Der Terror ist unter uns - Peter R. Neumann - E-Book

Der Terror ist unter uns E-Book

Peter R. Neumann

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Beschreibung

In Belgien explodieren Bomben im Flughafen und an Bahnhöfen. In Paris werden werden Konzertbesucher und Restaurantgänger erschossen. In Deutschland brennen Flüchtlingsheime. In sozialen Netzwerken kursieren Hassparolen. Extremisten jeglicher Couleur bedrohen den Frieden in Europa. Peter R. Neumann beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit Terrorismus in all seinen Ausformungen von Separatisten und ethnischen Nationalisten, über Rechts- und Linksextreme bis hin zu Dschihadisten. Das von ihm geleitete International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) setzt sich konkret mit der Frage auseinander, warum sich Menschen radikalisieren. Welche Rolle spielen Herkunft, Ideologie und Umstände? Wie kann Prävention gelingen? Stacheln sich "Neue Dschihadisten" und "Neue Rechte" gegenseitig auf? In seinem fundierten Werk, das auf zwanzig Jahren Forschungsarbeit beruht, erklärt Peter R. Neumann die Gewöhnlichkeit des Terrors. Dabei geht er auf die "hausgemachte" Radikalisierung ein, die speziell in Europa zu einer zentralen gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Herausforderung geworden ist, mit der wir lernen müssen, umzugehen.

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Das Buch

Seit über zwanzig Jahren beschäftigt sich Peter R. Neumann mit Terrorismus in all seinen Ausformungen – von Separatisten und ethnischen Nationalisten über Rechts- und Linksextreme bis hin zu Dschihadisten. Das von ihm geleitete International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) setzt sich konkret mit der Frage auseinander, warum sich Menschen radikalisieren. Welche Rolle spielen Herkunft, Ideologie und Umstände? Wie kann Prävention gelingen? Stacheln sich »Neue Dschihadisten« und »Neue Rechte« gegenseitig auf? In seinem neuen Buch, das auf langjähriger Forschungsarbeit beruht, erklärt Neumann die Gewöhnlichkeit des Terrors. Dabei geht er auf die »hausgemachte« Radikalisierung ein, die speziell in Europa zu einer zentralen gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Herausforderung geworden ist und mit der wir lernen müssen umzugehen.

Der Autor

Peter R. Neumann

Der Terror ist unter uns

Dschihadismus, Radikalisierung und Terrorismus in Europa

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1442-6

© 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Lektorat: Moritz Kienast Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Coverabbildung: © Christof Stache/AFP/Getty Images

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt
Umschlag
Das Buch/Der Autor
Titelseite
Impressum
Einleitung
1 Forschung
Begriffe
Bausteine
Teil 1 Bausteine
2 Frust
Unmut
Frustration
Entfremdung
Limits
3 Drang
Identität
Bedeutung
Abenteuer
Limits
4 Ideen
Ideologie
Frames
Resonanz
Limits
5 Leute
Gegenkulturen
Cliquen
Anführer
Limits
6 Gewalt
Gewöhnung
Repression
Krieg
Limits
Teil 2 Trends
7 Religion
Problem oder problematisch?
Islam
Islamischer Staat
Folgen
8 Internet
Evolution
Virtuelle Gegenkulturen
On- und offline
Folgen
9 Einsame Wölfe
Strategie
Einsam oder allein?
Psychische Gesundheit
Folgen
10 Frauen
Tradition
Utopie
Emanzipation
Folgen
11 Gangster
Proletarisierung
Erlösung
Gefängnis
Folgen
12 Was tun?
Radikalisierung
Prävention
Deradikalisierung
Ursachenbekämpfung
Nachwort
Dank
Anmerkungen
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Für Zora

Einleitung

Mein Interesse an den Themen Radikalisierung und Terrorismus begann im Jahr 1997. Ich war damals 22 Jahre alt und hatte mich entschieden, ein Studienjahr in Nordirland zu verbringen. Dass es dort um Katholiken und Protestanten ging, hatte ich bereits gehört. Auch die Irisch-Republikanische Armee (IRA) war mir ein Begriff. Doch wer genau die Leute waren, die sich dort bekämpften, und – vor allem – warum, davon hatte ich keine Ahnung. Und so verbrachte ich die Monate vor meiner Abreise damit, so viel wie möglich über den Konflikt in Erfahrung zu bringen. Ich las mehrere Einführungen in die irische Geschichte und besorgte mir Aufsätze über Theorien ethnischer Konflikte (für die sich wegen des Kriegs in Jugoslawien damals viele interessierten). Was bei mir den stärksten Eindruck hinterließ, war jedoch keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern die Geschichte der »Shankill-Schlächter«.

Shankill ist ein protestantisches Stadtviertel im Westen von Belfast, das direkt an die katholische Falls Road grenzt. Hier hatte der Konflikt in den späten 1960er Jahren begonnen, und hier war er stets am bittersten. Bis heute steht zwischen den zwei Vierteln eine »Friedensmauer«, die von der Polizei geschlossen wird, wann immer es kracht. Direkt hinter der Mauer befand sich das Elternhaus von Lenny Murphy (1952–1982) – dem Gründer und Chef einer protestantischen Bande, die Mitte der 1970er Jahre zwei Dutzend Katholiken umbrachte.

Was Murphy und die Shankill-Schlächter so bemerkenswert machte, war nicht, dass sie Mitglieder der anderen Konfessionen töteten. Auch die Anzahl der Opfer war im Nordirland der 1970er Jahre nicht außergewöhnlich. Das Schockierende war die Art und Weise, mit der Murphy und seine Männer vorgingen. Immer wieder fuhren sie spät nachts durch katholische Viertel, zerrten ihre Opfer ins Auto und schlugen sie bewusstlos. Anschließend brachte man sie ins Hinterzimmer eines Pubs, quälte sie stundenlang, zog ihnen bei vollem Bewusstsein die Zähne oder hackte ihnen Arme und Beine ab.

Besonders grausam war die Ermordung eines 48-jährigen Katholiken, Tom Madden, die der Journalist Martin Dillon in seinem Buch The Shankill Butchers beschrieb:

Sie bearbeiteten seinen Körper genauso wie ein Bildhauer ein Stück Holz oder einen Stein. Am Rücken und an den Oberschenkeln sah man lange Schnitte. Insgesamt zählte der Pathologe bei der Obduktion 147 Stichwunden (…). Keine davon war tödlich: Madden verlor mehrmals das Bewusstsein und wurde [von seinen Peinigern] jedes Mal wiederbelebt (…). Eine Frau, die in der Nähe lebte, gab an, dass sie gegen vier Uhr morgens einen Mann schreien hörte: »Tötet mich!, tötet mich!«1

Am Ende wurden die Opfer häufig entweder erwürgt, verbluteten – oder Murphy schnitt ihnen mit einem Fleischermesser die Kehle durch. Einmal war er dabei so brutal, dass sich der Kopf vom Körper trennte.2

Ebenso schockierend wie die Brutalität der Täter war die Reaktion der protestantischen Bevölkerung. Als den Schlächtern im Jahr 1979 der Prozess gemacht wurde, beschrieb der Richter ihre Taten als Ausdruck »blinder konfessioneller Engstirnigkeit« und verhängte die bis dahin längsten Haftstrafen in der britischen Kriminalgeschichte. Doch in Shankill gab es viele, die das Urteil für ungerecht hielten. Murphys Mutter sagte einem Reporter, ihr Sohn könne »keiner Fliege etwas zuleide tun« und beschwerte sich über die ständigen Besuche der Polizei. Im Gefängnis erhielt Murphy Hunderte von Briefen mit Glückwünschen und Heiratsanträgen. Zu seiner Beerdigung kamen Tausende, darunter viele seiner Kameraden. Auf dem Grabstein heißt es: »Hier ruht ein Soldat«.3

Als die Gruppe Islamischer Staat (IS) im Sommer 2014 damit begann, westlichen Geiseln vor laufender Kamera die Köpfe abzuschneiden, dachte ich sofort zurück an Murphy und die Shankill-Schlächter. Natürlich existierte keine direkte Verbindung. Zwischen Murphy und dem Islamischen Staat lagen fast vier Jahrzehnte; es ging um völlig unterschiedliche Konflikte, andere Ideologien. Aber es gab auch Gemeinsamkeiten. Der Henker, der in den Videos des Islamischen Staates auftrat, war kein Syrer oder Iraker, sondern ein junger Brite, der von den Medien »Jihadi John« genannt wurde. Genauso wie Murphy war »Jihadi John« ein Produkt des europäischen Bildungssystems, aus anständigem Elternhaus, mit ordentlicher Perspektive. Beide verstanden sich als Soldaten, als Krieger und Verteidiger einer guten Sache – und für beide wurde dies zur Rechtfertigung extremer, sadistischer Gewalt. Beide schnitten ihren Opfern die Kehlen durch.

Die Gewöhnlichkeit des Terrors

So unterschiedlich die zwei auch waren, bei Murphy und »Jihadi John« stellten sich ähnliche Fragen. Wie und warum wird ein junger Mensch aus Europa zum Terroristen? Woher die Brutalität, die Bereitschaft zum Einsatz extremer Gewalt? Wer oder was hatte Schuld? Hätte man die Radikalisierung verhindern können? Warum gab es so wenig Widerspruch – niemanden, der sich den Mördern in den Weg stellte? Es sind dieselben Fragen, die nach jedem Anschlag und bei jedem Täter diskutiert werden. Und um diese Fragen geht es in diesem Buch.

Die ganz einfachen Antworten sind fast immer falsch. Die einfachste und falscheste Antwort ist, Terroristen seien verrückt. Fast alle Studien zum Thema Radikalisierung und Psychopathologie haben gezeigt, dass Terroristen – mit Ausnahme der sogenannten »einsamen Wölfe« – nicht mehr oder weniger geistig krank sind als der Rest der Bevölkerung.4 Das gilt auch für die Schlächter von Shankill. Denn obwohl Murphys Verhalten psychopathische Züge aufwies, handelte er nicht allein. Zu seiner Bande gehörten ein Dutzend Mitstreiter, die bei allen Morden beteiligt waren und genauso sadistisch und brutal mit ihren Opfern umgingen wie ihr Anführer. Waren sie etwa alle geisteskrank?

Für viele Menschen ist die Vorstellung beruhigend, dass Taten, die so verwerflich und unbegreifbar sind wie das Töten Unschuldiger, von Leuten begangen werden, die nicht aus der Mitte der Gesellschaft stammen. Doch in Wahrheit produzieren auch »normale« und vermeintlich gute Gesellschaften »abnormales« und »schlechtes« Verhalten. Nicht jeder, der zum Terroristen wird, ist isoliert, ausgegrenzt oder durchgeknallt. Im Gegenteil: Die Reaktion der Menschen in Shankill zeigt, dass selbst »asoziales« Verhalten sozial akzeptiert sein kann. Der Terror ist unter uns.

Fast immer falsch sind auch Antworten, die Radikalisierung mit einer einzigen Ursache erklären. Terroristen sind nicht alle vaterlos, ungebildet oder arm. Ebenso wenig kommen sie stets aus Großfamilien, sind promoviert oder haben reiche Eltern. Osama Bin Laden (1957–2011), der ehemalige Anführer von al-Qaida, war Sohn eines reichen Unternehmers, aber viele seiner Kämpfer wuchsen in Slums oder Sozialwohnungen auf. »Jihadi John« besaß einen Universitätsabschluss, doch seine Mitstreiter waren oft Schulabbrecher und vorbestraft.

Ein-Ursachen-Erklärungen haben den Vorteil, dass sie in eine Zeitungskolumne passen und den jeweils aktuellsten Fall scheinbar überzeugend, vor allem aber einfach und plakativ erklären. Als genereller Ansatz taugen sie wenig. Denn auf jeden Millionärssohn, der sich radikalisiert, kommen Tausende, die den Sommer lieber auf Papas Yacht im Mittelmeer verbringen. Und für jede gescheiterte Existenz, die beim Islamischen Staat landet, gibt es Millionen, die stattdessen versuchen, ihre Probleme mit Drogen und Alkohol zu lösen. Das bedeutet nicht, dass solche »Makro-Faktoren« stets falsch oder unwichtig sind. Aber auf sich allein gestellt ist ihr analytischer Wert gering.

Dass Radikalisierungsverläufe komplizierter sind als Zeitungskolumnen erlauben, liegt daran, dass Radikalisierung kein Ereignis ist, sondern ein Prozess. Radikalisierung hat nicht eine Ursache, sondern viele. Und die »Erklärung«, warum junge Menschen zu Terroristen werden, besteht nicht aus der Addition von Ursachen, sondern aus ihrem Zusammenspiel. Kontext ist dabei wichtig – oft entscheidend: Ein 20-jähriger Syrer, dessen gesamte Familie von Regierungstruppen getötet wurde, radikalisiert sich unter anderen Bedingungen als ein 20-jähriger Franzose – auch wenn beide am Ende bei derselben Gruppe landen, die gleichen Parolen skandieren und Seite an Seite für die vermeintlich selben Ziele kämpfen. Es gibt keine Blaupause, die sich auf jede Person, jeden Ort und jede Gruppe übertragen lässt. Die Suche nach der einen Formel ist wie die Jagd nach dem Heiligen Gral: zum Scheitern verurteilt, weil es sie nicht gibt – und nicht geben kann.

Und trotzdem: Dass sich Radikalisierungsverläufe komplex darstellen, heißt nicht, dass sie unverstehbar sind. Dass wir nicht alles verstehen, besagt nicht, dass wir gar nichts verstehen. Und die »Unfindbarkeit« einer einheitlichen Formel bedeutet nicht, dass es überhaupt nichts gibt, was sich verallgemeinern ließe.

Wer das Buch zu Ende liest, wird verstehen, dass viele der Faktoren und Prozesse, die bei der Radikalisierung eine Rolle spielen, weder neu noch außergewöhnlich sind. Bei vielen Terroristen geht es um persönliche Krisen und Konflikte, die Sehnsucht nach Bedeutung, Abenteuer und Stärke oder um das Verlangen danach, dazuzugehören, Teil einer Gruppe zu sein. Ob sich jemand in einer politischen Partei engagiert, Mitglied einer kriminellen Bande wird, als Soldat dem eigenen Land dient oder Unschuldige in die Luft sprengt, ist weniger offensichtlich, als es scheint. Was darüber entscheidet, wer zum Terroristen wird, hat mit Normen, Kontext und Gelegenheit zu tun – und manchmal damit, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Als Ereignis ist Terrorismus selten und ungewöhnlich, doch die sozialen Prozesse, die ihn produzieren, sind es nicht.

Mein Argument ähnelt dem der deutsch-amerikanischen Philosophin Hannah Arendt (1906–1975), die 1961 über den Prozess gegen Adolf Eichmann (1906–1962) berichtete. Eichmann war einer der Hauptorganisatoren des Holocausts. Was er getan hatte, war so schrecklich und unvorstellbar, dass ihn viele für ein Monster hielten. Doch der Mann, den Arendt mehr als fünfzig Tage lang im Gerichtssaal in Jerusalem beobachtete, war kein Monster. Sechs Psychologen hatten Eichmann untersucht und keinen Hinweis auf eine abnormale Persönlichkeit gefunden. Er war weder geisteskrank noch psychopathisch. Ein Gutachter kommentierte, der Angeklagte sei nur insofern auffällig, als er »überdurchschnittlich normal« sei. Im Gericht zeigte sich Eichmann als leidenschaftsloser Bürokrat und Karrierist, der »Befehle ausführte« und sich für Anerkennung und das eigene Fortkommen mehr interessierte als für Ideologie. Wäre er dreißig Jahre später geboren, hätte er wahrscheinlich ein unauffälliges Leben geführt und »keiner Fliege etwas zuleide« getan. Für Arendt symbolisierte er die »Banalität des Bösen«.5

Mein Ziel ist nicht, den Terrorismus zu verniedlichen oder seine Täter zu verharmlosen – genauso wenig, wie es Arendts Absicht war, den Holocaust zu relativieren. Auch geht es nicht darum, politisch motivierte Gewalt zu »entpolitisieren« – so zu tun, als hätte Terrorismus nichts mit Überzeugung und Ideologie zu tun. Doch wer in diesem Buch nach Monstern sucht, wird enttäuscht. Die Geschichten der Terroristen, von denen ich berichte, sind größtenteils Alltagsgeschichten, die sich oftmals erst in der Rückschau als »problematisch« oder »gefährlich« entpuppen. Das Bemerkenswerte ist, wie unbemerkenswert – oder gewöhnlich – sie sind.

Die Demokratisierung des Dschihadismus

Eine zweite Erkenntnis in diesem Buch betrifft die derzeit gefährlichste extremistische Bewegung: den salafistischen Dschihadismus (kurz: Dschihadismus), zu dessen Anhängern auch »Jihadi John« zählte. Meine These ist, dass die Dschihadisten seit dem Tod Bin Ladens und dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs nicht nur jünger und stärker geworden sind, sondern dass sich ihre Bewegung »demokratisiert« hat. Zu den schätzungsweise 5000 europäischen Auslandskämpfern, die sich in Syrien dschihadistischen Gruppen angeschlossen haben, gehören nicht mehr nur verschrobene Intellektuelle wie der Anführer der Terrorzelle vom 11. September 2001, der damals in Hamburg lebenden Ägypter Mohammed Atta (1968–2001), sondern junge Europäer aus allen Schichten und Bevölkerungsgruppen. Fast 20 Prozent sind Konvertiten, die vom Christentum zum Islam – und häufig: direkt in den Salafismus – übergetreten sind. 15 Prozent sind Mädchen und Frauen. Statt Universitätsstudenten wie zu Attas Zeiten rekrutieren die Dschihadisten heutzutage viele Kleinkriminelle und Perspektivlose. Mehr denn je ist der Dschihadismus in Europa eine Jugend- und Gegenkultur. Und der Islamische Staat, mit all seiner Grausamkeit und Brutalität, ist ihr alles überragendes Symbol.

Sowohl Ursache als auch Folge dieser Demokratisierung ist, dass die Anforderungen an potentielle Rekruten geringer geworden sind. Der Dschihadismus ist nach wie vor islamisch und folgt der salafistischen Glaubensdoktrin, doch die komplizierte Theologie, mit der noch al-Qaida ihre Anschläge zu rechtfertigen suchte, wurde vom Islamischen Staat durch eine diffuse Protestideologie ersetzt, die extreme Gewalt verherrlicht und vor allem aus Slogans und theologischen Versatzstücken besteht. Wichtiger als theologische Begründungen sind dem Islamischen Staat und seinen Rekruten die Möglichkeit zur Selbstinszenierung und das Image der Stärke und Überlegenheit, das die Gruppe in ihren Videos pausenlos projiziert. Als Protestideologie und Gegenkultur richtet sich der Dschihadismus des Islamischen Staates deshalb nicht mehr nur an junge Männer (und Frauen), die sich für Religion interessieren, sondern an alle, die nach Struktur, Ordnung, klaren Regeln und einem radikalen Gegenentwurf zur westlichen oder europäischen Gesellschaft suchen.

Dass diese Bewegung in Europa in den letzten Jahren so viel Erfolg hatte, ist kein Zufall, sondern – unter anderem – das Ergebnis ungelöster sozialer und politischer Probleme. Der Islamische Staat hat dort Erfolg, wo der Staat und die Zivilgesellschaft – auch muslimische Gemeinden – nicht mehr präsent sind, keine Angebote mehr machen und junge Leute sich selbst überlassen. Wer im Brüsseler Stadtteil Molenbeek oder den Vororten von Paris nach Sinn, Bedeutung und einem »Projekt« sucht, wird entweder zum Gangster oder zum Anhänger des Islamischen Staates. Besonders Mitglieder der »zweiten« und (mittlerweile) »dritten« Generation – also die Kinder und Enkel der Einwanderer aus mehrheitlich muslimischen Ländern, die nach dem Krieg nach Westeuropa kamen – sind in vielen Fällen noch immer nicht in Europa »angekommen«. Obwohl sie in Europa geboren und aufgewachsen sind, europäische Sprachen sprechen und europäische Pässe besitzen, haben viele nicht das Gefühl, wirklich dazuzugehören. Nur eine kleine Minderheit wird deshalb zu Terroristen, doch der gefühlte Mangel an Akzeptanz, Orientierung und Perspektive ist die »strukturelle Spannung«, an die die Dschihadisten mit ihrer hasserfüllten Ideologie andocken. Das Problem der Radikalisierung ist deshalb nicht nur ein sicherheitspolitisches, sondern auch ein soziales. Seine Bekämpfung erfordert bessere Sicherheitsbehörden, aber auch mehr soziales und politisches Engagement. Vor allem aber braucht Europa einen langen Atem, denn keine der Konflikte und Spannungen, die zur jetzigen Situation geführt haben, lassen sich schnell und einfach lösen.

Zu diesem Buch

Dieses Buch basiert auf einem Kurs, den ich in den letzten fünf Jahren an vier Universitäten unterrichtet habe: am King’s College in London, meiner Heimatuniversität, der Georgetown-Universität und der Johns-Hopkins-Universität in Washington sowie dem Sciences Po in Lyon in Frankreich. Hierdurch habe ich insgesamt 400 Menschen erreicht – junge Leute aus wichtigen Ländern, von denen viele mittlerweile selbst forschen, journalistisch arbeiten oder ihr Wissen als Mitarbeiter von Regierungen und internationalen Organisationen praktisch anwenden. Für mich ist das eine große Befriedigung. Doch in Wahrheit ist selbst 400 eine relativ kleine Zahl, und die akute Bedrohung durch den Islamischen Staat macht es notwendig, ein noch größeres Publikum anzusprechen – speziell hier in Europa, wo die »hausgemachte« Radikalisierung zu einer zentralen gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Herausforderung geworden ist.

Was in diesem Buch steht, beruht auf einer Gesamtschau der mittlerweile fast zwanzig Jahre, in denen ich Terrorismus und Radikalisierung studiere. Dazu gehört meine eigene Forschung, die Forschung meines Instituts, dem Internationalen Zentrum zur Erforschung der Radikalisierung (ICSR), und die Arbeit von Kollegen, die an Universitäten und Denkfabriken in aller Welt tätig sind. Als mich der wissenschaftliche Verlag Routledge Ende des Jahres 2013 fragte, ob ich Lust hätte, eine Major Works Collection – eine Sammlung der wichtigsten Aufsätze und Buchkapitel – zum Thema Radikalisierung zusammenzustellen,6 gab mir das die Möglichkeit, mein Wissen noch einmal zu vertiefen. Den darauffolgenden Sommer verbrachte ich mit Stapeln von Büchern und Aufsätzen – oft von sehr jungen Autoren aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Dabei entdeckte ich, wie viel gute Forschung mittlerweile existiert – was fehlte, war ein nuancierter und dennoch gut lesbarer Text, der die verschiedenen Ansätze, Methoden und Erkenntnisse auf einen Nenner brachte.

Der Fokus dieses Buchs liegt auf Europa. Der Grund dafür ist, dass ich mich hier am besten auskenne. Aber wichtiger noch: Ich bin davon überzeugt, dass das Erstarken der Extreme und die Polarisierung unserer Gesellschaften eine existentielle Gefahr für das europäische Gesellschaftsmodell darstellen. Die Bedrohung durch die »neuen Dschihadisten« steht dabei im Zentrum, ist aber nicht der einzige Grund.7 Und deshalb geht es in diesem Buch nicht ausschließlich um den Islamischen Staat und die neuen Dschihadisten, sondern um das gesamte Spektrum extremistischer Bedrohungen. Hierzu gehörten in den vergangenen Jahrzehnten neben den Dschihadisten auch Separatisten und ethnische Nationalisten (wie zum Beispiel in Nordirland und dem Baskenland) sowie Rechts- und Linksextreme. Durch die Zusammenschau lässt sich besser verstehen, wie sich Extremisten gegenseitig »befruchten«, aber auch, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es gibt.

Im ersten Teil des Buches behandle ich fünf bekannte und zum Teil gut erforschte »Bausteine« der Radikalisierung. Keiner davon ist auf sich allein gestellt eine ausreichende Erklärung dafür, dass Menschen zu Terroristen werden. Doch sie alle spielen in Radikalisierungsverläufen eine Rolle: Frustration, weil sie eine Person für neue, radikale Entwürfe öffnet; Drang, weil er individuelle und soziale Bedürfnisse erklärt; Ideen, weil ohne sie politisch motivierter Extremismus keinen Inhalt hat; Leute, weil Radikalisierungsprozesse in den meisten Fällen Gruppenprozesse sind; und Gewalt, weil sich Gewalt meist als Reaktion auf die Gewalt anderer rechtfertigt. Zusammenaddiert ergeben die fünf Bausteine keine vollständige oder universell gültige Formel. Ihr Zusammenspiel unterscheidet sich je nach Kontext und Ideologie. Ihre Gewichtung ist umstritten. Doch niemand zweifelt daran, dass sie notwendig sind – und dass ohne sie ein Verstehen von Radikalisierung unmöglich ist. Denn jeder dieser Bausteine ist ein potentieller Risikofaktor.

Im zweiten Teil geht es um Trends und aktuelle Debatten, die in den Medien zwar häufig, aber nur selten ausgewogen oder gar wissenschaftlich fundiert diskutiert werden: Welche Rolle spielt die Religion bei der Radikalisierung? Welchen Einfluss hat das Internet? Wie unterscheiden sich »einsame Wölfe« von anderen Terroristen? Radikalisieren sich Frauen anders als Männer? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Radikalisierung und Kriminalität? Jedes dieser Themen wird uns noch Jahre beschäftigen. Und deswegen ist es mir wichtig, sie in diesem Buch ausführlich und fundiert darzustellen.

Das letzte Kapitel behandelt Lösungsansätze. Politiker sprechen häufig von Deradikalisierung und Prävention, doch die wenigsten verstehen, um was es geht. Ich erkläre die wichtigsten Prinzipien, aktuelle Politikansätze und praktische Anwendungsmöglichkeiten. Und ich zeige, dass Prävention und Deradikalisierung genauso zur neuen Sicherheitsarchitektur gehören wie Polizei und Nachrichtendienste, doch dass selbst die besten Programme nicht wettmachen können, was Politik und Gesellschaft versäumt haben.

Ziel des Buchs ist eine umfassende Einführung in ein Thema, das noch für viel Streit und Debatten sorgen wird. Deshalb beginne ich – noch vor dem ersten Teil – mit einem Kapitel über Definitionen und Probleme beim Erforschen der Radikalisierung.

1

Forschung

Donald Currie (*1966) war schlank, mittelgroß, hatte kurzes, lichtes Haar und ein normales, freundliches Gesicht. Er sah aus wie ein Büroangestellter oder ein Lehrer – einer, der nach Feierabend in die Kneipe geht und am Wochenende Fußball spielt. Doch für Kneipen und Fußball hatte der echte Donald Currie keine Zeit. Als er im November 2006 in England vor Gericht stand, war er bereits seit zwanzig Jahren politischer Aktivist. Seinen Job als Krankenpfleger hatte er vor Jahren geschmissen. An den Abenden traf er sich mit Kameraden und plante die jeweils nächste »Aktion«. Und am Wochenende stand er vor dem Supermarkt, sammelte Unterschriften und verteilte Flugblätter. Seine Partnerin und er bewohnten ein heruntergekommenes Haus in der südenglischen Küstenstadt Bournemouth. Ihre Leidenschaft waren die Tiere. Currie war Veganer und aß weder Fleisch noch Milchprodukte. Dass Tiere von Menschen gezüchtet und gequält wurden, widerte ihn an. Sein Lebenszweck war, dies zu stoppen – mit allen Mitteln.1

Curries Festnahme geschah unter dramatischen Umständen. Die Polizei überraschte ihn, als er gerade dabei war, unter einem Auto eine Bombe zu montieren. Als Currie die Polizisten bemerkte, rannte er davon, sprang über mehrere Büsche und schleuderte einen weiteren Sprengsatz in ihre Richtung. Das Auto, das Currie in die Luft jagen wollte, gehörte der Frau eines Unternehmers, dessen Firma ein Tierversuchslabor in Oxford belieferte.2 Vor Gericht beteuerte Currie, er hätten niemandem schaden wollen: Die Autobombe sei lediglich eine Warnung gewesen.

Doch die Beweise waren eindeutig. Zu offensichtlich war seine Verstrickung in die Kampagne der Animal Liberation Front (ALF), der Tierbefreiungsfront, die seit Jahren mit Gewalt für die Schließung des Labors kämpfte. Dabei schreckte die Gruppe vor nichts zurück: Mitarbeiter wurden eingeschüchtert, ihre Kinder bedroht, Autos und Häuser angezündet. Selbst Zulieferer gerieten ins Fadenkreuz der ALF: »Jeder, der mit [dem Labor] Geschäfte macht – selbst der Besitzer des Pubs, in dem die Mitarbeiter abends trinken –, ist ein legitimes Ziel«, so ein Statement der Gruppe.3

Für das Gericht bestand kein Zweifel, dass Currie ein gefährlicher Terrorist war.4 Doch die öffentliche Reaktion war zurückhaltend. Viele Zeitungen bezeichneten Currie nicht als Terroristen, sondern als »militanten Tierschützer«. Er war zu weit gegangen, keine Frage, aber die Sache, für die er kämpfte, genoss bei vielen Menschen Unterstützung. (Fast 80 Prozent der britischen Bevölkerung sprachen sich in Umfragen gegen Tierversuche aus.) In der linksalternativen Szene wurde Currie durch seine Verurteilung zum Helden. »Donald ist eine Inspiration«, schrieb ein einflussreicher Aktivist. »Der Druck auf diejenigen, die mit Gewalt gegen Tiere Geld verdienen, wird durch seine Verurteilung noch größer werden.«5

Curries Geschichte illustriert die Probleme, die es beim Erforschen der Radikalisierung gibt. Das beginnt mit den Begriffen, die zur Beschreibung des Phänomens verwendet werden: War Currie ein Extremist, ein Terrorist oder doch nur ein »militanter Tierschützer«? Wer entscheidet, was solche Wörter bedeuten, und mit welcher Konsequenz? Mehr noch: Was bedeutet Radikalisierung, und wie kann sie besser verstanden werden? Lassen sich Fälle wie Currie voraussagen, und welche wissenschaftliche Disziplin ist dafür am besten geeignet?

In diesem Kapitel versuche ich, Schlüsselbegriffe voneinander abzugrenzen und zu zeigen, welche Chancen, Probleme und Hindernisse es bei ihrer Erforschung gibt. Das Ergebnis ist auf den ersten Blick ernüchternd: Nicht nur sind viele Definitionen schwammig, sondern es existieren auch keine treffsicheren Instrumente, die präzise Vorhersagen ermöglichen würden. Und trotzdem hat es Sinn, sich mit dem Thema wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Denn nur wer Grundlagen, Grenzen und Widersprüche kennt, kann verstehen, was Radikalisierung bedeutet, wie sie funktioniert – und wohin sie führt.

Begriffe

Curries Beispiel zeigt, weshalb politisch motivierte Gewalt so umstritten ist: Sie ist politisch. Trotz aller Versuche, Wörter wie Extremismus und Terrorismus objektiv zu definieren, erklärt sich die praktische Bedeutung stets durch ihren Kontext: womit sich Menschen identifizieren, wovor sie Angst haben und was in den Augen der Mehrheit richtig und akzeptabel ist. Wer sie deshalb als »beliebig« abtut, überlässt die Debatte denjenigen, die sie für ihre eigenen politischen Zwecke instrumentalisieren. Statt sie aus unserem Vokabular zu verbannen, sollten wir sparsam, kritisch und konsequent mit ihnen umgehen.

Terrorismus

Currie wurde nach dem britischen Anti-Terrorismus-Gesetz zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Was ihn daran störte, war nicht so sehr die Strafe, sondern die Tatsache, dass er fortan als »Terrorist« gelten würde. Während des gesamten Prozesses wehrte er sich gegen die Anwendung des Gesetzes. Bei seiner Vernehmung bezeichnete er sich als »Widerstandskämpfer«, der gegen die Ausbeutung hilfloser Tiere durch ein korruptes wirtschaftliches System kämpfe. Die »wirklichen Terroristen«, so Currie, säßen im Parlament und bei den großen Unternehmen.6

Curries Worte hätten so oder ähnlich von fast jedem Terroristen gesprochen werden können, denn kaum ein Terrorist will als solcher bezeichnet werden. Grund ist nicht der Gesetzeswortlaut, sondern die Art und Weise, wie der Terrorismusbegriff in der Öffentlichkeit verwendet und wahrgenommen wird. Terrorismus ist schlecht, böse, illegitim – ein Schimpfwort, mehr noch: ein politischer Kampfbegriff. Und deshalb tun sich die Anhänger (ihrer Meinung nach) »guter Sachen« häufig schwer damit, ihre (gewalttätigen) Gesinnungsgenossen als Terroristen zu bezeichnen. Mitglieder der Irisch-Republikanischen Armee galten der Mehrheit der britischen Bevölkerung als Terroristen, aber viele Iren, die zwar die Methoden der Gruppe ablehnten, aber mit dem Ziel der irischen Vereinigung sympathisierten, wiesen die Bezeichnung zurück. Genauso bei der palästinensischen Hamas: Die westlichen Länder halten die Gruppe für terroristisch, doch viele Araber sehen sie als Widerstandskämpfer.7 Noch immer, so scheint es, gilt das alte Klischee: Des einen Terrorist ist des anderen Freiheitskämpfer.

Ebenso problematisch ist die übertriebene Anwendung des Begriffs auf politische Gegner. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi bezeichnet die oppositionellen Muslimbrüder bei jeder Gelegenheit als Terroristen, obwohl er weiß, dass die allermeisten keine sind. Und für Syriens Präsidenten Bashar al-Assad bestand die gesamte Opposition bereits aus Terroristen, als deren Anhänger noch friedlich auf die Straße gingen. Die Absicht ist in beiden Fällen dieselbe: die Diskreditierung politischer Gegner und ihrer Kritik am herrschenden System. Wer in den Augen der Öffentlichkeit als Terrorist gilt, hat sein Mitwirkungsrecht verwirkt und gegen den sind selbst die härtesten Sanktionen legitim. Im Idealfall halten sich Diktatoren dadurch die Opposition vom Leib und rechtfertigen gewaltsame Repression, Folter und politischen Mord. Genauso wahrscheinlich ist jedoch, dass sich die friedliche Opposition hierdurch radikalisiert und so aus angeblichen Terroristen echte werden (mehr dazu in Kapitel 6).

Annähernd objektiv lässt sich Terrorismus nur losgelöst von Tätern und politischer Motivation definieren. Beim Terrorismus geht es um symbolische Gewalt, häufig (aber nicht ausschließlich) gegen Zivilisten, mit dem Ziel, eine Reaktion zu provozieren und so das Verhalten eines Gegners zu manipulieren. Einfach ausgedrückt: Terrorismus soll terrorisieren – und er ist deshalb, anders als konventionelle(re) Formen der Gewalt, vor allem eine brutale Form der psychologischen Kriegsführung. Das Ziel von Anschlägen ist, Stärke zu demonstrieren, Gegner einzuschüchtern, Chaos zu stiften und damit eine Situation zu schaffen, in der »normales« Leben unmöglich wird. Unter solchen Bedingungen lassen sich potentielle Anhänger leichter mobilisieren, der Gegner reagiert über, macht Fehler und beschleunigt damit, ohne sich dessen bewusst zu sein, die eigene Niederlage.8

So definiert, verrät Terrorismus zunächst nichts darüber, von wem und für welche Ziele er eingesetzt wird. Mexikanische Drogenkartelle verwenden routinemäßig Terror, wenn es darum geht, Konkurrenten zu vertreiben oder sich Beamte gefügig zu machen. Auch einige Staaten bedienen sich terroristischer Methoden, darunter Geiselnahmen, Bombenanschläge, öffentliche Exekutionen und sogar Enthauptungen.9 Doch als »terroristische Organisationen« gelten meist nur politische und nichtstaatliche Gruppen, obwohl sich deren Aktivitäten selten auf Terrorismus beschränken. Hamas ist eine Terrorgruppe, aber kandidiert auch bei Wahlen, betreibt Kindergärten, Schulen und stellt im Gazastreifen die Regierung. Und der Islamische Staat hat außer Selbstmordattentätern auch reguläre Kämpfer, kassiert Steuern, betreibt Scharia-Gerichte und repariert Straßen. Warum sind die einen Terroristen, aber die anderen nicht? Geht es beim Terrorismus um Ziele, Methoden – oder doch nur darum, wessen Gewalt uns am meisten Angst macht?

Ganz schwierig wird es, wenn sich unscharfe Definitionen und Werturteile vermischen. Junge Männer aus Europa, die nach Syrien gehen und sich dort Rebellengruppen wie der Freien Syrischen Armee anschließen, gelten nach internationalem Recht als »terroristische Auslandskämpfer« und werden in europäischen Ländern vor Gericht gestellt. Anders bei den kurdischen Milizen: Wer bei ihnen mitmacht, hat meist nichts zu befürchten, kann zurück nach Europa und wird in Talkshows als Held gefeiert. Doch die Unterschiede sind geringer, als es scheint: Nicht nur die Kurden kämpfen gegen den Islamischen Staat, sondern auch die Freie Syrische Armee; beide fordern Freiheit und Demokratie und erhalten vom Westen Waffen, Geld und Training. Warum sind die einen »terroristische Auslandskämpfer«, aber die anderen nicht?

Extremismus

Sich einen Selbstmordgürtel um die Hüfte zu schnallen ist nicht Teil der menschlichen DNA. Niemand kommt als Terrorist zur Welt, und jeder Versuch, künftige Extremisten an ihrer Gehirn- oder Hormonstruktur zu erkennen, ist bisher gescheitert. Es mag Persönlichkeitsmerkmale und emotionale Bedürfnisse geben, die die Radikalisierung begünstigen (mehr darüber in Kapitel 3), aber kein seriöser Forscher behauptet, ein bestimmter Typus Mensch sei für den Terrorismus oder Extremismus prädestiniert. (Wenn es tatsächlich so wäre, ließe sich das Problem viel einfacher lösen.) In Wirklichkeit ist Radikalisierung ein oft langwieriger Prozess, bei dem eine Vielzahl von Faktoren und Einflüssen zusammenkommen und an dessen Ende Extremismus steht. In manchen Fällen dauert dies Monate, in anderen Fällen Jahre.

Eine der größten Schwierigkeiten ist, den Endpunkt dieses Prozesses zu definieren. Denn Extremismus – das vermeintliche »Ergebnis« von Radikalisierung – ist ein schwammiger Begriff, der keine unabhängige oder universelle Bedeutung hat. Was Extremismus heißt, hängt davon ab, was in einer bestimmten Gesellschaft oder zu einem bestimmten Zeitpunkt als gemäßigt gilt. Die Idee, dass Frauen außerhalb des Hauses einen männlichen Begleiter brauchen und kein Auto fahren dürfen, wäre in westlichen Ländern unvorstellbar. Doch in Saudi-Arabien ist sie gelebte – und in weiten Teilen der dortigen Gesellschaft akzeptierte – Wirklichkeit. In diesem Land gilt als Extremist, wer solche angeblich religiös begründeten Regeln in Frage stellt. Extrem zu sein heißt deshalb zunächst nicht mehr (und nicht weniger) als die Forderung nach einer radikalen Änderung des Status quo – egal wie illiberal und undemokratisch dieser ist. Selbst der Islamische Staat bezeichnet seine internen Kritiker mittlerweile als Extremisten!10

Auch in westlichen Ländern ist die Bedeutung von Extremismus nicht statisch. Wer sich in Großbritannien oder Amerika vor zweihundert Jahren für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte, galt als Extremist. Unterstützer des Frauenwahlrechts stellten vor hundert Jahren eine Bedrohung der sozialen Ordnung dar. Und selbst vor einer Generation galt die Vorstellung, dass Homosexuelle untereinander heiraten und Kinder adoptieren könnten, noch als absurd. (»Homosexuelle Handlungen« waren bis 1994 in Deutschland strafbar.) Die Geschwindigkeit, mit der sich politische Einstellungen – und damit die Wahrnehmung dessen, was innerhalb einer Gesellschaft als akzeptabel gilt – ändern, macht den Extremismus-Begriff auch innerhalb westlicher Demokratien unscharf. Speziell für politisch Linke ist er ein rotes Tuch, denn aus ihrer Sicht beginnt aller Fortschritt mit dem (radikalen) Herausfordern des Status quo. »Radikalisierung« ist für sie eine notwendige Voraussetzung dafür, dass sich Gesellschaften positiv entwickeln.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass unklar ist, ob es um Ideen oder Taten geht. Der politische Philosoph Roger Scruton unterscheidet deshalb zwischen »kognitivem« und »gewaltbereitem« Extremismus. Zum einen gehe es beim Extremismus-Begriff um Ideen – und zwar solche, die dem bestehenden gesellschaftlichen Wertekonsens diametral entgegenstehen. Zum anderen, so Scruton, definiert sich Extremismus über Taten: »Wer Mittel einsetzt, die das Leben, die Freiheit und die Menschenrechte anderer (…) aufs Spiel setzen«, ist Extremist – egal welche politische Ideologie ihn dabei motiviert.11

Unter den Neonazis zum Beispiel gibt es Gewalttäter, die Flüchtlingsheime anzünden, Asylbewerber verprügeln oder sich zu terroristischen Gruppen zusammenschließen. Andere äußern Verständnis, bekunden Sympathie oder sammeln Geld. Aber es gibt auch solche, die Gewalt ablehnen und sich damit begnügen, rechtsradikale Parteien zu wählen, Flugblätter zu verteilen oder bei ausländerfeindlichen Demonstrationen mitzumarschieren. Für jede dieser Positionen gibt es politische, strategische und persönliche Begründungen. Doch extremistisch sind sie nach Scrutons Definition alle. Entscheidend ist bei Neonazis nicht die Gewaltbereitschaft, sondern die Gesinnung: Wer in Europa die Demokratie durch das Führerprinzip ersetzen will, dessen Ansichten widersprechen dem gesellschaftlichen Grundkonsens – egal welche Mittel er dafür einsetzt. »Gemäßigte« oder »moderate« Neonazis gibt es nicht.

Anders ist die Lage bei Tierschützern, denn ihre Ziele und Ideen sind nicht von vorneherein extrem. In Deutschland und vielen anderen Ländern haben der Tierschutz und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen Verfassungsrang. Wer beim Tierschutzverein mitmacht, kann seinen Mitgliedsbeitrag von der Steuer absetzen. Auch die Ablehnung von Tierversuchen ist eine legitime Position, für die man sich mit legalen politischen Mitteln einsetzen kann. Zum Extremismus wird Tierschutz erst dann, wenn dabei Gesetze gebrochen und Gewalt eingesetzt wird. Beim Prozess gegen Currie ging es nicht um sein Anliegen, seine politische Gesinnung oder die Tatsache, dass er gegen die Ausbeutung von Tieren war, sondern um die Art und Weise, wie er dieses Ziel zum Ausdruck brachte. Auch wer für eine »gute Sache« kämpft, kann Extremist sein.

Bausteine

Die Zweideutigkeit von Schlüsselbegriffen ist nicht das einzige Hindernis beim Erforschen der Radikalisierung. Ein weiteres Problem ist, dass keine wissenschaftliche Theorie oder Methode in der Lage dazu ist, Radikalisierungsverläufe zuverlässig zu erklären oder vorauszusagen. Jeder Ansatz produziert entweder falsche Ergebnisse, ist nur beschränkt verwendbar oder macht neben der richtigen Voraussage so viele unrichtige, dass sein praktischer Nutzen gering ist. Von einer »exakten Wissenschaft« ist die Radikalisierungsforschung noch weit entfernt. Doch die Einblicke, die verschiedene Disziplinen liefern, sind wichtige analytische »Bausteine«, die – jeder für sich – einen Teil der »Wahrheit« abbilden.

Makrotheorien

Viele meiner Kollegen begreifen Terrorismus als ein »Verhalten«, das sich genauso beschreiben und untersuchen lässt wie jedes andere Verhalten. Im Mittelpunkt ihrer Forschungsarbeit steht das Herstellen von Zusammenhängen zwischen Terrorismus und einer Reihe von vermuteten Merkmalen, Eigenschaften und Ursachen. Kommt es zu terroristischen Anschlägen besonders häufig in reichen oder armen Ländern, in Demokratien oder Diktaturen? Stammen Terroristen überdurchschnittlich häufig aus wohlhabenden Familien? Sind sie gebildet oder ungebildet? Welche Gemeinsamkeiten gibt es bei der Rekrutierung? Aus welchen Gründen steigen sie aus dem Terrorismus aus? Ziel ist stets, die Erklärung – oder Kombination von Erklärungen – zu finden, die »terroristisches Verhalten« plausibel macht.

Das Problem mit solchen Makrotheorien ist, dass Terrorismus kein Verhalten oder soziales Phänomen ist, sondern lediglich eine gewaltsame Taktik, die in unterschiedlichen Situationen von verschiedenen Akteuren und für zum Teil widersprüchliche Ziele eingesetzt wird. Der »gemeinsame Nenner« besteht darin, dass diejenigen, die sich terroristischer Mittel bedienen, sie für zielführend, richtig oder notwendig halten. Darüber, wie sie zu dieser Schlussfolgerung kommen, was sie motiviert und radikalisiert hat und welche anderen Merkmale, Eigenschaften und sozialen Prozesse wichtig sind, verrät Terrorismus allein wenig: Terrorismus, so der renommierte amerikanische Soziologe Charles Tilly, »ist kein einheitliches, in sich stimmiges Phänomen. Kein Sozialwissenschaftler sollte so tun, als ob es dies sei«.12

Deshalb ist es keine Überraschung, dass Makrostudien, die völlig unterschiedliche »Terrorgruppen« aus der ganzen Welt in einen Topf werfen, um nach der einen, vermeintlich universellen »Formel« zu suchen, praktisch nie zu aussagekräftigen Ergebnissen kommen. Den »typischen Terroristen« gibt es nicht; Pfade und Profile unterscheiden sich stark; und selbst wenn es gemeinsame Merkmale und Eigenschaften zu geben scheint, sind die Ausnahmen so zahlreich, dass die praktische Bedeutung solcher Befunde fragwürdig ist.13

Was haben Donald Currie, der »militante Tierschützer«, und Abu Bilal al-Homsi (1988–2016), ein junger Syrer, der für den Islamischen Staat kämpfte, gemein? Currie stammt aus der englischen Mittelklasse, wuchs in behüteten Verhältnissen auf und geriet als 20-Jähriger in die radikale Tierschützerszene. Seine Radikalisierung dauerte zwei Jahrzehnte, und er hatte jederzeit die Möglichkeit, aus der Szene auszusteigen, als Krankenpfleger zu arbeiten, seine Kinder in Bournemouth großzuziehen und ein »normales« Leben zu führen. Al-Homsi hatte kein Interesse an Politik und wollte genau das »normale« Leben führen, das Currie so widerstrebte. Doch anders als Currie war er plötzlich Teil eines Bürgerkriegs, seine Freunde wurden erschossen, und er musste sich entscheiden, auf welcher Seite er stand.14 Das Endergebnis war in beiden Fällen Terrorismus, doch der Weg dorthin hätte nicht unterschiedlicher sein können.

Selbst innerhalb derselben Gruppen oder Bewegungen gibt es zum Teil große Unterschiede. Atta, der Anführer, gehörte zur ägyptischen Mittelklasse und galt unter Freunden als nachdenklich und intellektuell. Er sprach fließend Englisch, Deutsch und Arabisch, studierte Stadtplanung und hätte nach seiner Rückkehr nach Ägypten vermutlich gute Aussichten gehabt. Die jungen Männer, die al-Qaida zur selben Zeit in den Slums von Casablanca rekrutierte, konnten von solchen Chancen nur träumen. Die Mehrheit hatte keinen Schulabschluss und nur wenige ein reguläres Einkommen. Ins Ausland gereist war niemand, und selbst große Teile des eigenen Landes, Marokko, schienen für sie unerreichbar. Doch sie wurden Teil derselben Bewegung wie Atta. Fast zwei Dutzend von ihnen sprengten sich bei Anschlägen in den Jahren 2003 und 2007 in die Luft.15 Welche Theorie bringt den Kosmopoliten aus Hamburg und die arbeitslosen Männer aus Casablanca auf einen gemeinsamen Nenner?

Mikroverhalten

Ähnliche Probleme gibt es beim Versuch, individuelle Voraussagen zu treffen. Polizeichefs und Geheimdienstler suchen stets nach »Indikatoren«, die es möglich machen sollen, zukünftige Terroristen zu identifizieren – ähnlich wie im Science-Fiction-Film Minority Report, in dem ein Computerprogramm künftige Mörder und Vergewaltiger bereits Jahre vor ihrer Tat erkennt. Doch egal welches Modell oder welche Theorie verwendet wird, und unabhängig davon, wie raffiniert die Annahmen und Methodik sind, jeder Versuch, künftige Terroristen aufgrund bestimmter Merkmale, Eigenschaften oder Verhalten zu identifizieren, ist zum Scheitern verurteilt. Denn für jeden Terroristen, der sich auf diese Weise beschreiben lässt, gibt es Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Nichtterroristen, deren Profil identisch ist. »Selbst wenn wir in der Lage wären, Terroristen mit hundertprozentiger Genauigkeit zu beschreiben«, so der amerikanische Forscher Marc Sageman, »würden die echten Terroristen in der Menge von Fehlalarmen … untergehen.«16

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