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Niemals hätte Eva zugeben, dass sie sich ihr Apartment und ihre Shopping-Exzesse gar nicht leisten kann. Aber als ihr Haus abbrennt, ist mit dem Luxus ein für allemal Schluss: Sie zieht in die WG ihrer kroatischen Putzfrau Danka, der alten Ljudmila aus Tschetschenien und der Nigerianerin Adila. Irgendwie gelingt es Eva, sich mit ihrem neuen Leben anzufreunden – zumindest bis die Vergangenheit sie einholt und sie das Schicksal der gesamten illustren WG aufs Spiel setzt …
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ISBN 978-3-492-98226-9 April 2015 © für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2015 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2014 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © yskiii/shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich Fahrenheitbooks nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht
1
Um eine Toilettenbürste zu reinigen, stellt man diese über Nacht in einen Eimer kaltes Wasser, dem man zwei Gebissreinigertabletten zugibt. Danach einfach ausspülen.
»Klobürsten.«
»Wie bitte?«
»Sie sprechen.«
»Quatsch.«
»Im Ernst, das ist die Kampagne, die der Kunde will. Die Klobürsten schwärmen davon, wie toll die Schüssel riecht, die sie gerade schrubben. ›Was für ein Duft! Wie eine Sommerwiese!‹ und so weiter. Glückliche Klobürsten in ihrem Biotop.«
Eva prustete los, grüßte nebenbei ein, zwei bekannte Gesichter und griff, bereits recht angeschickert, schwungvoll nach ihrem fast leeren Cocktailglas. Ihr Gegenüber Sybille, auch nicht mehr ganz nüchtern, fokussierte die Freundin angestrengt durch das rosafarbene Gleitsichtglas ihrer neu erstandenen Pornobrille. Waren Pornobrillen nicht längst wieder durch?
»Klobürsten. Ich bin beeindruckt.«
»Zu Recht.«
Der Abend war schon fortgeschritten. Das Fredo im Münchner Glockenbachviertel war gerade äußerst angesagt und entsprechend voll mit hippen, gut betuchten und gekleideten Mittdreißigern, deren Gesichter im Kerzenlicht vorteilhaft weichgezeichnet wurden. Die Wände schmückten Hirschgeweihe sowie eine riesige Fototapete mit dem Motiv »Teutoburger Wald«. Im Hintergrund wummerte leise Elektromusik. Sybille, groß, kräftig, etwas streng wirkend in ihrem einteiligen Hosenanzug, und Eva, zierlich, in einem Nichts von einem rückenfreien hellblauen Kleidchen, das, wie sie selbst zugeben musste, fantastisch zu ihren Augen passte, hockten mit angezogenen Beinen an der voll besetzten Theke.
Evas Lachanfall hatte die Blicke der Umstehenden auf sich gelenkt; ein paar gut aussehende Typen linsten verstohlen in ihre Richtung. Einige kannte sie genauer, um nicht zu sagen »im biblischen Sinne«. In München war es schwer, nicht über seine Kellerleichen zu stolpern. Die Szene war einfach zu klein. Besser also, man entspannte sich einfach. Und Eva war heute Abend extrem entspannt. Hier fühlte sie sich in ihrem Element, umgeben von genau den richtigen Leuten, und das Allerbeste war: Sie stand im Mittelpunkt, war »die Marmelade im Krapfen«, wie Sybille es auszudrücken pflegte. Warum auch immer. Sybille las eindeutig zu viele Frauenzeitschriften.
»Stimmt wenigstens die Kohle?«, kam Sybille wieder auf die Bürstenkampagne zu sprechen. Eva nuckelte mit gerunzelter Nase an ihrem Strohhalm und zuckte die Achseln. »Weiß noch nicht. Sascha rückt nicht mit der Sprache raus, obwohl schon ein Dutzend Leute dran sitzen. Aber eigentlich hab ich bei dem ’nen Stein im Brett. Der steht noch immer auf mich. Paar Tausis werden schon rausspringen.«
»Ja, ja, die fetten Jahre sind vorbei … Schau mal, wer da kommt. Milan!«
Betont desinteressiert wandte sich Eva wieder ihrem Drink zu und ließ sich nicht anmerken, was sie von Sybilles Ankündigung hielt.
Milan, schlank, groß, mit rausgewachsener rotbrauner Jürgen-Drews-Matte und dunklem, schmal geschnittenem Hemd, drängte sich zielstrebig zwischen zwergenhaften Tischen und Stühlen hindurch auf die beiden Frauen an der Bar zu. In seinem Blick lag die Entschlossenheit des Jägers, der nicht viel Hoffnung hat, heute noch ein Wild zu erlegen, es aber dennoch mit allen Mitteln versuchen will.
Sybille folgte ihm mit den Augen. »Der Typ ist hartnäckig«, stellte sie nicht neidlos fest. »Wirst du ihn heute endlich ranlassen, oder müssen wir seinen melancholischen Dackelblick noch länger ertragen?«
Eva zupfte ihr Kleid zurecht. »Mal sehen, wie er sich anstellt. Von nichts kommt nichts.«
Sybille schüttelte widerwillig beeindruckt den Kopf. »Alter Schwede, du machst es den Jungs nicht gerade leicht. Bin ich froh, dass ich nichts von dir will. Rein körperlich, meine ich natürlich.«
Eva ergriff ihre Hand mit gespieltem Ernst. »Du kannst doch alles von mir haben, Süße. Was wäre ich ohne meine Busenfreundin?«
Sybille kicherte und entwand sich ihrem Griff.
Milan war es endlich gelungen, sich zu ihnen vorzukämpfen. Aufatmend quetschte er sich neben Eva, obwohl dort überhaupt kein Platz für ihn war. Er hauchte je zwei Luftküsse auf ihre und Sybilles Wangen. »Servus, Mädels! Wahnsinn, was hier wieder los ist. Wir brauchen dringend eine neue Stammbar. Ich bin jetzt schon total durchgeschwitzt.« Er lüftete seinen Hemdkragen, öffnete auch den zweiten Knopf und gab den Blick auf sein verführerisch glänzendes Schlüsselbein frei.
Sybille lächelte anzüglich, Eva registrierte das Ganze eher skeptisch. »Dann besorgen wir dir mal ’ne kleine Erfrischung.«
Sie wandte sich an den Barkeeper, dessen unter dem Mund spitz zulaufende Koteletten wie aufgemalt wirkten, und orderte eine Runde Longdrinks, die kurz darauf vor ihre Nasen gestellt wurden. »Macht 28,50.«
»Okay, okay, Sekunde …« Eva buddelte umständlich in ihrer Handtasche nach dem Geld. Und buddelte. »Sorry, das ist so ein Chaos hier drin …«
Die Koteletten des Barkeepers fingen an zu zucken. Auch Milan zeigte Nervosität angesichts der Buddelei. Er zog einen Fünfziger aus seiner Hosentasche und reichte ihn dem Mann hinterm Tresen. »Mach fünfunddreißig.«
Eva lächelte verlegen und sah Milan von unten herauf an. Ihrer Erfahrung nach war dieser Blick zwar billig, aber in der Wirkung immer noch ungeschlagen. »Danke. Warst mal wieder schneller als ich.«
Sybille strich mit dem Zeigefinger über das Display ihres IPhones. »Heiko schafft’s wieder nicht. Der hockt immer noch über seiner Steuer. Seit wir die Wohnungen gekauft haben, ist das der reinste Fulltimejob.«
Eva verdrehte die Augen. »Oh je, ihr Ärmsten. Wie unangenehm. Ich würde auch gerne was kaufen, aber die Münchner Preise …«
»Warum entwickelst du nicht mal was für mich?«, mischte sich Milan ein. »Ich könnte ein professionelles Upgrade gebrauchen.«
Eva musterte ihn kritisch. »Stimmt, wenn ich mir deine Frisur so anschaue …«
Er beugte sich so weit vor, bis er auf Augenhöhe mit Eva war. »Dann optimiere mich doch. Ich bin Wachs in deinen Händen.«
Sie rutschte ein Stück zurück. »Vergiss es. Das kannst du dir nicht leisten.«
Milan blickte ihr tief in die wasserblauen Augen. »Bist du dir da sicher?«
Sybille beobachtete das Geplänkel mit wissendem Blick und griff nach ihrer Handtasche. Ganz offensichtlich wurde es Zeit für sie, den beiden Turteltäubchen das Feld zu überlassen. Sie gab der Sache noch zwanzig Minuten. Maximal.
Genau neunzehneinhalb Minuten später taumelten Eva und Milan mit derangierter Kleidung gierig knutschend die Treppen zu Evas Wohnung hoch. Atemlos fummelte Eva in ihrer Gucci-Handtasche (der nicht gefälschten, bei der gefälschten war vorige Woche der Henkel abgerissen, man merkte eben doch den Unterschied) nach dem Wohnungsschlüssel, schaffte es endlich aufzuschließen, und sie stolperten in den Flur. Milan drückte sie gegen die Wand und fuhr ihr mit der Hand unter ihr offenherziges Flatterkleidchen bis hinauf zum Po. Eva seufzte genüsslich. Das fühlte sich alles gar nicht so übel an, und eigentlich sah er ja selbst bei hellem Licht besehen noch ganz gut aus, die hellbraunen Augen mit den kleinen schwarzen Flecken drin, der weiche, volle Mund, der sich ihrem Gesicht langsam näherte …
Bei hellem Licht?
Warum zum Henker war das Flurlicht an?
Eva fuhr zurück, fegte Milans Hand von ihrem Hinterteil und starrte erschrocken auf die im Gegenlicht dunkle Silhouette am anderen Ende des Flurs, die sich langsam den beiden näherte. Eine Frau mit zerzaustem dunklem Haar trat auf sie zu. Sie musterte das Paar mit amüsiertem Grinsen.
Eva starrte verdattert auf die Zahnlücke zwischen ihren Vorderzähnen. »Was machst du denn noch hier?« Sie bemerkte Milans fragenden Blick. »Das ist Danka, meine … äh … Putze. Sorry, ich hatte keine Ahnung, dass sie noch da ist.«
Milan zog verlegen sein Hemd zurecht.
»Putze um diese Zeit oft hier. Chefin immer spät zurück«, radebrechte Danka mit stoischer Miene. Sie hängte sich eine große, ausgebeulte Sporttasche um, zog den Reißverschluss ihres verschlissenen dunkelgrünen Jogginganzugs bis unters Kinn hoch und ging an den beiden vorbei zur Tür. Eva und Milan machten ihr Platz.
»Kannst du bitte nächstens kurz Bescheid sagen, SMS oder so«, murmelte Eva im Versuch, wenigstens einen Teil ihrer Würde zurückzuerobern.
Danka nickte gleichmütig. Wenigstens sprach sie nun wieder normal. »Kann ich machen. Übrigens lag kein Umschlag in der Küche.«
Eva warf einen kurzen Blick rüber zu Milan. »Ach ja, sorry. Ich wollte noch zum Automaten, aber dann …«
»Kein Ding. Zahlst du halt nächste Woche.« Danka wollte zur Tür.
Milan griff in seine Hosentasche. »Augenblick. Was schuldet sie dir?«
»Drei Stunden, dreißig Euro.«
Er nickte beeindruckt. »Guter Preis.«
Sie zuckte die Achseln. »Standard.«
Er reichte Danka zwei Zwanziger. »Stimmt so. Kroatin?«
Danka musterte ihn prüfend. Sie nickte, holte einen vorgefertigten Zettel mit ihrer Nummer aus ihrem Geldbeutel, in dem sie die Scheine verstaute – »Falls du Putze brauchst« –, gab ihn Milan und zog die Tür hinter sich zu.
Eva atmete auf. »Tut mir echt leid. Das war unromantisch.«
Milan hängte seine Jacke ordentlich an einen Haken, schlurfte rüber ins Wohnzimmer und ließ sich erschöpft auf die Couch fallen. »Ist sie gut?«
Eva setzte sich neben ihn und fing an, seinen Hals mit Küssen zu bedecken. Er schloss genießerisch die Augen.
»Mhm. Sehr gut. Wenn man auf klare Ansagen steht …«
Milan schüttelte energisch den Kopf. »Tu ich aber nicht. Ich hab’s lieber sanft.« Zärtlich nahm er Evas Gesicht in beide Hände und küsste sie.
2
Spermaflecken lassen sich – wie auch alle anderen Eiweißflecken – hervorragend mit handelsüblichem Glasreiniger entfernen.
Der Radiowecker sprang an, und eine schrille Stimme verkündete die attraktiven Serviceangebote einer mobilen Autoscheibenfirma. Eva knurrte unwillig, wälzte sich aus dem Bett und zog ein herumliegendes langes T-Shirt und, nach einiger Suche unter der Bettdecke, das zusammengeknüllte Höschen vom Vortag an. Sie warf einen Blick auf Milan, der die Decke auf seiner Seite komplett weggestrampelt hatte und wie ein riesiger nackter Lurch auf dem Bauch liegend vor sich hin schnarchte. Nicht wirklich verlockend, so bei Tageslicht besehen. Aber vielleicht lag es auch an ihrem Kater.
»Warum ist der Typ eigentlich immer noch da?«, murmelte sie vor sich hin, während sie in die Küche schlurfte. Sie prüfte die Kaffeemaschine und entdeckte schließlich in der Thermoskanne noch Kaffee vom Vortag, den sie in einen großen Becher leerte. Schwarzer, kalter Filterkaffee, dafür ließ sie jede Latte macchiato stehen.
Gähnend stellte sie sich ans Fenster und blickte in den Frühlingsregen, der draußen herunterpladderte. Sie bemerkte nicht, dass Milan hinter ihr den Raum betreten hatte. Er angelte einen rosa Topflappen in Form eines Schweinchens vom Haken, zog ihn über wie eine Handpuppe und schlich hinter ihrem Rücken an sie heran.
»Guten Morgen! Gut geschlafen?«, fragte er mit quiekender Stimme, während er mit dem Schweinchenhandschuh vor ihrem Gesicht herumfuchtelte.
Eva rollte mit den Augen und verscheuchte das sprechende Schweinchen wie eine lästige Stubenfliege. Auf vertrauensseliges Geschäker hatte sie gerade überhaupt keine Lust. »Morgen«, raunzte sie und nippte mit gerunzelter Stirn an ihrem kalten Kaffee.
Doch Milan ließ sich von ihrer Patzigkeit nicht beeindrucken. Vermutlich verschleierte der Restalkohol seine Wahrnehmung. Er wirkte geradezu glücklich. Verträumt summte er vor sich hin, entdeckte die Kaffeekanne und stellte mit einem Naserümpfen fest, dass der Inhalt nicht seinen Vorstellungen entsprach. Er kippte die kalte Brühe trällernd in den Ausguss, setzte frischen Kaffee auf (woher wusste er, wo sie die Filter aufbewahrte?), befühlte fachmännisch das Stoffkabel des Original-Sechzigerjahre-Toasters und blickte sich neugierig im ganzen Raum um, wie ein frisch geschlüpftes Küken, das die Welt entdeckt. Offenbar reichte ihm der Anblick der Küche nicht, denn schon kurz darauf marschierte er schnurstracks ins Wohnzimmer hinüber. Eva, die ihn dort keineswegs allein zu lassen gedachte, folgte ihm misstrauisch.
»Schön, dass ich deine Hütte endlich mal zu Gesicht kriege. Ich dachte schon, wir enden niemals bei dir.« Milan durchmaß den großzügigen Raum mit den hohen Stuckdecken und fuhr mit einer Hand fachkundig über die sorgfältig geölte Platte des Teakholz-Esstischs. »Gefällt mir. Du hast Stil. Ich mag diese Siebzigerjahre-Sachen, und für eine Frau steht bei dir angenehm wenig Schnickschnack herum, keine Aromakerzen und so’n Quatsch.« Er sah sie an, offenbar erwartete er einen Kommentar.
Eva aber fiel es schwer, sich auf seine Analyse zu konzentrieren, denn soeben hatte sie hinter seinem Rücken ein paar noch nicht ausgepackte Einkäufe aus diversen Edelboutiquen erspäht, die irgendwie dort in Vergessenheit geraten waren. Unauffällig bewegte sie sich in diese Richtung und schob die Tüten mit einem Fuß hinter die Tür. Von ihren kleinen Kaufrauschattacken brauchte Milan nichts zu wissen. Das war Privatsache.
Wie überhaupt ihre ganze Wohnung, wenn sie es bedachte. Eva warf einen ungeduldigen Blick auf die Uhr und beobachtete zunehmend besorgt, wie ihr Bettgefährte in aller Seelenruhe ein gerahmtes Foto von ihr und Sybille in die Hand nahm, ein Bild aus der Zeit vor Heiko und Finn, auf dem sie in Hippiehängerkleidchen und mit riesigen Sonnenbrillen vor ein paar windzerzausten Palmen posierten.
»Schön. Thailand?«
Evas Schultern verspannten sich. Sie wollte gerade etwas wenig Freundliches entgegnen, als ihr das penetrante Gedudel des Festnetztelefons die Aufgabe abnahm. Gleich nach dem zweiten Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. Die kratzige Stimme einer älteren Frau mit starkem bayerischem Tonfall räusperte sich gehaltvoll, bevor sie zu sprechen begann. »Hallo, Everl … I wollt bloß fragen, ob’s dir auch gut geht. Kannst dich ja auch amal melden bei mir, ich hab schon so lang nix mehr g’hört …«
Evas Augen weiteten sich vor Schreck. Mit einem Satz war sie beim Telefon und stellte den AB ab. Ein breites Grinsen teilte Milans unrasiertes Gesicht in zwei Hälften. Er hob zu einer Bemerkung an, doch Evas kalter Blick ließ ihn diese schleunigst wieder herunterschlucken.
»Ich geh jetzt mal duschen«, informierte sie ihn. »Hab dann gleich einen Termin.« Das letzte Wort betonte sie so, dass Milan ihrer Meinung nach nicht die geringste Wahl blieb, als sich blitzartig in seine Kleider zu werfen und aus ihrer Wohnung zu verziehen.
Während der XL-Regenbrause-Duschkopf, ein Glücksgriff aus einer Wohnungsauflösung, breitflächig eiskaltes Wasser auf ihren schmerzenden Kopf und in ihren geöffneten Mund prasseln ließ, fragte sich Eva, was zum Teufel sie geritten hatte, Milan überhaupt mit nach Hause zu nehmen. Sie wollte keine Affären. Von einer Beziehung ganz zu schweigen. Daraus entstanden nur peinliche Abhängigkeiten. Alles, was sie brauchte, hatte sie bereits: eine schöne Wohnung, einen guten Job (auch wenn es in letzter Zeit nicht mehr ganz so rosig aussah), einen guten Klamottengeschmack. Keine Rettungsringe um die Hüften. Freunde. Na ja, nicht gerade viele enge Freunde, aber genau die Art Freunde, die sie sich immer gewünscht hatte. Sie teilte nicht die Ansicht einiger Leute, dass Freundschaft darin bestand, dass man alles voneinander wusste. Man musste auch nicht ständig tiefschürfende Gespräche führen. Vielmehr ging es doch darum, eine gute Zeit miteinander zu haben und dieselben Dinge gut oder peinlich zu finden. Und dasselbe galt für Affären. Klar war gelegentlicher Sex angenehm, aber die automatische Nähe, die allzu oft damit einherging, dieses distanzlose Herumgeschnüffel in ihrem Privatleben … Brrr. Ein Schauer überlief sie. Eva schüttelte sich, dass das Wasser nur so aus ihren Haaren spritzte. Sie stellte die Dusche auf warm und drückte sich aus einem der drei verschiedenen Paul-Mitchell-Fläschchen etwas azurblau schimmerndes Shampoo in die Hand.
Jeder hatte doch ein paar Dinge, die er nicht an die große Glocke hängen wollte. Nicht unbedingt deshalb, weil es sich um Tabus handelte, sondern eher, weil sie dich in ein anderes Licht stellten, eines, das nicht zu dir passte und das deinen persönlichen Stil zerstörte wie ein Paar alter Birkenstocklatschen. Missbilligend begutachtete sie den an einigen Stellen abblätternden Nagellack auf ihren Zehen. Dann eben keine offenen Schuhe heute. Das Wetter war eh nicht danach.
Als Eva mit feuchten Haaren, dezent geschminkt und im lässig geschnittenen Businesskostümchen eines skandinavischen Designers wieder ins Wohnzimmer trat, hatte Milan sich noch immer nicht angezogen. Stattdessen saß er in seinen peinlichen, Snoopy in verschiedenen Lebenslagen darstellenden Boxershorts brezelbreit auf der Couch und blätterte interessiert in einer der Broschüren, die Eva betextet hatte.
Was fiel dem Typen eigentlich ein? Unwirsch nahm sie ihm das Heft aus der Hand und hielt ihm sein zerknülltes Hemd und seine Jeans unter die Nase, die bei den Exzessen der Nacht irgendwo auf dem mattierten Dielenboden gelandet waren. »Wollen wir? Ich muss jetzt echt …«
Milan lächelte zu ihr hoch, sah ihren erstarrten Blick und schlüpfte umgehend in seine Sachen.
Kurz darauf schob Eva ihn eilig in den Flur hinaus. Er konnte gerade noch nach seiner Jacke und den Sneakers greifen, da stand er schon im Treppenhaus. Während er verwirrt grübelte, was er falsch gemacht haben könnte, hatte Eva schon die Tür zu ihrer Wohnung abgeschlossen und sprang an ihm vorbei in großen Sätzen die Treppe hinunter. »Ciao!«
»Wir telefonieren!«, rief Milan ihr nach. Keine Antwort. Seufzend hockte er sich auf die Treppe und zog seine Turnschuhe an.
Unten angekommen atmete Eva, die vor lauter Eifer, sich abzuseilen, immer zwei Stufen auf einmal genommen hatte, kurz durch, ging an den Briefkästen vorbei und bemerkte, dass aus ihrem Kasten die Post schon herausquoll. Ohne einen Blick darauf zu werfen, stopfte sie die Umschläge so tief in den Kasten, bis nichts mehr zu sehen war.
Sie wollte gerade das Haus verlassen, als sie plötzlich innehielt und überlegte. Blöd. Es gab da noch ein kleines Problem …
Kurz entschlossen lief sie die Treppe wieder hoch bis zu ihrem Stockwerk, wo sich der vom vorabendlichen Exzess und der schnöden Behandlung halb betäubte Milan nach wie vor mit seinen Schnürsenkeln abmühte. Als er aufblickte, erwartete ihn zu seinem Erstaunen ein strahlendes Lächeln. Erleichtert lächelte er zurück. Offenbar war Eva doch noch bewusst geworden, wie großartig ihre gemeinsame Nacht gewesen war, und nun wollte sie sich seiner Sympathien vergewissern und ihm noch etwas Schönes auf den Weg mitgeben. Erwartungsvoll blickte er sie an.
»Leihst du mir fünfzig Euro?«
3
Für die Entfernung des Algenfilms auf Aquariumscheiben aus Acrylglas eignet sich am besten eine alte, abgelaufene EC- oder Kreditkarte.
Der Molch und Eva starrten einander an. Schwer zu sagen, wessen Blick den des anderen hypnotischer und unbarmherziger auf sich zog. Seit vierunddreißig Minuten wartete sie nun schon im Büro des Art Directors von ThinkBig. Die ersten zehn Minuten hatte sie damit zugebracht, sich Ausreden für Milan zu überlegen, der, nachdem er ihr seine gesamte Barschaft überlassen hatte, einen konkreten Termin für ein »amtliches Date mit Essen und allem« haben wollte. Eva verspürte wenig Lust, ihrer beider ohnehin schon irritierende Intimität weiter zu vergrößern.
Anschließend hatte sie etwa sieben Minuten lang die kunstvolle Einrichtung, bestehend aus Gießbeton, hellem Holz, Glasbausteinen und einem stilisierten Wäldchen aus echten Birkenstämmen, angestarrt und überlegt, ob sie noch mal rausgehen und die Empfangsdame um einen schwarzen Kaffee ohne Milchschaum bitten sollte, sich aber schließlich dagegen entschieden, da die Dame schon vorher etwas genervt reagiert hatte, weil sie ihre private Skype-Konferenz extra wegen Eva unterbrechen musste. Eva wiederum, die diesen Job dringend brauchte, wollte in keiner Weise negativ auffallen und hatte darum der Empfangsdame trotz deren geradezu unverschämten Verhaltens ihr allerschönstes Lächeln geschenkt und ihr sogar ein Kompliment zur neuen Cornrows-Frisur gemacht.
Sofern man »muss ja ganz schön geziept haben« als Kompliment bezeichnete.
Die verbliebende Wartezeit hatte sie besagtem Molch gewidmet, dem vermutlich ähnlich langweilig war wie ihr und mit dem sie sich deshalb ein potenziell tödliches Blickduell auf Augenhöhe lieferte. »ICH lache nicht zuerst, das kannst du vergessen, du schleimiges Mistvieh«, gab Eva dem Glibbertier ihre Überlegenheit zu verstehen. »Du hast keine Chance. Isch mach disch Krankenhaus.« Sie bemerkte nicht, dass Sascha, der Art Director, den Raum längst betreten hatte und den Zweikampf stumm beobachtete.
»Soll ich euch beiden ein Zimmer besorgen?«, durchbrach sein gelangweilter Singsang die Kriegshandlungen.
Eva schrak hoch und riss die Mundwinkel nach oben. »Der Kleine ist voll süß! Wo hast du den denn her?«
Sascha nahm auf seinem mit Kuhfell bezogenen Drehsessel Platz und streute mit beinahe zärtlichem Lächeln etwas Trockenfutter ins Aquarium. Das Tier paddelte an die Oberfläche, formte das Maul zu einem O und sog mit gierigen Zügen das nahrhafte Fischmüsli ein. »Südostasien. Man muss tierisch aufpassen mit der Wassertemperatur. Wenn man da drin« – er deutete auf das Aquarium – »einen vorzeitigen Klimawandel auslöst, schwimmt er zwei Tage später mit dem Bauch nach oben.«
Eva nickte beeindruckt.
»Zu unseren Klobürsten«, lenkte Sascha elegant zum beruflichen Teil des Gesprächs über. »Die Spacken haben uns auf halber Strecke den Etat gekürzt. Heißt de facto: mehr Arbeit für die Hälfte der Flocken.« Eva starrte ihn ungläubig an. Saschas weiches, leicht aufgedunsenes Gesicht, das in krassem Widerspruch zu seinem jugendlichen Haarschnitt mit schiefem Pony stand, verschwamm zu einem bedauernden Lächeln. »Ich weiß, du hast schon längst angefangen und fühlst dich jetzt verarscht. Die Sache betrifft nicht nur die Grafik, Eva. Die anderen springen auch im Karree. Bei der momentanen Lage können wir es aber nicht riskieren, groß zu verhandeln, sonst geht die ganze Kampagne doch noch an Hamburg. Die sind einfach besser aufgestellt und können es sich leisten, die Preise zu verderben. Noch«, verzog er das Gesicht zu einem gehässigen Grinsen.
Eva schluckte. Sie hatte das Geld doch längst verplant. Eigentlich wären zwei Drittel davon schon für die dringendsten Schulden draufgegangen. Rasend schnell scannte sie im Kopf die Liste ihrer Gläubiger ab. Wer würde wie auf eine weitere Verzögerung reagieren?
Saschas Smartphone unterbrach ihre Erwägungen mit der Titelmelodie von Flipper. Er warf einen Blick auf das Display und lächelte entschuldigend. »Sorry, Süße, aber ich muss wieder. Wie sieht’s aus, bist du drin oder draußen?«
Eva brauchte einen Moment, bis sie begriff, was er meinte. »Drin«, beteuerte sie eilig. »Ganz klar drin, logo. Ich setz mich sofort wieder ran.«
»Das freut mich. Du weißt, für mich bist du die Idealbesetzung.« Sascha machte einen Kussmund und reckte den Daumen in die Höhe, bevor er am Telefon seinen Gesprächspartner begrüßte und sich wegdrehte.
Eva warf noch einen letzten Blick auf das Aquarium, doch der Molch war verschwunden. Vermutlich hockte er in seiner Miniaturgrotte und machte ein ordentliches Bäuerchen. Wart’s ab. Deine fetten Jahre sind auch bald vorbei, dachte sie, während sie folgsam aufstand und das Büro verließ.
Der Bankangestellte hatte ein unschuldiges Kindergesicht mit großen, runden, wimpernlosen Augen. Eva musterte skeptisch den blonden Flaum auf seiner leicht schwitzenden Oberlippe und fragte sich, warum Menschen in diesem Alter überhaupt schon richtige Berufe ausüben durften. Und dann auch noch solche, die das Leben unschuldiger Menschen nachhaltig beeinflussen konnten.
Ihr prüfender Blick machte den jungen Mann noch nervöser, als er sowieso schon war; geräuschvoll zog er die Nase hoch und blätterte fahrig durch seine Unterlagen. Eva versuchte, Respekt in ihre Stimme zu legen, um ihn spüren zu lassen, dass sie ihn ernst nahm und keineswegs vor ihrem inneren Auge mit Eimer und Schaufel in der Sandkiste visionierte.
»Dieser Flug nach Sidney kam total unerwartet. Und es geht ja auch nur um ein, zwei Tausender. Maximal drei.«
Der Flaumknabe war anscheinend wirklich harmlos. Es gelang ihm nicht, ihr direkt in die Augen zu sehen; stattdessen starrte er bedauernd die Tischplatte an und sprach mit gedämpfter Stimme. »Ich fürchte, wir können Ihren Dispokredit derzeit wirklich nicht erhöhen, Frau Brandauer.«
»Verstehe ich nicht. Auf dem Konto ist doch jede Menge Bewegung! Erst letzte Woche müssten zweitausend Euro eingegangen sein.«
»Ja, schon. Die kamen aber von Ihrem anderen Konto.«
Eva setzte ihr strahlendstes Lächeln auf.
»Aber heutzutage muss man doch flexibel bleiben.«
Ein älterer und sehr viel souveräner wirkender Kollege ihres Gegenübers hatte die letzten Worte mitbekommen und trat zu ihnen. Er begrüßte Eva mit einem perfekt verbindlichen Lächeln und bedeutete dem Jungen mit einem Kopfnicken, dass er übernehmen würde. Scheiße, dachte Eva. Fast hätte sie ihn so weit gehabt. Ihr neuer Ansprechpartner strich sich über die Halbglatze und nahm ihr gegenüber Platz. »Espresso? Latte macchiato?«
Eva schüttelte den Kopf.
»Lassen Sie mich offen sprechen, Frau Brandauer. Wir können uns selbstverständlich auch täuschen, aber bei uns ist der Eindruck entstanden, dass Sie seit Längerem Geld zwischen Ihren Konten bei zwei verschiedenen Instituten hin- und herschieben, um Ihren jeweiligen Dispokredit zu erhöhen. Und wenn er dann erhöht wurde, überweisen Sie den Betrag wieder zurück.«
»Was ich mit meinem Geld mache, braucht Sie doch nicht zu stören, solange welches da ist.«
»Das ist ja das Problem. Sie haben faktisch kein Geld. Es sind virtuelle Beträge, mit denen Sie hier agieren.«
»Na und? Das machen Banken doch auch ständig – oder haben Sie etwa den Keller voller Goldbarren?«, raunte Eva vertraulich und setzte dabei ein charmantes Lächeln auf, damit er nicht auf die Idee kam, sie wolle ihn auf die Schippe nehmen.
Der Banker beugte sich vor und senkte ebenfalls die Stimme. »Hören Sie. Es gibt viele, denen es jetzt in der Krise so geht wie Ihnen. Man ist einen bestimmten Lebensstil gewohnt und hat es nicht geschafft, sich rechtzeitig umzuorientieren. Aber dafür gibt es Beratungsstellen. Ich rate Ihnen, gehen Sie lieber auf Nummer sicher, bevor das Kartenhaus zusammenbricht.«
Kartenhaus?! Eva merkte, dass sie den aufsteigenden Ärger nicht länger unterdrücken konnte. Sie brauchte sich von dieser Heuschrecke für Arme nicht erzählen lassen, wie sie ihr Leben gestalten sollte. »Und ich rate Ihnen, bei der Seelsorge anzufangen. Erhöhen Sie mir jetzt den Dispo oder nicht?«
Das Gesicht des Mannes verhärtete sich. »Ich bedaure. Von unserer Seite können wir derzeit nichts für Sie tun.«
Wütend und gedemütigt marschierte Eva aus der Bank. Auf dem Vorplatz blieb sie unschlüssig stehen und kaute an den Nägeln. Die gerade gehörten Worte tanzten wie Schlaglichter durch ihren Kopf und ließen sich nicht abschütteln. Um sich abzureagieren, ging sie im Geiste ihre Optionen durch. Sollte sie wieder reingehen und den Laden ausrauben, gleich ganz in die Luft jagen oder lediglich dieser unverschämten Halbglatze gründlich die Fresse polieren? Nachdem sie all diese Szenarien einmal innerlich durchgespielt hatte, verwarf sie sie als unkonstruktiv, zog ihr Handy aus der Handtasche und wählte Sybilles Nummer. »Ich bin’s. Lust auf Spontanshoppen?«
Sybille stand vor dem Spiegel und zerrte an dem mit Silberfäden durchwirkten ärmellosen Kleid herum, das sie gerade anprobierte. Sie warf einen unzufriedenen Blick auf das Preisschild: »einhundertneunundfünfzig Euro für ein halbes Dutzend brandneuer Problemzonen. Nee, danke.«
Eva trat in einer neuen Bluse aus der Umkleide. »Lass mal sehen. Nee, geht wirklich gar nicht.«
Mit einem seltsam nostalgischen Gefühl sah Eva Sybille dabei zu, wie sie das halbe Ladensortiment durchprobierte und dabei an ihrer vermeintlichen Speckrolle herumkniff, als könne sie sie durch eine ordentliche Massage verschwinden lassen. Shoppen gehen mit Sybille war schön. Dabei verband sie ein Gefühl der Gemeinsamkeit, das sich sonst immer seltener zwischen ihnen einstellte. Zwar kannte man sich schon ewig, seit dem ersten Studienjahr, wo man im eiskalten, verqualmten Raucherzimmer der Mensa über die öden Pflichtvorlesungen gestöhnt hatte. Doch Sybille war schon damals klar gewesen, dass sie später nicht arbeiten würde. Das abgeschlossene Studium war nur eine Art Accessoire, das man sich als moderne Hausfrau ans Revers heften konnte, um nicht als verblödet zu gelten. Gemeinsam hatten sie sich ins Nachtleben geschmissen, mehrmals am Tag ausführlich telefoniert, jeden kleinsten Vorfall in ihrem Leben, ob mit Männern, beruflich oder was auch immer, bis ins mikroskopischste Detail hinein diskutiert. Wir wissen alles voneinander, dachte Eva gerührt. Na ja, bis auf das, was keiner von ihr wusste. Diese paar Details hatte sie stets sorgsam ausgespart, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Aber die wichtigen Dinge waren alle ausführlich besprochen worden.
Allerdings war das letzte ausführliche Gespräch nun auch schon wieder eine ganze Weile her. Durch ihre verschiedenen Lebenswege, die Geburt von Sybilles Sohn und Evas berufliche Entwicklung, die Sybille nicht wirklich nachvollziehen konnte, hatten sich die Anrufe im Lauf der Jahre von dreimal täglich auf einen bis zwei pro Woche reduziert. Und dann ging es auch eher darum, wo man sich abends treffen könnte, denn Sybille bestand auf ihrem wöchentlichen Ausgehtag, um den Anschluss nicht zu verlieren. Dafür trug sie beinahe jede Woche ein komplett neues Outfit und verbrachte viel Zeit mit ihrem Make-up. »Zu Hause sieht mich ja keiner mehr«, begründete sie diese Anstrengungen. Nur heute wollte sich einfach nichts Passendes für sie finden. »Nur einen Tag möchte ich deine Figur haben«, jammerte sie und zerrte an ihrem Hüftgold.
Eva war schon wieder in der Kabine verschwunden. »Ein einsfünfundsechzig kurzes Bügelbrett? Wenn du meinst …« Sie kam mit einem Stapel Klamotten über dem Arm heraus und ging in Richtung Kasse.
Sybille guckte beeindruckt. »Das alles nimmst du? Dann ist der neue Job wohl doch lukrativer, als gedacht!«
Eva reckte stolz den Nacken. »Nenn mich Königin der Klobürsten.«
Sybille neigte demütig das Haupt. »Eure Majestät … Zur Kasse geht’s übrigens da lang.«
Während Sybille ihren silbernen Hybridwagen zu Evas Wohnung lenkte – der Rücksitz war mit Tüten vollgestopft –, lehnte Eva sich erleichtert in den Beifahrersitz zurück. »Danke, dass du mitgekommen bist. Ich hab das echt gebraucht.« Sie schaltete ihr Handy ein, das sie während des Shoppingtrips abgestellt hatte. Kaum war es hochgefahren, begann es wie verrückt zu piepen, und eine Nachricht nach der anderen trudelte ein. »Was ist denn da los?«
»Bestimmt Milan«, grinste Sybille und hielt an einer Ampel. »Der will mehr, und das weißt du. Aber du gibst guten Typen ja nie eine Chance.«
Eva, die gerade ihre Nachrichten checken wollte, hielt überrascht inne. »Milan, ein guter Typ? Findest du? Seit wann genehmigst du Männer, die keinen Bausparvertrag besitzen und mindestens einmal in ihrem Leben an einem Joint gezogen haben? Vermutlich sogar mit Inhalieren!«
»Seit ich weiß, was er wert ist. Immerhin war er mit seiner Softwarefirma neulich in der Brand eins unter den vielversprechendsten Münchner Newcomern. Heiko würde sich dafür den linken Arm abhacken«, fügte sie verschwörerisch hinzu.
Eva zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Aber Milan hat so was Klettiges. Da fühl ich mich eingeengt. Meine Unabhängigkeit ist mir nun mal wichtig.«
Sybille nickte. »Ich weiß. Schade. Ich finde ihn ehrlich gesagt ziemlich hot.«
»Na, dann schnapp du ihn dir doch, so als Toyboy für zwischendurch«, grinste Eva. »Dein Workaholic zu Hause kriegt das eh nicht mit.« Ihr Handy klingelte erneut. Diesmal ging sie ran. Im selben Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Martinshorn, und sie konnte nichts verstehen. Genervt hielt sie sich das andere Ohr zu. »Was?! Worum geht es? Hier ist es dermaßen laut, ich verstehe Sie nicht …«
Sybille hielt vor Evas Wohnhaus. Mit einem Mal war beiden klar, worum es ging.
4
Brandflecken auf der Tischplatte lassen sich, sofern sie nicht zu tief sind, gut entfernen: Die Schnittfläche einer halbierten rohen Kartoffel in Asche tunken und den Fleck damit sanft »wegschleifen«.
Aus Evas Mund drang ein klägliches Fiepen.
Vor ihrem Haus standen zwei Feuerwehrwagen und mehrere Polizeiautos. Der Gehweg war übersät mit verkohlten Möbelstücken, Teppichen, Büchern und anderem Hausrat. Eine Menschenmenge hatte sich auf dem Vorplatz versammelt und starrte mit einem kollektiven Blick der Neugier und Panik nach oben, wo die Leiter der Feuerwehrleute an einem Balkon endete. Aus der dazugehörigen Balkontür drangen dunkle, fette Rauchschwaden und zerfaserten über der Straße zu seltsamen Traumgebilden.
Eva sah eine ganze Weile wortlos zu. Dann stieg sie langsam aus dem Auto, schob sich wie in Trance durch die Menge und betrachtete die herumliegenden Sachen. Unter einem tropfnassen, halb verkohlten Bettvorleger lugte etwas Rosafarbenes hervor. Sie bückte sich und zog daran: ein Topfhandschuh in Schweinchenform. Anklagend hielt sie ihn dem nächststehenden Feuerwehrmann entgegen.
Das pausbäckige Gesicht des Mannes war vor Hitze hochrot. Er musterte Eva prüfend. »Ist das Ihr Balkon da oben?«
Eva nickte mechanisch. Binnen Sekunden hatte sich die gesamte Menschenmenge kreisförmig um sie herum aufgebaut und rückte bedrohlich näher, wie langsam enger werdende Wände in einem billigen Horrorfilm. Alle sprachen gleichzeitig auf sie ein. Vor Evas Augen verschwammen bekannte und unbekannte Gesichter und die dazugehörigen Stimmen.
»Meine Frau hat eine Rauchvergiftung! Sie musste Ihretwegen ins Krankenhaus!«, »Das ist sie! Die Kleine da vorne!«, »Ja, was is denn da los? Derf ma da amal durch?«
Eine krähende Altmännerstimme kristallisierte sich heraus. »Ja, sind Sie denn wahnsinnig? Sie hätten uns alle umbringen können!«
Der Physikprofessor, der ihr gegenüber auf demselben Stockwerk wohnte, war außer sich vor gerechtem Zorn. Eva starrte ihm nur blöde ins Gesicht. Sybille packte ihren Arm und versuchte, sie von dem wütenden Mob wegzuziehen. Eva wehrte sich gegen ihren Griff, sie wollte gerade überhaupt nicht, dass man an ihr zog und zerrte. Stattdessen zupfte sie den Feuerwehrmann am Ärmel.
»Kann ich jetzt bitte in meine Wohnung?«
Der Mann blickte auf sie herab und setzte ein falsches Lächeln auf. »Aber gerne. Das Feuer löschen wir dann später.«
Sybille griff wieder nach ihrem Arm, diesmal dringlicher. »Komm, Eva, wir reden erst mal mit der Polizei.«
Eva schüttelte Sybilles Hand ab wie eine giftige Spinne, aber sie fügte sich. Polizei also. Von denen hatte sie noch nie viel gehalten.
Die Polizistin und ihr Kollege wirkten genauso jung wie der Bankangestellte. Beide trugen ihr Haar in einem unordentlichen Pferdeschwanz. Eva überlegte, ob man als Mann bei der Polizei für lange Haare wohl eine Sondergenehmigung brauchte, während sie zusah, wie er das Protokoll niederschrieb. Vielleicht mussten sie ja diese Duschhauben aufsetzen, wenn sie einen Tatort untersuchten, damit keine Haare reinfielen. Aber solche Dinge machten ja sowieso andere, besser ausgebildete Polizisten.
Die Beamtin war einen Kopf größer als Eva und blickte streng auf sie hinunter. »Sie haben Ihren Toaster also nicht ausgesteckt, bevor Sie die Wohnung verlassen haben.«
Eva schüttelte den Kopf und sah zu ihr hoch. »Natürlich nicht. Ist noch nie was passiert. Stecken Sie Ihren Toaster aus, wenn Sie aus der Wohnung gehen?«
Anstatt zu antworten, kritzelte die Polizistin irgendetwas in ihren Block. Der Seufzer, den sie dabei ausstieß, troff geradezu vor Erfahrung.
Quatsch. Quatsch, quatsch, quatsch. Das Geräusch, das die Sohlen von Evas teuren Sneakers in der braunen Brühe machten, die den gesamten Dielenboden ihrer fünfundsiebzig Quadratmeter bedeckte, erinnerte Eva an diese schwarz-weißen deutschen Krimiserien der Sechzigerjahre: Die Leiche im Moor. Suchen Sie da drüben, Moser. Sie muss hier irgendwo sein. Mach ich, Chef. Quatsch, quatsch, quatsch. Da drüben ist etwas, Chef!
Evas persönlicher Suchtrupp im Sumpf ihres Lebens bestand aus ihr selbst, dem pausbäckigen Feuerwehrmann mit dem unangenehmen Humor, dem Wohnungseigentümer Herrn Wohlkind, einem massigen Mann mit riesigen, haarigen Pranken, Sybille und – uneingeladen – der himmelfahrtsnasigen Hausmeisterin Frau Donhauser, die überall hinterherdackelte und ihre Meinung zum Besten gab. Eva nannte sie in Gedanken nur »Else Kling«, obwohl die Donhauser höchstens halb so alt war wie das berüchtigte Klatschmonster aus der »Lindenstraße« und viel mehr Zeit auf ihr Äußeres verwandte als diese. Dafür war sie mindestens doppelt so gehässig. »Die Miete hat die bestimmt schon mindestens zwei Monate nicht mehr gezahlt«, informierte sie gerade den Feuerwehrmann über Evas Gewohnheiten.
Eva schenkte ihr weiter keine Beachtung. Momentan hatte sie andere Probleme. Wie benebelt wanderte sie durch ihre völlig zerstörten Zimmer. Wohin sie auch blickte, es sah nicht gut aus: Tiefschwarze Wände bis unter die Stuckdecken, der Boden übersät mit den verschmorten Überresten ihrer Einrichtung, die noch nicht nach draußen geschafft worden waren. Sogar die Chromarmaturen im Bad waren zum Teil verbogen, so groß war die Hitzeentfaltung gewesen. Auf dem Sims unter dem kohlschwarzen Badezimmerspiegel standen noch ganz unberührt ihre sündhaft teuren Cremetöpfchen und Wässerchen von La Prairie. Das edle Plastik samt Inhalt war mit dem Sims zu einem einzigen klumpigen Brei verschmolzen und wirkte wie eine konsumkritische Installation.
Einem plötzlichen Einfall folgend, lief Eva hinüber ins Wohnzimmer zu ihrem Schreibtisch. Das massive Möbelstück war noch einigermaßen erhalten, und Evas nagelneuer Laptop einer bekannten Obstsorte stand ordentlich obendrauf, als wäre nichts geschehen. Die schmale, metallene Hülle war nur leicht angekokelt. Voller Hoffnung versuchte sie, ihn aufzuklappen, doch Ober- und Unterseite waren zu einem kompakten, mattsilbernen Klumpen zusammengeschmolzen. Das Scheißteil war noch nicht mal annähernd abbezahlt, dachte Eva und zerrte am Deckel, bevor sie das Ding hinschmiss und zum ersten Mal an diesem Tag in Tränen ausbrach. »Meine ganze Arbeit steckt da drin, alles. Ohne den kann ich doch nicht weitermachen«, jaulte sie laut auf, während der Rest des Trupps ihr halb erschrocken, halb peinlich berührt zusah.
»Jetzt regen Sie sich doch nicht so auf, Madl. Sie kaufen sich halt einfach einen neuen«, tröstete Wohlkind, der soeben das Wohnzimmer betrat und die Szene mit einem wissenden Blick abschätzte. »Als Freiberufler kann man das doch alles absetzen.«
Eva starrte zu dem fleischigen Mann hinüber, der im dunklen Türrahmen lauerte wie ein rosiger Zerberus vor dem Höllentor. Mühsam gewann sie die Fassung wieder, wischte sich die Tränen weg und nickte mechanisch. »Ja, stimmt. Klar. Kein Problem.« Jetzt war sowieso schon alles egal. Sie starrte zu Boden und hob ein kleines Porzellankätzchen auf, das zufällig heil geblieben war. Geistesabwesend wischte sie den feuchten Ruß ab und steckte das Tierchen in die Jackentasche. »Weihnachtsgeschenk von meiner Mutter«, erläuterte sie der Hausmeisterin überflüssigerweise. Dann fiel ihr Blick unter den Schreibtisch, wo unter einem Haufen verbrannter Papiere die weinrote Hülle ihres Reisepasses hervorlugte. Als sie ihn hochheben wollte, klebte er am Boden fest. Aus dem Aschehaufen blickte ihr ihr eingeschmolzenes, milde lächelndes Ebenbild entgegen.
Eine Stunde später hockte Eva vor dem Haus auf dem Gehsteig. Der Brand war längst gelöscht, Feuerwehr und Polizei verschwunden, auch die Menschenmenge hatte sich in alle Winde zerstreut, bis auf ein paar halbwüchsige Türkenjungs, die jedoch immer an dieser Ecke herumhingen. Bevor er ging, hatte der Hauseigentümer Eva noch zu einer Wohnungsbegehung mit seiner Versicherung gebeten. Eva hatte den Termin folgsam wie ein Schäfchen in ihr Handy eingetippt und auch keinerlei Widerstand geleistet, als Sybille ihr anbot, die ersten Nächte doch bei ihr zu verbringen.