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Der dschihadistische Terror ist zurück. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mobilisiert sich weltweit eine neue Gewaltbewegung, die sich in westlichen Gesellschaften schnell auszubreiten droht – nach dem Angriff gab es in Europa bereits mehr versuchte Anschläge als im gesamten Jahr zuvor. Peter R. Neumann, einer der wichtigsten Terrorismusexperten der Welt, sieht deutliche Warnzeichen dafür, dass die dschihadistische Bedrohung zunimmt – vielleicht stärker noch als vor zehn Jahren, wie zuletzt das Attentat in Moskau oder der Messerangriff in Mannheim verdeutlichten. Neumann zeigt, wie sich der Dschihadismus seit dem 11. September 2001 entwickelt hat und was die neue Gefahr ausmacht. Eine bestechende Analyse, die vor Augen führt, was Deutschland und Europa bevorstehen könnte – und was Sicherheitsbehörden, Politik und wir alle tun müssen, um dieser Gefahr und den möglichen gesellschaftlichen Konflikten angemessen zu begegnen.
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Seitenzahl: 202
Peter R. Neumann
Wie uns der Dschihadismus herausfordert
Der dschihadistische Terror ist zurück. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mobilisiert sich weltweit eine neue Gewaltbewegung, die sich in westlichen Gesellschaften schnell auszubreiten droht – nach dem Angriff gab es in Europa bereits mehr versuchte Anschläge als im gesamten Jahr zuvor.
Peter R. Neumann, einer der wichtigsten Terrorismusexperten der Welt, sieht deutliche Warnzeichen dafür, dass die dschihadistische Bedrohung zunimmt – vielleicht stärker noch als vor zehn Jahren, wie zuletzt das Attentat in Moskau oder der Messerangriff in Mannheim verdeutlichten. Neumann zeigt, wie sich der Dschihadismus seit dem 11. September 2001 entwickelt hat und was die neue Gefahr ausmacht. Eine bestechende Analyse, die vor Augen führt, was Deutschland und Europa bevorstehen könnte – und was Sicherheitsbehörden, Politik und wir alle tun müssen, um dieser Gefahr und den möglichen gesellschaftlichen Konflikten angemessen zu begegnen.
Peter R. Neumann, geboren 1974 in Würzburg, ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London und leitete dort lange das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR). Als international gefragter Experte war Neumann 2017 Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und berät die Europäische Kommission zum Thema Extremismus. Daneben schreibt er unter anderem für den «Spiegel» und die «New York Times». Nach seinem viel gelobten Buch «Die neue Weltunordnung» erschien von ihm zuletzt «Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
Covergestaltung Frank Ortmann
ISBN 978-3-644-02269-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Im Oktober 2023 ermordet ein Fünfundvierzigjähriger einen schwedischen Fußballfan auf den Straßen von Brüssel, weil dessen Land angeblich den Islam beleidigt hat. Sechs Wochen später ersticht ein Sechsundzwanzigjähriger einen deutschen Touristen in Paris, um die Toten von Afghanistan und Gaza zu rächen. Im März 2024 attackiert ein Fünfzehnjähriger einen orthodoxen Juden in Zürich und zitiert als Rechtfertigung ein Video des Islamischen Staats (IS). Und im Juni versucht ein Fünfundzwanzigjähriger in Mannheim, einen Anti-Islam-Aktivisten anzugreifen, und tötet dabei einen Polizisten.
Alle genannten Attentäter handelten allein und unabhängig voneinander. Sie waren unterschiedlichen Alters, kamen aus verschiedenen Orten, und soweit wir wissen, kannte niemand die jeweils anderen. Dennoch hatten sie etwas gemeinsam: Sie alle verstanden sich als «Soldaten» in einem globalen Krieg, in dem sie und ihre Religion vom Westen und seinen Verbündeten angegriffen werden. Und es war kein Hindernis für sie, dass sie selbst im Westen lebten und Teil westlicher Gesellschaften waren.
Alle Attentate waren – streng genommen – Einzelfälle, begangen von Einzeltätern. Aber die Anzahl dieser Einzelfälle hat sich seit dem Oktober 2023 dramatisch erhöht. Neben den vier erwähnten Anschlägen kam es in Westeuropa in den acht darauffolgenden Monaten zu mindestens dreiundzwanzig weiteren dschihadistischen Anschlägen, Anschlagsversuchen oder Anschlagsplanungen – mehr als viermal so viele wie im gesamten Jahr 2022. Die These dieses Buches ist, dass Europa am Anfang einer neuen terroristischen Welle steht, die den Kontinent noch jahrelang beschäftigen wird.
Die Rede von einer neuen Welle ist weder übertrieben noch alarmistisch. Sie basiert auf der Theorie des Terrorismusforschers David C. Rapoport, der zeit seines Lebens die Muster von terroristischen Bewegungen studiert hat. Wie das Buch zeigt, durchlief Europa in den vergangenen Jahrzehnten bereits zwei solcher Wellen, die jeweils etwa zehn Jahre dauerten. Sie begannen mit einem «einschneidenden Ereignis», worauf eine Phase der Radikalisierung und Repression sowie ein Generationswechsel innerhalb der dschihadistischen Bewegung folgte. Am Ende standen in beiden Fällen eine Gegenreaktion und Erschöpfung.
Der Kristallisationspunkt diesmal ist die Terroroffensive der Hamas vom 7. Oktober 2023 sowie der darauf folgende Konflikt im Nahen Osten. Diese verschafften der zum Beginn der Dekade darniederliegenden dschihadistischen Bewegung nicht nur einen massiven Motivationsschub, sondern auch ein neues Radikalisierungsnarrativ. Die Welle, die jetzt bevorsteht, hat vor allem drei Gesichter: die ambitionierten und zum Teil hochprofessionellen Terroristen des Islamischen Staats Provinz Khorasan (ISPK), die sehr jungen, hauptsächlich im Internet radikalisierten «TikTok-Dschihadisten» und den staatlich gesponserten Terrorismus der iranischen Revolutionsgarden sowie ihrer Partner in der sogenannten «Achse des Widerstands».
Die unterschiedlichen Akteure handeln nicht notwendigerweise gemeinsam, und ihre Ziele und Motivationen weichen zum Teil sehr stark voneinander ab. Doch sie alle haben Europa und europäische Gesellschaften im Visier. Mehr noch: Sie bedrohen die Idee eines pluralistischen Europas, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft und Identität friedlich zusammenleben. Besonders europäische Juden und jüdisches Leben in Europa stehen bereits unter Druck. Sollte die Entwicklung an Fahrt gewinnen, besteht außerdem die Gefahr einer noch tieferen Spaltung der europäischen Gesellschaften und eines «reaktionären» Terrorismus von rechts. In einer Situation, in der der Kontinent ohnehin mit Krisen und Polarisierung kämpft, könnte eine neue Terrorismuswelle so zum politischen Brandbeschleuniger werden.
Die gute Nachricht ist: Es gibt keinen zwingenden Grund, weshalb die bevorstehende Welle so viele Anschläge produzieren muss wie die letzte. Die Geschichte zeigt, dass vom Anfang bis zum Höhepunkt einer Welle meist zwei bis drei Jahre vergehen. Das bedeutet: Wenn Politik, Sicherheitsbehörden und Gesellschaft jetzt das Richtige tun, können die schlimmsten Auswirkungen verhindert werden. Hierauf aufmerksam zu machen, ist der Sinn und Zweck dieses Buchs.
Die folgenden Kapitel beleuchten sowohl historische als auch aktuelle Entwicklungen im Bereich des dschihadistischen Terrorismus. Ihr Fokus liegt auf Westeuropa, und sie beruhen auf einer Reihe unterschiedlicher Quellen, die das Phänomen so umfänglich wie möglich abzubilden versuchen. Dazu gehört eine systematische Auswertung aller öffentlich verfügbaren Daten zu terroristischen Anschlägen sowie Anschlagsplänen und ihre Veranschaulichung in verschiedenen Tabellen (siehe Kapitel 5 bis 7). Eine weitere Quelle bilden Gespräche mit fast fünfzig Personen aus einem halben Dutzend europäischer Staaten, die sich mit Terrorismus und Terrorismusabwehr befassen oder davon betroffen sind. Besonders aufschlussreich waren Diskussionen mit Vertretern von Sicherheitsbehörden, die in den meisten Fällen darum gebeten haben, nicht namentlich zitiert zu werden. Alle Interviews wurden im April und Mai 2024 geführt.[1]
Das Buch besteht aus drei Teilen, die miteinander in Verbindung stehen. Im ersten Teil geht es um die Logik dschihadistischer Wellen. Kapitel 1 gibt einen kurzen Überblick über die Ursprünge, Entwicklung und Spielarten des Dschihadismus und erklärt, wie eine Bewegung, deren Wurzeln in der mehrheitlich muslimischen Welt liegen, den Westen erreichte. Kapitel 2 und Kapitel 3 beschreiben die zwei dschihadistischen Wellen, von denen Westeuropa in vergangenen Jahrzehnten betroffen war: die Welle, die von den Terroranschlägen auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001 ausgelöst wurde, und die sogenannte Syrien-Welle, die mit dem Konflikt in Syrien zu Beginn der 2010er-Jahre ihren Anfang nahm.
Im zweiten Teil geht es dann um die bevorstehende Welle. Kapitel 4 behandelt die Auswirkungen der Ereignisse vom 7. Oktober 2023 und zeigt, wie diese zum Auslöser und Katalysator einer neuen terroristischen Welle wurden. Die darauffolgenden Kapitel beschreiben die verschiedenen Elemente, die während dieser Welle eine Rolle spielen werden: den ISPK, den aktuell aggressivsten Ableger des IS, der mit aller Macht versucht, Anschläge in Europa durchzuführen (Kapitel 5), den Aufstieg sogenannter TikTok-Dschihadisten, zum Teil sehr junger Teenager, die sich mithilfe der sozialen Medien radikalisieren (Kapitel 6), und die Rolle des Iran und seines internationalen Netzwerks, der sogenannten «Achse des Widerstands» (Kapitel 7).
Der dritte Teil des Buchs beschäftigt sich mit den Konsequenzen und Herausforderungen für Europa. Dabei stehen besonders zwei Aspekte im Vordergrund: Kapitel 8 widmet sich der Situation europäischer Juden, die sich durch die Auswirkungen des 7. Oktober, steigenden Antisemitismus und die Gefahr dschihadistischer Anschläge existenziell bedroht fühlen. Kapitel 9 erklärt, wie ein erstarkender Dschihadismus die gesellschaftliche Polarisierung und sogar den Rechtsterrorismus befeuern könnten.
Das Buch endet mit einer Reihe von Leitlinien, die dabei helfen sollen, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Die wichtigste davon ist: Wir müssen jetzt handeln, damit die Welle nicht noch weiter an Fahrt aufnimmt. Denn schon heute ist klar: Europa steht ein schwieriger Spagat zwischen Terrorismusabwehr und gesellschaftlichem Zusammenhalt bevor. Für die Idee eines demokratischen und pluralistischen Europas wird die Rückkehr des Terrors dadurch zum zentralen Test.
Die Idee, dass Terrorismus in Zyklen verläuft, ist nicht neu. Bereits vor über zwanzig Jahren veröffentlichte der amerikanische Historiker David C. Rapoport einen Artikel über «die vier Wellen» des modernen Terrorismus. Darin vertritt er die These, dass man die Geschichte des modernen Terrorismus in vier jeweils vierzigjährigen Wellen zusammenfassen könne. Die erste Welle begann demnach in den 1880er-Jahren mit den Anarchisten, denen unter anderem der Zar von Russland, die Kaiserin von Österreich und der amerikanische Präsident zum Opfer fielen. Die zweite Welle, ab etwa 1920, drehte sich um Fragen nationaler Selbstbestimmung und führte zur staatlichen Unabhängigkeit von vielen vormals europäischen Kolonien in Afrika und Asien. Die dritte Welle entstand aus der Studentenbewegung der 1960er und produzierte den Terrorismus der sogenannten «Neuen Linken» – darunter die deutsche Rote-Armee-Fraktion. Die vierte Welle war der religiöse Terrorismus, dessen Beginn Rapoport auf das Jahr 1979 datiert und zu der auch dschihadistische Gruppen wie al-Qaida und der sogenannte Islamische Staat (IS) zählen.[2]
Rapoports Wellentheorie war nützlich, denn sie zeigte, dass Terrorismus weder endlos ist noch aus dem luftleeren Raum kommt, sondern stets – und sehr eng – mit den großen revolutionären Strömungen der jeweiligen Zeit verwoben ist. Doch seine Theorie erfuhr auch Kritik. Immer wieder hieß es, dass sie den rechtsextremistischen Terrorismus nicht ausreichend berücksichtige – ein Punkt, den Rapoport kurz vor seinem Tod Anfang des Jahres 2024 durch Hinzufügen einer «fünften Welle» korrigierte.[3] Viel Diskussion gab es auch über die Länge und den Ablauf der Wellen. Rapoport wurde vorgeworfen, er habe die Anfangs- und Schlusspunkte so gesetzt, dass sie zu seiner Vorstellung von vierzigjährigen Zyklen passten, auch wenn einige der von ihm veranschlagten Wellen in Wirklichkeit deutlich kürzer (Neue Linke) oder länger (Antikolonialismus) dauerten. Die grundsätzlichste und hieran anknüpfende Kritik war, dass Rapoport keine überzeugende Erklärung dafür bieten konnte, aus welchem Grund terroristische Wellen nach vierzig Jahren enden sollten.[4]
Diese Probleme lassen sich auch an der vierten, also der religiösen Welle erkennen. Rapoport hatte zweifellos recht damit, dass die zunehmende Politisierung von Religion – die er in allen großen Religionen feststellte – eine weitere Bruchlinie war, aus der im Laufe der Zeit politische Konflikte, Gewalt und Terrorismus entstehen würden. Und er lag ebenfalls richtig, als er konstatierte, dass der Islam «im Mittelpunkt» dieser Welle stehen würde. Doch laut Rapoports Theorie hätte die religiös(-dschihadistische) Welle bereits 2019 – also vierzig Jahre nach ihrem Beginn – auslaufen müssen. Genau das tat sie aber nicht. Statt zu enden, hat sich der dschihadistische Terrorismus in den 2020er-Jahren fortgesetzt und seit den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 sogar erneuert.
Mehr noch: Das Muster, das sich aus einer Gesamtbetrachtung des modernen Dschihadismus ergibt, ist nicht eine Vierzig-Jahres-Welle, wie von Rapoport postuliert, sondern es sind mehrere Miniwellen. Jede dieser Wellen beginnt mit einem einschneidenden Ereignis und führt nach Phasen der Repression und Radikalisierung etwa zehn bis zwölf Jahre später schließlich zu einer Gegenreaktion und zur Erschöpfung der Bewegung.
Wie dieser Teil des Buchs zeigt, lässt sich damit die Entwicklung des Dschihadismus viel überzeugender erklären als mit der Idee eines einzigen Zyklus. Die nächsten Kapitel beschreiben die ersten zwei dieser Wellen: diejenige des 11. September, die besonders nach der amerikanischen Irak-Invasion an Fahrt gewann (Kapitel 2), und die Syrien-Welle, die zur Entstehung des IS führte (Kapitel 3). Zuerst jedoch geht es darum, woraus der Dschihadismus eigentlich besteht – und wie er in den Westen kam.
Ebenso wie alle anderen Wellen entwickelte sich auch der dschihadistische Terrorismus nicht im luftleeren Raum. Er wurzelt in einer breit aufgestellten politischen Bewegung, die im Laufe der Zeit unterschiedliche Akteure und Strömungen hervorgebracht hat. Im Falle der Dschihadisten ist diese Bewegung der sogenannte Islamismus, der beginnend im späten 19. Jahrhundert durch das Aufeinandertreffen von Islam und westlicher Moderne entstanden ist. Islamisten begreifen den Islam nicht nur als Religion, sondern vor allem als politische Ideologie, nach der alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens gestaltet werden sollen. In letzter Konsequenz streben sie Staaten an, in denen weltliche Herrschaft durch religiöse – konkret: islamische – Herrschaft ersetzt wird.[5] Die Dschihadisten bilden hiervon eine Untergruppe: Sie sind der Überzeugung, dass zur Errichtung islamistischer Herrschaft der Einsatz gewaltsamer Mittel nicht nur notwendig, sondern verpflichtend ist.[6]
Anknüpfungspunkte zum Dschihadismus gibt es in allen Strömungen des Islamismus.[7] Eine erste davon ist die Muslimbruderschaft, die vom ägyptischen Lehrer Hasan al-Banna im Jahr 1928 gegründet wurde. Al-Banna war ein strenggläubiger Mann, der den Vormarsch westlicher Ideen als dekadent und zerstörerisch empfand. Um zu alter Stärke zurückzufinden, müsse Ägypten die westlichen Werte zurückdrängen und den Islam wieder deutlicher in den Vordergrund stellen, so al-Banna. «Islam ist die Antwort» wurde zum Motto seiner Organisation, die mittels Wohlfahrtsvereinen, Schulen, Krankenhäusern und Berufsverbänden versuchte, die Gesellschaft «von unten» zu islamisieren. Ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung hatte die Muslimbruderschaft eine halbe Million Mitglieder, und ein weiteres Jahrzehnt später existierten Ableger in allen arabischen Ländern. Bis heute ist sie die größte islamistische Organisation weltweit.[8]
Mit bewaffnetem Kampf hatten die Muslimbrüder zunächst wenig zu tun, doch das änderte sich unter dem Einfluss von Sayyid Qutb, ebenfalls ein ägyptischer Lehrer, der wegen seiner Ansichten von der damaligen Militärregierung gefoltert und im Jahr 1966 gehenkt wurde. Qutb vertrat die These, dass moderne muslimische Staaten – wie etwa Ägypten – nicht weniger «heidnisch» und korrumpiert seien als der Westen. Die wenigen wahren Muslime lebten seiner Auffassung nach in feindlichen Gesellschaften, was bedeutete, dass für sie alle Mittel legitim seien, um gegen diese anzukämpfen. Im Gegensatz zu al-Banna, dessen Ansatz vergleichsweise pragmatisch und auf schrittweise Veränderung angelegt war, predigte Qutb gewaltsame Revolution.
Eine zweite Strömung ist der sogenannte Salafismus. Ähnlich wie die Muslimbruderschaft entstand dieser aus der Suche nach einer vom Westen und der Moderne unabhängigen Identität.[9] Stärker noch als die Muslimbrüder setzen Salafisten auf eine fundamentalistische – das heißt wortwörtliche – Auslegung ihrer Religion, die jede Form von Innovation ablehnt und sich ausschließlich am Leben des Propheten Mohammed und seiner engsten Gefährten (arabisch: Salaf) orientiert. Eine besonders harsche Version dieses Ansatzes etablierte sich in Saudi-Arabien, wo die Rückbesinnung auf das «Eigene» stets mit Feindschaft gegenüber «Ungläubigen» und nichtsalafistischen Muslimen einherging.
Salafisten sind ultrakonservativ und suchen häufig den Rückzug aus der Gesellschaft. Doch mit dem Aufstieg der Muslimbruderschaft infizierte Qutbs revolutionärer Virus auch diese Strömung. Einer der häufig genannten Gründe dafür ist, dass in den Jahren nach Qutbs Tod viele seiner Anhänger aus Ägypten nach Saudi-Arabien flohen. Dazu gehörte auch sein Bruder Mohammed, der an saudischen Universitäten lehrte und dort eine Synthese zwischen den zwei Traditionen schuf. Das Ergebnis war eine Art revolutionärer Salafismus, der unter bestimmten Bedingungen auch den Einsatz gewaltsamer Mittel guthieß und im Laufe der 1970er sogar das saudische Königshaus infrage stellte.[10]
Eine dritte Strömung entspringt dem schiitischen Islam und damit der kleineren der zwei islamischen «Konfessionen». Sie entstand in den 1960er-Jahren im Iran, dem größten schiitischen Land, und wurde von dem Geistlichen Ruhollah Chomeini angeführt, der in dem säkularen, proamerikanischen und proisraelischen Schah Reza Pahlavi ein perfektes Feindbild fand. Im Vergleich zu den anderen Strömungen war Chomeinis Bewegung breiter aufgestellt, hatte linke und sogar liberale Partner und integrierte viel stärker auch Elemente des «antiimperialistischen» Diskurses, der zu dieser Zeit an westlichen Universitäten in Mode kam.[11]
Doch letztlich war auch Chomeini ein Islamist. Seine wichtigste Doktrin, die er Anfang der 1970er-Jahre im irakischen Exil erarbeitete und lange Zeit geheim hielt, nannte sich «Statthalterschaft der Rechtsgelehrten» und sah vor, dass jedes Gesetz von islamischen Gelehrten geprüft werden musste.[12] Trotz linker Rhetorik und weltlicher Einflüsse ging es also auch in dieser Strömung darum, das Primat religiöser Herrschaft durchzusetzen – notfalls mit Gewalt.
Das Jahr 1979 wurde, wie schon Rapoport feststellte, zum Wendepunkt für die islamistische Bewegung. Das wahrscheinlich wichtigste Ereignis fand gleich zu Beginn statt. Im Laufe des Jahres 1978 wurden die Demonstrationen gegen das Regime des Schahs im Iran immer größer, und selbst die gefürchtete Geheimpolizei bekam die Lage nicht mehr in den Griff. Nachdem der Schah am 16. Januar 1979 aus dem Iran geflohen war, kehrte Chomeini in sein Heimatland zurück, setzte sich an die Spitze der Oppositionsbewegung und rief am 1. April die «Islamische Republik» aus. Obwohl es also Schiiten und nicht Sunniten waren, die mit Chomeini an die Macht kamen, entfaltete die Revolution überall in der muslimischen Welt enorme Wirkung. Zum ersten Mal hatten Islamisten in der Auseinandersetzung mit einem repressiven und vom Westen unterstützten Regime einen Sieg errungen – noch dazu in einem großen und geopolitisch wichtigen Land. Kurzum: Der Islamismus schien auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.[13]
Innerhalb weniger Jahre begann der Iran damit, seine Revolution zu «exportieren». Als Israel im Jahr 1982 im benachbarten Libanon einmarschierte, war das neue Regime sofort zur Stelle, um dort eine islamistische Miliz aufzubauen, die den verhassten «Judenstaat» und seine westlichen Verbündeten bekämpfte. Im darauffolgenden Jahr erzielte die so entstandene Hisbollah (deutsch: «Partei Gottes») ihren ersten wichtigen Erfolg, als sie mit einem Selbstmordanschlag den Abzug einer internationalen Friedensmission erzwang. Seitdem ist die Gruppe nicht nur Bestandteil der proiranischen «Achse des Widerstands» (siehe Kapitel 7), sondern auch eine feste Größe in der libanesischen Politik.
Genauso wichtig war jedoch, was sich im mehrheitlich sunnitischen Teil der Region abspielte. Im November 1979 belagerten salafistische Dschihadisten zwei Wochen lang die Große Moschee im saudischen Mekka – der heiligsten Stätte des Islam. Dies war der bis dahin kühnste Aufstandsversuch gegen das Königshaus und konnte nur mithilfe französischer Spezialeinheiten niedergeschlagen werden. Der saudischen Regierung kam es in dieser Situation gerade recht, dass die Sowjetunion drei Wochen später in Afghanistan einmarschierte und die amerikanische Regierung nach Verbündeten suchte, um den Sowjets eine Niederlage zu bereiten. Statt ins Gefängnis schickte die saudische Regierung die Aufmüpfigen zum Dschihad ins ferne Afghanistan, wo sie zwar nicht gegen Amerika oder das eigene Königshaus, aber immerhin gegen gottlose Kommunisten kämpfen konnten.[14]
Zum Chef des sogenannten Dienste-Büros, das die Afghanistan-Mission organisierte, wurde der palästinensische Islamgelehrte Abdullah Azzam. Seine Anwerbungsbemühungen – die weit über die Vorstellungen seiner saudischen Auftraggeber hinausgingen – waren so erfolgreich, dass sich nicht nur zahlreiche Saudis zum Dschihad in Afghanistan meldeten, sondern Rekruten aus dem gesamten Nahen Osten, Nordafrika und sogar aus Westeuropa und Nordamerika. Hierdurch globalisierte sich der salafistische Dschihadismus, und es entstand eine Art «dschihadistische Internationale», an der sich nach Schätzungen des Forschers Thomas Hegghammer bis zu zwanzigtausend Auslandskämpfer beteiligten. Der prominenteste von ihnen war der saudische Unternehmersohn Osama bin Laden, der ab 1984 eine enge Beziehung zu Azzam entwickelte.[15]
Bis heute ist umstritten, welchen Anteil die arabischen Auslandskämpfer am Sieg der afghanischen Mudschaheddin über die Sowjets hatten. Historische Studien zeigen, dass nur die wenigsten tatsächlich an Kampfhandlungen beteiligt waren und dass es – wenn überhaupt – nur eine einzige Schlacht gab, in der die Auslandskämpfer ausschlaggebend waren.[16] Doch für Azzam, bin Laden und andere damals führende Figuren spielte das keine Rolle: Die Botschaft, die sie weltweit unter Salafisten verbreiteten, war, dass die arabischen Kämpfer die Sowjetunion in Afghanistan besiegt und damit den Kollaps des sowjetischen Imperiums in Gang gesetzt hatten. Hieraus entstand der für die weitere Entwicklung des Dschihadismus zentrale Mythos, dass Gotteskämpfer, die zu allem entschlossen waren, selbst übermächtige Feinde besiegen konnten.[17]
Neben der iranischen Revolution und der Globalisierung des salafistischen Dschihads gab es noch eine dritte Entwicklung, die um das Jahr 1979 ihren Anfang nahm: die Islamisierung der palästinensischen Frage. Diese war jahrelang von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) dominiert worden und hatte in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre auch einige Erfolge erzielt – so zum Beispiel die Anerkennung Palästinas in den Vereinten Nationen.[18] In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts kam der Fortschritt jedoch ins Stocken. Die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete im Westjordanland und Gaza verfestigte sich, und im Jahr 1979 schloss Ägypten sogar einen Friedensvertrag mit Israel. Dies wurde als großer politischer Durchbruch gesehen, weil Ägypten bis dahin als Israels mächtigster Feind galt und noch sechs Jahre vorher einen Krieg gegen den «jüdischen Staat» geführt hatte.
Von der Ernüchterung im palästinensischen Lager profitierten ab Anfang der 1980er-Jahre vor allem die Muslimbrüder. Diese hatten sich lange Zeit auf Seelsorge und die Schaffung von Wohlfahrtsorganisationen beschränkt, so wie von al-Banna ursprünglich vorgesehen. Doch nach Ausbruch eines Aufstands im Gazastreifen im Dezember 1987 (der sogenannten Intifada) gewannen die Befürworter eines bewaffneten Dschihad die Oberhand und gründeten dort eine separate Organisation, die sich «Islamische Widerstandsbewegung» – abgekürzt: Hamas – nannte. Im Gegensatz zur PLO rechtfertigte die neue Gruppe den Kampf gegen Israel nicht mehr nur nationalistisch, sondern auch religiös: «Es gibt keine Lösung für die palästinensische Frage außer durch den Dschihad», hieß es in der Gründungscharta.[19] Gegen Ende der Dekade hatte der islamistische «Virus» damit auch Konflikte erreicht, die bis dahin als rein säkular galten.
Dass der Dschihadismus zur direkten Bedrohung für den Westen werden würde, war zu Beginn der 1990er-Jahre keinesfalls abzusehen. Noch weniger plausibel erschien es, dass die größte Gefahr nicht von den Muslimbrüdern oder schiitischen Islamisten, sondern von den salafistischen Dschihadisten ausgehen würde. Doch mit dem Ende des Kalten Krieges kam eine Reihe von Entwicklungen in Gang, die genau dieses Szenario begünstigten.
Ausschlaggebend war, dass sich die Vereinigten Staaten mit ihrem Sieg über die Sowjetunion am Beginn eines «ewigen Friedens» wähnten und innerhalb kurzer Zeit jegliches Interesse an Afghanistan verloren. In der Folge wurden die salafistischen Auslandskämpfer ihrem Schicksal überlassen, und viele von ihnen blieben zunächst in der Region, da kaum eines ihrer Heimatländer sie zurückwollte. Bin Laden und seinen Mitstreitern fiel es unter diesen Umständen leicht, aus den frustrierten Kämpfern ein Netzwerk zu formen, das nach dem «Sieg» in Afghanistan auch an anderen Orten zum Einsatz kommen sollte. Bereits 1988 hatte man zu diesem Zweck eine Liste zusammengestellt, die die Namen williger Rekruten enthielt. Ihr Name war «die Basis» – auf Arabisch: al-Qaida.[20]
Anfangs gab es unterschiedliche Vorstellungen davon, was mit diesem Netzwerk passieren sollte. Für diejenigen, die es irgendwie in ihre Heimatländer zurückgeschafft hatten, stand zunächst der «nahe Feind» – also die eigenen säkularen Diktatoren – im Vordergrund. Bis Mitte der 1990er-Jahre kamen infolgedessen überall im Nahen Osten und in Nordafrika Terrorbewegungen auf, die häufig von «Afghanistanveteranen» angeführt wurden und eine neue Generation von Anhängern radikalisierten. Besonders stark betroffen waren Algerien und Ägypten, wo Salafisten und Muslimbrüder auf derselben Seite, wenn auch für teils unterschiedliche Ziele kämpften. Bin Laden steuerte diese Bewegungen nicht, aber er unterstützte sie – nicht zuletzt mit finanziellen Mitteln, weswegen er lange Zeit vor allem als «Mäzen» des Terrors galt.[21]
Eine zweite Idee bestand aus einer Art «mobilen Eingreiftruppe», die immer dann zum Einsatz kommen sollte, wenn vermeintlich muslimisches Territorium von «Ungläubigen» bedroht oder besetzt wurde. Dies war Azzams Vision, die er vor seinem Tod im Jahr 1989 mit engen Vertrauten diskutiert hatte.[22] Eine erste Gelegenheit, sie in die Tat umzusetzen, ergab sich in Bosnien, wo die muslimische Bevölkerung einer Vernichtungskampagne ausgesetzt war. Bis 1995 mobilisierten salafistische Netzwerke für die Auseinandersetzung mit serbischen Milizen bis zu zweitausend Auslandskämpfer. Ab 1994 entstand durch den Tschetschenien-Konflikt dann eine weitere «Front» – in diesem Fall zur Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung gegen Russland. In beiden Konfrontationen galten die ausländischen Dschihadisten als besonders brutal und fanatisch.[23]
Dass es noch eine dritte Option gab – nämlich den Kampf gegen den Westen –, hatte selbst Mitte der 1990er noch kaum jemand im Blick. Westliche Geheimdienste begriffen den Dschihadismus zunehmend als «regionalen Terrorismus», von dem man glaubte: «Das betrifft uns nicht!»[24] Selbst renommierte Nahostexperten waren überzeugt, der Islamismus habe seinen Zenit längst überschritten und die brutalen Terroreinsätze würden seinen Niedergang noch beschleunigen.[25]