Die neue Weltunordnung - Peter R. Neumann - E-Book

Die neue Weltunordnung E-Book

Peter R. Neumann

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Beschreibung

Russland beginnt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, nur wenige Monate zuvor erleben die USA in Afghanistan ein außenpolitisches Debakel, und längst ist der Systemrivale China zur entscheidenden Supermacht aufgestiegen – der Westen steckt in einer nie da gewesenen Krise. Dabei schien der Siegeszug noch vor kurzem unaufhaltsam: Nach dem Ende des Kalten Krieges setzte sich im ehemaligen Ostblock die demokratische Marktwirtschaft durch, Russland wurde vom Feind zum Partner, selbst China wandte sich dem Kapitalismus zu. Dann die große Wende: Die Terroranschläge von 9/11 erschütterten den Westen, der amerikanische «War on Terror» destabilisierte eine ganze Weltregion, der «Arabische Frühling» brachte am Ende nur neue Autokratien hervor, und mit der Annexion der Krim verschärfte sich die Konfrontation mit Russland. Anstelle einer liberalen Weltordnung ist eine neue Weltunordnung entstanden. Peter R. Neumann, international gefragter Experte für Terrorismus und Geopolitik, zeigt, wie dies geschehen konnte und was jetzt passieren muss. Ein schonungsloser Blick auf die aktuelle Lage des Westens, der sich auf fatale Weise selbst überschätzt hat.

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Seitenzahl: 410

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Peter R. Neumann

Die neue Weltunordnung

Wie sich der Westen selbst zerstört

 

 

 

Über dieses Buch

Russland beginnt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, nur wenige Monate zuvor erleben die USA in Afghanistan ein außenpolitisches Debakel, und längst ist der Systemrivale China zur entscheidenden Supermacht aufgestiegen – der Westen steckt in einer nie da gewesenen Krise. Dabei schien der Siegeszug noch vor Kurzem unaufhaltsam: Nach dem Ende des Kalten Krieges setzte sich im ehemaligen Ostblock die demokratische Marktwirtschaft durch, Russland wurde vom Feind zum Partner, selbst China wandte sich dem Kapitalismus zu. Dann die große Wende: Die Terroranschläge von 9/11 erschütterten den Westen, der amerikanische «War on Terror» destabilisierte eine ganze Weltregion, der «Arabische Frühling» brachte am Ende nur neue Autokratien hervor, und mit der Annexion der Krim verschärfte sich die Konfrontation mit Russland. Anstelle einer liberalen Weltordnung ist eine neue Weltunordnung entstanden.

Peter R. Neumann, international gefragter Experte für Terrorismus und Geopolitik, zeigt, wie dies geschehen konnte und was jetzt passieren muss. Ein schonungsloser Blick auf die aktuelle Lage des Westens, der sich auf fatale Weise selbst überschätzt hat.

Vita

Peter R. Neumann, geboren 1974 in Würzburg, ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London und leitete dort lange das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR). Als international gefragter Experte war Neumann 2014 Berater der USA bei den Vereinten Nationen, 2017 Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Daneben schreibt er u.a. für den «Spiegel» und die «New York Times». Sein Buch «Die neuen Dschihadisten» wurde zum Bestseller.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2022

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Frank Ortmann

Coverabbildung iStock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01217-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Einleitung

Ideen oder Interessen?

Über dieses Buch

TEIL I · Optimismus: 1990—2000

Kapitel 1 Die neue Weltordnung

Kapitel 2 Ewiger Friede

Kapitel 3 Keine Angst vor Russland und China

Kapitel 4 Techno-Optimismus

Kapitel 5 Der neue Terrorismus

TEIL II · Hybris: 2001—2010

Kapitel 6 Weckruf 9/11

Kapitel 7 Der gute Krieg

Kapitel 8 Regimewechsel

Kapitel 9 Exzess der Märkte

TEIL III · Ernüchterung: 2011—2015

Kapitel 10 Arabischer Frühling?

Kapitel 11 Frankreichs Abenteuer

Kapitel 12 Die syrische Katastrophe

Kapitel 13 Deutsch-russische Illusionen

TEIL IV · Krise: 2016 bis heute

Kapitel 14 Europa unter Druck

Kapitel 15 Die Brexit-Revolte

Kapitel 16 Populist im Weißen Haus

Kapitel 17 Chinas autoritäre Moderne

Kapitel 18 Klima-Notstand

Zeitenwende? Worauf es jetzt ankommt

Die neue Welt(un)ordnung

Leitideen für eine nachhaltige Moderne

Anhang

Personen und Orte

Dank

Interviewpartner

Einleitung

Dies ist ein Buch über Ideen und ihre Konsequenzen. Es zeigt, wie der Westen, der noch vor dreißig Jahren als «unschlagbar» galt, sich mittlerweile selbst zerstört. Es dokumentiert die Entwicklungen, die dazu beigetragen haben. Und es zeigt, dass sein Niedergang paradoxerweise auf denselben Ideen beruht, die ihn einst so stark machten. Die Schlussfolgerung ist nicht, dass der Westen andere Ideen bräuchte – oder ganz auf sie verzichten sollte. Sondern, dass er sie neu formulieren muss: als nachhaltige, pragmatische Moderne.

Doch was ist «der Westen» überhaupt? Der Westen, so wie ihn dieses Buch versteht, ist keine Himmelsrichtung und keine politische Allianz, er ist – vor allem – eine Geisteshaltung. Sein Ursprung liegt in den Ideen der Aufklärung, die sich ab dem 17. Jahrhundert zuerst in Westeuropa und anschließend in Nordamerika verbreiteten. Zu ihren Pionieren gehören Wissenschaftler und Philosophen wie der Engländer Francis Bacon (1561–1626) und der Franzose René Descartes (1596–1650), die sich mit Fragen der Metaphysik und Erkenntnistheorie beschäftigten. Ihre Antworten, die unter Intellektuellen, in Kaffeehäusern und Freimaurerlogen heftig diskutiert wurden, waren für damalige Verhältnisse revolutionär: Menschen müssten sich nicht ihrem Schicksal fügen; Fortschritt sei möglich; alles lasse sich verstehen, solange der Erkenntnisprozess auf Vernunft beruht und sich an dem orientiert, was logisch und messbar ist.[1]

Diese Ideen waren eine Kampfansage an den Status quo. Dass alle Menschen Vernunft besaßen und ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen konnten, ließ sich mit dem Absolutheitsanspruch von Kirche und feudalistischen Herrschern nicht vereinbaren. Aus der wissenschaftlichen Revolution wurde im Laufe der Zeit deshalb eine politische. Hundertfünfunddreißig Jahre nachdem Descartes seinen berühmten Satz «Ich denke, also bin ich» formuliert hatte, proklamierten die Einwohner der britischen Kolonien in Nordamerika ihr Recht auf Leben, Freiheit und «das Streben nach Glück». Und wiederum ein Jahrzehnt später stürmten die Revolutionäre in Frankreich im Namen von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten die Bastille. Dies waren die wichtigsten und bis heute prägendsten Ereignisse, die der liberalen Moderne – und damit dem Westen – ihren Inhalt gaben. Sie schufen die Voraussetzung für das, was der britische Historiker Niall Ferguson als «Killer-Apps» der «westlichen Moderne» beschrieb: die Kombination aus Wissenschaft und Technologie, ökonomischem Wettbewerb, Rechtsstaat und Demokratie.[2]

Einer der entscheidenden Gründe für ihren weltweiten Siegeszug war, dass diese Ideen von Anfang an als universell – das heißt im Prinzip für jeden Menschen gültig – formuliert waren: Alle Menschen, nicht nur Franzosen oder Amerikaner, waren politisch gleich; jeder hatte das Recht auf fundamentale Freiheiten und Würde. Und obwohl Sklaverei und Kolonialismus zeigten, dass Anspruch und Realität oftmals weit auseinanderklafften, war ihre Anziehungskraft enorm und reichte weit über den «christlich-abendländischen Kulturkreis» hinaus. Die Verbreitung westlicher Ideen wurde zur historischen «Mission»: Niemand zweifelte daran, dass eine Welt, in der alle Menschen in den Genuss liberaler und moderner – das heißt westlicher – Werte kämen, gerechter, freier, wohlhabender und friedlicher sein würde.

Heutzutage sind die Ideen der liberalen Moderne so selbstverständlich, dass sich kaum jemand vorstellen kann, wie es anders sein sollte. In Ländern, deren Gesellschaften sich an westlichen Ideen orientieren, leben die Menschen länger als je zuvor. Krankheiten, die einst Millionen getötet haben, sind ausgerottet. Marktwirtschaft und Wettbewerb haben beispiellosen Wohlstand geschaffen. Fast alle Staaten, die von westlichen Ideen geprägt wurden, sind Demokratien mit freien Wahlen, unabhängigen Gerichten und individuellen Freiheitsrechten, die ihre Bürger vor staatlicher Verfolgung schützen. Dass die menschliche Existenz stets «einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz» sei, wie der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) im 17. Jahrhundert schrieb, gilt in Europa und Nordamerika nur noch für eine Minderheit.

Doch in Wirklichkeit ist die liberale, westliche Moderne ein Paradoxon. Viele der Gründe für die «Unordnung», die dieses Buch beschreibt, liegen in genau den Werten und Ideen, die die westlichen Gesellschaften so erfolgreich gemacht haben. Moderne Technologie, Wissenschaft und Wettbewerb begründen den Wohlstand des Westens, aber sie tragen gleichzeitig zu seiner Spaltung bei. Demokratie, Freiheit und universelle Menschenrechte sind seine höchsten Errungenschaften, doch ihr «Export» stößt oftmals auf Widerstand.

Die «dunkle» Seite des Westens trat in den vergangenen Jahrzehnten besonders deutlich hervor. Eine Ursache dafür ist die Globalisierung, mit der sich die Fliehkräfte der liberalen Moderne nochmals verstärkt haben. Statt einzelner Volkswirtschaften gibt es einen «Weltmarkt», dessen Liefer- und Produktionsketten sich über den gesamten Globus erstrecken. Das Internet sorgt dafür, dass alle überall miteinander vernetzt sind. Offene Grenzen und geringe Transportkosten machen es möglich, Orte zu erreichen, von denen vorherige Generationen nur träumen konnten. Und statt sich nur damit zu beschäftigen, was im eigenen Dorf oder Land passiert, haben die meisten Menschen ein größeres Bewusstsein dafür, was in anderen Teil der Welt geschieht.[3] Für viele sind diese Entwicklungen positiv, aber längst nicht alle haben im gleichen Maße von ihnen profitiert. Durch die Globalisierung ist die Welt nicht nur «geschrumpft», sondern auch anstrengender geworden – effizienter und wohlhabender, aber auch schneller, komplexer und aggressiver. Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman meinte, die Moderne habe sich mit ihr «radikalisiert».[4]

Solche Kritik am Westen ist nichts Neues. Bereits vor hundert Jahren diagnostizierte der konservative französische Philosoph René Guénon eine «Krise der modernen Welt» und sagte ihren baldigen Niedergang voraus. Die Entwicklungen, die er dafür verantwortlich machte, waren genau diejenigen, die die Befürworter der liberalen Moderne optimistisch gestimmt hatten. Doch statt Fortschritt sah Guénon in moderner Wissenschaft und Technologie seelische Entwurzelung und einen Verlust an Spiritualität. Ideen wie Demokratie und Gleichheit waren seiner Auffassung nach nicht nur falsch, sondern zerstörten die natürliche Ordnung, führten zu politischem Chaos und stürzten Gesellschaften ins Unglück. Für Guénon war die gesamte Geschichte der Aufklärung eine spirituelle Katastrophe, die nur durch eine Rückkehr zu «traditionellen» – das heißt vormodernen – Werten abgewendet werden könne.[5] Ein bekanntes italienisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: «Es ging uns besser, als es uns schlechter ging.»

Doch genau darum geht es in diesem Buch nicht. Die Errungenschaften des Westens sind unbestritten. Die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Niemand will das Internet «abschalten» oder auf moderne Medizin verzichten; politische Ideen wie Gleichberechtigung und universelle Menschenrechte sind tief in unserem Denken verankert – und lassen sich, Gott sei Dank, nicht so leicht daraus entfernen. Dieses Buch ist kein Plädoyer für eine Abkehr von der liberalen Moderne, wie sie Guénon herbeisehnte, sondern ein Aufruf zu ihrer Erneuerung. Es formuliert Leitideen für einen Westen, der ehrlicher zu sich selbst und anderen ist – vor allem aber einen, der pragmatischer und inklusiver handelt.

Ideen oder Interessen?

Natürlich ist dieses Buch nicht das erste, das sich mit den Problemen und Widersprüchen des Westens beschäftigt. Die Frage, was der Westen ist, wofür er steht und ob er eine Zukunft hat, beschäftigt Forscher und Kommentatoren seit Jahrzehnten.[1] Grob gesprochen, gibt es dabei drei Denkschulen. Die erste ist die linke oder «antiimperialistische» Tradition, für die im deutschsprachigen Raum Autoren wie der Publizist Michael Lüders und in Amerika der Sprachwissenschaftler Noam Chomsky stehen.[2] Deren Meinung nach repräsentieren die vermeintlich altruistischen Ideen des Westens nur einen Vorwand, um «knallharte» wirtschafts- und machtpolitische Interessen durchzusetzen. Die wahren «Schurkenstaaten» seien nicht China, Russland oder der Iran, sondern Amerika und seine europäischen «Juniorpartner»: «Die USA sind kein selbstloser Hegemon», so Lüders, «sondern ein Imperium. Und ein Imperium betreibt grundsätzlich eine imperiale Politik.»[3]

Dem entgegen steht die liberale oder «idealistische» Denkschule, die in Deutschland von dem Historiker Heinrich August Winkler und im englischsprachigen Raum von seinem Kollegen Niall Ferguson repräsentiert wird.[4] Im Gegensatz zu den «Antiimperialisten» sind «Idealisten» davon überzeugt, dass es der Westen mit seinen Ideen ernst meint, dass er von ihnen definiert und zusammengehalten wird und dass ihre Verbreitung seine historische «Mission» ist. Das bedeute nicht, so Winkler, dass er keine Fehler mache oder niemals Eigeninteressen verfolge. Doch im Unterschied zu allen anderen Staatsphilosophien, Machtblöcken oder «Imperien» besitze der Westen die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Gerade weil der Westen liberal und demokratisch sei, würden Fehlentwicklungen niemals lange unter den Teppich gekehrt, sondern – früher oder später – die entsprechenden Konsequenzen gezogen. Westliche Werte und Ideen seien deshalb nicht ein Vorwand, wie von den «Antiimperialisten» behauptet, sondern der Grund für andauernde Stärke und Erneuerungsfähigkeit. Winklers optimistische Schlussfolgerung: «Die korrigierende Kraft dieses Projekts hat sich […] bewährt, aber noch längst nicht erschöpft.»[5]

Die dritte Position ist die der «Realisten», zu denen man in Deutschland den Sicherheitsforscher Carlo Masala und in Amerika den Politikwissenschaftler John Mearsheimer zählen könnte.[6] Genauso wie die «Idealisten» sind sie überzeugt davon, dass westliche Politik von liberal-modernen Ideen bestimmt wird, doch im Gegensatz zu ihnen halten sie dies für einen Fehler. Ihrer Meinung nach ist es die liberal-moderne «Mission», die den Westen in so viele unnötige und kostspielige «Abenteuer» gestürzt hat, dass seine Vormachtstellung nun zur Disposition steht. Anders als die «Antiimperialisten» wollen sie nicht, dass der Westen deshalb von der Verfolgung seiner Interessen ablässt. Vielmehr soll er damit endlich ernst machen. Laut Masala bedeutet «eine realistische Außen- und Sicherheitspolitik […] zunächst einmal, die gegebenen Bedingungen zu akzeptieren und nicht länger einem Traumbild der liberalen Weltordnung hinterherzujagen».[7]

Dieses Buch baut auf allen drei Denkschulen auf, vertritt aber eine Position, die sich von ihnen unterscheidet. Die «Antiimperialisten» haben recht darin, dass der Westen nicht nur Werte, sondern auch eigene Interessen verfolgt. Doch es stimmt nicht, dass westliche Werte bloß Vorwand sind. Wie viele Kapitel dieses Buchs zeigen, war der Wunsch, liberal-moderne Vorstellungen zu verbreiten, oftmals ein ehrliches – und enthusiastisches – Anliegen. Wenn es zu einem Konflikt zwischen Ideen und Interessen kam, gab es häufig den Versuch, diese miteinander zu «versöhnen». Und in vielen Fällen waren die vermeintlichen Interessen so sehr durch Werte definiert («ein geeintes Europa», «eine demokratische Welt», «Freihandel»), dass sich das eine nicht mehr von dem anderen trennen ließ.

Die «Idealisten» liegen also richtig, wenn sie behaupten, dass westliche Werte öfter entscheidend sind als vermutet. Doch ihre Vorstellung, dass der Westen nur Gutes über die Welt gebracht oder seine Fehler stets und überall innerhalb kurzer Zeit korrigiert hätte, ist naiv. Zwar stimmt es, dass demokratische Institutionen westlichen Ländern die Möglichkeit gaben, schneller auf gesellschaftliche Veränderungen, etwa durch die rechtliche Gleichstellung von Frauen oder Minderheiten, zu reagieren. Aber wenn Fehlentwicklungen außerhalb der eigenen Länder stattfanden, dauerte es oftmals viele Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte, bis sich die richtige, moralisch korrekte Auffassung durchsetzte: Der Kolonialismus zum Beispiel, von dem westliche Länder jahrhundertelang profitierten, wurde nicht abgeschafft, weil sich in westlichen Gesellschaften dagegen Widerstand oder der «Wille zur Selbstkorrektur» regte, sondern weil die Kolonien dagegen ankämpften.

In ihrer Analyse des Problems ist die «realistische» Position deshalb diejenige, die der Realität am nächsten kommt. Mit seiner naiven, wertegeleiteten Politik hat sich der Westen oftmals ins eigene Bein geschossen, und statt sich selbst zu korrigieren, wie von den «Idealisten» gehofft, hat er die eigenen Fehler häufig noch schlimmer gemacht. Aber die Schlussfolgerung der «Realisten» ist nicht nur falsch, sondern widersprüchlich: Wenn der Westen eine Ideengemeinschaft ist, dann käme es einer Selbstzerstörung gleich, das eigene Ideengerüst für hinfällig zu erklären. Würden westliche Länder nur noch ihre eigenen Interessen verfolgen, gäbe es keine Gemeinsamkeit mehr; und auch innerhalb Europas wäre jeder auf sich allein gestellt. Die Antwort auf die Krise des Westens kann deshalb nicht darin liegen, die eigenen Werte aufzugeben, sondern – wenn überhaupt – darin, diese neu zu erfinden.

Was dieses Buch fordert, ist daher etwas Neues: weder zynischen «Antiimperialismus» noch naiven «Idealismus», sondern eine «realistische» Analyse der aktuellen Krise, ohne dabei die erfolgreichen und identitätsstiftenden Ideen des Westens über Bord zu werfen. Nicht zuletzt der Ukrainekonflikt hat gezeigt, dass viele Menschen eine auf Werten beruhende Politik wollen und dass diese die Umsetzung gemeinsamer Politik erst möglich macht. Der «Trick» besteht darin, Probleme zu identifizieren und sie mit liberal-modernen Mitteln zu lösen. Eine nachhaltige Moderne würde versuchen, genau dies zu tun.

Über dieses Buch

Dieses Buch entstand aus der langjährigen Beschäftigung mit Problemen der Außen- und Sicherheitspolitik, doch in zahlreichen Kapiteln geht es auch um innenpolitische, ökonomische oder technologische Entwicklungen. Der «rote Faden» sind die liberal-modernen Ideen, die das Denken politischer Eliten in westlichen Ländern geprägt und ihre Einstellung zu neuen Herausforderungen – seien sie innen-, außen- oder wirtschaftspolitischer Natur – bestimmt haben. Wenn die hieraus resultierende Analyse etwas über diese Ideen selbst aussagt, dann wäre es, wie umfassend ihr Einfluss ist und wie eng sie miteinander verflochten sind.

Der Begriff «Elite» ist dabei ein notwendiges, wenn auch schwammiges Hilfskonstrukt. Zu Eliten oder – je nach Kontext – «Politikeliten», «Wirtschaftseliten» oder «Sicherheitseliten» zählen Personen, die zu politisch relevanten Themen Ideen formulieren und dadurch Einfluss auf das Denken von Entscheidern – oder den Entscheidungsprozess selbst – gewinnen. In den wenigsten Fällen geschieht dies im Geheimen, sondern meist durch Gastbeiträge, Magazinveröffentlichungen, Interviews, Reden oder andere öffentliche, wenn auch oftmals von der Bevölkerung wenig beachtete Interventionen.

Wie das Buch zeigt, gibt es unterschiedliche Eliten, die sich nicht zu jedem Zeitpunkt – oder bei jedem Thema – einig sind. Um einen besseren Eindruck davon zu bekommen, welche Ansichten zu bestimmten Zeitpunkten «einflussreich» waren, wurden deshalb fünfundsiebzig semistrukturierte Interviews mit Experten und Entscheidungsträgern durchgeführt, die viele dieser Debatten miterlebt oder mitbestimmt haben. Das daraus entstehende Ideen- und Stimmungsbild mag nicht vollständig sein, doch ist es differenzierter und empirisch besser belegt als in den meisten Büchern aus dem Genre.

Ein weiteres Merkmal ist der Blick auf Europa. Viele Bücher über den Westen konzentrieren sich fast ausschließlich auf die Rolle der Vereinigten Staaten und behandeln Europa als «Anhängsel», das von Amerika wahlweise dominiert, mitgeschleppt oder «verführt» wird. Doch obwohl Amerika zweifellos der politisch, wirtschaftlich und militärisch bedeutendste Staat des Westens ist, haben europäische Staaten bei vielen Ereignissen eine wichtige – und eigenständige – Rolle gespielt. Wenn auch auf unterschiedliche Weise, so ist Europa ähnlich stark von liberal-modernen Ideen geprägt wie Amerika und vertritt sie mit großem Selbstbewusstsein. Neben Amerika reflektiert dieses Buch deshalb, wo notwendig, auch Debatten in Frankreich, Großbritannien und Deutschland.[1]

Der Hauptteil des Buchs besteht aus achtzehn Kapiteln, die jeweils ein bestimmtes zentrales Ereignis oder eine grundlegende Entwicklung aufarbeiten. Meist folgen sie einer ähnlichen Struktur: Zunächst geht es darum, die Debatten zu einem bestimmten Thema zu verstehen; danach die (politischen) Entscheidungen, die daraus gefolgt sind; und – schließlich – die Konsequenzen, die diese Entscheidungen hatten. Wie zu Beginn erwähnt: Dies ist ein Buch über Ideen und ihre Konsequenzen.

Die thematischen Kapitel sind zusammengefasst in vier Teilen, die einer chronologischen Struktur folgen. Der erste Teil – «Optimismus» – umfasst die neunziger Jahre und zeigt, wie optimistisch Eliten zunächst die Zukunft des Westens einschätzten. Statt sich mit neuen Gefahren auseinanderzusetzen, hoffte man auf eine Welt, in der der Sieg des Westens im Kalten Krieg von Dauer war, es keine ideologischen Gegner mehr gab und sich Demokratie und Marktwirtschaft überall durchsetzen würden. Das «böse Erwachen» erfolgte mit den Anschlägen vom 11. September 2001.

Im zweiten Teil – «Hybris» – geht es vor allem um die trotzige und von westlicher Selbstüberschätzung geprägte Reaktion auf diesen Schock, die zu desaströsen Kriegen in Afghanistan und dem Irak führte. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit der globalen Finanzkrise, die die Illusion von der Überlegenheit des westlichen Wirtschafts- und Finanzsystems begrub.

Der dritte Teil beschreibt die daraus resultierende «Ernüchterung» in der ersten Hälfte der 2010er Jahre. Am deutlichsten wurde diese Haltung an der völlig unzureichenden westlichen Antwort auf den Arabischen Frühling, die die Situation in Libyen und Syrien dramatisch verschlimmerte und globale Herausforderungen wie Terrorismus und Migration noch verschärfte. Genauso dramatisch war die Krise des europäischen Einigungsprojekts, der ein weiteres Kapitel gewidmet ist. Aus heutiger Sicht vielleicht am wichtigsten: Bereits während dieser Periode entstand mit dem revanchistischen, antiliberalen Russland Wladimir Putins ein autoritärer Gegenentwurf, dessen aggressive Kampagne gegen den Westen besonders von deutschen Eliten überhaupt nicht wahrgenommen wurde.

Der letzte Teil – «Backlash» – beschäftigt sich mit der aktuellen Situation: einem Westen, der gespalten ist und sich in der Auseinandersetzung zwischen liberalen und autoritären Kräften selbst zerfleischt; auf der anderen Seite ein aufsteigendes China, dessen technokratische Version der «autoritären Moderne» vielen stärker, erfolgreicher und zukunftsweisender erscheint als der Westen; sowie die existenzielle Herausforderung durch den Klimawandel, auf die weder liberale noch autoritäre Moderne bisher eine überzeugende Antwort gefunden haben.

Ist der Westen also noch zu retten? Die Schlussfolgerung dieses Buchs lautet: Ja, aber nur, wenn er sich als nachhaltige Moderne neu erfindet.

Teil I

Optimismus: 1990–2000

Kapitel 1Die neue Weltordnung

Die Idee einer neuen Weltordnung, die westliche Politiker nach Ende des Kalten Krieges verfolgten, war eine optimistische, liberale Fantasie. Den ersten Versuch, sie für sich zu reklamieren, unternahm der amerikanische Präsident George H.W. Bush. Im September 1990, weniger als ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer und Amerikas Sieg im Irakkrieg, sprach er vom Beginn einer neuen Ära, in der «die Nationen der Welt gedeihen und in Harmonie miteinander leben» könnten. Nach der Beendigung des Ost-West-Konflikts, so Bush, bestehe die Möglichkeit, «eine Welt [zu schaffen], die ganz anders ist als die, die wir kennen. Eine Welt, in der Rechtsstaatlichkeit das Gesetz des Dschungels ersetzt. Eine Welt, in der Nationen die gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit anerkennen. Eine Welt, in der die Starken die Rechte der Schwachen respektieren.»[1]

Bush verwendete den Begriff «Neue Weltordnung» («New World Order») in den darauffolgenden Monaten fast fünfzigmal, doch seine genaue Bedeutung blieb unklar. Bushs Äußerungen waren vage, und es gab niemals ein Konzept- oder Strategiepapier, das sie konkretisiert hätte. Ab Mai 1991 tauchte die «Neue Weltordnung» in den Reden und Statements von Bush plötzlich nicht mehr auf.[2] Sogar in seiner außenpolitischen Autobiografie spielte sie praktisch keine Rolle.[3] Bushs Sicherheitsberater und Ko-Autor, Brent Scowcroft, sagte später, der Ausdruck sei «bloß ein Slogan» gewesen.[4]

Die Einzigen, die scheinbar wussten, was es mit dem Begriff auf sich hatte, waren die Verschwörungstheoretiker. Sie interpretierten die Neue Weltordnung als eine Art «globalistische» Diktatur, die angeblich von Freimaurern, Illuminaten, Satanisten, Juden und anderen «dunklen Mächten» angestrebt wurde. Während der neunziger Jahre glaubten sie, dass Bush Amerika abschaffen und durch eine Weltregierung ersetzen wolle. Auf Flugblättern hieß es, Millionen «amerikanischer Verräter» hätten sich bereits zu «Sklavenhaltern der Neuen Weltordnung» ausbilden lassen. Jeder Helikopter, der irgendwo in Amerika gesichtet wurde, galt als Vorbote einer bevorstehenden Invasion.[5] Als «Beweis» wurden Reden zitiert, in denen Bush von Partnerschaft mit Russland und einer stärkeren Rolle für die Vereinten Nationen gesprochen hatte.

Doch die wahre Bedeutung von Bushs Neuer Weltordnung lag nicht in ihrem Inhalt, sondern in ihrer Symbolik. Aus amerikanischer Sicht hatte der Westen den Kalten Krieg nicht nur beendet, sondern gewonnen. Die Menschen, die in Osteuropa auf die Straße gegangen waren, wollten keinen «besseren Kommunismus», sondern Freiheit und Demokratie. Für Bush und seine Mitstreiter war es selbstverständlich, dass eine «westlichere» Weltordnung fairer und gerechter sein würde. Es gab keinen Widerspruch zwischen amerikanischer «Leadership» und einer stärkeren Rolle für die Vereinten Nationen. Auch wenn Bush und die amerikanische Regierung noch keine genaue Vorstellung davon hatten, wie sie aussehen würde: Die Idee der Neuen Weltordnung war Ausdruck eines liberalen Optimismus, der ihren geopolitischen Ansatz während der gesamten neunziger Jahre prägte.

Und es waren nicht nur die Amerikaner. Auch und gerade in Europa war die Zuversicht, dass die neu entstehende Weltordnung friedlicher und gleichzeitig demokratischer sein würde, allgegenwärtig. Klaus Naumann, damals Chef der Bundeswehr, erinnert sich:

Dieser Kalte Krieg war eine gigantische Anspannung. Und als er dann zu Ende ging, gab es erst mal ein Riesengefühl der Erleichterung: Wir haben’s geschafft! Darauf folgte ein Optimismus, der seinen Höhepunkt in der «Charta von Paris» vom November 1990 fand. Darin wurde die Idee einer «Sicherheitszone von Vancouver bis Wladiwostok» formuliert, in der es Gewaltverzicht gab, Achtung der Grenzen, Freiheit. Das war der Moment, wo wir in Europa die Hoffnung hatten, wir könnten nach der Anspannung des Kalten Krieges wirklich eine Zone des Verstehens, des Friedens schaffen. Diese Hoffnung hatten wir alle.[6]

Die nachfolgenden Kapitel in diesem Teil des Buchs beschäftigen sich mit verschiedenen Politikbereichen, in denen dieser Optimismus das politische Denken westlicher Politikeliten besonders stark geprägt hat: der Sicherheitspolitik, der Hoffnung auf eine Demokratisierung Russlands und Chinas, dem technologischen Fortschritt und dem Glauben an ein Ende des Terrorismus. In diesem Kapitel geht es um die Vision selbst – und die Grenzen, an die sie bereits früh, und selbst auf scheinbar freundlichem Terrain, stieß.

Freie Menschen

Der liberale Optimismus der neunziger Jahre beruhte auf zwei Überzeugungen, die innerhalb westlicher Politikeliten weit verbreitet waren. Die erste davon war der vermeintlich unaufhaltbare Siegeszug der liberalen Demokratie. Zu ihrem wichtigsten Fürsprecher wurde der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer einen Artikel mit dem provokanten Titel «Das Ende der Geschichte?» veröffentlicht hatte.[7] Er führte darin aus, dass der Zusammenbruch des Kommunismus nicht bloß Zufall oder eine Verkettung glücklicher Umstände gewesen sei, sondern das Ergebnis einer historischen Dialektik. Im Laufe von zwei Jahrhunderten habe sich die liberale Demokratie gegen die Monarchie, den Faschismus und den Kommunismus als beste – und finale – Regierungsform durchgesetzt. Kein anderes System sei besser dazu geeignet, fundamentale menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. In keinem anderen System gebe es effektivere Mechanismen zur Lösung von Konflikten. Und kein anderes System habe das Streben nach individueller Würde und «gegenseitiger Anerkennung», das bereits in der dialektischen Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel seinen Niederschlag fand, besser zum Ausdruck gebracht.

Fukuyama behauptete nicht, dass es fortan keine gewaltsamen Konflikte mehr geben würde. Was er mit dem «Ende der Geschichte» meinte, war ein Ende des ideologischen Wettbewerbs. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus habe die liberale Demokratie ihren letzten großen Rivalen besiegt. Natürlich könne es auch in Zukunft zu Kriegen kommen, so Fukuyama, doch die großen, systemischen Konflikte des 20. Jahrhunderts seien – wortwörtlich – «Geschichte». Solange es keinen bedeutenden Staat gebe, der eine attraktive ideologische Alternative anzubieten habe, stehe der Ausbreitung der liberalen Demokratie nichts mehr im Wege.[8]

Fukuyamas Artikel traf den Nerv der Zeit. Bereits wenige Wochen nach seiner Veröffentlichung war die Ausgabe des National Interest, in der er erschien, ausverkauft. Die wichtigsten Zeitungen der Welt widmeten ihm ganzseitige Besprechungen. In der New York Times hieß es, das «Ende der Geschichte» sei eines der «angesagtesten Gesprächsthemen» des Sommers.[9] Und obwohl es Widerspruch, Skepsis und unterschiedliche Interpretationen gab, setzte sich Fukuyamas These innerhalb kurzer Zeit durch. Die Position von Henry Nau, führender Außenpolitikexperte der Republikanischen Partei und hochrangiger Beamter während der Präsidentschaft von Ronald Reagan, war dabei typisch. Wie viele seiner Kollegen sträubte Nau sich gegen die plakative und seiner Meinung nach irreführende Formel vom «Ende der Geschichte» und betonte, dass der Siegeszug der liberalen Demokratie keineswegs garantiert sei. Doch seine Schlussfolgerung war mit der von Fukuyama identisch. «Die Emanzipation des Individuums, die von der europäischen Reformation und Aufklärung in Gang gesetzt wurde», so Nau, verschaffe liberalen Gesellschaften einen systematischen Vorsprung: «Wenn [andere] Nationen oder regionale Akteure […] erfolgreich sein wollen, müssen sie zunächst den Kampf um die politische Freiheit gewinnen.»[10]

Die politische Konsequenz, die sich aus Fukuyamas Analyse ergab, war offensichtlich. Abgesehen von ein paar Isolationisten, die sich für einen geopolitischen «Rückzug» aussprachen,[11] und den «Realisten», die (erfolglos) versuchten, Deutschland und Japan zu Amerikas neuen «Herausforderern» hochzuschreiben,[12] waren sich nahezu alle außenpolitischen Denker einig, dass der Westen den Vormarsch der liberalen Demokratie unterstützen sollte.

Unterschiedliche Positionen gab es, wenn überhaupt, nur bezüglich der Mittel. Für «liberale Institutionalisten» wie den Harvard-Professor Joseph Nye war die Welt nicht nur freier, sondern auch komplexer geworden. Statt zweier Großmächte, die in ihren jeweiligen Einflusssphären für «Ordnung» sorgten, gab es neue Staaten mit schwachen Institutionen, internen Konflikten und unklaren Grenzen. Aufgabe des Westens sei es, «Demokratie und Menschenrechte zu fördern, ohne Chaos zu stiften». Wenn Amerika nicht «Weltpolizist» sein wolle, so Nye, müsse es deshalb multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stärken.[13]

Einen anderen Ansatz hatten die sogenannten Neokonservativen. Aus ihrer Sicht war Amerika die «einzig verbliebene Supermacht» und konnte seine Interessen allein oder mit willigen Partnern durchsetzen. Multilaterale Organisationen waren bestenfalls ein Hindernis und schlimmstenfalls ein Gegner. Doch anders als «gewöhnliche» Nationalisten, die macht- und wirtschaftspolitische Interessen rein egoistisch definierten,[14] betonten die Neokonservativen, dass Amerikas wichtigstes Interesse die Verbreitung universaler Werte – also von Demokratie und individueller Freiheit – war. Im Sommer 1996 argumentierten zwei ihrer führenden Köpfe, der Journalist William Kristol und der Historiker Robert Kagan, dass Amerika nach Ende des Kalten Krieges zu einer «wohlwollenden Hegemonialmacht» geworden sei und dass es «zwischen seinen moralischen Werten und seinen fundamentalen nationalen Interessen» keinen Widerspruch mehr gebe.[15] In Ländern wie China und dem Iran, wo autoritäre Herrscher regierten, solle Amerika deshalb nicht zögern, eine aktive – notfalls militärische – Politik des «Regimewechsels» zu betreiben. Ziel müsse sein, Diktatoren, Ajatollahs oder kommunistische Apparatschiks aus ihren Ämtern zu vertreiben und durch demokratisch gewählte Regierungen zu ersetzen.

Freie Märkte

Die zweite Überzeugung, die den liberalen Optimismus der neunziger Jahre begründete, betraf nicht das politische System, sondern die Wirtschaft. Bereits in den späten fünfziger Jahren führte der amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset den Beweis, dass praktisch alle Indikatoren wirtschaftlicher Entwicklung – also Industrialisierung, allgemeiner Wohlstand oder Bildung – positiv mit Demokratie korrelieren, was bedeutet: Auf wirtschaftliche Entwicklung folgt (früher oder später) politische Freiheit.[16] Das Paradebeispiel war Europa im 19. Jahrhundert, wo die Industrialisierung zum Aufstieg einer bürgerlichen Mittelklasse führte, die Steuern zahlte und nicht mehr zu akzeptieren bereit war, dass nur die Aristokratie über öffentliche Belange entscheiden durfte. Je weiter die wirtschaftliche Modernisierung voranschritt, desto größer wurde der Anteil der Bevölkerung, der am politischen Prozess teilhaben konnte – am Ende des 19. Jahrhunderts kamen die Arbeiter hinzu und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch Frauen.

Lipsets Theorie wurde im Laufe der Jahre vielfach kritisiert – etwa, weil er soziale und kulturelle Faktoren nicht ausreichend berücksichtigt hatte;[17] oder weil sich beobachten ließ, dass allzu rasche Modernisierung zu Instabilität führte.[18] Doch die Idee, dass «freie Menschen» und «freie Märkte» zwei Seiten derselben Medaille seien und dass wirtschaftliche Liberalisierung früher oder später zu politischer Liberalisierung führe, war bereits vor dem Fall der Berliner Mauer ein fester Bestandteil des Denkens westlicher Eliten.

Hinzu kam in den neunziger Jahren die Globalisierung und – mit ihr – die Überzeugung, dass engere ökonomische Verflechtung zum Motor einer weltweiten Demokratisierung würde. Der populärste Vertreter dieser These war der New-York-Times-Journalist Thomas Friedman, der in einer Reihe von Büchern die Vorzüge der Globalisierung pries und bei der jährlichen Konferenz des Weltwirtschaftsforums in Davos stets vor vollen Sälen sprach. Seiner Meinung nach hatte die Globalisierung «revolutionären Charakter» und war in ihren Konsequenzen mindestens genauso bedeutend wie das Ende des Kalten Krieges. Sie beinhalte einen Prozess der «kreativen Zerstörung», in dessen Verlauf Nationalstaaten ihre Macht verlören und nationale Grenzen bedeutungslos würden.[19]

Treibende Kraft, so Friedman, sei neben dem Freihandel und dauerhaft niedrigen Energiepreisen vor allem der technologische Fortschritt, besonders die «digitale Revolution». Die weltweite Vernetzung von Menschen und Märkten habe zur Folge, dass westliche Unternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagern und dort gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen würden. Mehr noch: Menschen überall bekämen dadurch mehr Zugang zu unabhängigen Informationen:

Dank der Informationsrevolution ist keine Mauer mehr undurchlässig. Wenn wir alle wissen, wie die jeweils anderen leben, entsteht eine völlig neue Dynamik in der Weltpolitik […]. Wenn Leute sehen können, dass andere Menschen Möglichkeiten haben, die ihnen selbst nicht zur Verfügung stehen, wird es für Politiker schwieriger, sie ihren Bevölkerungen vorzuenthalten […]. Und wenn sie nicht liefern, dann haben sie ein Problem.[20]

Friedman war sich bewusst, dass die ökonomischen Vorteile, die durch die Globalisierung entstanden, einen Preis hatten. Staaten, die mehr wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand wollten, müssten sich «goldene Handschellen» anlegen, die in der Praxis aus einer langen Liste «neoliberaler» Reformen bestanden: geringe Inflation, schlanker Staat, ausgeglichene Haushalte, Abschaffung von Zöllen, Subventionen und Investitionsbeschränkungen, Deregulierung der Kapitalmärkte und – natürlich – Privatisierung aller wichtigen Industrien. Dieses Programm wurde bereits in den frühen neunziger Jahren zum Standard für «Reformprogramme» internationaler Finanzinstitutionen und war als «Washington Consensus» bekannt.

Die allermeisten Menschen, so war Friedman überzeugt, würden von diesen Maßnahmen profitieren, und zwar nicht nur in Form von steigenden Einkommen, sondern auch, weil ein Prozess der politischen Öffnung in Gang gesetzt würde. Westliche Unternehmen, die in ausländischen Märkten investieren, würden von ausländischen Regierungen Transparenz und nachvollziehbare Standards einfordern. Korruption und Vetternwirtschaft würden nicht länger toleriert. Und die Nachfrage nach zuverlässigen Informationen über den Zustand der Wirtschaft würde – über kurz oder lang – eine freie Presse hervorbringen. Friedman nannte den Prozess, durch den ausländischer Einfluss zu demokratischen Reformen führen sollte, «Revolution von außen», kurz: Globalution.[21]

Gemeinschaft der Demokratien

Im Rückblick erscheint der Optimismus von Denkern wie Fukuyama und Friedman naiv. Aber weder Intellektuellen noch Politikern gelang es zur damaligen Zeit, eine populäre Alternative zu formulieren. Neben der Vorstellung eines vermeintlichen Vormarsches von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft gab es keine andere «große» Idee für die neue Weltordnung, die bei westlichen Politikeliten verfangen hätte. Das lag zum einen daran, dass der liberale Optimismus gut begründet war: Es war ja tatsächlich so, dass Dutzende von Ländern innerhalb weniger Jahre zu Demokratien wurden und dass in Ländern wie Indien und China Millionen Menschen der Armut entkamen. Genauso wichtig war jedoch, dass der liberale Optimismus dem westlichen Selbstverständnis entsprach: Er verkörperte die universellen, aufklärerischen Werte, die den Westen zum Westen machten, und gab Amerika und seinen europäischen Partnern das Gefühl, dass ihre Politik nicht Eigeninteressen, sondern dem (globalen) Gemeinwohl diente.

In den Vereinigten Staaten war der Einsatz für die Verbreitung der liberalen Demokratie besonders stark ausgeprägt. Anders als die meisten europäischen Staaten begriff sich Amerika von Anfang an als Land mit einer Mission. Abraham Lincoln beschrieb die amerikanische Unabhängigkeitserklärung als Dokument, das «nicht nur den Menschen dieses Landes Freiheit gab, sondern allen Menschen – überall, und in alle Ewigkeit».[22] In dieser Tradition war der Sieg über die Sowjetunion für viele Amerikaner nicht nur ein Sieg ihres Landes, sondern ein Sieg amerikanischer Ideen, und deren weltweite Verbreitung nicht bloß eine Strategie, sondern eine historische Berufung. Es fiel den politischen Eliten deshalb nicht schwer, ihre Landsleute von einer «neuen», freiheitlichen Weltordnung zu überzeugen, solange die Vereinigten Staaten ihr globaler Champion waren.

Der Regierungswechsel im Januar 1993 brachte in dieser Hinsicht keine Veränderung. Mehr noch als Bush war der Demokrat Bill Clinton davon überzeugt, dass sich Amerika für eine Welt «freier Menschen» und «freier Märkte» einsetzen sollte. Die «Förderung der Demokratie» erwähnte er in jeder wichtigen außenpolitischen Rede. In der Einleitung zur Nationalen Sicherheitsstrategie aus dem Sommer 1994 hieß es: «Je mehr Demokratie und politische und ökonomische Liberalisierung in der Welt Fuß fassen, desto sicherer und wohlhabender unsere Nation.»[23]

Doch bereits während Clintons Präsidentschaft zeigten sich die Grenzen dieser Doktrin. Ein gutes Beispiel dafür ist die «Gemeinschaft der Demokratien» – eine der wichtigsten außenpolitischen Initiativen während Clintons zweiter Amtszeit. Die Idee war, eine Art Vereinte Nationen der Demokratien zu schaffen, also ein Forum, in dem liberale Demokratien unter sich waren und gemeinsam Strategien zur Förderung von Freiheit und Menschenrechten entwickelten. Der Vorschlag kam von Außenministerin Madeleine Albright, die in der Tschechoslowakei geboren wurde und im Alter von elf Jahren mit ihren Eltern in die Vereinigten Staaten geflohen war. Der Kampf gegen den Kommunismus und andere Formen autoritärer Herrschaft war ihr Herzensanliegen, und die Schaffung einer Vereinigung, in der sich demokratische Staaten gegenseitig unterstützten, wurde zur persönlichen Priorität. «Demokratie», so Albright in ihrer Autobiografie, «war mein Leitmotiv.»[24]

Nach mehrjährigen Vorbereitungen konstituierte sich die «Gemeinschaft der Demokratien» im Juni 2000 mit einer Konferenz in Warschau, zu deren Abschluss die Vertreter von hundertsechs Teilnehmerstaaten ein Statement demokratischer Prinzipien unterschrieben. Doch die Initiative verlor schnell an Fahrt. Bereits während der Vorbereitungen hatte es Streit darüber gegeben, welche Länder zu ihr eingeladen werden sollten. Die sieben Länder, die neben den Vereinigten Staaten zum Präsidium gehörten, hatten ganz unterschiedliche Auffassungen davon, was eine Demokratie sei. Am Ende entschied man sich dafür, möglichst viele Länder zuzulassen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten neben den «alten» und «neuen» Demokratien in West- und Osteuropa deshalb auch Länder wie Marokko und Jordanien, die zwar wichtige Partner Amerikas waren, aber keine Demokratien.

Ein weiteres Problem war, dass die meisten Staaten nicht den gleichen missionarischen Eifer besaßen wie Amerika. Viele hatten sich ihre Demokratie hart erkämpft, und doch wollten nur wenige die Demokratieförderung zum Leitprinzip ihrer Außenpolitik machen. Ted Piccone, damals ein junger Beamter im amerikanischen Außenministerium, der an der Abschlusserklärung mitarbeitete, erinnert sich, dass besonders kleinere Staaten und Entwicklungsländer auf ihre Souveränität pochten. Sie fürchteten, dass öffentliche Erklärungen, die sich gegen Menschenrechts- oder Freiheitsverletzungen in anderen Staaten richteten, eine Form der «Einmischung» seien, die – früher oder später – zur Einmischung in die eigenen Angelegenheiten führen könnte. Kurzum: Es wurde klar, dass die Teilnehmerstaaten weniger gemein hatten als ursprünglich gedacht. Trotz ihrer demokratischen Identität, so Piccone, «fehlte der Wille zum Konsens. Es gab keinen Zusammenhalt.»[25]

Größtes Problem war jedoch Amerika selbst. Auch wenn sich Albright Mühe gab, andere Länder an der Organisation zu beteiligen, wurde die «Gemeinschaft» vor allem als «amerikanisches Projekt» wahrgenommen. Und obwohl die meisten Teilnehmerstaaten freundschaftliche Beziehungen zu Amerika unterhielten, wollte niemand als Befehlsempfänger gelten. Auch Piccone kam letztlich zu dem Schluss, dass Amerikas Übermacht zum Hindernis wurde:

[Die neunziger Jahre] waren ein Höhepunkt amerikanischer Macht, und daraus wollten wir Kapital schlagen. Wir sagten: «Das ist die Welt, in der die Demokratie zur dominanten Regierungsform wird. Das ist gut für uns, und es ist gut für Euch.» […] Doch paradoxerweise war Amerika in diesem Moment wohl zu groß und zu mächtig, um anderen Staaten das Gefühl zu geben, sie könnten gleichberechtigte Partner sein.[26]

Die «Gemeinschaft der Demokratien» organisierte mehrere Folgekonferenzen und eröffnete in Warschau ein Büro, aber sie entfaltete kaum konkrete Aktivitäten. Nachdem die Vereinigten Staaten im Jahr 2003 in den Irak einmarschierten (siehe Kapitel 8), war die Initiative faktisch tot.

«Europäische Standards»

Europa war, wenn es um Demokratisierung ging, auf den ersten Blick vorsichtiger. Frankreich lehnte die Idee einer «Gemeinschaft der Demokratien» ab und weigerte sich, die Abschlusserklärung zu unterzeichnen. Der damalige Außenminister Hubert Védrine machte klar, dass ihm der «angelsächsische Ansatz» zur Demokratieförderung widerstrebte. Vor Journalisten erklärte er: «Demokratie ist nicht wie eine Religion, zu der man konvertiert, sondern Ergebnis eines langen, [auch psychologischen] Reifungsprozesses.»[27] Zu Albright sagte er später, dass ihm die Initiative «zu amerikanisch» sei und sein Land keine Lust habe, auf internationaler Bühne die zweite Geige zu spielen.[28]

Auch Deutschland hatte Gründe, sich zurückzuhalten. Die Konsequenzen der Wiedervereinigung absorbierten viel Energie und Aufmerksamkeit.[29] Auch waren sich deutsche Politiker darüber bewusst, dass es gegenüber dem neuen, größeren Deutschland bei vielen seiner Partner noch Vorbehalte gab. Außenpolitische Priorität war deshalb, nicht negativ aufzufallen. Wolfgang Ischinger, der in den neunziger Jahren politischer Direktor des Auswärtigen Amtes war, beschrieb die Außenpolitik Deutschlands während dieser Zeit als «gehemmt»:

Wir trauten uns nicht, unsere Meinung zu sagen […]. Das Motto in Berlin war, ich sag’s mal salopp, dass wir uns wie ein Hase im Acker verhalten sollten: Ohren anlegen und ganz, ganz klein machen, damit uns keiner sieht.[30]

Deutschland, Frankreich und die anderen westeuropäischen Staaten vermieden den Begriff «Demokratisierung» und verfolgten einen anderen, mehr auf Institutionenbildung gerichteten Ansatz. Allerdings waren sie in den neunziger Jahren ebenfalls an einem ehrgeizigen Demokratisierungsprojekt beteiligt, nämlich der Erweiterung der Europäischen Union um zehn mittel- und osteuropäische Staaten.[31] Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl betonte bei jeder Gelegenheit, dass die europäische Einigung «unumkehrbar» gemacht werden müsse.[32] Die Vision, die er und viele andere westeuropäische Politiker in solchen Reden artikulierten, war die eines Europa, das «einig, frei und in Frieden» war.

Der Prozess, der dorthin führen sollte, beinhaltete nicht nur Verhandlungen zu Binnenmarkt oder Landwirtschaftspolitik, sondern auch – und vor allem – die Erwartung, dass sich die Beitrittsländer in ihrer «inneren Verfasstheit» – also bei Themen wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz – «europäischen Standards» anpassen würden. In der Praxis ging es dabei nicht um «Verhandlungen», bei denen gleichberechtigte Partner um einen Kompromiss rangen, sondern um einen Prozess der Angleichung, in dem die östlichen Beitrittskandidaten die Normen, Gesetze und Verfahrensweisen des Westens akzeptierten.[33] Was «Freiheit» im Einzelnen bedeutete, entschied in vielen Fällen die EU-Kommission.

Natürlich waren die osteuropäischen Beitrittskandidaten in diesem Prozess willige Partner, und es besteht kein Zweifel, dass der Druck aus Brüssel dazu beitrug, dass Minderheiten geschützt, Konflikte verhindert und demokratische Strukturen gefestigt wurden. Doch die Prioritäten der Beitrittsländer waren oftmals andere. Für sie stand nicht die Vision eines vereinten und demokratischen Europa im Vordergrund, sondern die Verteidigung der frisch gewonnenen Souveränität. Ihr Ansatz war nicht idealistisch, sondern instrumentalistisch.[34] Wichtiger als die «europäischen Werte» war für sie der Zugang zu westlichen Märkten und die eigene Sicherheit.

So empfanden viele Beitrittskandidaten Russland bereits lange vor der Präsidentschaft Wladimir Putins als Bedrohung. Das galt besonders für Polen und die baltischen Staaten, die bis 1991 Teil der Sowjetunion waren. Bernd Mützelburg, der damalige deutsche Botschafter in Estland und spätere außenpolitische Berater von Bundeskanzler Gerhard Schröder, erinnert sich:

Man wollte geschützt werden vor diesem großen Bären, vor dem viele aus historischen Gründen immer noch Angst hatten. Deswegen ging es den Balten, Polen und Tschechen auch in erster Linie um den Beitritt zur Nato und die entsprechende Sicherheitsgarantie. Erst danach stellte man sich die Frage: Was bedeutet eigentlich der Beitritt zur Wertegemeinschaft [EU] für unsere eigene, innere Verfasstheit?[35]

Je offensichtlicher wurde, dass das «europäische Projekt» nicht identisch mit den eigenen, unmittelbaren Interessen war, desto größer die Skepsis: Die marktwirtschaftlichen «Handschellen», die die EU den Osteuropäern anlegte, führten zu sozialen Härten; Sonderregelungen, zum Beispiel beim freien Personenverkehr, verstärkten das Gefühl, «Europäer zweiter Klasse» zu sein; und die ständigen «Belehrungen» aus Brüssel vermittelten den Eindruck, dass die Menschen in den Beitrittsländern trotz wiedergewonnener Freiheit nicht mehr Herren im eigenen Haus waren.

Während am Anfang des Jahrzehnts die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft in allen Beitrittsstaaten bei nahezu 100 Prozent lag, gab es zehn Jahre später deutliche Opposition: 25 Prozent in Estland, 26 Prozent in Polen und 31 Prozent in Lettland.[36] Mützelburg beobachtete den Stimmungswandel genau:

Am Anfang war die Erleichterung riesig, dass man den sowjetischen Overlord los war […]. [Doch später] hat sich die Auffassung geändert. Da hat man gesagt: Moment mal, bisher haben uns die Sowjets gesagt, was wir zu tun haben, und jetzt wollen uns die Leute in Brüssel sagen, wo es langgeht. Das haben wir nicht gewollt. Wir wollten Freiheit und Selbstbestimmung, und wir hatten geglaubt, dass wir das in der Europäischen Union bekommen.[37]

Das Gefühl ausländischer Bevormundung, das Mützelburg beschreibt, war zu keinem Zeitpunkt so stark, dass ein Scheitern der EU-Osterweiterung drohte. Doch die Spannung zwischen dem liberal-universalistischen Ansatz westlicher Politikeliten und den auf Souveränität und Eigennutz bedachten Osteuropäern wurde zu einer permanenten Konfliktlinie und sorgte in den darauffolgenden Jahrzehnten für eine Reihe von Zerwürfnissen – nicht zuletzt während der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 (siehe Kapitel 14). Genauso wie Amerika musste Europa feststellen, dass die eigenen, vermeintlich universellen Werte selbst im eigenen, europäischen «Hinterhof» nicht so selbstverständlich waren, wie man glaubte, und dass ihr Export nicht so «unvermeidbar» war, wie die These vom Siegeszug der liberalen Demokratie suggerierte.

Kapitel 2Ewiger Friede

Auch in der Sicherheitspolitik hinterließ der liberale Optimismus der neunziger Jahre deutliche Spuren. Als Tony Blair im Frühling 1997 zum britischen Premierminister gewählt wurde, dauerte es keine drei Wochen, bis er eine umfassende Überprüfung der Verteidigungspolitik in Auftrag gegeben hatte. Blair war überzeugt, dass das britische Militär noch immer in der Logik des Ost-West-Konflikts verhaftet war, und wollte dies so schnell wie möglich ändern. Das Dokument, das hieraus entstand – die sogenannte Strategic Defence Review –, war eine mustergültige Reflexion des «neuen Denkens», das während der neunziger Jahre überall im Westen Fuß gefasst hatte.[1]

Statt Gefahren für das eigene Land, die eigene Bevölkerung oder befreundete Staaten abzuwenden, sollte Verteidigungspolitik fortan die Probleme der Welt lösen.[2] Aufgabe des Militärs war es nicht mehr nur zu kämpfen, sondern demokratische Regierungen zu stabilisieren, wirtschaftliche Entwicklung zu fördern und humanitäre Krisen zu bewältigen. Als größte Herausforderungen galten nicht mehr Angriffskriege, sondern Risiken, die aus «Globalisierung und Interdependenz» entstünden – Drogenhandel, Terrorismus und ethnische Konflikte, aber auch «Ungleichheit und menschliches Leid».[3] Für «echte» – das heißt, existenzielle – Kriege gab es keinen Grund mehr, aber «Unsicherheit», «Instabilität» und «Risiken» lauerten hinter jeder Ecke.

Die Weltsicht, die dieses «neue Denken» widerspiegelte, war die von Fukuyama und Friedman. Selbst Fukuyama hatte ja, wie schon erwähnt, niemals behauptet, dass es keine gewaltsamen Konflikte mehr geben würde, sondern lediglich, dass solche Konflikte keine existenzielle Bedrohung mehr seien und dass mit dem Siegeszug der Demokratie eine immer größer werdende Zone des Friedens entstehe. Genau hierauf hofften die sicherheitspolitischen Eliten, für die eine zweihundert Jahre alte Theorie, nach der Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, als «empirisches Gesetz»[4] galt. Diese Theorie wurde – in stark vereinfachter Form – zur Grundlage westlicher Politik. Doch statt in «ewigem Frieden» resultierte ihre Umsetzung in einer verlorenen Dekade, in der «humanitäre Interventionen» überbewertet, neue Bedrohungen unterbewertet und sicherheitspolitische Fähigkeiten systematisch abgebaut wurden.

Demokratischer Frieden

Die Idee, dass Demokratien friedlicher miteinander umgingen als autoritäre Herrschaftsformen, existierte bereits, bevor es moderne Demokratien gab. Ihre erste vollständige Artikulation findet sich in einer Schrift Immanuel Kants mit dem Titel Zum ewigen Frieden. Kant wandte sich darin gegen die Idee, dass die Abwesenheit von Kriegen ausschließlich das Ergebnis von Allianzen und Gleichgewichten der Mächte sei. Er betonte, dass es auf die «innere Verfassung» ankomme und letztlich nur republikanisch verfasste Staaten zu dauerhaftem Frieden in der Lage seien. Seine Begründung war, dass die humanitären und finanziellen «Kosten» eines Konflikts von den Bürgern getragen würden und diese deshalb meist «pazifistischer» seien als ihre Herrscher, was bedeutete: Wenn Bürger an Entscheidungen über Krieg und Frieden beteiligt sind, kommt es seltener zu Krieg.

Kant entwarf außerdem eine Staatenordnung, in der sich republikanische Staaten miteinander verbünden und gegenseitig beschützen sollten. Fast zwei Jahrhunderte vor Fukuyama formulierte er damit die Idee einer Art demokratischer Friedenszone, die sich ausweiten und irgendwann zum «ewigen Frieden» führen würde. Er erklärte:

Denn wenn das Glück es so fügt: dass ein mächtiges und aufgeklärtes Volk sich zu einer Republik […] bilden kann, so gibt diese einen Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten ab, um sich an sie anzuschließen, und so den Freiheitszustand der Staaten […] zu sichern, und sich durch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten.[5]

Ein zusätzliches Argument lieferte Montesquieu. Sein Buch Vom Geist der Gesetze – einer der wichtigsten Texte der Aufklärung – versuchte zu erklären, warum die republikanische Regierungsform anderen Herrschaftsmodellen wie Monarchie und «Despotie» überlegen sei. Einer der Hauptgründe sollte sein, dass republikanische Staaten kommerziell erfolgreicher seien und der Handel zwischen ihnen zu Verflechtungen, gemeinsamen Interessen und gegenseitigen Abhängigkeiten führe, die Kriege schwieriger – wenn nicht sogar unmöglich – machten. «Zwei Staaten, die miteinander Handel treiben», so Montesquieu, «werden voneinander abhängig: Einer hat ein Interesse am Verkaufen, der andere am Kaufen. Und deshalb basiert ihre Verbindung fortan auf beiderseitigen Notwendigkeiten.»[6]

Auch in vergangenen Jahrzehnten – und vor allem nach Ende des Kalten Krieges[7] – haben sich Historiker und Politikwissenschaftler immer wieder mit der Idee des «demokratischen Friedens» beschäftigt.[8] Die Erklärungen, die dabei vorgebracht wurden, waren im Prinzip dieselben, die bereits Kant und Montesquieu formuliert hatten. Neu war, dass die Forscher sie nun auch empirisch unterfütterten. Die Politikwissenschaftler Zeev Maoz und Bruce Russett etwa kamen zu dem Ergebnis, dass es zwischen 1946 und 1986 keinen Krieg zwischen zwei Demokratien gegeben habe.[9] Laut ihrem Kollegen Michael Doyle begann dieser Zustand sogar bereits im Jahr 1815.[10]

Die wissenschaftliche Debatte, die solche Beiträge auslösten, offenbarte jedoch wichtige Nuancen. Wie «perfekt» der demokratische Frieden war, hing beispielsweise davon ab, wie «Krieg» und «Demokratie» definiert wurden. Zu klären war etwa, ob Staaten im 19. Jahrhundert, in denen außer weißen, wohlhabenden Männern niemand das Wahlrecht hatte, aus heutiger Sicht als demokratisch gelten sollten. Auch stellte sich heraus, dass die Erklärungen, die Kant und Montesquieu artikuliert hatten, in vieler Hinsicht fragwürdig waren. Der Historiker Christopher Layne zeigte am Beispiel mehrerer Krisen, die beinahe zum Krieg geführt hatten, dass «normative Erwägungen» im Verhalten von Politikern praktisch keine Rolle gespielt hatten, sehr wohl aber strategische Überlegungen und Machtpolitik.[11]

Der vielleicht wichtigste Einwand war, dass «junge Demokratien», die sich im Prozess der demokratischen Konsolidierung befanden, oftmals nicht friedlicher, sondern aggressiver im Umgang mit anderen Staaten waren. Die Politikwissenschaftler Edward Mansfield und Jack Snyder kamen zu dem Schluss, dass Demokratien in den ersten zehn Jahren nach ihrer Demokratisierung doppelt so häufig in den Krieg zögen wie autoritäre Staaten. Grund dafür sei die Schwäche staatlicher Institutionen und die Tatsache, dass Demokratisierung häufig mit einem Wiedererstarken des Nationalismus einhergehe.[12] Die weit verbreitete Annahme, dass autoritäre Staaten nach ihrer Transformation zur Demokratie friedfertiger würden, war also falsch und darüber hinaus irreführend. Entscheidend, so fand auch der Politikwissenschaftler John Owen, sei nicht, ob Staaten eine demokratische Verfassung hätten, sondern vielmehr, ob sie liberale Normen internalisiert hätten.[13]

In der öffentlichen Debatte und bei Politikern kam von solchen Einwänden und Nuancen nur wenig an. Thomas Friedman popularisierte die These vom demokratischen Frieden in seinen Büchern als «Goldene-Bögen»-Theorie, nach der keine zwei Staaten mit einem McDonald’s-Restaurant (angeblich ein Indikator wirtschaftlicher Öffnung) jemals Krieg gegeneinander geführt hatten.[14] Diese Theorie stimmte bereits zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung nicht, doch bei Politikern und in westlichen Außenministerien galt sie – und, mit ihr, die Idee vom «demokratischen Frieden» – als eisernes Gesetz, mit dem Regierungshandeln und sogar Kriege begründet wurden.

Dass der «demokratische Friede» nur für Demokratien im Umgang mit anderen Demokratien galt, dass es bedeutende Ausnahmen gab und dass – wie von Mansfield und Snyder gezeigt – junge Demokratien oftmals kriegslustiger waren als Autokratien, wurde von westlichen Politikeliten weder wahrgenommen noch verstanden. In Clintons Regierungserklärung aus dem Jahr 1994 hieß es schlicht: «Die beste Strategie, um unsere Sicherheit zu bewahren und nachhaltigen Frieden zu schaffen, ist die Verbreitung der Demokratie.»[15]

Alternativen?

Andere Theorien passten weniger gut zum liberal-optimistischen Zeitgeist. Die prominenteste war zweifellos Samuel Huntingtons These vom «Kampf der Kulturen», die im Sommer 1993 als Artikel in der Zeitschrift Foreign Affairs erschien und als Antwort auf die These seines vormaligen Harvard-Studenten Fukuyama gedacht war. Huntington argumentierte, dass künftige Kriege nicht ideologisch oder ökonomisch motiviert sein würden, sondern kulturell. Den von Fukuyama vorausgesagten Siegeszug universeller Werte begriff er als «gefährliche Illusion», da westliche Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten nicht universell, sondern eben westlich seien und ihre Ausbreitung nicht als Befreiung, sondern als «Kulturimperialismus» wahrgenommen würde.[16] Huntington beschrieb acht sogenannte Zivilisationen, an deren Grenzen es zu Konflikten kommen werde. Besonders problematisch war seiner Meinung nach der Islam, der sich mit all seinen «Nachbarn» im Konflikt befinde: «Der Islam hat blutige Grenzen», so seine Schlussfolgerung.[17]

Der Artikel fand große Resonanz und wurde innerhalb kurzer Zeit zum am meisten gelesenen und zitierten Artikel in der Geschichte von Foreign Affairs, weil er die Renaissance nationalistischer und religiös motivierter Konflikte wie zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien scheinbar überzeugend erklärte. Für linke Verschwörungstheoretiker war er Teil einer offiziellen «Kampagne», mit der die amerikanische Öffentlichkeit gegen den Islam aufgehetzt werden sollte (siehe Kapitel 5).[18] Doch in Wirklichkeit hatte Huntingtons These kaum Einfluss auf westliche Politikeliten. Das lag etwa daran, dass viele Punkte in Huntingtons Ausführungen irreführend oder unplausibel waren – nicht zuletzt die (mehr oder weniger) willkürliche Einteilung in acht Zivilisationen und die Idee, dass zukünftige Konflikte vor allem zwischen diesen stattfinden würden, während bereits absehbar war, dass Konflikte innerhalb der Zivilisationen (zum Beispiel zwischen sunnitischem und schiitischem Islam) mindestens genauso wichtig sein würden.