Die neuen Dschihadisten - Peter R. Neumann - E-Book

Die neuen Dschihadisten E-Book

Peter R. Neumann

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Beschreibung

»Ein außergewöhnlich kluges Buch.« Georg Mascolo Wir stehen am Anfang einer neuen Terrorismuswelle. Ihre Wurzel ist die Krise in Syrien und dem Irak. Dort hat der Islamische Staat eine totalitäre Utopie verwirklicht, die gleichzeitig als Trainings- und Operationsbasis dient. Aus Europa sind Tausende in den Konflikt gezogen. Dazu kommen "einsame Wölfe" und die Überbleibsel von al-Qaida. Sie drohen mit Anschlägen. Aber mehr noch: Sie kämpfen mit allen Mitteln gegen das europäische Gesellschaftsmodell – das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religionen. Was uns bevorsteht, kann dank seiner jahrzehntelangen Forschungsarbeit keiner so gut einschätzen wie der weltweit renommierte Terrorexperte Peter R. Neumann. Er ordnet die neue Bewegung ein und zeigt, wie wir der Bedrohung begegnen können. »Neumann ist zweifelsohne derzeit einer der wichtigsten, wenn nicht sogar der wichtigste Terrorismus-Experte der Welt.« Bild »Ein gut lesbares, informatives Handbuch.« tagesspiegel

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Das Buch

Wir stehen am Anfang einer neuen Terrorismuswelle, die uns eine Generation lang beschäftigen wird. Ihre Wurzel ist der Konflikt in Syrien und dem Irak. Dort hat der Islamische Staat eine totalitäre Utopie verwirklicht, die gleichzeitig als Trainings- und Operationsbasis dient. Aus Europa sind Tausende in den Konflikt gezogen und kommen jetzt militärisch ausgebildet, verroht und in internationale Netzwerke eingebunden zurück. Sie konkurrieren mit al-Qaida mittels spektakulärer Anschläge um die Vorherrschaft.

Peter Neumann erklärt das Phänomen der »neuen Dschihadisten« und warum die terroristische Bedrohung in Europa heute so groß ist wie nie zuvor. Er ordnet die neue Bewegung in den modernen Terrorismus ein und zeigt, wie wir der Bedrohung begegnen können.

Der Autor

Peter Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London und leitet das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR), das weltweit bekannteste Forschungsinstitut zum Thema Radikalisierung und Terrorismus. Nach dem Studium der Politikwissenschaft in Berlin und Belfast promovierte Peter Neumann am King’s College London über den Nordirlandkonflikt. Vor seiner wissenschaftlichen Karriere arbeitete er als Radiojournalist in Berlin.

Peter R. Neumann

Die Neuen Dschihadisten

IS, Europa und die nächste Welle des Terrosrismus

Econ

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ISBN 978-3-8437-1153-1

© 2015 © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: FHCM GRAPHICS, Berlin

E-Book: L42 Media Solutions Ltd., Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Einleitung

An den 1. Mai 2011 kann ich mich gut erinnern. An jenem Tag, einem Sonntag, war ich in Nashville, Tennessee, der Hauptstadt der Countrymusik, wo ich einen Tag später vor Polizeibeamten aus ganz Amerika einen Vortrag zum Thema Radikalisierung halten sollte. Die Konferenz fand in einem riesigen Hotelkomplex statt, dem Gaylord Opryland, und ich hatte mich gerade in meinem Zimmer eingerichtet, als die amerikanischen Nachrichtensender ihr Programm unterbrachen. Präsident Barack Obama werde um 22 Uhr eine Erklärung abgeben, hieß es. Das Timing war ungewöhnlich, und keiner der sonst so gut informierten Korrespondenten wusste, was los war. Viele meiner Facebook-Freunde glaubten, dass es um den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi (1942–2011) ging, gegen den der Westen damals Krieg führte. Doch Obama hatte einen anderen Bösewicht im Sinn. Zwei Stunden später trat der Präsident vor die Kamera und gab bekannt, dass amerikanische Spezialeinheiten Osama Bin Laden, den Anführer al-Qaidas und Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001, getötet hatten.

Noch während der Ansprache klingelte bei mir das Telefon. Doch die Ersten, die meine Einschätzung zu hören bekamen, waren die etwa 200 Polizeibeamten, vor denen ich am darauffolgenden Tag meinen Vortrag hielt. In einem mit Gitarren, Cowboyhüten und goldenen Schallplatten dekorierten Konferenzsaal erklärte ich, dass die Operation gegen Bin Laden vor allem von symbolischer Bedeutung sei. Bin Laden habe in den letzten Jahren kaum eine praktische Rolle gespielt. Sein Tod werde nicht zu einer dauerhaften Schwächung der dschihadistischen Kampagne führen. Panikmache und Weltuntergangsszenarien – so wie in den Monaten nach dem 11. September 2001 – seien fehl am Platz, aber vom Terrorismus, speziell dem dschihadistischen, gehe nach wie vor eine Gefahr aus. Die Bedrohung sei »ernst, aber nicht existentiell«– eine Formulierung meines Kollegen David Schanzer von der Duke-Universität, die ich bei Vorträgen häufig verwendete.1

Mit meiner vorsichtigen Beurteilung stand ich im Frühjahr 2011 fast allein da. Auf beiden Seiten des Atlantiks hatte sich damals unter Politikern und Experten ein fester Konsens etabliert: Die Ära des dschihadistischen Terrorismus neigt sich dem Ende zu. Vor der Tötung Bin Ladens waren bereits 20 seiner engsten Mitstreiter durch Drohnenangriffe ums Leben gekommen. Und die friedlichen Demonstrationen während des Arabischen Frühlings – zuerst in Tunesien und Ägypten, dann in fast allen anderen Staaten der arabischen Welt – versprachen ein neues Zeitalter der Freiheit und Demokratie, in dem die dschihadistische Gewalt wie ein Anachronismus wirkte. Leon Panetta, der amerikanische Verteidigungsminister, sprach bereits von einer »strategischen Niederlage« al-Qaidas.2 Ein Experte an einer Washingtoner Denkfabrik forderte Präsident Obama gar auf, er solle den »Krieg gegen den Terror« beenden und sich zum Sieger erklären.3

Vier Jahre später klingen solche Prognosen absurd. Es gibt heute mehr dschihadistische Gruppen als je zuvor. Der Forscher Seth Jones vom amerikanischen RAND-Institut kam nach einer im Jahr 2014 veröffentlichten Studie auf 49: von al-Qaida und seinen Filialen in Somalia, dem Jemen, Nordafrika und Syrien bis hin zu Nigerias Boko Haram, den pakistanischen Taliban und einer ganzen Reihe obskurer, im Westen fast völlig unbekannter Gruppen in Bangladesch, den Philippinen, dem russischen Nordkaukasus und anderswo. Seit dem Jahr 2010 sind Jones zufolge 19 Gruppen dazugekommen. Darunter auch der »Islamische Staat« (IS), dessen Anführer Mitte 2014 ein Kalifat ausrief, das sich mittlerweile über 900 Kilometer – vom syrischen Aleppo bis vor die Tore der irakischen Hauptstadt Bagdad – erstreckt und Kämpfer aus aller Welt rekrutiert. Die Zahl der Dschihadisten hat sich laut Jones im selben Zeitraum mehr als verdoppelt und beträgt aktuell zwischen 45 000 und 105 000 – die meisten davon aus Ländern des Arabischen Frühlings.4

Das Anwachsen der dschihadistischen Bewegung seit 2011 ist dramatisch, und obwohl die Mehrheit der Gruppen und Kämpfer derzeit im Nahen Osten aktiv ist, wird diese Entwicklung nicht ohne Konsequenzen für Europa bleiben. Meine These ist, dass die Anschläge in Paris und Kopenhagen Anfang 2015 keine Einzelfälle waren, sondern erste, sehr dramatische Hinweise darauf, was sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf den Straßen Europas abspielen wird. Europa, so mein Argument, steht am Beginn einer neuen Welle des Terrorismus, die uns noch eine Generation lang beschäftigen wird. Die Lage ist deshalb so gefährlich, weil die Anzahl der Dschihadisten viel höher ist als in der Vergangenheit; weil wir es mit neuen, zum Teil noch sehr jungen Rekruten zu tun haben; und weil sich innerhalb der dschihadistischen Bewegung ein Konkurrenzkampf entwickelt hat, der Anschläge im Westen begünstigt.

Der hieraus resultierende Terrorismus wird vielen Menschen in Europa das Leben kosten. Aber es gibt noch eine zweite, mindestens genauso große Gefahr: dass sich unsere Gesellschaften polarisieren; dass Parteien und militante Gruppen am rechten Rand an Zulauf gewinnen; und dass – in letzter Konsequenz – das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft in Europa schwieriger wird. Die neue Welle des Terrorismus kostet nicht nur Menschenleben, sondern ist auch eine Bedrohung für Minderheiten wie europäische Juden und – nicht zuletzt – die Muslime, deren gesellschaftliche Integration, politischer Status und physische Sicherheit auf dem Spiel stehen. Die neuen Dschihadisten, die dieses Buch beschreibt, sind eine Herausforderung für die Sicherheitsorgane, aber – mehr noch – für unsere Demokratie und das europäische Gesellschaftsmodell.

Zu diesem Buch

Mein Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten versuche ich, das Phänomen historisch einzuordnen. Terrorismus gab es schon vor den Dschihadisten, und auch terroristische Wellen sind nicht unbekannt. Das Wellen-Konzept stammt von dem amerikanischen Historiker David Rapoport, der damit die Entwicklung des modernen Terrorismus zusammengefasst hat.5 Nach Rapoport hat es seit dem späten 19. Jahrhundert vier Wellen gegeben, die er als »anarchistisch«, »antikolonialistisch«, »Neue Linke« und »religiös« beschreibt. Jede dieser Wellen begann in einem, führte aber zu Terrorismus in vielen anderen Ländern und dauerte ungefähr eine Generation, 25 bis 30 Jahre. Rapoports Konzept betrachtet den Terrorismus nicht isoliert von politischen Ideen, sondern als deren Ergebnis. So ist jede der vier Wellen untrennbar mit einer radikalen politischen Bewegung verbunden, die für einige ihrer Teilnehmer mit dem »Marsch durch die Institutionen« endete und für andere im Untergrund. Die neue Welle, von der dieses Buch handelt, fügt sich nahtlos in diesen Zyklus ein.

Treffend ist auch, dass sich Rapoport auf den revolutionären, nichtstaatlichen Terrorismus beschränkt. Als Professor, der einen Master-Kurs zum Thema Terrorismus leitet, ist mir bewusst, wie umstritten die Idee des Terrorismus ist und wie häufig der Begriff missbraucht wird, um politische Gegner oder radikale Bewegungen zu diskreditieren. Auch weiß ich, dass es keine international vereinbarte Definition des Terrorismus gibt und dass sich Staaten genauso terroristischer Methoden bedienen können wie nichtstaatliche Akteure.6 Für die Dschihadisten im Nahen Osten ist der Terrorismus – der Einsatz schockierender, oft symbolischer Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele – nicht mehr die einzige Methode der Kriegsführung. Doch der kommende Konflikt in Europa wird auch weiterhin durch ihn geprägt sein.

Im zweiten Teil des Buches erkläre ich dann, woraus die neue Welle besteht. Ihr Entstehen ist untrennbar mit dem Arabischen Frühling und – ganz besonders – dem Konflikt in Syrien und dem Irak verbunden. Der Islamische Staat, der hier Wurzeln geschlagen hat, ist für die neuen Dschihadisten gleichermaßen Utopie, Inspiration und logistischer Dreh- und Angelpunkt. Er ist das Zentrum einer neuen, totalitären Bewegung, die Zehntausende junger Muslime davon überzeugt hat, ihre Heimat zu verlassen und in den Krieg zu ziehen. Darunter sind mindestens 4000 Westeuropäer, von denen einige nach ihrer Rückkehr zur Elite der neuen Dschihadisten gehören werden. Zu den Unterstützern der Auslandskämpfer zählen Tausende europäischer Salafisten, die der Islamische Staat in den vergangenen Jahren in seinen Bann gezogen hat. Ob als »einsame Wölfe« oder Teil festerer Strukturen, durch sie droht die Gefahr vergleichsweise einfacher, aber im hohen Maße schockierender Anschläge. Ein weiteres Element der neuen Welle sind die Überbleibsel der alten: die Netzwerke der al-Qaida, die mit dem Islamischen Staat konkurrieren und nun mit spektakulären Operationen im Westen beweisen müssen, dass es sie noch gibt.

Meine Prognose klingt deshalb bedrohlich, weil sie es ist. Doch Panikmache ist genauso wenig meine Absicht wie das Schüren antiislamischer Stimmung. Im Gegenteil: Rapoports Wellen-Konzept zeigt, dass der Terrorismus nicht immer islamisch war und dass deshalb eine Religion, die seit 1400 Jahren existiert und mehr als anderthalb Milliarden Anhänger hat, nicht pauschal als gewalttätig verurteilt werden kann. Mein Argument ist nicht, dass die neuen Dschihadisten nichts mit dem Islam zu tun hätten, aber genauso falsch wäre es, deren extreme Interpretation als den einzigen, den wahren Islam hinzustellen, so wie es viele der sogenannten Islamkritiker tun. Wer das Buch bis zum Ende liest, wird verstehen, dass die Zielgruppe, aus denen sich die neuen Dschihadisten rekrutieren, nicht »die Muslime« sind, sondern eine schrille, aber zahlenmäßig sehr kleine Minderheit: die Salafisten. Der »Durschnitts-Muslim« ist für die Dschihadisten genauso wenig ansprechbar wie der »Durchschnitts-Deutsche« für gewaltbereite Neonazis.

Das bedeutet nicht, dass die Integration muslimischer Minderheiten konfliktfrei ist oder dass es unter europäischen Muslimen keine problematischen Ansichten gäbe. Die sozialen Spannungen und Konflikte, die aus ihnen resultieren, sind Begleitmusik für die Radikalisierung junger europäischer Muslime. Doch wer nach potentiellen Terroristen sucht, wird bei den Salafisten fündig – nicht bei »normalen Muslimen«.

Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit Handlungsvorschlägen. Der wichtigste ist der Ausbau der Terrorismus-Prävention, die in wichtigen europäischen Ländern wie Deutschland noch immer ohne Enthusiasmus und strategischen Ansatz betrieben wird. Wir können nicht länger ignorieren, dass die jungen Männer, die in den Videos des Islamischen Staates auftreten und in akzentfreiem Deutsch, Englisch oder Französisch von den Vorzügen des Kalifats reden, Produkte unserer Gesellschaften sind. Ihre Radikalisierung begann nicht im syrischen Raqqa oder dem irakischen Mossul, sondern in Dinslaken, Portsmouth und Nantes. Wer die nächste Welle des Terrorismus bekämpfen will, muss deshalb dort anfangen, wo ihre Wurzeln sind: hier in Europa.

TEIL 1 Die vier Wellen

1 Anarchismus, Antikolonialismus und Neue Linke

Meine erste Begegnung mit David Rapoport war bei einem Symposium über Selbstmordattentäter im Januar 2006 im israelischen Haifa. Rapoport hielt sich während des ersten Konferenztages zurück, saß im Publikum und kratzte sich gelegentlich an seinem weißen Bart – ein sicheres Zeichen dafür, dass er mit den Äußerungen des Vortragenden nicht einverstanden war. Rapoport war der Star der Tagung. Jeder kannte ihn: Er war ein Urgestein der Terrorismusforschung, der bereits Bücher über Terrorismus geschrieben hatte, bevor viele von uns geboren waren, und dessen Werke wir alle in unseren Artikeln häufig zitierten.

Rapoports große Rede – seine Keynote – war am Abend, und die Universität Haifa, die die Konferenz organisiert hatte, lud eine Gruppe israelischer Offiziere ein, die etwas lernen sollte. Doch statt einem packenden Vortrag über die Wurzeln und Entwicklung des Terrorismus erzählte Rapoport fast eine Stunde lang über die mazedonische Unabhängigkeitsbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts – ein so obskures Thema, dass selbst meine Kollegen anfingen, ungeduldig auf ihre Uhren zu schauen (von den Offizieren ganz zu schweigen). Auch ich weiß nicht mehr genau, was Rapoport an jenem Abend sagte. Doch sein enzyklopädisches Wissen und seine Leidenschaft für das Thema waren offensichtlich. Rapoport war nicht jemand, der sich für Terrorismus bloß interessierte – keiner, der sich im Fernsehen als Experte ausgab und am nächsten Tag zu einem anderen Thema sprach. Er hatte sein Leben dem Studium des Terrorismus gewidmet. Davor hatte ich großen Respekt.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 formulierte Rapoport eine These, die auf einer Gesamtschau seiner mehr als drei Jahrzehnte Studium und Forschung basierte.1 Die vier Wellen, die er postulierte, waren gleichzeitig eine kurze Geschichte des modernen Terrorismus. Sie beschrieben dessen historische Entwicklung und machten klar, dass auch der neue Terrorismus, der die Vereinigten Staaten am 11. September heimgesucht hatte, nicht aus dem Nichts gekommen war. Die terroristische Logik und Denkweise, ja selbst die Rechtfertigung extremer Brutalität gab es unter anderen, nichtislamischen Vorzeichen bereits vorher. Terroristische Gruppen, so Rapoport, waren immer das Produkt von viel breiter aufgestellten radikalen sozialen und politischen Bewegungen, und obwohl es vielen gelang, ihre Länder ins Chaos zu stürzen, konnten die allermeisten ihre politische Utopie nie verwirklichen. Terrorismus war laut Rapoport ein Generationenphänomen: Sobald die ursprüngliche Welle scheiterte, musste sich eine Bewegung entweder neu erfinden – oder wurde durch eine andere ersetzt.

Dieses Kapitel beschreibt diesen immer wiederkehrenden Zyklus des Aufstiegs und Scheiterns für die ersten drei der vier Wellen. Es schließt mit einer kurzen Betrachtung zum Rechtsterrorismus, den Rapoport – aus guten Gründen – nicht als eigenständige Welle begriff.

Anarchismus

Die erste von Rapoports Wellen war der Anarchismus. Zwischen den Jahren 1880 und 1905 ermordeten anarchistisch orientierte Terroristen die Kaiserin von Österreich, den König von Italien, französische und amerikanische Präsidenten sowie Dutzende von unbescholtenen Bürgern, die unter Verdacht standen, Teil der Bourgeoisie zu sein. Keine andere Bewegung hatte bei der Durchführung terroristischer Anschläge so viel Erfolg, doch erreichte so wenig. Die internationale Revolution, auf die sie gehofft hatten, gelang nirgendwo. Und dennoch waren die Anarchisten einflussreich. Sie formulierten Taktiken und eine Strategie, die noch Jahrzehnte später als Anleitung und Inspiration für Terroristen aus aller Welt dienen sollten.

Der Name dieser Strategie war »Propaganda der Tat«, und ihr Erfinder war Carlo Pisacane (1818–1857), ein verarmter Aristokrat aus Neapel, der sein Leben lang für ein vereinigtes und sozialistisches Italien gekämpft hatte. Pisacane war Teil der liberalen Revolutionen, die im Jahr 1848 überall in Europa ausgebrochen waren. Doch nach deren Niederschlagung verlor er Vertrauen in die Denker und Intellektuellen, die sie angestachelt hatten. »Ideen entspringen Taten und nicht umgekehrt«,2 schrieb er in seinem Politischen Testament (Testamento Politico), das im gleichen Jahr veröffentlicht wurde, in dem er starb. Sein intellektuelles Vermächtnis war, dass revolutionäres Handeln wichtiger sei als Philosophieren und dass revolutionäre Taten einen größeren Einfluss auf das Bewusstsein der eigenen Anhänger hätten als irgendein politischer Trakt. Ein Jahrzehnt später wurde Pisacanes Idee zuerst unter italienischen, dann unter allen europäischen Anarchisten akzeptierte Doktrin.3

Für Pisacane ging es bei der Propaganda der Tat nicht in erster Linie um Gewalt. Erst Pjotr Kropotkin (1842–1921), ein russischer Anarchist, verwandelte das Konzept in eine terroristische Strategie. Kropotkin, ein russischer Prinz, der bereits im Alter von zwölf Jahren zum Sozialismus konvertiert war, gehörte zu den damals einflussreichsten Anarchisten, dessen Artikel und Bücher in ganz Europa gelesen wurden. Er war davon überzeugt, dass die erhoffte Revolution mit Einzelaktionen – »Akte individuellen Heldentums« – beginne, die Gleichgesinnte von der Notwendigkeit und Dringlichkeit des Handelns überzeuge, sie zu weiteren Aktionen inspiriere und so zu einer Kettenreaktion führe. Dass solche Aktionen gewalttätig seien – und sein mussten –, daran bestand für ihn kein Zweifel. Der Akt des Zerstörens, so Kropotkin, »ist natürlich und gerecht … und [für die beteiligten Revolutionäre] zutiefst befriedigend«.4 Dass die Eliten auf solche Aktionen mit staatlicher Gewalt antworten würden, war Kropotkin ebenfalls klar. Doch statt die Rebellion niederzuschlagen, würde staatliche Repression der Revolution nur neue Anhänger in die Arme treiben.5

Die Ersten, die Kropotkins Strategie umsetzten, waren die russischen Revolutionäre der Narodnaja Wolja (»Wille des Volkes«). Ab dem Jahr 1878 verübten sie Anschläge auf prominente Aristokraten und wichtige Beamten des zaristischen Regimes. Die Hoffnung war, dass andere Revolutionäre und Anarchisten ihrem Beispiel folgen würden. Das wichtigste und gleichzeitig schwierigste Anschlagsziel war der Zar selbst. In den ersten drei Jahren unternahm die Gruppe insgesamt acht Versuche, Alexander II. (1855–1881) umzubringen, die alle scheiterten. Auch der neunte und letztlich erfolgreiche Versuch am 1. Mai 1881 ging beinahe schief. Vier Revolutionäre waren mit je vier Bomben ausgestattet, um die Kutsche des Zaren von jeder Richtung aus anzugreifen. Als der erste sein Ziel verfehlte, rief der Zar noch »Gott sei Dank, mir geht es gut!«, doch der zweite Angreifer kam näher an die Kutsche heran und sprengte sich selbst und den Zaren in die Luft.6

Die Aktion war Narodnaja Woljas größter Erfolg, aber gleichzeitig der Anfang von ihrem Ende. Die zaristische Regierung mobilisierte den gesamten Staatsapparat, inklusive der gefürchteten Geheimpolizei, um die Gruppe zu vernichten. Das Resultat: Ein Jahr später war von Narodnaja Wolja praktisch nichts mehr übrig. Selbst Kropotkin, der die Situation in seiner Heimat intensiv verfolgt hatte, distanzierte sich von der Gruppe – und damit von der eigenen Strategie. Im Jahr 1891 schrieb er:

Revolutionen beruhen nicht auf den Heldentaten einzelner. Revolutionen sind Volksbewegungen. Das war der Fehler der Anarchisten im Jahr 1881 … Als die russischen Revolutionäre den Zar umbrachten …, dachten die europäischen Anarchisten, dass ein paar Leute, ausgestattet mit Bomben, genug seien, um eine soziale Revolution auszulösen … Aber eine Machtstruktur, die sich über Jahrhunderte etabliert hat, lässt sich nicht einfach mit ein paar Kilo Dynamit zu Fall bringen.7

Der vielleicht wichtigste Deutsche unter den gewalttätigen Anarchisten war Johann Most (1846–1906), ein in Augsburg geborener Buchbinder. Bereits in jungen Jahren war Most ein aktiver Sozialist, organisierte Streiks und wurde im Alter von 28 Jahren in den Reichstag gewählt. Doch mit parlamentarischer Demokratie hatte er schon damals nichts am Hut. Gleich mehrere Male wurde er wegen Aufrufen zur Gewalt verhaftet, und im Jahr 1878 drängte ihn Bismarcks Reichsregierung ins Exil – zunächst nach Frankreich, dann nach London. Als ihn die Briten zuerst ins Gefängnis sperrten und schließlich des Landes verwiesen, blieb nur noch der Weg über den Atlantik. Und auch in Amerika etablierte sich Most schnell als eine zentrale Figur in der anarchistischen Szene.

Seine wichtigste Rolle bestand nach wie vor im Werben für die Propaganda der Tat. Im Jahr 1885 veröffentlichte Most ein Heft mit dem umständlichen Titel Revolutionäre Kriegswissenschaft. Ein Handbüchlein zur Anleitung betreffend Gebrauches und Herstellung von Nitroglycerin, Dynamit, Schießbaumwolle, Knallquecksilber, Bomben, Brandsätzen, Giften usw., usw.8 Die Broschüre war eine Anleitung für »einsame Wölfe«, die nicht Teil organisierter Strukturen waren, aber trotzdem für die anarchistische Sache kämpfen wollten. Mosts Ansatz war identisch mit dem des jemenitischen al-Qaida-Predigers Anwar al-Awlaki, der hundert Jahre später im Internet das al-Qaida-Magazin Inspire veröffentlichte. Doch im Gegensatz zu Awlaki, der auf das Internet und hausgemachten Sprengstoff setzte, druckte Most sein Handbüchlein auf Papier und war ein enthusiastischer Anhänger des Dynamits, das zwei Jahrzehnte vorher von Alfred Nobel erfunden worden war:

Dynamit … ist eine formidable Waffe gegen jede Art von Miliz, Polizei oder Detektive, die den Schrei nach Gerechtigkeit unterdrücken. Es kann gegen Menschen und Sachen verwendet werden. Der Einsatz gegen Personen ist besser als der gegen Ziegel und Mauerwerk … Ein Pfund von diesem Zeug schlägt ein ganzes Bündel Stimmzettel.9

Und trotzdem war Most kein Massenmörder. Er hatte ein zwar gewaltorientiertes, aber dennoch strategisches Verständnis der Propaganda der Tat. Gewalt war kein Selbstzweck, sondern musste der Sache dienen. Und so sprach er sich konsequent gegen Anschläge auf einfache Bürger aus: »Je höhergestellt das Opfer des Anschlags und je gezielter die Operation, desto größer die Propaganda-Wirkung.«10

Bild 1: Veröffentlichte ein »Handbüchlein« für »einsame Wölfe«: der deutsche Anarchist Johann Most

Eskalation

Nicht alle Anarchisten waren so diszipliniert. In Frankreich kam es in den Jahren von 1892 bis 1894 zu den brutalsten Anschlägen während der anarchistischen Welle. Ihr Auslöser war die Hinrichtung von François-Claudius Koënigstein (1859–1892), einem arbeitslosen Musiker, der als Ravachol bekannt wurde. Ravachol hatte nach einer Maikundgebung, bei der neun Demonstranten von der Polizei erschossen wurden, eine Serie von Anschlägen gegen Polizei und Justiz verübt. Aus Sicht der Anarchisten war Ravachol ein charismatischer Held, doch die Presse hatte ihn systematisch dämonisiert. Nachdem er gefasst und hingerichtet worden war, richtete sich die Wut der gewaltbereiten Anarchisten gegen das gesamte System – nicht mehr nur gegen dessen oberste Repräsentanten.11

Ravachols Schicksal inspirierte eine Reihe »einsamer Wölfe«, die zwar dem anarchistischen Milieu zugehörten, aber nicht Teil einer bestimmten Gruppe waren. Dazu zählte Léon-Jules Léauthier (1874–1894), der im November 1893 in ein teures Pariser Restaurant spazierte und die ersten fünf Mitglieder der Bourgeoisie ermorden wollte, denen er begegnete. (Am Ende erstach er einen serbischen Diplomaten, der sich ebenfalls dort aufhielt.) Weniger als einen Monat später stürmte Auguste Vaillant (1861–1894), ein Mitstreiter Léauthiers, das französische Parlament und warf eine Bombe ins Plenum. »Je tauber sie sind«, so Vaillant später vor Gericht, »desto lauter muss deine Stimme donnern.«12

Émile Henry (1872–1894), ein gerade mal 21-jähriger Anarchist aus aristokratischem Elternhaus, führte den vielleicht dramatischsten Anschlag aus. Am Abend des 12. Februar 1894 betrat er das Café Terminus in Paris und warf eine selbstgemachte Bombe auf eine Kapelle, die gerade für die Gäste musizierte. Obwohl das Restaurant fast voll besetzt war, kam nur eine Person ums Leben. Und dennoch verursachte der Anschlag mehr Panik als die vorhergehenden, denn das Terminus war kein Nobelrestaurant, sondern auch bei einfachen Angestellten und der Mittelschicht beliebt. Beim darauffolgenden Prozess rechtfertigte Henry seine Tat mit den Worten: »Es gibt keine Unschuldigen!« Für ihn waren alle Mitglieder der Bourgeoisie Teil des Systems und hatten somit Schuld an der Unterdrückung der Arbeiterklasse und derer, die für sie kämpfte. Es gebe keinen Unterschied, so Henry, zwischen Regierung, Polizei und Bourgeoisie, »und deshalb suchte ich mir meine Opfer per Zufall aus«.13 Sein Schlussplädoyer war eine ebenso dramatische wie eloquente Zusammenfassung der Propaganda der Tat, die so – oder ähnlich – auch von Terroristen in den drauffolgenden Wellen hätte formuliert werden können:

In diesem Krieg, den wir der Bourgeoisie erklärt haben, bitten wir nicht um Gnade. Wir bringen Tod, und wir wissen, dass wir ihn selbst erleiden werden. Ihr Urteil erwarte ich deshalb mit Gleichgültigkeit. Mir ist bewusst, dass mein Kopf nicht der letzte ist, der rollen wird. Aber ich weiß ebenso, dass die Hungernden jetzt die Wege zu Euren großen Cafés und Restaurants kennen … Und dass ihre Namen die nächsten auf der blutigen Liste unserer Toten sein werden.14

In fast allen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten forderte die anarchistische Welle Opfer. Italienische Anarchisten ermordeten in den Jahren von 1894 bis 1900 den französischen Präsidenten, den spanischen Premierminister, die österreichische Kaiserin und den italienischen König. In Spanien verursachte ein Bombenanschlag auf das Opernhaus in Barcelona im November 1893 zwanzig Tote. Und in Amerika ermordete ein Anarchist im Jahr 1901 den Präsidenten William McKinley.

Zwischen den Aktivisten aus verschiedenen Ländern gab es vielfältige Kontakte. Man traf sich bei Konferenzen, und Flüchtlinge wie Most sorgten dafür, dass sich nationale Gruppen gegenseitig befruchteten. Doch ein transnationales Terrornetzwerk wie al-Qaida waren die Anarchisten nicht. Die Kommunikation über Landesgrenzen hinweg war nach wie vor mühsam, und trotz einer gemeinsamen internationalistischen Ideologie gab es so gut wie keine grenzübergreifenden Operationen. Der anarchistische Terrorismus war nach wie vor die Summe vieler nationaler Kampagnen.

Und natürlich ging auch die anarchistische Welle zu Ende. Nach Meinung vieler Historiker waren der Grund harsche Gesetze, die die gefährlichsten Aktivisten aus dem Verkehr zogen. Andere argumentieren, dass die Sozialreformen, die um die Jahrhundertwende in vielen europäischen Staaten durchgeführt wurden, den Anarchisten ihren sozialen und politischen Nährboden entzogen.15 Wie häufig steckt in beiden Erklärungen ein Stück der Wahrheit. Genauso richtig ist allerdings, dass die anarchistische Kampagne zu Beginn des 20. Jahrhunderts überall an Fahrt verloren hatte. Die Generation, die bereits in den 1880ern für den Einsatz terroristischer Gewalt agitierte, war in die Jahre gekommen, und ihren Nachfolgern fehlte der (häufig naive) Enthusiasmus ihrer Vorgänger. Die erste Welle hatte ihren Zyklus durchlaufen.

Antikolonialismus

Verglichen mit der anarchistischen Welle war die antikolonialistische Welle, die in den 1930er Jahren begann und in den 1950ern ihren Höhepunkt erreichte, effektiver und von größerer politischer Konsequenz. Die gewalttätigen Gruppen, die zu ihr gehörten, waren meist besser in der Bevölkerung verankert als die Anarchisten und deshalb weniger stark auf die Propaganda der Tat, »einsame Wölfe« und Einzeltäter angewiesen. Aber sie waren nicht immer erfolgreich. Ihr Ziel war, eine Situation herbeizuführen, in der für Kolonialmächte wie Großbritannien und Frankreich die »gefühlten« Kosten einer Kolonie höher waren als ihre Vorteile. Doch die Strategie funktionierte nur, solange es tatsächlich um den Kampf gegen Fremdherrschaft ging.

Der Kolonialismus war seit Ende des Ersten Weltkriegs zum Auslaufmodell geworden. In allen Teilen der Welt waren in den Jahrzehnten zuvor nationalistische Bewegungen entstanden, die gegen Fremdherrschaft und für eine Rückbesinnung auf die eigene Kultur, Sprache und Tradition eintraten. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) machte das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Völker, das viele dieser Bewegungen einforderten, im Februar 1918 zum Leitprinzip der internationalen Politik. Es war laut Wilson »keine hohle Phrase«, sondern ein »zwingendes Handlungsprinzip, das Staatsmänner nur noch auf eigene Gefahr ignorieren können«.16 Was genau ein Volk sei und wie das Prinzip umgesetzt werden solle, ließ Wilson offen. Und trotzdem schafften es die Amerikaner, auch die Briten, die als größte Kolonialmacht am meisten zu verlieren hatten, von der Idee zu überzeugen. In der Atlantik-Charta, die der britische Premierminister Winston Churchill (1874–1965) im August 1941 unterschrieb, war das »Recht aller Völker, sich selbst zu bestimmen« eines von acht Prinzipien, die das internationale System nach einem Sieg gegen Nazideutschland bestimmen sollte.17

Für Churchill und Wilson mag es vor allem um die Völker gegangen sein, die von Deutschland und seinen Alliierten während der zwei Weltkriege besetzt worden waren. Doch musste beiden klar gewesen sein, dass auch Nationen, die eigentlich noch gar keine waren, das Prinzip für sich in Anspruch nehmen würden. Fast alle Unabhängigkeitsbewegungen machten Selbstbestimmung zu ihrem Slogan, und viele legitimierten damit auch den gewaltsamen Kampf.

Am weitesten ging dabei der aus Martinique stammende französische Psychiater Frantz Fanon (1925–1961), dessen radikale Interpretation des Befreiungskampfs für viele Gruppen zur ideologischen Grundlage wurde. Fanon verstand den Kolonialismus als rassistisches System, das die »Eingeborenen« dazu bringe, ihre eigene Unterdrückung als rechtens und sich selbst als minderwertig zu begreifen. Bei der Befreiung, so Fanon, gehe es nicht um die Lösung eines politischen Konflikts, sondern um die erfolgreiche Bearbeitung eines mentalen Traumas. Die tatsächliche, psychische Befreiung vom Kolonialismus verlange deshalb nach dem Einsatz von Gewalt. In seinem einflussreichsten Buch, Die Verdammten dieser Erde (1961), schrieb er:

Auf der individuellen Ebene wirkt die Gewalt entgiftend. Sie befreit den Kolonisierten von seinem Minderwertigkeitskomplex, von seinen kontemplativen und verzweifelten Handlungen.18

Fanons Gleichsetzung von Kolonialismus und Rassismus machte ihn nicht nur bei Nationalisten, sondern auch bei den Linken und der wachsenden Studentenbewegung in Westeuropa und Nordamerika populär. Bereits während der zweiten Welle gab es deshalb einen Brückenschlag mit westlichen Linken, die sich fortan für Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt starkmachten und mit Fanons Ideen wenige Jahre später ihren eigenen Terrorismus rechtfertigten.

Algerien

Als Fanon Die Verdammten dieser Erde schrieb, waren die Briten bereits in verlustreiche Kriege in Malaysia, Kenia und Zypern verwickelt und hatten wenige Jahre zuvor ihr Mandat in Palästina verloren. Der wohl bedeutendste Konflikt der Welle spielte sich in Algerien ab, wo die Kolonialmacht Frankreich von 1954 bis 1962 gegen die Nationale Befreiungsfront (FLN) kämpfte. Algerien stand seit dem Jahr 1830 unter französischer Herrschaft und galt seit Mitte des 19. Jahrhunderts als integraler Bestandteil der französischen Republik. Sichtbarstes Zeichen waren die französischen Siedler, die zu Beginn des Konflikts ein Zehntel der Bevölkerung ausmachten. Anfangs hatte die FLN allerdings wenig Erfolg. Basierend auf der Guerilla-Doktrin, mit der Mao Zedong (1893–1976) die Macht in China ergriffen hatte, wollte man sich vom bergigen Hinterland aus in die Städte vorarbeiten. Doch bereits in den Bergen stießen die selbsternannten Freiheitskämpfer auf Widerstand und konnten von den Franzosen mit wenig Aufwand in Schach gehalten werden.19

Abane Ramdane (1920–1957), ein einflussreicher Kommandeur, der aus den Bergen stammte und sich früh der FLN angeschlossen hatte, schlug deshalb Anfang 1956 eine völlig neue Strategie vor. Statt Guerillakrieg forderte er Terrorismus, und der sollte nicht im Hinterland stattfinden, sondern mitten in der algerischen Hauptstadt Algier. Ramdane verstand genau, worum es beim Terrorismus ging: nicht die direkte Konfrontation mit dem Gegner, sondern die psychologische Manipulation seiner Wahrnehmung und Interessen. Durch dramatische Anschläge auf französische Kolonialisten, Siedler und einheimische Kollaborateure sollte die terroristische Kampagne der FLN Aufmerksamkeit erregen, die algerische Gesellschaft polarisieren, Siedler verunsichern, eine französische Überreaktion provozieren und damit die Regierung in Paris zum Rückzug zwingen.20 Fanon, der Anfang der 1950er als Psychiater nach Algerien gegangen war und sich bereits im Jahr 1955 der FLN angeschlossen hatte, war einer von Ramdanes enthusiastischsten Unterstützern.21

Die von Ramdane organisierte Kampagne war brutal: Sie zielte auf einfache Algerier in Cafés und auf Marktplätzen; sogar Frauen und Kinder wurden Opfer von FLN-Anschlägen. Aber genauso brutal war die französische Reaktion. Während der sogenannten Schlacht um Algier folgte die französische Armee dem Prinzip, dass Terroristen nur dann besiegt werden könnten, wenn man sich ihrer Methoden bediene. Französische Fallschirmjäger verwandelten die Altstadt von Algier in eine Art Gefangenencamp, wo Folter und Exekutionen sowie das »Verschwinden« von Verdächtigen an der Tagesordnung waren. Zuerst schien die französische Initiative erfolgreich: Im Oktober 1957 war die Schlacht um Algier zu Ende, die FLN besiegt und die meisten ihrer Kommandeure entweder tot oder im Gefängnis. Doch längerfristig erreichten die Franzosen das Gegenteil. Vor die Wahl gestellt, welche Art von »Terrorismus« sie bevorzugten – den französischen oder den algerischen –, entschieden sich mehr und mehr Algerier für den letzteren. Und die französische Öffentlichkeit reagierte ähnlich. Die Exzesse des eigenen Militärs lösten eine heftige Debatte über den Nutzen und die Legitimität der französischen Präsenz aus. Viele Franzosen waren nicht bereit, einen derart hohen moralischen, politischen und finanziellen Preis für das Verbleiben Algeriens im französischen Kolonialreich zu bezahlen.22

Kurzum: Ramdanes Strategie funktionierte genau nach Plan. Trotz militärischer Unterlegenheit hatte die FLN eine Situation herbeigeführt, in der Frankreich politisch und psychologisch nicht mehr willens war, an Algerien festzuhalten. Weniger als fünf Jahre nach der Schlacht um Algier entließ Präsident Charles de Gaulle (1890–1970) das Land in die Unabhängigkeit.

Palästina und Irland

Der Erfolg der FLN wurde für Unabhängigkeitsbewegungen auf der ganzen Welt zum Modell. Jassir Arafat (1929–2004), der Anführer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), flog bereits 1963 – ein Jahr nach der Unabhängigkeit – nach Algier, um die FLN-Strategie zu studieren.23 Seine Mitstreiter hatten sich bis dahin an die Guerilla-Strategie gehalten, doch ab den späten 1960ern setzten auch sie auf Terrorismus. Im Vordergrund standen zunächst Flugzeugentführungen, die meist wenige Opfer forderten, aber weltweit Schlagzeilen machten. Die erste fand im Juli 1968 statt, als ein palästinensisches Kommando ein Flugzeug der israelischen Airline El Al, das eigentlich in Tel Aviv landen sollte, nach Algier entführte und von dort fast sechs Wochen lang über die Freilassung palästinensischer Gefangener verhandelte. Drei Jahre (und ein halbes Dutzend Entführungen) später die spektakulärste Operation: die Geiselnahme von elf israelischen Athleten während der Olympischen Spiele 1972 in München, bei der alle Israelis ums Leben kamen.

Spätestens jetzt wusste man überall vom palästinensischen Unabhängigkeitskampf, aber eine effektive Strategie waren solche Aktionen deshalb nicht. Die PLO hatte keine genaue Vorstellung davon, wie Aufmerksamkeit für die palästinensische Sache zur »Zerstörung« Israels führen sollte, die man bis 1974 offiziell anstrebte. Denn im Gegensatz zu Algerien war Israel keine Kolonie – keine entbehrliche Besitzung, an der eine fremde Macht nur Interesse hatte, solange sie Nutzen brachte. Für die Israelis stand die eigene Existenz auf dem Spiel, und deshalb war die Schmerzgrenze weit höher als bei Frankreich und Algerien.

Genauso problematisch war die Anwendung der FLN-Doktrin bei Konflikten zwischen verschiedenen Volksgruppen. Glaubte man den Strategen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), so ging es beim Nordirlandkonflikt um die Befreiung von der britischen Kolonialherrschaft. Ab dem Jahr 1969 kämpfte die Gruppe nach algerischem Muster gegen die britischen »Besatzer« und ihre lokalen Handlanger, die protestantischen Unionisten, die in Verwaltung und Polizei stark überrepräsentiert waren. Doch in Wirklichkeit war Nordirland nicht in erster Linie ein Kolonialkonflikt. Das Selbstbestimmungsrecht der katholischen Minderheit, von denen viele die Vereinigung mit dem Rest Irlands wollten, stand gegen das Selbstbestimmungsrecht der protestantischen Mehrheit, die bei Großbritannien bleiben wollten. Die britische Regierung hatte schon lange den Glauben an den strategischen oder ökonomischen Nutzen Nordirlands aufgegeben und hielt nur deshalb an der Provinz fest, weil man sich vor den Konsequenzen eines Bürgerkriegs fürchtete.24 Es dauerte zwei Jahrzehnte, bis auch die IRA erkannte, dass ihre Interpretation des Konflikts falsch war. »Es kann nicht sein, dass wir versuchen, der anderen Seite unsere Nationalität aufzuzwingen«, so der republikanische Chefunterhändler Gerry Adams (*1948) Anfang der 1990er Jahre: »Wir sind eine geteilte Gesellschaft.«25

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