Logik der Angst - Peter R. Neumann - E-Book

Logik der Angst E-Book

Peter R. Neumann

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Beschreibung

Die Mordserie des NSU (2000-2006), der Terroranschlag von Anders Breivik (2011), das Attentat in München (2016), das Massaker von Christchurch (2019), der Mord an Walter Lübcke (2019), die Anschläge von Halle (2019) und Hanau (2020), zuletzt ein vereitelter Putschplan deutscher Reichsbürger (2022): Rechtsextreme Gewalt beschäftigt uns schon lange – und in den letzten Jahren besonders massiv. Mit Wahlerfolgen radikaler Parteien, wie in Schweden, Italien oder mit der AfD in Deutschland, droht der Rechtsextremismus mehrheitsfähig zu werden; im Zuge sozialer Proteste könnten extreme Gruppierungen zu einer umfassenden Bewegung zusammenfinden. Peter R. Neumann, einer der weltweit profiliertesten Experten, zeigt, wie real diese Gefahr ist – und wo ihre tieferen, ideologischen Wurzeln liegen. Statt nur einzelne Gruppen zu beschreiben, legt er das Wesen, die Logik des Rechtsextremismus frei – ebendas, was all diese Gruppen verbindet, ob Alte oder Neue Rechte, Neoreaktionäre oder Identitäre, Reichsbürger oder Verschwörungstheoretiker, AfD oder Rassemblement National. Anhand zahlreicher Beispiele, von der völkischen Bewegung im 19. Jahrhundert bis zum Populismus der Gegenwart, zeigt Neumann: Am Anfang steht nicht der Hass, sondern eine Logik der Angst. Ein Psychogramm des Rechtsextremismus – das zugleich eine dringende Warnung ist.

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Peter R. Neumann

Logik der Angst

Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln

 

 

 

Über dieses Buch

Die Mordserie des NSU (2000–2006), der Terroranschlag von Anders Breivik (2011), das Attentat in München (2016), das Massaker von Christchurch, der Mord an Walter Lübcke (2019), die Anschläge von Halle (2019) und Hanau (2020), zuletzt ein vereitelter Putschplan deutscher Reichsbürger (2022): Rechtsextreme Gewalt beschäftigt uns schon lange – und in den letzten Jahren besonders massiv. Mit Wahlerfolgen radikaler Parteien, wie in Schweden, Italien oder mit der AfD in Deutschland, droht der Rechtsextremismus mehrheitsfähig zu werden; im Zuge sozialer Proteste könnten extreme Gruppierungen zu einer umfassenden Bewegung zusammenfinden.

Peter R. Neumann, einer der weltweit profiliertesten Experten, zeigt, wie real diese Gefahr ist – und wo ihre tieferen, ideologischen Wurzeln liegen. Statt nur einzelne Gruppen zu beschreiben, legt er das Wesen, die Logik des Rechtsextremismus frei – ebendas, was all diese Gruppen verbindet, ob Alte oder Neue Rechte, Neorassisten oder Identitäre, Reichsbürger oder Verschwörungstheoretiker, AfD oder Rassemblement National. Anhand zahlreicher Beispiele, von der völkischen Bewegung im 19. Jahrhundert bis zum Populismus der Gegenwart, zeigt Neumann: Am Anfang steht nicht der Hass, sondern eine Logik der Angst. Ein Psychogramm des Rechtsextremismus – das zugleich eine dringende Warnung ist.

Vita

Peter R. Neumann, geboren 1974 in Würzburg, ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London und leitete dort lange das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR). Als international gefragter Experte war Neumann 2017 Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und berät derzeit die Europäische Kommission zum Thema Extremismus. Daneben schreibt er u.a. für den «Spiegel» und die «New York Times». Zuletzt erschien sein viel gelobtes Buch «Die neue Weltunordnung».

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Frank Ortmann

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01698-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

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Dieses E-Book ist nicht vollständig barrierefrei

 

 

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Inhaltsübersicht

Einleitung

Was ist rechts?

Was ist Extremismus?

Über dieses Buch

Teil eins Wurzeln

1. Pessimismus

Zyklentheorien

Die Pessimismusfalle

2. Ordnung

Konterrevolutionäre Wurzeln

Die Gleichheitsfrage

3. Identität

Das Eigene und das Fremde

Identitätskonflikte

Teil zwei Logiken

4. Angst

Amerikanische Rassenkriege

Europäische Austauschtheorien

Westliche Suizide

5. Flucht

Rückzug aufs Land

«Emigration» ins Innere

Auf internationale Gewässer

6. Kampf

Im Parlament

Im Internet

Auf der Straße

Im Untergrund

7. Macht

Normalisierung

Destabilisierung

Ideologische Transformation

Was folgt?

Zum Weiterlesen

Dank

Einleitung

Überall im Westen haben Rechtsextremisten in den vergangenen Jahren eine Blutspur hinterlassen. Der tödlichste Attentäter war der damals zweiunddreißigjährige Norweger Anders Breivik, der im Juli 2011 eine Autobombe im Regierungsviertel von Oslo zündete und anschließend – als Polizist verkleidet – auf die Ferieninsel Utøya fuhr, um Mitglieder der Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei zu erschießen. Insgesamt 77 Menschen kamen dabei zu Tode – 8 in Oslo, 69 in Utøya. Das jüngste Opfer war 14 Jahre alt. Für das kleine, wohlhabende Norwegen, das sich seines sozialen Friedens rühmt, war der Anschlag ein Schock: der schlimmste Gewaltakt seit der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg; verübt von einem Norweger, dessen Wut sich gegen die eigene Gesellschaft richtete.

Doch was war Breiviks Ziel? Obwohl immer schon rechts, hatten sich die politischen Überzeugungen des gescheiterten Unternehmers aus gutbürgerlicher Familie mehrfach gewandelt. Im Alter von 18 Jahren trat er der Fortschrittspartei bei – einer rechts-libertären Partei, die sich für weniger Steuern und geringere Migration einsetzt. Breivik ging zu zahlreichen Sitzungen, kandidierte für Vorstandsposten und verliebte sich in eine indischstämmige Parteifreundin. Nach allem, was bekannt ist, unterstützte er den gemäßigten Flügel und vertrat selbst nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 noch relativ moderate Positionen. In einem parteiinternen Forum schrieb er damals: «Man darf nicht vergessen, dass der Islam eine große Religion ist (auf einer Ebene mit dem Christentum) und dass Muslime im Allgemeinen gute Menschen (auf einer Ebene mit Christen) sind.» Nicht der Islam an sich sei kritikwürdig, sondern «bestimmte Aspekte einiger Unkulturen, die mit dem Islam zusammenhängen».[1]

Als seine politische Karriere scheiterte, wollte Breivik zunächst Geschäftsmann werden, doch all seine Ideen verliefen im Sand. Spätestens ab Mitte der 2000er-Jahre war er davon überzeugt, dass es eine Verschwörung «multikultureller Eliten» gebe, deren Ziel es sei, die eigene Kultur mithilfe von Migration aus muslimisch geprägten Ländern zu zerstören. Er wähnte sich in einem «europäischen Bürgerkrieg», der innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem Verschwinden der «europäischen Zivilisation» führen würde. Ethnische Vielfalt war aus Breiviks Sicht keine Bereicherung, sondern «kultureller Genozid».[2]

Dies war auch die Weltsicht, die seinem Anschlag zugrunde lag. Mit seiner Tat wollte Breivik diejenigen treffen, die er für den vermeintlichen «Genozid» verantwortlich machte: nicht die Migranten selbst, sondern die «kulturmarxistischen Eliten», die ihn aus politischer Überzeugung vorantrieben. Breivik verstand sich zu diesem Zeitpunkt weder als Neonazi noch als Rassist, und Juden waren ihm größtenteils egal. In seinem Manifest, das er kurz vor seiner Tat an Tausende von Journalisten, Politiker und Nationalisten in ganz Europa verschickte, lehnte er den Nationalsozialismus sogar ab: «Ich bleibe ein überzeugter Anti-Nazi und gebe der NSDAP die Schuld an der Situation, in der wir uns befinden.»[3]

Im Gefängnis radikalisierte sich Breivik dann abermals. Als ihm nach zehn Jahren Haft die Bewährung verweigert wurde, erschien er vor Gericht mit rasiertem Kopf und streckte den Arm zum Hitlergruß. In der anderen Hand hielt er ein Schild, auf dem stand: «Stoppt den Genozid an weißen Völkern»; als sein Ziel nannte er die «die Schaffung eines Dritten Reiches». Den Antrag auf Freilassung begründete er damit, dass er sich für «gewaltfreien Widerstand» entschieden habe. Doch keiner der Richter fand dies überzeugend, und so kam Breivik für weitere zehn Jahren hinter Schloss und Riegel.[4]

Breivik hatte zweifellos persönliche – und auch psychische – Probleme, aber er war keineswegs «verrückt». Ehemalige Freunde und Bekannte gaben zu Protokoll, dass er viel las, sich immer für politische Ideen interessierte und seine Standpunkte stets mit Argumenten unterfüttern konnte.[5] Das spricht gegen die verbreitete Behauptung, seine Motivation habe allein aus «Hass» bestanden. Ebenso wenig überzeugend ist es, Breivik pauschal als «Faschisten» zu bezeichnen. Obwohl er im Gefängnis zu einem wurde, vertrat er davor ganz unterschiedliche Auffassungen, die zwar allesamt rechts oder rechtsextrem waren, aber mit dem historischen Faschismus, wie er sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte, wenig zu tun hatten. Solche Kategorisierungen zeigen, wie schwer sich die Öffentlichkeit nach wie vor mit dem Phänomen Rechtsextremismus tut. Statt sich ernsthaft – und kritisch – mit den Ideen zu beschäftigen, die Leute wie Breivik vertreten, ist es einfacher, für ihre Taten Begriffe wie «Hass» oder «Faschismus» zu verwenden.

Gerade in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass diese Haltung dem Problem nicht gerecht wird. Unter westlichen Rechtsextremisten gibt es heutzutage ein größeres Spektrum an Ideen und Einstellungen als je zuvor. Stärker als in der Vergangenheit werden beispielsweise Natur- und Umweltschutzthemen diskutiert. Die sogenannte Incel-Szene definiert sich über ihre Feindschaft gegenüber Frauen.[6] Aus Amerika ist die QAnon-Bewegung nach Europa herübergeschwappt. Durch die Corona-Pandemie sind Reichsbürger, sogenannte Selbstverwalter und Verschwörungstheoretiker in aller Munde. Und in den Manifesten rechtsextremer Terroristen finden sich immer häufiger Ideen, die sich gar keiner Tradition mehr zuordnen lassen. Was haben diese unterschiedlichen Entwicklungen und Strömungen noch gemeinsam? Wo kommen sie her? Ist es überhaupt möglich, sie in jedem Fall als rechtsextrem zu klassifizieren? Und wenn ja, woraus besteht die ideologische Klammer, die sie zusammenhält?

Dieses Buch versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben. Ihm liegt die These zugrunde, dass trotz der größer werdenden Vielfalt von Ansichten und Akteuren praktisch alle Formen des Rechtsextremismus nach wie vor auf derselben Logik beruhen – einer Logik der Angst. Die Grundlage dafür ist seine historische Entwicklung: Rechte Ideen sind fast überall als Reaktion auf den Vormarsch der «liberalen Moderne» und ihrer zentralen Werte – Fortschritt, Universalität, Individualismus und Gleichheit – entstanden. Rechte waren schon immer misstrauisch gegenüber Fortschritt und Universalität; Individualismus ist ihrer Auffassung nach dekadent, und die Art von Gleichheit, die Linken und Liberalen vorschwebt, gilt ihnen als Bedrohung «natürlicher» Ordnung. Kurzum: Seit fast zweihundertfünfzig Jahren, also seit den Revolutionen in Amerika und Frankreich, befinden sich die Rechten in permanenter Opposition zum Zeitgeist und den Institutionen, die er hervorgebracht hat. Die liberale Moderne ist aus ihrer Sicht eine historische «Tiefenströmung», die sich trotz gelegentlicher «Talsperren oder Stauungen» stets – und mit aller Wucht – ihren Weg bahnt.[7]

Es ist somit nicht Stärke, sondern ein Gefühl der Schwäche, auf dem rechtsextreme Politikansätze und Mobilisierungsversuche aufbauen. Auf einer Seite stehen dabei die «Ängstlichen», also Menschen, die gesellschaftliche Veränderungen nicht verstehen, von ihnen überfordert sind oder sie aus unterschiedlichen Gründen ablehnen. Auf der anderen Seite finden sich rechtsextreme Aktivisten und Vordenker, die solche Ängste aufgreifen und sie verstärken. Der ideologisch-emotionale Anknüpfungspunkt ist demzufolge nicht «Hass», sondern ein Gefühl der Angst, das von der ersten Seite ehrlich empfunden und von der zweiten (zum Teil) zynisch instrumentalisiert wird. Zum «Hass» kommt es erst dann, wenn Angst in eine bestimmte ideologische Richtung gelenkt wird – typischerweise gegen «liberale Eliten» und «das Fremde».

Wer Rechtsextremismus stoppen will, darf sich deshalb nicht darauf beschränken, diejenigen zu bekämpfen, die bereits Rechtsextremisten sind, sondern muss sich gleichzeitig mit den Ängsten auseinandersetzen, die für Rechtsextremismus empfänglich machen. Mit anderen Worten: Nur wer es schafft, die vermeintlichen «Verlierer» gesellschaftlicher Veränderungen politisch «mitzunehmen», kann nachhaltig den Nährboden austrocknen, auf dem rechtsextreme Ideologien gedeihen.

Was ist rechts?

Doch worum geht es überhaupt? Rechtsextremismus ist keine fest umrissene politische Ideologie, sondern die (extreme) Ausprägung einer politischen Denkrichtung. Dass diese Denkrichtung mit einem räumlichen Begriff umschrieben wird, geht auf die Französische Revolution im Jahr 1789 zurück – genauer gesagt: die Sitzordnung in der postrevolutionären Nationalversammlung. Auf der linken Seite saßen damals diejenigen, die im Kampf gegen den Absolutismus siegreich waren und sich mit ihrer Forderung nach «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» durchgesetzt hatten. Auf der rechten Seite fanden sich die «Verlierer», also Adelige, Klerikale und andere Anhänger des Ancien Régime, die durch die Revolution entmachtet worden waren und zurück zu einem hierarchischeren System wollten. Natürlich gab es auch innerhalb der Lager unterschiedliche Ansichten und Positionen, die sich im Laufe der Zeit weiter ausdifferenzierten, doch die Frage nach der Legitimität der Revolution – und damit der Idee, dass alle Menschen überall frei und gleich sind – wurde zur zentralen Achse, die «rechte» und «linke» Positionen unterschied.[8]

Wenn auch nur langsam, so setzte sich die politische Vision der Französischen Revolution überall in Europa durch. Zusammen mit anderen Idealen der Aufklärung, wie etwa Vernunft und der «wissenschaftlichen Methode», entstand hieraus die «liberale Moderne» und das, was heutzutage als «Westen» bezeichnet wird. In Westeuropa und Nordamerika ist dieser Wertekanon mittlerweile so selbstverständlich, dass er von praktisch allen politischen Akteuren akzeptiert wird. Die Unterscheidung zwischen «links» und «rechts» hat ihre Bedeutung dadurch allerdings nicht verloren. Während sich, grob gesprochen, Linke stärker für «Gleichheit» – zum Beispiel in Bezug auf Einkommen oder Rechte für benachteiligte Gruppen und Minderheiten – einsetzen, betonen Rechte häufiger die Unterschiedlichkeit von Menschen sowie die Existenz von vermeintlich «natürlichen» Ordnungen und Hierarchien.[9]

Eng damit verbunden ist die Frage nach politischer Gemeinschaft. Auch hier kristallisierte sich die Unterscheidung zwischen «links» (beziehungsweise «linksliberal») und «rechts» durch den Vormarsch der liberalen Moderne heraus. Mit den Revolutionen in Frankreich und (zuvor) in Amerika entstanden zum ersten Mal Staaten, die sich primär als Träger von Ideen verstanden. Frankreich war aus Sicht der Revolutionäre nicht mehr einfach nur ein geografisches Territorium oder Herrschaftsbereich bestimmter Dynastien, sondern staatgewordene Verkörperung der universell gültigen Vision von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten, der sich im Prinzip alle Menschen anschließen konnten.

Die Gegner der Revolution hatten eine andere Vorstellung. Anders als die (eher liberal orientierten) Individualisten war für sie gemeinschaftliche Identität nach wie vor zentral. Und im Gegensatz zu den (eher links orientierten) Universalisten begriffen sie diese nicht bloß als Zusammenschluss Gleichgesinnter, sondern als eine Art Familie. Ihrer Ansicht nach definierte sich politische Gemeinschaft über Sozialisierung, Herkunft oder Biologie, was bedeutete, dass Zugehörigkeit in den allermeisten Fällen unveränderbar, durch Geburt bestimmt und daher quasi «gottgegeben» war.

Genauso wie bei der Konzeption von Gleichheit setzten sich die Ideen der Revolution auch beim Thema Identität im Laufe der Zeit durch. Praktisch alle westlichen Staaten verstehen sich heutzutage als «Wertegemeinschaften», und ihre Staatsbürgerschaften stehen Menschen offen, die nicht dort geboren wurden oder von einem Staatsangehörigen abstammen; Diskriminierung basierend auf Religion, Herkunft oder Hautfarbe ist verboten. Doch ähnlich wie bei dem Prinzip der Gleichheit sind die politischen Unterschiede dadurch nicht verschwunden. Während für Linke (und Linksliberale) das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten in aller Regel das einzige Kriterium ist, das Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft definieren sollte, sprechen Rechte häufiger auch von Herkunft, Kultur und anderen vermeintlich identitätsstiftenden Faktoren, die über das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten hinausgehen. Rechte Ideen sind somit nicht nur anti-egalitär, sondern tendenziell auch «identitär».[10]

Was ist Extremismus?

Selbst wenn rechte Vorstellungen dem liberal-modernen Zeitgeist zuwiderlaufen, sind sie nicht zwangsläufig extremistisch, und nicht alles, was «rechts» ist, sollte deshalb unter «Extremismusverdacht» gestellt werden. Genauso wie bei anderen politischen Orientierungen – etwa linken – geht es bei Extremismus nicht in erster Linie um den Inhalt bestimmter politischer Auffassungen, sondern darum, wie sie ausgedrückt und mit welchen Mitteln sie verfolgt werden.

Viele Forscher tun sich mit dieser Unterscheidung schwer. So argumentiert der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, der Extremismusbegriff sei eine Erfindung deutscher Behörden, deren vorrangiger Zweck es sei, linke Positionen zu diskreditieren.[11] Das ist wenig überzeugend. Die Bezeichnungen «extreme Rechte» und «extreme Linke» existierten schon in der französischen Nationalversammlung des frühen 19. Jahrhunderts,[12] und auch in den Vereinigten Staaten war der Ausdruck bereits wenige Jahrzehnte später geläufig. Ins Deutsche schaffte er es spätestens im Zuge der Totalitarismusdebatte nach dem Zweiten Weltkrieg, als Emigranten wie etwa Karl Loewenstein, Theodor W. Adorno und Hannah Arendt die Gemeinsamkeiten – und Unterschiede – von Nazismus und Stalinismus zu verstehen versuchten.[13]

Richtig ist jedoch, dass der Begriff zweideutig sein kann. Der konservative Philosoph Roger Scruton brachte es auf den Punkt, als er schrieb, der «gemeinsame Nenner» aller Formen des Extremismus sei die «Missachtung des Lebens, der Freiheit und der Menschenrechte anderer».[14] Die offensichtlichste Erscheinungsform in dieser Aufzählung ist die «Missachtung des Lebens», also politisch motivierte Gewalt. Diese ist im Kontext westlich-liberaler Demokratien immer – und automatisch – eine Form von Extremismus, ganz unabhängig davon, im Namen welcher Ideen oder Ideologie sie angewandt wird. Wer versucht, politische Ideen mit (physischer) Gewalt durchzusetzen, oder den Einsatz von Gewalt billigt, stellt sich nicht nur gegen seine jeweiligen politischen Gegner, sondern erteilt dadurch der offenen Gesellschaft insgesamt eine Absage.

Komplizierter wird es, wenn es um die «Missachtung von Freiheit und Menschenrechten» geht. Damit beschreibt Scruton Einstellungen, die nicht zwangsläufig in Gewalt münden müssen. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es in diesem Zusammenhang mehrere Zugänge. Der prominenteste ist der «normative» Ansatz der Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhard Jesse, aus deren Perspektive extremistisch ist, wer den liberal-modernen «Grundkonsens» – (individuelle) Freiheit, (politische) Gleichheit und Demokratie – ablehnt oder infrage stellt.[15] Der «kognitive» Ansatz des Theologen Edgar Metzler identifiziert extremistische «Denkmuster» wie etwa «Dogmatismus, Widerstand gegen Veränderungen, eine autoritäre Einstellung und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden».[16] Und der Politikwissenschaftler J. M. Berger betont «soziale Prozesse», im Laufe derer die «Feindschaft gegenüber einer Fremdgruppe» zunehmend als Voraussetzung für das Wohlergehen der «Eigengruppe» wahrgenommen» wird.[17]

Was diese Ansätze eint, ist ihr Ziel – nämlich die Unterdrückung des gesellschaftlichen Pluralismus. Der Soziologe Seymour Lipset konstatierte dies bereits im Jahr 1970 und beschrieb Extremismus (jeglicher Couleur) als eine Art «Anti-Pluralismus», der die Vielfalt von Ideen und Interessen in einer offenen Gesellschaft nicht als bereichernd, sondern als schädlich empfindet und sie im Namen der jeweils eigenen politischen Ziele unterbinden will.[18] Eine Definition des Rechtsextremismus könnte deshalb lauten: Rechtsextremismus ist der Versuch, andere politischen Ideen zugunsten einer anti-egalitären, identitären politischen Vision zu unterdrücken.

Über dieses Buch

In der Politikwissenschaft und in benachbarten Disziplinen gibt es nur wenige Themen, über die so viel geschrieben und geforscht wird wie der Rechtsextremismus und ihm verwandte Phänomene. Jedes Jahr erscheinen mindestens hundert neue wissenschaftliche Artikel und Bücher, die sich mit allen seinen Facetten beschäftigen. Zu praktisch jeder Gruppe oder Bewegung bestehen Experten-Communitys, die die neuesten Entwicklungen genau beobachten und analysieren. Was kann dieses Buch da noch beitragen? Was hat es zu sagen, das nicht bereits gesagt wurde?

Gerade weil das Forschungsfeld so populär ist, sind viele Veröffentlichungen sehr kleinteilig. Häufig geht es um einzelne Akteure oder aktuelle Entwicklungen, die nur in ihrem unmittelbaren Zusammenhang untersucht werden. Ein riesiger Teil der Literatur beschäftigt sich mit dem Auf und Ab rechtsextremer, rechtsradikaler oder rechtspopulistischer Parteien. (Mit den letzten zwei Begriffen sind Akteure gemeint, die zwar weit rechts, aber nicht notwendigerweise außerhalb des Verfassungsbogens stehen.)[19] Zu den Fragen, die dabei häufig gestellt werden, gehören: Woher kommen sie? Wer sind ihre Wähler? Welchen Einfluss haben sie auf das Parteiensystem?[20] Natürlich interessieren sich Forscher auch für Parteiprogramme und die Themen, mit denen Wähler mobilisiert werden. Und es wimmelt geradezu von detailreichen Studien über bestimmte Vordenker. Aber nur selten findet man umfassende Analysen, geschweige denn historische Einordnungen der zugrunde liegenden Ideensysteme. Selbst in den drei besten und am häufigsten zitierten Studien zur Ideologie und Programmatik der «extremen Rechten» in Westeuropa geht es meist um Parteien und ihren Erfolg oder Misserfolg.[21]

Ein Problem historisch orientierter Literatur ist demgegenüber, dass Rechtsextremismus meist ausschließlich über seine Verbindung zum Faschismus definiert wird. Der Faschismus, der als politische Bewegung nach Ende des Ersten Weltkriegs in Italien entstand und 1922 zuerst dort und 1933 auch in Deutschland die Macht übernahm, war zweifellos die historisch folgenreichste Manifestation des Rechtsextremismus: Er verursachte den Holocaust und einen Weltkrieg mit mehr als sechzig Millionen Toten. Das große Interesse am Faschismus ist deshalb verständlich und auch gerechtfertigt. Doch Rechtsextremismus gab es bereits vor dem Faschismus, und nicht jede rechtsextreme Gruppe, die nach ihm entstand, ist notwendigerweise post- oder neofaschistisch. Die Tendenz, alle rechtsextremen Erscheinungsformen durch die faschistische Linse zu betrachten und in jedem rechtspopulistischen Parteiführer einen neuen Mussolini oder Hitler erkennen zu wollen,[22] ignoriert die Vielfalt an Ideen und Einflüssen, die der Rechtsextremismus speziell in den vergangenen Jahrzehnten hervorgebracht hat.

In der deutschsprachigen Literatur hat diese Tendenz zu einer übermäßigen Fokussierung auf die sogenannte Konservative Revolution geführt, womit eine Reihe von rechten Strömungen bezeichnet wird, die dem Nationalsozialismus unmittelbar vorangingen, ihn beeinflusst haben und deshalb häufig für die (ideologische) Quelle aller rechtsextremen Bestrebungen gehalten werden.[23] Praktisch alle bedeutenden deutschen Bücher über rechtsextreme Ideen sehen in ihr den Dreh- und Angelpunkt rechtsextremen Denkens.[24] Doch dieser Ansatz unterschätzt nicht nur ausländische Einflüsse, besonders aus Frankreich, sondern verkennt auch die Kontinuität rechtsextremen Denkens, das lange vor der Weimarer Republik begonnen hat und weit über sie hinausreicht.

Anders als viele der existierenden Veröffentlichungen konzentriert sich dieses Buch nicht auf ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Gruppe oder Strömung, sondern schlägt bewusst einen großen Bogen. Betrachtet wird der Rechtsextremismus im westlichen Kontext, also in Westeuropa und Nordamerika, und in seiner gesamten historischen Entwicklung.[25] Der Fokus der Analyse liegt dabei weniger auf politischen Anführern, Bewegungen, Parteien oder gar einzelnen rechtsextremen Anschlägen, sondern auf politischen Ideen und den Denkern, die sie artikuliert haben. Daran wird unter anderem deutlich, dass sich die Ideensysteme «rechts» und «rechtsextrem» stärker überschneiden, als die Fokussierung auf Faschismus und Nationalsozialismus suggeriert.

Im ersten Teil des Buchs wird gezeigt, dass die wichtigsten rechten Ideen in den meisten Fällen durch ihre Gegnerschaft zu zentralen Ideen der liberalen Moderne entstanden sind. Das erste Kapitel beschäftigt sich damit, wie Rechte über den Fortgang der Geschichte denken, und macht deutlich, dass ihre Einstellung im Gegensatz zum Geist der liberalen Moderne nicht optimistisch, sondern pessimistisch ist. Das zweite Kapitel behandelt ihre Reaktion auf das Drängen nach Gleichheit und beschreibt die verschiedenen Formen hierarchischer Ordnung, die sich im Zuge dessen entwickelt haben. Und das dritte Kapitel thematisiert ihre Sehnsucht nach einer exklusiven, vermeintlich fixen Identität, die den liberal-modernen Ideen von Individualismus und Universalität widerstrebt.

Im zweiten Teil des Buchs geht es dann darum, was aus diesen Ideen und Denkmustern entstanden ist. Die treibende Kraft ist eine «Logik der Angst», die im vierten Kapitel mit zahlreichen Beispielen – darunter die derzeit populäre Theorie vom «großen Austausch» – genauer erklärt wird. Für Rechtsextreme entstehen aus dieser Situation zwei Handlungsoptionen, die in den darauffolgenden Kapiteln diskutiert werden: «Flucht», also der Rückzug vom liberal-modernen Mainstream (Kapitel 5), und «Kampf», was bedeutet: die aktive Auseinandersetzung mit dem verhassten System (Kapitel 6). Im siebten Kapitel wird gezeigt, was mit modernen westlichen Demokratien passiert, wenn Rechtspopulisten an die «Macht» kommen.

Rechtsextremismus, so wird im Ergebnis klar, ist das negative Spiegelbild dessen, was als liberale Moderne gilt. Seine potenzielle Anziehungskraft beruht auf der Verunsicherung und den drängenden, teils existenziellen Ängsten, die diese hervorgerufen hat. Solange sich an dieser grundsätzlichen Konstellation nichts ändert, wird Rechtsextremismus in westlichen Gesellschaften niemals ganz verschwinden. Doch wer seine (emotional-ideologische) Logik versteht, kann die Ängste, die rechtsextreme Ideologen zu instrumentalisieren versuchen, früher «einfangen» und ihre politische Wirkmacht reduzieren.

Teil einsWurzeln

1. Pessimismus

Die erste Wurzel, die die rechte Weltsicht bestimmt, ist ein tief sitzender Pessimismus. Statt einer Welt, in der sich Wohlstand und Freiheit immer weiter ausbreiten, sehen Rechte in jeder erfolgreichen und aufstrebenden Gesellschaft eine, die am Ende an sich – oder anderen – scheitert. Fortschritt ist aus ihrer Sicht zwar möglich, aber niemals von Dauer.

Selbst die Rhetorik von Donald Trump lässt sich auf diese Weise erklären. Das Bild, das der ehemalige Präsident in seinem Wahlkampf im Jahr 2016 von den USA zeichnete, ging weit über die in solchen Wettbewerben übliche Kritik hinaus. Er beschrieb die Vereinigten Staaten in bitteren Tönen als ein Land im Niedergang – vom Ausland nicht mehr respektiert, eine Volkswirtschaft auf dem absteigenden Ast und eine Gesellschaft, die von Drogen, Kriminalität und illegalen Einwanderern zerfressen ist. Genauso dramatisch klang auch seine Antrittsrede im Januar 2017. Darin sprach er von «Müttern und Kindern, die in unseren Innenstädten in Armut gefangen sind; verrosteten Fabriken, die wie Grabsteine über die Landschaft unserer Nation verstreut sind; (…) Kriminalität, Gangs und Drogen, die zu viele Leben gestohlen haben». Das gegenwärtige Amerika, so Trump, sei ein einziges, riesiges «Gemetzel».[26]

Viele der Politikerinnen und Politiker, die während der Rede hinter Trump saßen, konnten nicht glauben, was sie da hörten. Antrittsansprachen in den USA sind in aller Regel optimistisch und versöhnlich; eine Chance, die harten Auseinandersetzungen des Wahlkampfs hinter sich zu lassen. Doch Trump tat das Gegenteil. Er präsentierte eine dunkle, nahezu depressive Vision seines Landes, die wenig Grund zur Hoffnung gab und alle Erfolge, die unter seinem Vorgänger Barack Obama erzielt worden waren, in ihr Gegenteil verkehrte. Der vormalige Präsident George W. Bush, wie Trump Republikaner, meinte: «Was für ein seltsamer Scheiß!»[27]

Eine der wahrscheinlichsten Quellen für Trumps Pessimismus ist Steve Bannon, sein damals wichtigster Berater und Wahlkampfmanager. Bevor er für Trump zu arbeiten begann, hatte Bannon als Investmentbanker und Filmproduzent ein Vermögen gemacht und anschließend die Leitung der konservativen Online-Plattform Breitbart übernommen. Zeit seines Lebens beschäftigte er sich außerdem intensiv mit Philosophie, hatte großes Interesse an nichteuropäischen Religionen und kam auf diese Weise in Berührung mit dem sogenannten Traditionalismus – einer obskuren, extrem rechten Strömung, die Esoterik mit einer harschen Kritik an der Moderne verbindet.[28]

Grundidee des Traditionalismus ist, dass alle Zivilisationen von einer «Ur-Zivilisation» abstammen, die – je nach Interpretation – in der Arktis, im mythischen Atlantis, in Indien oder dem Kaukasus entstanden ist. Laut dem Historiker Mark Sedgwick glauben Traditionalisten an eine Philosophia perennis, einen Kern ewiger Erkenntnis, der allen Religionen gemein ist.[29] Ihr Vordenker ist der französische Philosoph René Guénon (1886–1951), der die Theorie vertrat, dass Geschichte in Zyklen verläuft und jeder Zyklus aus vier Zeitaltern – golden, silbern, bronzen und eisern – besteht. Das Zeitalter seit Beginn der Modernen entspricht seiner Auffassung nach einem «eisernen» Zeitalter – dem hinduistischen Kali Yuga –, was bedeutet, dass sich die Menschheit im Niedergang befindet und es in absehbarer Zukunft keine Chance gibt, Zugang zu den wahren, spirituellen Werten der Philosophia perennis zu erlangen.[30]

Ein entscheidender Aspekt des Traditionalismus besteht in dem, was Sedgwick «Inversion» nennt: die Umkehrung von allem, was Anhängern der liberalen Moderne als gut und positiv erscheint, in ihr Gegenteil.[31] Aus Sicht der Traditionalisten ist gesellschaftliche Vielfalt keine Stärke, sondern Wurzel von Gewalt und Chaos; Wissenschaft verbessert nicht die Welt, sondern verursacht seelische Entwurzelung; und Demokratie macht Gesellschaften nicht gerechter, sondern widerspricht der von Gott gegebenen Ordnung. Zwar sind Leute wie Bannon weit davon entfernt, alle Aspekte moderner Gesellschaften abzulehnen, doch drückt sich in ihren Vorstellungen eine tiefe Skepsis gegenüber der zentralen Idee der liberalen Moderne aus – dass Fortschritt positiv und unvermeidbar sei.

Historisch gesehen ist der Traditionalismus eine obskure Ideologie mit wenigen, meist zerstrittenen Unterstützern. Immer wieder gab es allerdings auch Traditionalisten, die sich ihren Weg in mächtige Positionen gebahnt haben. Ein oft genanntes Beispiel ist der russische Nationalrevolutionär Alexander Dugin, ein Berater von Präsident Wladimir Putin.[32] Und auch Bannon bekannte sich mehrfach zu der Ideologie und ihren Vordenkern.[33] Sein Biograf ist deswegen davon überzeugt, dass Trumps apokalyptische Vision von ihm stammt: «Jeder, der mit Guénons Traditionalismus vertraut ist», so der Journalist Joshua Green, «erkennt in dem Schreckgespenst, das Trump aus marodierenden Einwanderern, muslimischen Terroristen und dem Zusammenbruch der nationalen Souveränität konstruiert, die Zeichen eines dunklen Zeitalters – des Kali Yuga.»[34]

Im Folgenden wird gezeigt, dass die Traditionalisten nicht die einzigen Rechten sind, die den Lauf der Geschichte als Abfolge historischer Zyklen verstehen und in der liberalen Moderne ein Zeitalter der Dekadenz sehen. Eng damit verbunden ist ein Menschenbild, das nicht menschliche Stärken, sondern Fehler, Schwächen und Laster in den Vordergrund stellt. Fortschritt ist unter diesen Bedingungen nur vorübergehend und birgt in sich die Voraussetzungen für den unvermeidbaren Niedergang. Ein ums andere Mal stellte sich für Rechte deshalb die Frage, welchen Ausweg es aus der «Pessimismusfalle» gibt – und Trump war, je nach Interpretation, eine der Antworten.

Zyklentheorien

Geschichtliche Zyklentheorien sind älter als die Fortschrittsidee, und Guénon hat nicht ganz unrecht, wenn er in ihnen eine Art «ewige Erkenntnis» sieht. Die ersten Theorien, die Geschichte in mehrere, sich wiederholende Phasen einteilten, lassen sich bis ins babylonische Zeitalter im zweiten Jahrtausend vor Christus zurückverfolgen.[35] Beispiele finden sich nicht nur in den von Guénon zitierten hinduistischen Texten, sondern auch bei dem griechischen Historiker Thukydides (ca. 454–399 v. Chr.) und sogar bei dem chinesischen Historiker Sima Qian (ca. 145–90 v. Chr.).[36]

Wenn auch sehr unterschiedlich mit Blick auf Ablauf und Länge der Zyklen, so basieren die meisten dieser Theorien auf intensiver Beobachtung von Tagesabläufen, Jahreszeiten und der Bewegung von Sternen. Es erforderte keine höhere Erkenntnis, um zu verstehen, dass natürliche Prozesse nach immer gleichen, sich wiederholenden Rhythmen ablaufen. Dies gilt insbesondere für Pflanzen, Tiere und Menschen: Sie kommen zur Welt, blühen auf, reifen, und am Ende sterben sie. Hieraus wurde gefolgert, dass es sich mit dem gesamten Universum genauso verhalte: Menschliche Gesellschaften seien Teil eines gigantischen Kreislaufs, der mit ihrer Geburt und Blütezeit beginne und mit ihrem Zerfall ende.[37] Fortschritt sei unter diesen Umständen zwar möglich, aber eben nicht – wie später vom aufklärerischen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz behauptet – «unendlich».[38]

Besonderen Einfluss auf die Vorstellungen vom Zerfall des Universums hatten die Ideen des griechischen Philosophen Platon (428–348 v. Chr.). Genauso wie seine Vorgänger war Platon von planetarischen Laufbahnen fasziniert. Er spekulierte, dass sich Planeten in zwei unterschiedliche Richtungen bewegten und es bei jedem Richtungswechsel zu einer Katastrophe komme, die zur Vernichtung allen Lebens führe. Hierdurch, so Platon, setze sich anschließend ein neuer Kreislauf in Gang, an dessen Anfang paradiesische Zustände und ein «Goldenes Zeitalter» stünden.[39] Diesen Gedanken nahmen später die Stoiker auf. Mit ihnen verbreitete sich die Vorstellung eines kosmischen Feuers – eines «Weltenbrands» –, das zunächst Zerstörung verursache und anschließend zur Wiedergeburt (palingenesis)