmer um. Es war trostlos und grau. Auf dem Boden war kein Teppich, nur blanke Dielen, und die Wände waren abgezogen bis auf den kahlen grauen Putz. Es sah fast aus wie ein Gefängnis.
Ich ging langsam aus dem Zimmer in den Flur hinaus, in der Hoffnung, irgendetwas Vertrautes zu sehen. Das Haus fühlte sich leer an. »Hallo!«, rief ich. Links von mir war eine geschlossene Tür, aber vor mir sah ich durch einen Türspalt ein Badezimmer. Ich drückte die Tür weit auf. Im Bad war niemand, und ich erkannte nichts darin. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel. Vielleicht, dachte ich, werde ich, wenn ich mein Spiegelbild sehe, wissen, dass ich noch immer träume, und aufwachen.
Es dauerte eine lange Sekunde, aber dann, als mir vor Entsetzen der Mund aufklappte, umklammerte ich mein Gesicht und schrie: »NEIN! Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott … ich bin … ich bin … ich bin ALT!!« Ich war alt.
Unter dem Schock wich ich von dem Spiegel zurück. Ich brach in Tränen aus und sank zu Boden. Mein Gehirn versuchte aus dem Gesicht schlau zu werden, das ich eben gesehen hatte, fragte, was das für Falten waren. Die dunklen Ringe unter den Augen und die kurzen Haare? Nein, nein, das war nicht ich. Ich sprang vom Boden auf und starrte wieder auf das Spiegelbild. »Das bin nicht ich!«, schrie ich es an.
Ich rannte zurück ins Schlafzimmer, erschüttert von dem, was ich gesehen hatte. Ich spürte eine kalte Panik, die sich den Weg in meinen Verstand boxte und winzige Löcher der Angst in mein Gehirn schlug. Die Furcht fand ihren Platz. Wo war meine Schwester? Auf einmal verspürte ich den Drang, sie zu finden. Vielleicht war sie im Wohnzimmer.
Panisch stürzte ich aus dem Raum und eine Treppe hinunter und stürmte in eine mir fremde Küche. Nichts. Ich rannte durch bis ins Wohnzimmer. Niemand.
Ich rannte die Treppe wieder hoch, mied die andere geschlossene Tür am Ende des kleinen Flurs und stürzte ins Schlafzimmer. Ich riss die Türen des Kleiderschranks auf, vielleicht auf der Suche nach einer meiner bescheuerten Freundinnen, die »Überraschung!« brüllen und sich schieflachen würde über den beschissenen Streich, den sie mir spielte.
»Oh mein Gott«, stöhnte ich.
Die Farben waren unglaublich: Blau-, Violett- und Gelbtöne, alles war … irgendwie … anders. Kleider, die ich niemals tragen würde. »Das ist nicht mein Zuhause.« Ich schüttelte den Kopf über die Kleider und schnellte herum. »Das ist nicht mein Zimmer … Das ist NICHT mein Leben. NEIN!« Ich rannte zurück ins Bad und sah wieder auf das Gesicht. »Das bin nicht ich!«, schrie ich es wieder an. Benommen schlug ich auf dem Boden auf. Mein Körper rollte sich zu einer Kugel zusammen, und ich fing wieder an zu weinen. Ich versuchte irgendetwas zu finden, worauf sich mein Verstand konzentrieren konnte, egal was, und dann fiel mir ein, dass ich unten ein Foto meiner Schwester gesehen hatte. Aber ich war nicht imstande, noch einmal hinzugehen; ich lag einfach nur da, weinte und stöhnte und murmelte vor mich hin.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde mir allmählich bewusst, dass ich nicht mehr träumte. Das hier war echt; ich war echt. Ich war in einem Bett aufgewacht, das ich nicht kannte, einem Zimmer, das ich nicht erkannte, und einem Haus, das nicht meines war.
Und dann hörte ich Musik in der Ferne, ein Lied, das gesungen wurde. Ich kroch über den Boden des Badezimmers und zurück ins Schlafzimmer, während eine Frau irgendetwas von Bluten oder Atmen sang; nein, es war eindeutig Bluten; ja, es war der Song Bleeding Love. Die Musik kam von irgendetwas auf dem Nachttisch. Sie brach immer wieder ab, fing wieder an, brach erneut ab; aber da war kein Radio, kein Kassettendeck, nur ein kleiner schwarzer Gegenstand, der heftig über die Oberfläche des Nachttischs ruckelte.
Ich zuckte zurück, stolperte fast über mich selbst. Das Geräusch schmerzte in meinen Ohren, und als ich den Gegenstand zögernd in die Hand nahm, blinkte in schwarzen Buchstaben das Wort »Simone«.
»Simone?«, fragte ich den Gegenstand.
Simone! Das war meine Schwester; das musste sie sein. Sie war die einzige Simone, die ich kannte. Ich drehte den seltsamen Gegenstand immer wieder um, drückte auf hartes Plastik. Er hatte keine Knöpfe. Ich hielt ihn mir an den Mund und rief Simones Namen, in der Hoffnung, sie würde mich irgendwie hören. Das Blinken, die Musik und das Vibrieren hörten auf. »Wo sind die verdammten Knöpfe?«, schrie ich den Gegenstand an, und ein gewaltiges Gefühl von Unzulänglichkeit rief noch mehr Tränen hervor. Ich fühlte mich geschlagen. »Drei entgangene Anrufe« war jetzt zu lesen.
»Was zum …? Ist das irgendwie … ist das ein Telefon?«
Ich warf das Gerät auf den Boden, rannte die Treppe hinunter zur Haustür und trat ins Freie. Die Häuser gegenüber starrten mich an; ihre Fenster waren wie Augen, die mich auslachten. Panisch suchte ich die baumgesäumte Straße ab. Ich wusste nicht, wonach ich suchte, aber ich war mir absolut sicher, dass das hier nicht Wolverhampton war. Das hier war nicht meine Heimatstadt. Ich lebte nicht hier. Eine Frau, die einen kleinen weißen Hund ausführte, kam an der Hecke vorbei, die den Vorgarten von der Straße trennte, und lächelte mich an. Ich wandte mich ab. Ich muss ausgesehen haben wie ein Vollidiot, wie ich in meinem Pyjama dort im Garten stand.
Ich rannte zurück ins Haus, knallte die Tür zu und blieb vor der Treppe stehen. Das Herz hämmerte in meiner Brust. Ich schloss die Augen und zählte bis zehn, und während sich mein Atem beruhigte, hielt ich mir beide Hände an die Stirn. »Komm schon, Nay.« Ich holte noch einmal tief Luft. »Du schaffst das schon. Es wird alles gut; verdammt, du musst dich einfach beruhigen.«
Ich holte tief Luft und zählte mehrmals bis zehn, um mich zu beruhigen. Zum ersten Mal sah ich die unterschiedlich großen Fotos, die zu beiden Seiten der Treppe an den Wänden hingen. Ich begann mit denen in meiner nächsten Nähe, Bilder eines pummeligen Babys mit einem niedlichen Lächeln und einem Kopf voller brauner Schmachtlocken. Mein Gehirn sagte: »Leo«, aber ich wusste nicht wirklich, wer der Junge war. Die nächste Bilderreihe beantwortete meine Frage – sie zeigten mich, aber älter, mich, wie ich ein pummeliges Kleinkind auf meinem Schoß anlächelte.
War das wirklich ich? War dieses Kind meines? Ist das die Zukunft?
Als ich nachzudenken versuchte, blitzte ein helles Licht vor meinen Augen auf, und ein stechender Schmerz schoss mir durch den Kopf. Ich holte noch einmal tief Luft. Der Schmerz ließ nach, und ich stieg zwei Treppen höher. Das nächste Bild zeigte Simone, die stolz eine weiße Schriftrolle in der Hand hielt, eine schwarze Robe um die Schultern geworfen, einen schwarzen Hut auf dem Kopf. »Du bist auf die Uni gegangen? Wann ist das denn passiert?«, fragte ich das Foto. Vielleicht war ich im Haus meiner Schwester, dachte ich.
Ich betrachtete die restlichen Bilder, noch mehr Bilder dieses Kindes, von dem ich instinktiv wusste, dass es Leo hieß. Er wurde mit jedem Foto größer, und das letzte war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, auf der er ein Skateboard in den Händen hielt. Dieses Lächeln, diese Augen … es war, als würde ich eine Miniaturausgabe von mir selbst ansehen. Vielleicht ist er mein Bruder? Ich fragte mich, ob meine Mum noch ein Kind bekommen hatte.
Ich suchte die anderen Bilder ab, um zu sehen, ob es irgendwo einen Hinweis auf seine Mum gab; nein, wenn er nicht mit mir zusammen war, war er allein. Fotos meiner Schwester hingen neben Bildern meines Vaters. Ich stand da und starrte schockiert auf sein Gesicht. War das wirklich er? Auf einem der Fotos war er mit einem anderen Kind zu sehen, das ich nicht erkannte. Sein Teint war hell, mit strohblondem Haar, und er sah ein bisschen aus wie Simone.
»In welchem Jahr war das?«, fragte ich die Bilder. Nichts, keine Antwort. Ich stieg die Treppe rückwärts hinunter und ging ins Wohnzimmer, während ich verzweifelt versuchte, mich an irgendetwas zu erinnern. Ein schwarzes, schnurloses Telefon lag in der Nähe des Fernsehers, und sobald ich es ansah, schoss mir eine Nummer durch den Kopf.
Ich ging weiter auf und ab, blieb stehen, sah noch einmal das Telefon an und hörte wieder die Nummer.
7768339, diesmal mit einem Namen: Katie.
»Katie?«, fragte ich das Telefon. Die Nummer ging mir wieder durch den Kopf. 7768339, Katie.
Das Telefon sah seltsam aus, ohne ausziehbare Antenne und mit einem orangefarbenen Display, aber jedes Mal, wenn ich es ansah, musste ich wieder an denselben Namen und dieselbe Nummer denken. 7768339, Katie. Katie von der Schule?
Die einzige Möglichkeit, es herauszufinden, war, die Nummer zu wählen. Es klingelte etwa viermal, und dann nahm jemand ab.
»Hallo«, kam eine sanfte, hohe Stimme aus dem Telefon.
»Hallo«, flüsterte ich. »Bist du das, Katie?«
»Oh, hi, Süße. Ich wollte dich eben anrufen. Konntest du gestern Nacht schlafen?«
Sie kannte mich. »Katie?«, fragte ich noch einmal. Das war nicht meine Freundin von der Schule. Diese Katie klang so alt wie meine Mum und so, als wäre sie eben aus der Dauerserie CoronationStreet gestiegen.
»Ja.« Sie schwieg einen Moment. »Was ist los, Liebes? Geht es dir gut?«
Die Schleusen öffneten sich und ließen eine Flut von Tränen hindurch. »Oh mein Gott«, schluchzte ich. »Ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nicht, wo ich bin, und diese Nummer ist mir immer wieder durch den Kopf gegangen, daher habe ich dich angerufen, und du bist es nicht. Und ich weiß nicht, was ich tun soll, und ich weiß nicht, wo ich … und ich weiß nicht, wer du bist, und ich weiß nicht, was mit meinem Gesicht passiert ist.«
»Deinem Gesicht? Was ist mit deinem Gesicht passiert?« Die Stimme der fremden Frau stieg um eine Oktave.
»ESISTALT!« Ich begann wieder zu weinen.
»Was?« Sie lachte und wurde dann wieder still. »Naomi, was ist los? Ähm, okay, okay, Süße, hör mir zu, hol einmal tief Luft.«
Ich schluchzte noch ein bisschen mehr; das hier war eindeutig nicht Katie von der Schule.
»Aber ich kenne dich nicht«, brachte ich heraus.
»Okay, also, hör mir zu«, sagte sie betont ruhig. »Geh in die Küche, schalt den Wasserkocher ein und mach dir eine Tasse Kaffee.«
»K… Kaffee?«, stammelte ich. »Igitt, widerlich.«
Sie wurde wieder still.
»Hallo?« Ich ging trotzdem in die Küche, suchte nach dem Wasserkocher und schaltete ihn ein.
»Ähm, ich bin hier, Süße. Hör zu, Gerald holt den Wagen aus der Garage, und wir sind in fünf Minuten da. Hast du den Wasserkocher gefunden?«
»Hmm.« Ich öffnete den Küchenschrank vor mir. Eine Reihe Kaffees und Dosen mit Kräutertees standen darin.
»Okay, mach dir eine Tasse Tee. Du magst doch Kräutertees, oder?«
»Ja«, antwortete ich.
»Okay, gut. Mach dir einen Tee und rauch eine Zigarette, und wir sind gleich da.«
»Zigarette? Igitt! Ich rauche absolut nicht.«
Das Schweigen zog sich so lange hin, dass ich schon dachte, sie hätte aufgelegt. Hatte ich irgendetwas Falsches gesagt? Ich begann wieder zu weinen. »Ich habe absolut keine Ahnung, was eigentlich los ist. Ich weiß nicht, was ich hier tue.«
»Es ist ja gut. Okay, okay, atme … atme einfach tief durch und trink deinen Tee. Ich komme vorbei.«
»Okay.«
Ich legte das Telefon hin. Der frische Minzegeruch des Tees erinnerte mich irgendwie an meinen Stiefvater, Joseph. Es war sein Lieblingstee, und er schlürfte ihn immer laut, da er wusste, dass er mich damit zum Lachen brachte. Ich begann mich zu fragen, warum keine Bilder von ihm oder meiner Mum an der Wand hingen. Wo waren alle?
Die Wärme des Tees tröstete mich. Während ich die Tasse in den Händen hielt, kam ich zu dem Schluss, dass ich die Küche mochte. An den leuchtend orangefarbenen und gelben Wänden hingen Bilder, die ein Kind gemalt hatte – vermutlich, dachte ich, das Kind von den Fotos. Urkunden und Postkarten umrahmten die Kunstwerke. An der weißen Tür eines der Küchenschränke hing ein irischer Segen, ein Bild eines einsamen Schlosses mit nichts als blauem Himmel, grünen Hügeln und braunen Felsen ringsum. Über dem Schloss standen die Worte:
Wenn die Zeiten schwer sind,
Möge dein Herz sich niemals
In Stein verwandeln.
Wenn Schatten
Auf dich fallen,
Vergiss nicht,
Du bist nie allein.
Alles schien sich irgendwie zu beruhigen … für eine Minute. Ich musste das schiere Entsetzen über das, was ich erlebte, loslassen. Der Segen gewährte mir einen Moment Freiheit von dem tiefen Schaudern der Panik, die immer wieder gewaltige Wellen der Verzweiflung durch meinen Körper sandte und ihn mit Adrenalin durchflutete, sodass ich am liebsten weglaufen wollte. Ich war erschöpft. Daher ließ ich das drängende Bedürfnis los, zu wissen, wo, wann und wer ich war. In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass ich letztendlich den Weg zurück nach Hause ins Jahr 1992 und aus diesem Albtraum finden würde.
Es klingelte an der Tür. Ich holte einmal tief Luft. Sobald ich diese Tür öffnete, würde ich vor noch mehr Unbekanntem stehen. Ich hatte keine Ahnung, was eigentlich los war. Aber zwei Dinge wusste ich ganz sicher:
Ich war fünfzehn Jahre alt.
Ich war in der Zukunft aufgewacht.
Eine Reise von tausend Meilen beginnt unter deinem Fuß.
Laotse
Ich ging innerlich in Abwehrhaltung, als ich die Haustür öffnete. Eine kleine, rotblonde Frau, die Miene voller Besorgnis, trat auf mich zu.
»Geht es dir gut?«
Ich schüttelte den Kopf. Das war doch total durchgeknallt. Das hier war eindeutig nicht meine Schulfreundin Katie. Tatsächlich war diese farbenfroh gekleidete Frau mit dem Silberschmuck und der mit Fransen verzierten Wildledertasche genau das Gegenteil und uralt. Ich wich vor ihr zurück.
»Naomi, Liebes, kann ich hereinkommen?«, fragte sie sanft.
Ich will nach Hause, dachte ich, während sie mir ins Wohnzimmer folgte und meine Hand nahm.
»Geht es dir gut, Süße?«
Die Tränen flossen schwer und schnell. Ich konnte nur wieder den Kopf schütteln.
»Was ist passiert?«
Ich machte den Mund auf, aber das alles hatte mir die Sprache verschlagen.
»Du weißt doch, wer ich bin, oder?«
Ich sah sie verständnislos an und rieb mir die Stirn. Mein Kopf tat noch immer weh; er pochte vor Schmerz.
»Naomi, ich bin deine Freundin, Katie. Wir kennen uns seit fünf Jahren. Sieh mal.« Sie wandte sich zum Fenster und zeigte auf den roten Wagen, der vor dem Haus stand. »Dieser Mehlsack dort draußen ist Seine Hoheit, Gerald.« Sie wandte sich lächelnd wieder zu mir um. »Er liebt sein Essen, sein Bier und mich. Ich habe vier Kinder, erinnerst du dich? Alex, Dylan, Adam und Chloe, und wir …« Sie brach ab und sah sich um. »Ist Leo in der Schule?«
»Leo?«
»Ja, Liebes, Leo.« Sie sah mich seltsam an. »Dein Sohn.«
Also hatte ich richtig vermutet. Leo war das pausbäckige, mit Joghurt verschmierte Kind auf dem Foto an der Küchenwand.
»Er muss jetzt in der Schule sein.« Sie sah sich im Zimmer um, als könnte ich ihn irgendwo versteckt haben.
Das war eine Information, die ich nicht verarbeiten, aber auch nicht leugnen konnte. In einer Art mütterlichem Schwebezustand gefangen, hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass mein Körper ein Kind zur Welt gebracht hatte, aber sobald ich versuchte, mich an ihn und seine Geburt zu erinnern, schmerzte mir wieder der Kopf. Ich war doch erst fünfzehn! Ich rieb mir die Schläfen und dachte stattdessen: Das wird der Grund sein, weshalb diese Titten aussehen, als könnten sie ein bescheuertes Bleistifttäschchen halten, und einen Bleistift sowieso. Aber Moment mal, diese Katie hatte mir ein paar Fragen gestellt, oder?
»Ich – ich weiß nicht, wo Leo ist.« Ich sah sie an. »Ich kann mich nicht erinnern.«
Ich zog meine Hand aus ihrer, versuchte diesen Bleistifttest zu vergessen, mit dem die anderen Mädchen und ich vor dem Sportunterricht in den Umkleideräumen immer testeten, wie straff unsere Brüste waren.
»Weißt du was, komm am besten auf eine Tasse Tee mit zu mir, und dann werden wir das alles klären. Ziehen wir dich an.«
Ich starrte Katie an. Ich war verängstigt, ich war verwirrt, ich wollte ihre Hilfe, aber sie war eine Fremde.
»Komm schon.« Ich folgte ihr nach oben zum Schlafzimmer und sah vom Türrahmen aus zu, wie sie die violett geblümten Vorhänge aufzog, um Tageslicht hereinzulassen.
»Kleider!«, rief sie fröhlich, als wären sie die Antwort auf all meine Probleme. Wir sahen beide zu dem weißen Kleiderschrank, der in einer Ecke stand. Sie öffnete die Türen und ging die Stange mit Klamotten durch, die aus ihrem hölzernen Zuhause quollen.
Diese Katie war ein bisschen wie ein Hippie gekleidet. Sie trug einen langen schwarzen Rock, ein grünes Kaftan-Top, Perlen- und Kristallschmuck und jede Menge Silberringe in allen möglichen Formen und Größen. Mit ihren vollen Brüsten, schmalen Hüften und langen, ungekämmten Haaren sah sie irgendwie wie eine Art Erdmutter aus. Ich entspannte mich ein wenig, als ich erkannte, dass diese Frau nicht hier war, um mir zu schaden.
Sie zog einen weinroten Velours-Trainingsanzug heraus und hielt ihn hoch. »Den hier.«
Ich versuchte, mir das Lachen zu verbeißen, bis ich schließlich wie Miss Piggy schnaubte. Diese Kleidung war schwer beleidigend.
»Was?« Sie sah von mir zu dem anstößigen Kleidungsstück und lächelte. »Was ist denn damit?«
»Bist du bescheuert? Wessen Trainingsanzug ist das denn?«
»Das ist die Mode«, seufzte sie.
»Ja, in den Siebzigern vielleicht«, schnaubte ich. »Da kommt mir das Reihern.«
»Reihern?« Sie verstand nicht.
»Speien, Spucken, Kotzen … Erbrechen?«
»Oh.« Sie lachte schallend auf. »Dieses Trainingsanzug-Ding verstehe ich selbst nicht; für mich sieht das alles ein bisschen nach Miami Vice aus.«
Ich schenkte ihr ein mattes Lächeln. Sie war vielleicht alt, aber sie schien okay zu sein. Ich trat vollständig ins Schlafzimmer und ging langsam auf sie zu.
Katie hängte den Trainingsanzug zurück in den Schrank. »Okay, dann machen wir eben keinen auf Crockett und Tubbs«, sagte sie zu mir und zog stattdessen einen großen schwarzen Pullover heraus. »So, bitte sehr, schlicht und einfach.«
Sie schloss die Spiegeltüren, und ich sah wieder dieses alte Gesicht, mein Gesicht, und spürte die Panik in meiner Magengegend rumoren. Sie bemerkte meine entsetzte Reaktion und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Naomi, es wird alles gut.«
»Ich weiß«, sagte ich mit einem Nicken. »Ich kann mir Eves Oil of Olaz borgen.«
Katies Lächeln wurde schwächer, als ich den Namen meiner Mum aussprach, aber ich blendete es aus und nahm den Pullover vom Kleiderbügel, um ihn an meine drahtige Gestalt zu halten. »Habe ich Jeans oder einen Rock oder irgendwas?«
»Man trägt dazu Strumpfhosen.« Sie öffnete die oberste Schublade der Kommode hinter ihr.
»Das ist ein Kleid?« Mir klappte der Kiefer herunter.
Sie lächelte. »Hier, bitte sehr.« Sie hielt mir eine Strumpfhose hin.
Ich starrte sie an, verblüfft von dem bläulich grünen Nylonschimmer; die Farbe war auf eine schräge Art fast unwirklich. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
»Komm schon«, holte sie mich aus meiner Modeträumerei zurück. »Ich warte unten auf dich.«
Ich wusch mich und zog mich rasch an, wobei ich die Spiegel mied. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Kleider und dachte: Wir haben Pulloverkleider getragen, als ich ungefähr zehn war! Sind das hier die Achtzigerjahre? Was ist hier eigentlich los?
Unten hielt Katie ein Paar schwarze Stiefel mit Schaffellfutter in den Händen. Ich zog die Augenbrauen hoch und machte ein angewidertes Gesicht.
»Das sind deine Uggs«, sagte sie.
»Igitt.« Sie waren noch schlimmer als der Trainingsanzug. »Die sehen ja grauenhaft aus. Ist das ein Scherz?« Ich sah mich nach der versteckten Kamera um, als wäre diese ganze Situation völlig absurd.
Sie lachte schallend auf. »Alle tragen sie; probier sie an.«
Ich zögerte. Aber dann dachte ich, wenn sie meine beste Freundin in Modefragen war, wie sie behauptete, dann würde sie doch sicher nicht zulassen, dass ich wie ein Vollidiot aussah, wenn ich das Haus verließ, oder? Ich nahm ihr die Stiefel ab, schlüpfte hinein und stellte fest, dass sie warm und bequem waren.
»Komm schon. Ged wartet.« Als sie die Haustür öffnete, begann mein Magen Purzelbäume zu schlagen, und ich hielt den Atem an. Ich war wieder wie erstarrt, außerstande, mich zu bewegen.
»Nein, ich kann nicht. Ich will nicht.« Ich starrte auf die Straße hinaus. Sie war still bis auf das Brummen des Verkehrs in der Ferne.
Sie nahm mich bei der Hand. »Naomi, sieh mich an. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendetwas passiert. Bei mir bist du in Sicherheit.« Sie sprach jedes Wort langsam aus, stellte sicher, dass ich auch jede letzte Silbe hörte. »Ich weiß, du kannst dich im Moment an nichts erinnern«, fuhr sie fort, »aber eines Tages, ich verspreche dir, eines Tages wirst du das, und bis zu diesem Tag werde ich dafür sorgen, dass es dir gut geht. Okay?«
Der aufrichtige Blick in ihren Augen schien meine Ängste aus einer kleinen Ecke des Misstrauens und in einen Raum der Akzeptanz zu locken. Ich nickte und ließ den Kopf hängen, mit einem Gefühl von Erleichterung. Sie legte die Arme um mich, und ich ließ mich von ihr halten. Ich fühlte mich geborgen. Solange ich diese freundliche, ruhige, geduldige Frau in meiner Nähe hatte, würde sich alles nicht so … mies anfühlen.
Diese Frau, die Katie hieß, aber nicht meine Freundin von der Schule war, wischte mir sanft das Gesicht ab und forderte mich dann mit einer Handbewegung auf, ihr zum Wagen zu folgen. Sie schnappte sich ein paar Schlüssel von dem Haken an der Wand und schloss die Haustür. Ihr Mann warf mir ein freundliches Lächeln zu, sprang vom Fahrersitz und öffnete mir die hintere Tür.
Während der Wagen losfuhr, schaute ich durchs Fenster auf das mir fremde Haus, in dem ich aufgewacht war. Es war ein kleines braunes Backsteinhaus mit je zwei Zimmern oben und unten und einem winzigen Garten davor. Für mich ein Haus des Horrors, wie die letzte Geisterbahnfahrt auf dem reisenden Jahrmarkt, die aufhörte, unterhaltsam zu sein, sobald man sich darin gefangen sah. Katie wandte sich auf ihrem Sitz um. »Ich habe deine Schwester angerufen. Sie ist auf dem Weg zu uns.«
Wir bogen in die Auffahrt eines dreistöckigen, grauweißen Reihenhaus-Neubaus ein. Ich stieg aus und starrte die lange Sackgasse hinunter, ohne irgendetwas zu erkennen.
»Wir wohnen seit etwa drei Monaten hier. Vier Schlafzimmer, drei Stockwerke«, informierte mich Katie, während ich ihr durch die Diele in die Küche folgte. »Und das hier ist mein Reich«, erklärte sie stolz.
Die Küche war hell und luftig und sehr groß, mit einem riesigen Esstisch und einem braunen Ledersofa auf einer Seite. Ich nahm einen schwachen Geruch von süßen Räucherstäbchen wahr; in den Ecken standen exotisch aussehende Pflanzen und Glaskristalle. Die Wände waren mit Buntstiftzeichnungen von Engeln, Delfinen, Regenbogen und Robotern bedeckt. Der Raum war einladend und strahlte Wärme aus.
»Setz dich, Süße. Ich mache gleich Wasser heiß.«
Ich ließ mich in das Sofa sinken; es war bequem. Auf der anderen Seite der großen Patiotüren saß mir zugewandt ein großer, dicker Kirschholz-Buddha. Ich fühlte mich, als würde er mich auslachen.
»Wann kommt meine Schwester her?«
»Sie wird bald hier sein. Sie wohnt nicht weit von uns. Sie ist früher von der Arbeit gegangen, aber das ist auf der anderen Seite der Stadt, daher … Aber sie wird bald hier sein, Süße. Naomi, weißt du, wo wir sind?«
Ich nickte. »Ja, Manchester.« Wow! Was? Augenblick!, dachte ich. Woher wusste ich das auf einmal? Katie stellte mir mehr Fragen. Wie lange lebte ich schon in der Stadt? Ja! Ich wusste den Namen der Straße und die Nummer des Hauses, in dem ich aufgewacht war. Ich war völlig perplex. Woher wusste ich das alles? Ich wusste es nicht, als ich aufwachte. Ich versuchte mich zu erinnern, wie ich in das Haus eingezogen war oder wie ich ursprünglich nach Manchester gekommen war.
Nichts.
»Aber als ich aufwachte, wusste ich nicht, wo ich bin oder wie ich hierhergekommen bin, und jetzt ist es so, als ob ich weiß, wo ich bin, aber ich kann mich nicht erinnern, hier gelebt zu haben.« Ich war schrecklich verwirrt.
»Was ist denn das Letzte, an das du dich erinnern kannst?«, fragte sie.
Ich sah in das Getränk, das sie mir gereicht hatte, in der Hoffnung, darin eine Spiegelung oder ein Bild meines Lebens zu sehen. Ich sah das rosa-weiße Jugendzimmer in unserem Haus in Wolverhampton. Ich sah das kleine rote Backstein-Reihenhaus, in dem ich mit meiner jüngeren Schwester, meiner Mum und meinem Stiefvater lebte. Ich schloss die Augen und umklammerte den Becher mit beiden Händen. Alles, was ich sehen konnte, war ich in meinem Bett, spätabends. Ich konnte hören, wie meine Mum unten fernsah. Simone lag über mir in dem oberen Etagenbett und schnarchte leise, und ich lag mit meiner getreuen Taschenlampe unter der Bettdecke und las ein Französisch-Übungsbuch für den mittleren Schulabschluss, während ich an Robert Harris dachte, den superheißen Jungen, in den ich verknallt war, der meine Gefühle aber nicht erwiderte.
»Ich bin eingeschlafen und …« Ich hielt einen Augenblick inne. »Ich bin in der Zukunft aufgewacht.«
»Weißt du, wie alt du bist?« Katie starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, wie eine Eule.
»Fünfzehn, glaube ich, aber ich weiß, dass ich das nicht bin. Ich weiß, dass ich alt bin.«
Katie lachte. »Gott, wenn du alt bist, dann bin ich schon eine Mumie; du bist erst zweiunddreißig.«
Ich lächelte, aber es war absolut nicht witzig. Dreißig war uralt. Danach kassierte man seine Pension.
Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Er schmeckte scheußlich, bitter und säurehaltig. »Igitt«, murmelte ich. »Mag ich Kaffee?«, fragte ich sie. »Ich meine, wer würde, na ja, das hier wirklich trinken?«
»Hm.« Sie zögerte kurz. »Du würdest es tun. Du trinkst es ständig.«
Ich verstand nicht, und Katie blickte verwirrt. Aber hey, ich mochte einfach keinen Kaffee. Ich entschied, nicht weiter darauf einzugehen. Stattdessen versuchte ich mich an irgendetwas zu erinnern, aber der Schmerz kickte mein Gehirn einfach immer weiter in meinem Schädel herum wie Mittelfeld-Ass John Barnes einen Fußball.
Als sie mir konkrete Fragen stellte, merkte ich, dass ich sie leicht beantworten konnte. Ich wusste mein Geburtsdatum, mein Alter, meine Adresse, meine Postleitzahl, Leos Namen, Katies Telefonnummer, bestimmte Details über dieses Leben. Ich wusste sogar, dass heute Donnerstag, der 17. April, war und dass wir das Jahr 2008 hatten. Aber was ich an meinem letzten Geburtstag gemacht hatte? Nein. Wie ich Katie kennengelernt hatte? Nichts. Was bei Leos Geburt passiert war? Nada. Ich konnte die Erinnerungen nirgends in meinem Kopf finden.
»Wenn ich allzu angestrengt suche, bekomme ich dieses weiß glühende, brennende Gefühl, das meine Schläfen dumm und dämlich schlägt und meinen Kopf durchrüttelt, bis mir schwindlig wird und alles in mir zusammenbricht. Und dann will ich am liebsten nur noch in Deckung gehen und mich übergeben.«
»Ich habe keine Ahnung, was du da eben gesagt hast.« Katie lachte nervös auf und schüttelte den Kopf. »Ich glaube … na ja … versuch jetzt einfach nicht mehr, dich zu erinnern; ich bin überzeugt, es wird dir alles wieder einfallen.«
Aber sie sah nicht so überzeugt aus. Ich war es ebenso wenig, und in diesem Augenblick entschied ich, dass ich meine ganze Energie darauf verwenden würde, mich zu zwingen, an jenem Abend einzuschlafen und am nächsten Tag in meinem Etagenbett in Simones und meinem Jugendzimmer wieder aufzuwachen, sicher und geborgen, noch immer fünfzehn und noch immer nichts als die Schule, Prüfungen und den superheißen Robert Harris im Kopf. Ja, wieder im Jahr 1992.
Während wir redeten, klingelte es an der Tür, und Katie stand auf, um zu öffnen. Es war meine Schwester, das wusste ich, aber in diesem Augenblick hatte ich Angst davor, sie zu sehen. Das Letzte, an das ich mich von meiner vierzehnjährigen Schwester erinnerte, war, dass wir uns wegen Haargel gestritten und uns gegenseitig auf die übelsten Arten beschimpft hatten. Sollte ich den Fotos an den Wänden in jenem Haus glauben? Wie sehr hatte sie sich verändert? Sah sie alt aus? Waren wir uns nahe oder fremd? Würde sie mir glauben? Würde sie mir helfen können? Würde sie es Mum und Dad sagen? Denn ich wollte absolut nicht, dass sie es tat.
Als sie in die Küche kam, flippte ich aus. Sie war nicht die Simone, die ich kannte, aber ich konnte sehen, dass sie es war. Sie war größer, aber immer noch kleiner als ich, ihre Haare, früher Korkenzieherlocken, waren jetzt glatt, und sie war irgendwie pummelig geworden.
Augenblick. Wie war das passiert?, dachte ich. Wieso war ich mager geworden und sie mollig? Simone hatte noch immer dieselben mandelförmigen, sanften braunen Augen mit den feinen Wimpern, die gerade Nase und die vollen Lippen. Ihr Lächeln war noch immer breit und schön und … sie trug keine Zahnspange.
Was?Sie hat ihre Zahnspange entfernt bekommen? NIEIMLEBEN! Ich berührte meine Zähne und begriff, dass ich meine auch entfernt bekommen hatte.
Und dann traf es mich wie ein Blitz.
Das hier ist wirklich die Zukunft.
Als mir klar wurde, dass die Erinnerungslücke so gewaltig war und ich siebzehn Jahre, in denen ich meine Schwester liebte, versäumt hatte, brach ich in Tränen aus. Sie kam sofort auf mich zu und drückte mich in einer ihrer berühmt-berüchtigten Umarmungen an mich. Eine ihrer Rücken brechenden, Sauerstoff raubenden Ich-liebe-dich-wirklich-Umarmungen, und während sie mich fest an sich gedrückt hielt, wusste ich ohne den Schatten eines Zweifels, dass es Simone war. Meine schöne, liebevolle, freundliche, aber knallharte Schwester. Ich schluchzte in ihrer Umarmung.
»Ist ja gut, chica«, sagte sie sanft. Sie trat einen Schritt zurück und wischte mir mein nasses Gesicht ab. »Was ist denn eigentlich passiert, Süße?« Tränen traten ihr in die Augen.
»Ich weiß nicht, Sim, ich weiß nicht.« Ich bekam keine Luft mehr. »Mein Gehirn ist irgendwie völlig ausgeflippt und macht sich in die Hose!« Ich umklammerte meinen Kopf. »Und ich habe blaue Strumpfhosen an.« Ich zeigte auf meine Knie. »Oh mein Gott. Sieh dich an!« Ich lachte und zeigte auf sie. »Mir ist schlecht.«
Ich wischte meine Tränen fort, holte einmal tief Luft und ging alles durch, seit ich in der Zukunft aufgewacht war, wobei ich versuchte, nichts auszulassen. Meine Schwester hörte aufmerksam zu. Sie wurde ernster, als ich ihr erzählte, wie ich in jenem Haus aufgewacht war und mich nicht mehr erinnern konnte, wie ich dorthin gekommen war, aber sie sagte kein Wort.
Als ich fertig war, sah sie erst Katie an und wandte sich dann an mich. »Aber du erinnerst dich an mich, oder?«
»Nein, nicht wirklich. Nicht so, wie du jetzt bist.«
»Schon gut, Süße. Es wird alles gut. Ich denke, wir sollten deinen Arzt anrufen. Weißt du die Nummer?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was ist mit deinem Handy?«, fragte sie.
»Meinem was? Wovon redest du denn?«
Simone sah Katie an. »Dein Mobiltelefon? Darin müssten deine ganzen Nummern gespeichert sein.«
Ich hatte keine Ahnung, was sie meinten. Vielleicht war es dieses seltsam aussehende schnurlose Gerät, das auf dem Nachttisch gelegen hatte.
»Es ist im Haus … glaube ich.«
»Ich schicke Ged, damit er es holt«, sagte Katie.
Wie ein Oberfeldwebel, der seine Truppen zusammenzieht, übernahm Simone nun das Kommando. »Okay, und dann rufen wir den Arzt an und bringen dich zu ihm. Vielleicht kann er ja herausfinden, was mit dir los ist.«
»Wie wär’s, wenn wir sie ins Krankenhaus bringen?«, schlug Katie vor.
»NEIN!«, bellte ich. »Bringt mich nicht ins Krankenhaus. Da gehe ich nicht hin, und ihr könnt mich verdammt noch mal nicht zwingen!« Bilder von Ärzten, die mir sagten, dass es ein Gehirntumor oder irgendeine tödliche Gehirnkrankheit war, sorgten auf einmal dafür, dass ich mich gegen jeden zur Wehr setzen wollte, der mich zwingen könnte, eine Notaufnahme zu betreten. Außerdem würde ich später, im Schutz der Dunkelheit, ohnehin ins Jahr 1992 zurückkehren, daher spielte es keine Rolle.
»Ich werde zum Arzt gehen. So ernst ist es nicht.«
Während Ged losfuhr, um mein »Handy« zu holen, begannen Simone und Katie darüber zu diskutieren, was mit mir los sein könnte. Die Unterhaltung zwischen ihnen wurde immer wieder von Fragen an mich unterbrochen, ob ich vielleicht gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen war, ohne es zu wissen. Zu versuchen, mich an irgendetwas zu erinnern, bereitete mir noch immer starke Schmerzen, daher hörten sie auf, mir Fragen zu stellen. Stattdessen, da sie spürten, dass ich nicht allzu viel verkraften konnte, erläuterten sie mir nur die grundlegenden Dinge, erklärten mir das mit Leo, während ich einfach nur zuhörte, leicht fasziniert von einem Leben, von dem ich keine Ahnung hatte. Das half, den brennenden Schmerz zu unterdrücken, und ich begann meinen Verstand von der Person zu trennen, von der sie mir erzählten. Sie redeten von irgendjemand anderem, jemandem, den ich nicht kannte. Sie redeten von der erwachsenen Naomi.
Ich stellte nicht allzu viele Fragen. Ich hatte zu viel Angst davor zu erfahren, warum bestimmte Gesichter an der Wand mit Fotografien fehlten, nämlich die meiner Mutter und meines Stiefvaters. Ich wartete darauf, dass Simone sie erwähnte, aber sie tat es nicht, daher kam ich zu dem Schluss, dass ich es nicht wissen musste. Vielleicht hatten sie uns ja verlassen, womit ich schon immer gerechnet hatte. Jedenfalls, das ging nur die erwachsene Naomi etwas an, nicht mich, aber …
Mit einundzwanzig Jahren ein Kind zu bekommen? Was sollte das denn heißen? Ich konnte es nicht glauben. Ich fragte mich, ob sie völlig den Verstand verloren hatte. Das ist zu jung, um ein Kind zu bekommen. Ich meine, ich hatte auf Kinder aufgepasst, seit ich zwölf war, aber nie im Leben würde ich selbst welche haben.
Ich wollte absolut nichts mit Kindern zu tun haben, es sei denn, ich wurde fürs Babysitten bezahlt! Gesagt zu bekommen, dass die erwachsene Naomi ein Kind hatte, und dass sie es auch noch sehr früh in ihrem Leben bekommen hatte, war mir absolut unbegreiflich. Außerdem war ich schwer enttäuscht zu erfahren, dass das Haus, in dem ich aufgewacht war, tatsächlich der Drei-Zimmer-Sozialbau war, in dem sie mit ihrem Sohn lebte. Ich wollte absolut nicht wissen, wie sie dort enden konnte. Um genau zu sein, gab es nicht viel, was ich über ihr Leben wissen wollte, denn es war nicht meines.
Gerald kam mit dem Handy wieder. Er reichte es Simone, und ich sah zu, wie sie mit den Fingerspitzen das Display berührte und eine lange Liste mit Nummern durchsuchte. Es gab keine Knöpfe, und man musste das Telefon nur berühren, damit es funktionierte. Es war wie etwas aus einem Film. Ich saß da und dachte wieder: Wow, das hier ist wirklich die Zukunft. Ich rechnete jeden Augenblick damit, dass Doktor McCoy zur Tür hereinkommen, die Hände in die Hüften stemmen und sagen würde: »Es ist ein Telefon, aber nicht so, wie wir es kennen.«
»Okay, ich hab’s.« Simone tippte noch ein paarmal auf das Display und hielt sich das kleine Telefon dann ans Ohr. Ich beobachtete sie, voller Neugier, wie sie das Gespräch führen würde, und erst recht, wie die Person am anderen Ende sie hören würde, da das Sprechteil nirgends in der Nähe ihres Mundes war.
Sie sprach nicht so hinein, als wäre es das Star-Trek-Gerät, für das ich es hielt. Stattdessen hielt sie das Telefon während des ganzen Gesprächs in derselben Position.
»Ja, okay, okay, ja, nein, sie will nicht ins Krankenhaus.« Sie sah mich an; mein Magen rumorte wieder, und dann knurrte er. Ich hatte Hunger. »Okay, ja, einen Moment.« Sie hielt das Telefon von ihrem Ohr weg. »Süße, dein Arzt ist im Urlaub; er kommt erst in zwei Wochen wieder. Du kannst zu einem anderen Arzt gehen, aber nicht vor Montag.« Ich sah Katie an. Ich wusste, dass sie versuchte, mir telepathische Botschaften zu senden, ich möge doch bitte ins Krankenhaus gehen. Das war keine Option. Ich zuckte die Schultern und nickte zum Zeichen, dass ein anderer Arzt okay war. Jeder Arzt war mir recht, es war mir im Grunde egal. Ich war mir sicher, dass ich vor Montag sowieso wieder im Jahr 1992 sein würde.
»Dr. Davies, fünf Uhr, ja, ich werde sie selbst hinbringen, okay, danke.«
Simone legte das Telefon neben sich hin und nahm wieder meine Hand. Sie legte nicht auf. Ich starrte noch immer auf das seltsame Stück Technik, in der Annahme, dass die Sprechstundenhilfe am anderen Ende noch immer zuhörte. »Ist das okay für dich, Nay?«
Ich nickte. »Ja, na klar«, flüsterte ich.
Simone sah mich seltsam an. »Warum flüsterst du denn?«, flüsterte sie.
Ich beugte mich näher vor und sah auf das Gerät. »Sie kann dich noch immer hören.«
»Oh.« Sie lachte. »Es wird aufgelegt, wenn man das Gespräch beendet. Das geht automatisch.«
»Raf-fi-niert«, sagte ich, noch immer im Flüsterton. Eine Welt mit einer solchen Technologie überstieg meine Vorstellungskraft. Als ich das letzte Mal ein Handy gesehen hatte, war es aus Plastik gewesen, grau und so groß wie ein Ziegelstein, mit schwarzen Antennen, die oben herausragten. Offen gestanden, fand ich, breitschultrige Männer in Anzügen sahen wie absolute Vollidioten aus, wenn sie die Straße hinuntergingen und dabei in ihr Handgerät brüllten.
»Ist es wirklich okay für dich, vier Tage zu warten, bevor du zu einem Arzt gehst, Nay?« Simone lenkte die Aufmerksamkeit von der fremdartigen Technologie ab und wieder auf mein Gehirn.
»Ja, ist okay.« Ich lächelte beschwichtigend und drückte ihre Hand. »Es geht mir gut. Ich schaffe das schon. Vermutlich ist es nichts, nur schlimme Kopfschmerzen oder so.«
Mein Magen knurrte wieder, machte mich darauf aufmerksam, dass ich noch nichts gegessen hatte. Isst die erwachsene Naomi nichts, und ist dieser Körper deshalb so mager, fragte ich mich.
Trotzdem, das Einzige, woran ich denken konnte, waren eingelegte Zwiebeln und Hüttenkäse.
Gibt es das in der Zukunft noch immer?
Es ist, als wüsste ich, dass ich dir noch nie begegnet bin, aber ich habe das Gefühl, dass ich es doch bin. Ich glaube, das ist eine Seelenerinnerung; man erinnert sich an das Leben, das man schon einmal gesehen hat, die Orte, an denen man schon einmal gewesen ist.
L. E.
Es war wie ein Déjà-vu, aber ich konnte es nicht beenden. Ich konnte es nicht verscheuchen. Ich hatte dieses nagende Gefühl, dass ich alles – die Leute, die Orte und die Dinge – schon einmal gesehen hatte. Aber so sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich einfach nicht erinnern. Und jetzt musste ich das Kind treffen, das, wie ich wusste, zu der erwachsenen Naomi gehörte, und doch konnte ich mich nicht erinnern, es geboren zu haben. Simone hatte sich für den Rest des Tages von der Arbeit freigenommen, und da sie nicht von meiner Seite weichen wollte, entschied sie, mich selbst zur Schule zu fahren. Ich konnte mir nicht vorstellen, in das Haus des Horrors zurückzukehren, in dem ich aufgewacht war, daher hatte uns Katie zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen.
»Was soll ich zu ihm sagen?«, fragte ich Simone, während wir in einen kleinen, blasenförmigen silbernen Wagen mit einem seltsam aussehenden Nummernschild stiegen. Ich war nervös.
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Ich meine, vielleicht bist du ja morgen schon wieder gesund und normal, und dann würden wir ihm grundlos Angst machen. Aber …« Sie hielt einen Augenblick inne.
So erwachsen meine Schwester auch geworden war, hatte sie doch noch immer diesen verengten Blick und diese verkniffenen Lippen, wenn sie im Begriff war, etwas Heikles zu sagen. »Aber … na ja, das hier könnte auch länger als einen Tag dauern.«
»Das wird es nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es einfach.«
»Aber, Nay …«, wand sie ein.
»Nein, Sim. Es geht mir prima, wirklich. Ich möchte wetten, bis ich zu diesem Arzt gehe, bin ich wieder ganz normal und kann mich an alles erinnern.«
Insgeheim hoffte ich, dass das nicht der Fall war, denn eigentlich wollte ich mich an nichts aus den letzten siebzehn Jahren erinnern. Ich war nur ein paar Stunden dort gewesen, aber ich hatte allmählich den Verdacht, dass die Zukunft sich nicht so entwickelt hatte wie in meiner Vorstellung.
»Dann glaube ich, wir sollten es ihm besser nicht sagen«, sagte Simone leise.
Ich gab ihr recht, und ich nahm an, dass ich mit Simones und Katies Hilfe zumindest diesen Abend lang so tun konnte, als wäre alles in bester Ordnung. Bis dieses grässliche Déjà-vu-Gefühl verschwunden war und ich nicht mehr in einer Stadt war, die mir nicht gefiel, und ein Leben lebte, das ich einfach nicht kapierte.
Wir erreichten die Schule und warteten auf dem Spielplatz gegenüber dem Eingang. Ein paar Mütter lächelten mich an, aber keine sagte Hallo oder kam auf mich zu. Simone zufolge lag das daran, dass es eine neue Schule war und Leo im Allgemeinen an den meisten Tagen in einen sogenannten »Hort« ging. Ich war erleichtert, aber ich fühlte mich trotzdem unwohl.
Was, wenn Leo irgendetwas ahnte? Was würde ich tun, wenn ich nicht vor ihm verheimlichen konnte, dass ich fünfzehn war?
Eine Glocke läutete, und kurz darauf schwang die Schulpforte auf, und ein Meer von Kindern in königsblauen Pullovern strömte ins Freie, laut und aufgeregt am Ende des Tages. Meine Angst steigerte sich noch, und ich wollte am liebsten Reißaus nehmen. Simone ergriff meine Hand und drückte sie.
»Nay, du schaffst das schon, okay?«, sagte sie. »Ich vertraue dir, und Leo vertraut dir, und egal, wie verängstigt du jetzt bist, warte einfach, bis du ihn siehst. Diese Angst wird sich legen, versprochen.«
Leo kam als einer der Letzten durch die Schulpforte, und er kam zusammen mit seiner Lehrerin, die Hände in die Jackentaschen gesteckt, die Schultasche auf dem Rücken. Er war viel größer, als ich erwartet hatte, mit derselben Hautfarbe wie ich und kleinen, dunkelbraunen Afrolocken. Ich war sprachlos – das hier war eine kleinere Version von mir, aber ein Junge. Seine Augen suchten den Spielplatz ab, und sobald er uns entdeckte, schenkte er uns ein absolut breites Lächeln.
In diesem Augenblick tat sich etwas Seltsames in der Mitte meiner Brust. Auf einmal wurde ich von rührseligen Gefühlen übermannt! Ich atmete aus. Er war mein Kind. Ich könnte unmöglich sagen, dass er nicht mein Kind war. Er ging genau wie ich, und er hatte eindeutig dieses breite Grinsen mit den Grübchen in den runden Wangen, mit denen wir alle geschlagen waren. Es war, als würde ich mich selbst in einem dieser Zerrspiegel auf einem Jahrmarkt betrachten und eine neunzig Zentimeter große Version von mir sehen.
»Mach den Mund zu, Süße.« Simone streckte eine Hand aus und schob meinen Kiefer hoch. »Du fängst dir noch einen Schmetterling ein.«
Ich lächelte. »Wow! Im Ernst, Simone, er sieht genauso aus wie ich.«
»Oh ja«, nickte sie, »er ist eindeutig eine Miniaturausgabe von dir.«
»Wow, ich … sie hat einen Jungen bekommen«, flüsterte ich.
Er kam auf uns zu, noch immer lächelnd.
Ich stand da und grinste ihn an.
»Hi, Kumpel.« Simone klatschte ihn ab. »Öffentliche Bekundungen von Zuneigung sind bei Zehnjährigen ein absolutes Tabu«, flüsterte sie mir aus dem Mundwinkel zu. Er klatschte sie ab und sah dann erwartungsvoll zu mir hoch. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, daher folgte ich Simones Beispiel und klatschte ihn ebenfalls ab. Er sah mich seltsam an, lachte und drückte mir stattdessen seine Schultasche in die Hand. Erst jetzt begriff ich, dass Mütter, die ihre Söhne abklatschten, nicht cool waren, aber ich dachte: Was soll dieses ganze Abklatschen denn überhaupt?
»Wie war’s in der Schule?« Simone begann auf das Schultor zuzugehen. Leo folgte ihr. Ich stand reglos da und sah ihm zu, während er versuchte, mit ihr Schritt zu halten, und ihr von den Ereignissen des Tages erzählte. Auf einmal dämmerte mir das gewaltige Ausmaß dessen, was es bedeuten würde, wenn ich die Zukunft nicht mehr verlassen konnte. Ich hatte die Verantwortung für einen anderen Menschen, der in diesem Moment keine Ahnung hatte, dass ich ihn nicht kannte. Während ich zusah, wie er und meine Schwester sich entfernten, begann ich, etwas anderes zu verspüren als das Bedürfnis, diese Zukunft zu verlassen und diesen ganzen Albtraum hinter mir zu haben. Wie in dem Moment, als ich den irischen Segen, der am Küchenschrank in diesem kleinen braunen Backsteinhaus hing, gelesen hatte, durchflutete mich für einen Moment eine innere Ruhe. Wie ein Gefühl von Hoffnung, dass mir zu verstehen gab, dass es mir gut ergehen wird, auch wenn ich an diesem Abend nicht einschlief und nicht im Jahr 1992 aufwachte, wenn ich länger, als ich dachte, im Jahr 2008 bleiben musste; solange ich in der Nähe dieses niedlichen, glücklichen Kindes war, konnte mir nichts passieren.
Es war so seltsam, zwischen zwei Orten gefangen zu sein. Ich fühlte mich, als würde ich von der Zukunft weggeschoben und zugleich zu ihr hingezogen werden.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, wandte sich Leo um und rief mir zu: »Komm schon, Mum!«
Mum. Wow! Das Wort prallte gegen meinen Kopf wie ein Tennisball in der Trommel eines Wäschetrockners. »Mum.« Es purzelte aus meinem Mund. »Das ist einfach absolut und total megadurchgeknallt«, sagte ich laut und bewegte mich dann rasch auf die beiden zu, hüpfend und springend und tänzelnd. Er lachte darüber und schüttelte den Kopf. Ich stockte und ging schnell wie eine Erwachsene weiter. Als wir den Wagen erreichten, plapperte Leo noch immer fröhlich von seinem Tag, während ich ihm zusah, fasziniert von der Art, wie er redete, und dem Mienenspiel auf seinem Gesicht. Ich hätte ihm Tag und Nacht zuhören können.
»Was gibt’s zum Abendessen, Mum?«
Mein Lächeln schwand, und ich sah ihn verblüfft an. Abendessen? Konnte ich kochen?
Simone spürte mein Entsetzen bei dem Gedanken, diese kleine Person mit Essen versorgen zu müssen.
»Lass dich überraschen, Leo, wir essen heute Abend bei Katie«, sagte sie, während wir in den Wagen stiegen.
»Ja!« Leo reckte jubelnd eine Faust in die Luft.
»Und wie war dein restlicher Tag, Kumpel?«, fragte ihn Simone.
»Gut. Sieh mal, ich habe ein paar neue Karten getauscht.« Er holte einen großen Stapel bunter Karten hervor.
Ich wandte mich zu ihm um. »Cool«, sagte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, was sie waren.
»Wie heißen die gleich wieder?«, fragte ihn Simone, vermutlich mir zuliebe.
»Meine Yu-Gi-Oh!-Karten. Ben hat heute vier mit mir getauscht, und ich habe die hier bekommen. Sieh mal.« Er zückte eine Karte und hielt sie mir vors Gesicht. Darauf waren ein weißer Drache und die Worte »Blauäugiger weißer Drache« zu sehen. Ich gab mir Mühe, schwer beeindruckt auszusehen.
»Hübsch«, sagte ich.
Er kicherte und lehnte sich dann wieder auf seinem Platz zurück. »Jetzt kann ich die nächste Schlacht gewinnen.«
»Wow, das ist ja toll, Kumpel«, sagte Simone zu ihm. »Hast du irgendwelche Hausaufgaben?«
Ach du Scheiße, na klar. Mums fragen nach Hausaufgaben, oder? Vor ihm zu verheimlichen, dass ich fünfzehn war, fiel mir doch schwerer, als ich dachte.
Er schüttelte den Kopf. »Muss nur später mein Lesebuch lesen.«
»Okay, ich höre dir vor dem Schlafengehen zu, wenn du es liest«, sagte Simone. Er schien zufrieden damit und redete dann weiter von seinen Karten.
Während ich zuhörte, wie er von der Schule und seinen neuen Freunden plapperte, wurde mir bewusst, dass es vieles gab, was ich nicht sagen konnte, weil ich nicht wusste oder verstand, wovon er redete. Dadurch fühlte sich alles wieder irgendwie falsch an, daher sah ich stattdessen durchs Fenster zu, wie die Straßen an uns vorbeizogen. Ich fühlte mich ausgeschlossen aus dem Leben, an das ich keine Erinnerung hatte. Ich klinkte mich aus dem Gespräch aus und schloss die Augen.
Die Zukunft.
Den Rest des Abends verbrachten wir bei Katie. Sie kochte das Abendessen, während Leo mit Dylan, Adam und Chloe spielte. Ich erkannte die Kinder nicht, aber sie interessierten sich mehr für Leo als für mich, daher fiel es mir vor ihnen leichter, so zu tun, als wäre ich eine Erwachsene. Alex, der Älteste, war dreizehn, aber er wollte sich mit keinem von uns abgeben, daher blieb er in seinem Zimmer, bis es Abendessen gab. Hin und wieder konnten wir aus seinem Zimmer hören, wie er irgendjemandem etwas zurief. Ich nahm an, dass er eine Party feierte, bis Katie mir erklärte, dass er über seinen Computer mit seinen Freunden redete.
Ich starrte sie ungefähr zehn Minuten nur an und versuchte zu begreifen, was sie soeben gesagt hatte. Ich konnte es nicht.
Später, auf dem Sofa, entspannte ich mich allmählich ein wenig, während Simone und Katie miteinander plauderten und die Kinder sich unterhielten. Ich fand, sie klangen so niedlich und frech mit ihren nordenglischen Akzenten, vor allem als sie alle anfingen, sich über jemanden namens Hannah Montana zu streiten. Chloe liebte sie, aber Dylan und Adam zogen sie wegen dieser Hannah auf, während Leo zu Chloe hielt.
Da ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, aß ich früh mit den Kindern, und ich sah voller Belustigung und Ehrfurcht zu, wie Leos Persönlichkeit zwischen seinen Freunden glänzte. Ich musste der erwachsenen Naomi alle Achtung zollen. Er war ein guter Junge, selbstbewusst, aufgeweckt, mit einem tollen Humor, der manchmal ein bisschen albern wurde, wenn er versuchte, die anderen Kinder zu beeindrucken, die ihn, wenn ich das hinzufügen darf, zum Schreien komisch fanden. Mir ging es genauso. Simone hatte ein paar strenge Worte und ernste Blicke für uns beide, aber er hatte allergrößten Respekt vor ihr, und ich hielt prompt den Mund und rief mir in Erinnerung, dass ich hier die Erwachsene sein sollte. Laute Schlürfgeräusche zu machen, indem man die Spaghetti einsaugte, bis die Sauce in alle Richtungen spritzte, ist nicht witzig, wenn man zweiunddreißig ist.
Die Kinder aßen ihr Abendessen auf und gingen zum Spielen nach draußen, während mein Teller noch immer halb voll war.
»Ich kann nicht viel essen. Ich habe keinen Appetit«, sagte ich zu Katie. »Es tut mir leid.«
»Schon gut, Liebes. Du hast seit drei Monaten nicht viel Appetit. Du hast stark abgenommen.«
»Wirklich? Warum denn?«
»Du hast eben erst eine schlimme Mandelentzündung überstanden – du konntest nicht schlucken –, und davor hattest du einen Magenvirus«, sagte sie.
»So ein bescheuerter Mist!« Kein Wunder, dass ich so mager war.
Simone und Katie schienen darauf zu warten, dass ich sie nach dem Leben der erwachsenen Naomi fragte, und es gelang mir, den Schmerz genug zu ignorieren, um ein paar Fragen zu stellen. Ich wollte wenigstens die grundlegenden Dinge wissen, bevor ich ins Jahr 1992 zurückkehrte, aber nicht zu viele Details, nur für den Fall, dass ich wieder Kopfschmerzen bekommen sollte.
Sie erzählten mir, nachdem sie als Jugendliche ein paar Jahre immer wieder umgezogen war, habe die erwachsene Naomi im Alter von neunzehn Jahren auf der Suche nach Arbeit schließlich in Manchester Fuß gefasst, wo sie jetzt seit dreizehn Jahren lebte. Genau wie Simone, die auf der Südseite von Manchester wohnte. Sie sagte, es sei näher bei ihrer Arbeit.
»Ich arbeite für eine wohltätige Organisation, die jungen Leuten, die aus einer Pflegeunterbringung kommen, Unterstützung bei Ausbildung und Beruf anbietet«, erzählte mir Simone. »Wenn sie selbst Kinder haben, arbeite ich mit den Sozialdiensten zusammen, und wenn sie psychische Probleme haben, arbeite ich mit dem psychologischen Gesundheitsdienst zusammen, du weißt schon, biete ihnen zusätzliche Unterstützung an, helfe ihnen, einen Job zu finden oder eine Ausbildung zu machen.«
»Cool«, sagte ich.
»Und ich bin eine nicht berufstätige Mum«, ergänzte Katie stolz. »Wir haben uns kennengelernt, als wir beide in derselben Straße wohnten und unsere Kinder anfingen, zusammen zu spielen, erinnerst du dich? Vor ungefähr fünf Jahren.«
Ich erinnerte mich nicht. Simone erklärte weiter, dass die Gegend, in der sie lebte, kulturell vielfältiger und besser an die Stadt angebunden war. Die erwachsene Naomi hingegen bevorzugte die stilleren und grüneren, jüdisch geprägten Vororte im Norden der Stadt. Okay. Das leuchtete mir ein: Wir waren in einer Kleinstadt aufgewachsen, umgeben von vielen Feldern, Wäldern und ländlicher Gegend. Selbst als sie in einer Großstadt lebte, erklärten sie mir, habe sich die erwachsene Naomi zu den grüneren Vierteln hingezogen gefühlt, wo es zudem bessere Einrichtungen und Schulen für ihr hörgeschädigtes Kind gab.
»Was? Augenblick. Habt ihr eben gesagt, dass Leo gehörlos ist?«, unterbrach ich das Gespräch. Ich stand auf und trat an die Patiotüren, um ihn anzusehen. Wie hatte ich das übersehen können? Er benutzte nicht die Gebärdensprache. »Was soll das heißen, er ist gehörlos?« Ich wandte mich wieder zu Simone um. »Er redet nicht so, als ob er gehörlos ist.« Gott, ich fühlte mich fürchterlich; es war mir nicht einmal aufgefallen.
Sie erklärte, dass bei Leo etwas diagnostiziert wurde, was Hochtonhörverlust hieß, als er vier war, und dass er ohne seine Hörhilfen nur Vokale hören könnte und von den Lippen lesen müsste, um zu verstehen, was man sagte. Aber mit seinen Hörhilfen und dem Lippenlesen habe er eine bessere Chance, andere zu hören.
Obwohl sie anfangs am Boden zerstört war, schwor sich die erwachsene Naomi, ihr Möglichstes zu tun, um ein gesundes, wohlgeratenes, selbstbewusstes Kind großzuziehen, und jetzt liebte er Skateboard fahren, Witze erzählen und Reiten. Sie ließ nicht zu, dass er seine Unfähigkeit, so zu hören wie alle anderen, als Ausrede benutzte, um im Leben nicht erfolgreich zu sein.
»Du ziehst da ein kleines Extremsport-Kind groß«, lachte Simone.
»Kennt keine Angst, der Kleine«, ergänzte Katie. »Er ist das mutigste Kind, das ich kenne.«
Ich starrte durch die Patiofenster auf Leo, der auf einem großen Trampolin Vorwärts- und Rückwärtssaltos schlug und jedes Mal lachte, wenn er landete. Ich spürte, wie sich ein Anflug von Neugier auf das Leben der erwachsenen Naomi in mir zu regen begann. Ich wollte ein bisschen mehr über Leo erfahren. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, ihn geboren zu haben. Simone erklärte, es sei eine Wassergeburt gewesen. Die Beziehung zu seinem Vater? Katie holte nur einmal tief Luft und atmete kräftig aus. Ihre Miene sagte: Das willst du lieber nicht wissen