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Das Schtetl war »eine kleine Civitas Dei«, wie Manès Sperber schrieb, ein untergegangenes Paradies, ein ausgelöschter Sehnsuchtsort. In den »Städtlein« Galiziens, Weißrußlands und der Ukraine lebten die Juden wie aus der Zeit gefallen: in bitterster Armut, größter Religiosität und in der Tradition der Vorfahren, aber ohne den Druck zur Assimiliation wie im übrigen Europa. Pogrome bedrohten das Schtetl schon im 19. Jahrhundert, doch erst die Nazis vernichteten im Zweiten Weltkrieg die Schtetl und ihre Einwohner.
Yehuda Bauer, der große Erforscher der Shoah, ruft uns die untergegangene Welt des jüdischen Lebens in Osteuropa in Erinnerung. Er erzählt ohne Verklärung von den Lebensumständen im Schtetl, von den sozialen Widersprüchen, den Schicksalen der Einzelnen.
Anhand exemplarischer Betrachtungen einzelner Orte zeigt er die Umstände der Auslöschung nach dem Einmarsch der Deutschen. Er beschreibt die verzweifelten Rettungsversuche, die Flucht in die Wälder und den jüdischen Widerstand. Yehuda Bauer gibt Einblick in das jüdische Leben in Osteuropa vor und während der Shoah, er bewahrt die Welt des Schtetls vor dem Vergessen.
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Seitenzahl: 458
Das Schtetl war »eine kleine Civitas Dei«, wie Manès Sperber schrieb, ein untergegangenes Paradies, ein ausgelöschter Sehnsuchtsort. In den »Städtlein« Galiziens, Weißrusslands und der Ukraine lebten die Juden wie aus der Zeit gefallen: in bitterster Armut, größter Religiosität und in der Tradition der Vorfahren, aber ohne den Druck zur Assimilation wie im übrigen Europa. Pogrome bedrohten das Schtetl schon im 19. Jahrhundert, doch erst die Nazis vernichteten im Zweiten Weltkrieg die Schtetl und ihre Einwohner.
Yehuda Bauer, der große Erforscher der Shoah, ruft uns die untergegangene Welt des jüdischen Lebens in Osteuropa in Erinnerung. Er erzählt ohne Verklärung von den Lebensumständen im Schtetl, von den sozialen Widersprüchen, den Schicksalen der Einzelnen.
Anhand exemplarischer Betrachtungen einzelner Orte zeigt er die Umstände der Auslöschung nach dem Einmarsch der Deutschen. Er beschreibt die verzweifelten Rettungsversuche, die Flucht in die Wälder und den jüdischen Widerstand. Yehuda Bauer gibt Einblick in das jüdische Leben in Osteuropa vor und während der Shoah, er bewahrt die Welt des Schtetls vor dem Vergessen.
Yehuda Bauer, geboren 1926, ist ein israelischer Historiker und emeritierter Professor für Holocaust-Studien an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Große Beachtung fanden seine letzten Bücher Freikauf von Juden?
YEHUDA BAUER
Der Tod des Schtetls
Aus dem Englischen
eBook Jüdischer Verlag Berlin 2013
© der deutschen Ausgabe Jüdischer Verlagim Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© 2009 by Yale University
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasdes öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durchRundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlaggestaltung: Ute Fahlenbock
Umschlagfoto: Alter Kacyzne, Archiv des YIVO Institutefor Jewish Research, New York / Forward Association
Vorwort
1 Hintergrund
2 Die dreißiger Jahre
3 Die sowjetische Besatzung
4 Die Shoah in den Kresy
5 Die Schtetl-Gemeinde und ihre Leitung, 1941-1943
6 Die Nachbarn
7 Rebellen und Partisanen
Dieses Buch, ein Beitrag zur Geschichte der Shoah[1], ist aus der Perspektive der Opfer geschrieben. Mich interessiert dabei ein von der Forschung bislang vernachlässigter Aspekt des Völkermords an den Juden – der Untergang der jüdischen Gemeinden in Polen vor und während der Shoah. Dieses Buch handelt insofern von etwa einem Fünftel aller Opfer und von ihren Gemeinden. Historiker müssen meiner Ansicht nach einerseits die historischen Prozesse analysieren, die eine gegebene historische Wirklichkeit erklären können, andererseits Geschichte aber auch als Lebensgeschichte der Menschen auffassen. Meine Herangehensweise verbindet daher Analysen und Zeugenberichte. Sich entweder allein mit Lebensgeschichten oder aber nur mit historischen Analysen zu beschäftigen ist außerordentlich unbefriedigend. In der Geschichte verbindet sich beides. Insofern wendet sich meine Vorgehensweise gegen den populären postmodernen Blick auf Geschichte. Ich bin davon überzeugt, dass sich realhistorische Ereignisse – mit entsprechender Anstrengung – rekonstruieren lassen, zumindest in ihren Grundzügen. Geschichtliche Ereignisse betrafen Menschen aus Fleisch und Blut, deren Lebensgeschichten gehört und untersucht werden müssen.
Ich danke allen, die dieses Buch möglich gemacht haben. An erster Stelle danke ich den Archivaren und Bibliothekaren von Yad Vashem, vom United States Shoah Memorial Museum (USHMM), vom Institut für Jüdische Geschichte in Warschau, vom Shoah Foundation Visual Archive und vom Fortunoff Archive an der Yale University. Mein Dank gilt meinem Freund und Kollegen Israel Gutman, außerdem dem verstorbenen David Bankier, Dan Michman, Yakov Lozowick und Avner Shalev von Yad Vashem, Saul Friedländer von der University of California in Los Angeles, Douglas Greenberg und Karen Jungblut von der Shoah Foundation, University of Southern California, die mir zuhörten und mit Rat zur Seite standen. Ich danke Jack Kagan aus London, der mich mit Material unterstützte, und Paul Shapira vom USHMM. Sie alle haben, ob sie sich dessen bewusst waren oder nicht, mein Schreiben beeinflusst. Besonderen Dank schulde ich Shlomit Shulchani, die für mich Texte aus dem Russischen übersetzte, und Havi Ben-Sasson, der ein wichtiges Tagebuch auffand. Omer Bartov und Christopher Browning arbeiteten parallel an unterschiedlichen Aspekten desselben Themas, und mir wurde das Privileg zuteil, einige meiner Gedanken mit diesen guten Freunden teilen und an ihren Überlegungen partizipieren zu dürfen. (Man vergleiche vor allem Omer Bartovs Meyerhoff Annual Lecture »From the Shoah in Galicia to Contemporary Genocide. Common Ground – Historical Differences«, die er im Dezember 2002 am US Shoah Memorial Museum, Washington, DC, hielt.) Mein inzwischen verstorbener Freund Raul Hilberg hörte mir immer geduldig zu und sagte mit seinem üblichen skeptischen Lächeln: »Okay, mach weiter, wir werden ja sehen, was du noch herausfindest.« Wir waren nur selten einer Meinung, doch habe ich aus seinen kritischen Bemerkungen, die ich nun so schmerzlich vermisse, jedes Mal etwas gelernt.
Wie immer war es meine Familie, die mir den inneren Frieden gab – meine beiden Töchter Danit und Anat, ihre Ehemänner und ihre wunderbaren Kinder, meine drei Stiefsöhne und mein Enkelkind, vor allem aber widme ich das Buch dem Andenken meiner Frau Elena, meiner besten Freundin, Partnerin, ersten Leserin und Kritikerin. Sie ist im August 2011 gestorben.
[1] In der englischen Originalausgabe verwendet Yehuda Bauer stets den im amerikanischen Kontext gebräuchlichen Begriff »Holocaust«. Seine Zweifel an der Angemessenheit dieses Wortes benennt er in Anm. 2 im achten Kapitel. »Holocaust« im Sinne von »Brandopfer« schließt eine religiös-theologische Sinngebung des Mords an den europäischen Juden zumindest nicht aus. Daher verwende ich in der deutschen Übersetzung (wie Christian Wiese bereits in Yehuda Bauer, Die dunkle Seite der Geschichte) das hebräische Wort »Shoah« (Katastrophe, Zerstörung). Auch wenn es Täterschaft ausblendet und Unausweichlichkeit suggeriert, so wird dem verhängnisvollen Geschehen doch kein transzendenter Sinn unterlegt. Trotz Yehuda Bauers Skepsis gegenüber »semantischen Streitigkeiten« scheint mir »Shoah« seinem Verständnis des Völkermords an den Juden als »präzedenzloser Katastrophe« (vgl. Die dunkle Seite der Geschichte, Kap. 1-3, insbes. S. 40) doch näher zu sein als »Holocaust«. (Anm. d. Übers.)
Die Kresy und VorkriegspolenZur Kresy (»Grenzland« – die Gebiete, die während der Zweiten Polnischen Republik östlich der Curzon-Linie lagen) gehörten Nordostpolen, Wolhynien und Ostgalizien.
Die Kresy, 1939-1941Westpolen (schraffiert) steht unter deutscher Besatzung;die Kresy gehört zu den Gebieten unter sowjetischer Herrschaft (dunkelgrau).
Die deutsche Besatzung, 1941-1944Die Kresy steht nun unter deutscher Verwaltung. Ein Teil gehört zum Reichskommissariat Ostland (dunkelgrau). Ostgalizien ist Teil des Generalgouvernements Polen (schraffiert). Dem Deutschen Reich (schraffiert) zugeschlagen wurde der Distrikt Białystok, doch hat er eine eigene Verwaltung.
Ostgalizien, 1941-1944Ostgalizien und Wolhynien liegen in der Westukraine.
Wolhynien, 1941-1944Die Pripjet-Sümpfe beginnen im Norden.
Polesien, 1941-1944
Ungefähr 3,3 Millionen Juden lebten im Polen der Vorkriegszeit, davon zwischen 30 und 40 Prozent – genaue Zahlen lassen sich nicht ermitteln – in kleinen Städten und Kommunen. Die großen Städte mit ihren jüdischen Gemeinden – Warschau, Łódź, Krakau, Wilna, Białystok, Częstochowa und andere – konzentrierten sich im mittleren, nördlichen und westlichen Teil des Landes. Im Osten, wo die Polen in der Minderheit waren und der Großteil der Bevölkerung vor allem aus Ukrainern und Weißrussen bestand (den Distrikt Białystok ausgenommen), gab es nur eine größere Stadt, nämlich Lwów (Lemberg; heute Lwiw), sowie eine Reihe mittelgroßer Städte wie Brest-Litowsk (poln.: Brześć nad Bugiem; jidd.: Brisk de Lita), Rowne (ukr.: Rivne; jidd.: Rowno oder Rowna), Lutsk, Kovel und einige andere.1 In diesem östlichen Landesteil, polnisch Kresy (»Sumpf-« oder »Grenzland«) genannt, lebten etwa 1,3 Millionen Juden, die meisten von ihnen in kleineren Städten, Gemeinden und Dörfern. Die Gemeinden mit einem hohen Anteil jüdischer Einwohner wurden von diesen Schtetlech genannt (»Städtchen«; Sing.: Schtetl). Wir können davon ausgehen, dass weit über ein Drittel der polnischen Juden in den über das ganze Land verstreuten Schtetlech lebte, in den Kresy sogar um die 60 Prozent der dort ansässigen Juden. Aus manchen Statistiken geht hervor, dass 60 Prozent aller polnischen Juden in Orten lebten, die weniger als 10 000 jüdische Einwohner hatten.2
Die Schtetlech des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ihre Geschichte sind Gegenstand umfangreicher Literatur. Im 19. Jahrhundert wurde Jiddisch zu einer literarischen Sprache, und große Schriftsteller beschrieben die Schtetlech in Romanen, Gedichten und Dramen. Mendele Moicher Sforim (Shalom Y. Abramowicz), Sholem Aleichem (Shalom N. Rabinowicz), Yehuda Leib Peretz, Sholem Asch und andere schufen eindrucksvolle Bilder jüdischen Lebens an diesen Orten. Ihre Beschreibungen waren keineswegs ausschließlich positiv: Mit bitterer Kritik schilderten sie die entwürdigende Armut, den religiösen Fanatismus und die autoritären Oligarchien, die nicht an allen, doch an den meisten dieser Orte herrschten, und erzählten von der Hoffnungslosigkeit der Juden, die antisemitischer Bürokratie ausgesetzt waren und seit Mitte des 19. Jahrhunderts nichts lieber getan hätten, als den Schtetlech durch Flucht in den Westen zu entkommen. Aus den Geschichten der Schriftsteller erfahren wir von den sozialen Konflikten und von Korruption, die nicht nur unter der christlichen Obrigkeit, sondern auch unter der jüdischen Bevölkerung verbreitet war. Doch hoben die Autoren auch die unter den Juden herrschende Loyalität und ihren engen Familienzusammenhalt hervor und bewunderten sie für die Beständigkeit, mit der sie ihre religiösen Bräuche und Gesetze befolgten. Diese literarische Produktion versiegte nach dem Ersten Weltkrieg, und nur wenige Schriftsteller, der große Isaac Bashevis Singer etwa, befassten sich in ihren Werken weiterhin mit den polnischen Juden und den Bewohnern der Schtetlech. Was blieb, war ein Bild des Schtetls, des heim, das Millionen von Emigranten in sich trugen, als sie zumeist in die Vereinigten Staaten, das Land der »unbegrenzten Möglichkeiten«, auswanderten. In den 1940er Jahren und auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch dominierte eine wirklichkeitsfremde, süße Nostalgie die Erinnerung an das Schtetl, wie sie sich etwa in dem bekannten Musical Fiddler on the Roof manifestiert, die verzerrte Darstellung einer Erzählung von Sholem Aleichem (die im Original in einem Dorf, nicht in einem Schtetl spielt). In dieser unerträglich süßlichen, künstlichen Welt des Ostjudentums waren angeblich alle Juden tief religiös, naiv, aber schlau, und im Schtetl regierten Güte und Rechtschaffenheit, allen widrigen Umständen zum Trotz.
Zu den Schtetlech während der 1930er Jahre und während der Zeit der Shoa liegen nur wenige soziologische oder historische Untersuchungen vor.3 Auch die Forschungsliteratur über das Leben der polnischen Juden in den 1930er Jahren ist alles andere als üppig. Bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts hat erstaunlicherweise niemand den Versuch unternommen, die Veränderungen zu beschreiben, welche die Schtetlech zwischen den beiden Weltkriegen, vor allem in den 30er Jahren, erfassten, und noch überraschender ist vielleicht, dass es kaum Studien gibt, die über die Dokumentation ihrer Zerstörung hinausreichen und herauszufinden suchen, was genau mit den Schtetlech während der Shoah geschah. Wir wissen, dass die Juden umgebracht wurden. Auch wer sie ermordet hat, wo, wie und wann das geschah, wissen wir ziemlich genau. Verschiedene Untersuchungen stellen die Motivationen und die Ideologie der Nationalsozialisten sowie die wirtschafts- und sozialpolitischen Eingriffe der deutschen Besatzer heraus, und es gibt auch erste Versuche, zu beschreiben, wie sich die nicht-jüdische Bevölkerung gegenüber den Juden verhalten hat – hier allerdings bleibt noch eine Menge zu tun. Was wir jedoch nicht wissen, aber gerne wissen möchten, ist, wie das Leben der Juden aussah, bevor sie ermordet wurden, und wie sie auf den plötzlichen, unerwarteten, für sie unerklärlichen Angriff auf ihr Leben reagierten, der von einer Macht ausgeführt wurde, deren Politik sie nicht verstanden und auch nicht verstehen konnten.
Es gibt ein paar Bücher über einige polnische Schtetlech.4Manche von ihnen, wie das von Shimon Redlich über das ostgalizische Brzezany, Daniel Mendelsohns und Anatol Regniers Untersuchungen des ostgalizischen Bolechow sowie Theo Richmonds Forschungen zum westpolnischen Konin, sind Versuche der Verfasser, entweder mehr über ihre eigenen Wurzeln herauszufinden oder sich vor dem Hintergrund interethnischer Beziehungen mit den Erfahrungen Überlebender auseinanderzusetzen. Shimon Redlich stützt sich auf Aussagen Einheimischer, meist Ukrainer, die mehrheitlich natürlich sagen, sie hätten den Juden geholfen. Die Verlässlichkeit solcher Behauptungen steht in Frage. Andere Bücher, so etwa die von Rosa Lehmann (über Jasliska) und von Jack Kagan (über Nowogródek), sind ernsthafte Versuche, sich den historischen und soziologischen Problemen zu nähern. Besonders beeindruckend ist Theo Richmonds Buch über Konin; doch auch er setzt sich mit den Erfahrungen der Juden während des Krieges kaum auseinander. Dafür befasst sich Esther Farbstein in ihrem Buch über die Reaktionen der Rabbiner auf die Shoah recht ausführlich mit Yehoshua Moshe Aharonson, dem Rabbi von Sanniki, der in das Arbeitslager von Konin deportiert wurde und dessen Tagebuch und Memoiren sie aufgespürt hat. Ihre brillante Darstellung und Analyse macht deutlich, wie viel mehr wir über Konin in Erfahrung bringen können, wenn wir andere Quellen nutzen. Jack Kagans Buch ist ein wertvoller Bericht über das Schicksal des jüdischen Nowogródek, insbesondere weil es ihm gelungen ist, eine ganze Reihe bislang unbekannter deutscher und sowjetischer Dokumente aufzuspüren. Peter Duffys Darstellung, die ebenfalls Nowogródek behandelt, ist ein gutes Beispiel für investigativen Journalismus, liefert auch einige wichtige Informationen, doch scheint der Autor im Großen und Ganzen eher auf Sensationen aus zu sein. Die Wiedergabe von Gesprächen zwischen einigen der Figuren seiner Geschichte ist nicht glaubhaft und lenkt vom eigentlichen historischen Erkenntniswert des Buches ab. Rosa Lehmanns Bericht über Jasliska ist eine sehr interessante anthropologische und soziologische Studie der Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Polen in der Vorkriegszeit und bietet Einblicke von hohem Wert. Doch auch sie befasst sich kaum mit dem Leben der Juden in ihren Gemeinden, und ihre Darstellung der Shoah erbringt nicht viel Neues.5
Ich habe eine ganze Reihe von Schtetlech untersucht, und viel des Folgenden basiert auf meinen abgeschlossenen und laufenden Studien.6
Ein Problem, auf das jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, bald stoßen wird, ist, dass Soziologen und Historiker nicht definiert haben, was genau sie meinen, wenn sie vom Schtetl sprechen. Dabei ist eine Definition, selbst eine willkürliche, unerlässlich, wenn man sich mit diesem Gegenstand befassen will. Nach einigen Versuchen kann ich folgende Definition anbieten: Ein Schtetl war eine Stadtgemeinde mit 1000 bis 15 000 jüdischen Einwohnern, die wenigstens ein Drittel der Gesamtbevölkerung stellten; ihr Leben wurde vom jüdischen Kalender und von Sitten und Bräuchen bestimmt, die auf einer traditionellen Auslegung der jüdischen Religion basierten.7 Die Juden im Schtetl wurden von einer informellen Oligarchie regiert, aus deren Kreis diejenigen gewählt wurden, die kommunale Aufgaben übernahmen. Dies geschah im Rahmen der kahal oder kehille (hebr. Plur.: kehillot; jidd. Plur.: kehilles), der Religionsgemeinde, die in verschiedenen Formen seit Hunderten von Jahren existierte und das kommunale jüdische Leben organisierte. 1927 erkannte die polnische Regierung die kehillot als Religionsgemeinden an, zu deren Aufgaben darüber hinaus aber auch einige Aspekte der Sozialfürsorge zählten. Dieser Anerkennung gingen Verhandlungen mit den Behörden sowie Auseinandersetzungen und Arrangements innerhalb der jüdischen Gemeinden voraus. Ab 1927 jedenfalls lenkten die im kahal tonangebenden Männer das religiöse, soziale und bis zu einem gewissen Grad auch das wirtschaftliche Leben der jüdischen Bevölkerung, worin sie ein Netzwerk von Freiwilligen unterstützte.8
Ich habe die Untergrenze von 1000 jüdischen Einwohnern für ein Schtetl angesetzt, da es für eine geringere Anzahl nahezu ausgeschlossen war, die Vielfalt von Freiwilligenorganisationen zu bilden, die das jüdische Leben im Schtetl erst zu dem machten, was es war. Daher blieben Juden, die in Dörfern lebten, von meiner Untersuchung ausgeschlossen – was keineswegs bedeutet, dass ihre Geschichten und Erfahrungen weniger wertvoll und wichtig sind. Jenseits der von mir vorgeschlagenen Obergrenze wiederum hätte das soziale Leben nicht den Grad an Intimität gehabt, der für das Schtetl so charakteristisch war. So ergab eine Untersuchung des Schicksals der Juden in Brest-Litowsk (jidd.: Brisk de-Lita), die ich aus Vergleichsgründen anstellte, dass, obwohl die Zahl der Juden im Ghetto Ende 1941 bei etwa 14 000 lag – und damit etwa so hoch war wie in einigen größeren Schtetlech der Umgebung –, Brest-Litowsk anders war als diese Schtetlech.9 Es war eine große Stadt, in der die Juden vor dem Krieg rund 44 Prozent der Bevölkerung stellten, insgesamt etwa 21 440 von rund 48 000 Menschen.10 Die jüdischen Wohlfahrtsorganisationen aber hatten nicht denselben intimen Charakter und waren auch nicht so eng verknüpft wie die in kleineren Orten.
Mich mit allen Schtetlech in Polen zu befassen war mir unmöglich – es ist eine Aufgabe für Generationen –, daher habe ich mich auf die Kresy konzentriert, die Sumpfgebiete im Osten Zwischenkriegspolens. In der polnischen Literatur liest man meistens, Ostgalizien (die heutige Westukraine) habe nicht zur Kresy gehört; dort hätten mehrheitlich Ukrainer gelebt, selbst wenn die Hauptstadt Lwów, die einzige größere Stadt, überwiegend polnisch war.11 Anderen Quellen zufolge gehörte zur Kresy auch die Region Białystok im Nordosten, die überwiegend polnisch war (und auch heute Teil der Republik Polen ist). Der Einfachheit halber beziehe ich hier all die Gebiete mit ein, die heute zu Westweißrussland und zur Westukraine gehören, in denen die Polen während der Zwischenkriegszeit eine Minderheit bildeten. Die östlichen Sumpfgebiete schließen daher Ostgalizien ein, nicht aber Białystok und auch nicht die vorwiegend von Polen bewohnte Stadt Wilna (die deutsche Bezeichnung der Stadt Vilnius, heute Hauptstadt Litauens, damals weißrussisch Vilnia, jiddisch Wilno genannt). Die Kresy war in vielerlei Hinsicht das Zentrum des traditionellen jüdischen Lebens. Viele für das Judentum und auch darüber hinaus bedeutsame Persönlichkeiten stammen von dort, so die Familie Sigmund Freuds, Chaim Weizmann, die Rabbinerfamilie Soloveitchik in den Vereinigten Staaten, der Historiker Emmanuel Ringelblum, der israelische Romanautor Shmuel Yossef Agnon (Czaczkes), der Nazijäger Simon Wiesenthal, viele israelische Politiker und Kulturschaffende und andere mehr.
Doch selbst die Beschäftigung mit allen Schtetlech der Kresy war unmöglich. Ich habe mich daher entschlossen, ein Dutzend von ihnen eingehender zu untersuchen und eine große Zahl weiterer etwas allgemeiner abzuhandeln. Dabei musste ich die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen berücksichtigen. Zu den ukrainischen Gebieten gehörten Wolhynien, wo nur eine relativ kleine, aber bedeutsame polnische Minderheit lebte, und Ostgalizien, wo die Polen eine größere Minderheit stellten, in Lwów sogar die Mehrheit. Es gab auch kleine Gruppen von Tschechen (in Wolhynien) und Deutschen. Die weißrussischen Gebiete im Norden umfassten drei vor dem Krieg polnische Provinzen, in denen eine recht große, fest verwurzelte polnische Minderheit lebte, daneben Litauer, Tataren und andere.
Die religiösen Unterschiede waren beträchtlich. Die Polen waren römisch-katholisch, die Ukrainer teils griechisch-katholisch, teils griechisch-orthodox oder russisch-orthodox, die Weißrussen überwiegend russisch-orthodox und die Tataren muslimisch. In Wolhynien gab es zudem 6000 bis 7000 Baptisten-Mennoniten, eine kleine Minderheit, die für die Geschichte der Juden während der Shoah aber eine bedeutsame Rolle spielte. Noch kleiner war die Gruppe der Altgläubigen (Starovery), Mitglieder einer fundamentalistischen orthodoxen Sekte, welche die etablierte russisch-orthodoxe Kirche ablehnten und vom zaristischen Regime verfolgt wurden. Sie lebten in einigen Dörfern in der Polesien genannten Region, einem Wald- und Sumpfgebiet, das sich entlang der Grenze zwischen der Ukraine und Weißrussland erstreckte. Wie auch die Baptisten legten sie besonderes Gewicht auf das Alte Testament und hielten die Juden entsprechend für Gottes auserwähltes Volk.
Mit einer anderen Region, in der es vor 1939 Schtetlech gegeben hat, habe ich mich hier nicht beschäftigt: mit dem ehemaligen Ansiedlungsrayon östlich der Kresy – dem sowjetischen Weißrussland und der sowjetischen Ukraine der Vorkriegszeit.12 Die Quellenlage ist dort noch weitaus problematischer als anderswo; zudem hat das Sowjetregime die jüdischen Gemeinden zerstört, sodass sehr viele Juden aus den Schtetlech auf der Suche nach Arbeit in kleinere und größere Städte umsiedelten. So gab es im Rayon Juden, aber keine jüdischen Gemeinden. Daher waren die Voraussetzungen für die Reaktionen der Juden auf die deutschen Mordkampagnen ganz andere als in den von Polen kontrollierten Gebieten. In diesen wiederum sind unter der deutschen Besatzungsherrschaft und als Folge der deutschen Politik jüdische Gemeinden neu entstanden – ein Umstand, der noch zu erforschen und zu erklären ist. Hierbei müssen wir den Einfluss der kommunistischen Ideologie auf jene Generationen von Juden berücksichtigen, die unter sowjetischer Herrschaft aufwuchsen, einen Einfluss, der beträchtlich war und die Reaktionen der jüdischen Bevölkerung auf die Unterdrückung durch die Deutschen durchaus gefärbt haben könnte. In den sowjetischen Gebieten könnten zudem die Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden andere gewesen sein als in den Regionen weiter westlich – auch hier muss noch Forschungsarbeit geleistet werden.
So habe ich mich schließlich auf die polnische Kresy konzentriert und mich mit jeweils drei Schtetlech in jeder Region befasst: mit Kosów (Kosiv) Huculski, Buczacz und Zborow (Zboriv) in Ostgalizien; mit Krzemieniec (Kremenets), Rokitna (ukr.: Rokitnoye; jidd.: Rokitno) und Sarny in Wolhynien sowie in den weißrussischen Gebieten mit Baranowicze (Baranawitschi), Kurzeniec (Kurenets) und Nowogródek (Navagrudok) und in gewissem Umfang auch mit Dereczin. Ein noch unveröffentlichtes Manuskript von Martha Goren über das ostgalizische Czortkow ermöglichte mir, auch dieses bedeutende Schtetl und kleinere Orte im Umland mit aufzunehmen.13
Ich habe das vorliegende Material vorrangig im Hinblick auf Entwicklungen innerhalb der Gemeinden während der 1930er, insbesondere der späten 1930er Jahre untersucht. Folgende Aspekte haben mich interessiert: die Unterstützung von politischen Parteien und Bewegungen, der ökonomische und soziale Wandel infolge der Modernisierung, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die Entwicklung und Bedeutung von Jugendbewegungen, die Bestrebungen, aus der Kresy auszuwandern, sowie allgemeine kulturelle und ideologische Veränderungen.
Im September 1939 wurde Polen zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt und die Kresy gemäß dem deutsch-sowjetischen Geheimabkommen von den Sowjets besetzt. Welche Folgen hatte die Sowjetisierung auf die jüdischen Gemeinden? Wie viele Flüchtlinge kamen aus den deutschbesetzten Gebieten in die Kresy? Was war ihr Schicksal? Berichteten sie den Juden der Kresy, was ihnen unter den Deutschen widerfahren war? Lässt sich über Verhaftungen von Juden und ihre Deportation nach Sibirien irgendetwas Verlässliches sagen? Was geschah mit den jüdischen Institutionen unter den Sowjets? Wie erging es den Juden wirtschaftlich? Welchen Einfluss hatte die kommunistische Ideologie auf sie, insbesondere auf die junge Generation? Welche Haltung nahmen die Sowjetbehörden den Juden gegenüber ein?
Im Juni 1941 fielen die Deutschen in die Sowjetunion ein. Innerhalb weniger Wochen besetzten die Invasionstruppen der Wehrmacht praktisch den gesamten Westen der Ukraine und Weißrusslands. Der Massenmord an den Juden begann. Ende 1942 waren die meisten von ihnen in diesen Gebieten umgebracht worden, nur hier und da überlebten noch einzelne isolierte Gruppen, die als Arbeitskräfte ausgebeutet wurden. Wir wissen, dass die Juden ermordet wurden. Historiker haben Klarheit über die meisten Daten und Orte ihrer Ermordung geschaffen, sie haben die an den Mordaktionen beteiligten deutschen Einheiten und ihre einheimischen Kollaborateure identifizieren können und auch viele der Kommandeure, die diese Massenmorde anleiteten. Es wird hierzu weiter geforscht; noch sind nicht alle Orte bekannt, an denen Juden gefoltert und getötet wurden.14 Diese Arbeit ist wichtig, und sie wird sicher noch viele weitere Jahre in Anspruch nehmen. Mein Hauptanliegen ist indes ein anderes. Mich interessiert vor allem, wie die Juden auf die unerwartete Bedrohung reagierten, bevor das Morden begann. Dass sie gestorben sind, weiß ich. Ich möchte wissen, wie sie lebten.
Meine Fragen sind: Haben die jüdischen Gemeinden, bevor sie vernichtet wurden, in dieser grauenvollen Zeit einen gewissen Zusammenhalt bewahren können? Oder waren sie, schon bevor ihre Mitglieder ermordet wurden, zerrüttet und zerstört? Welche Rolle spielten die Judenräte, welche Möglichkeiten hatten sie, wie verhielten sie sich? Gab es das, was ich an anderer Stelle »Amida« genannt habe (hebr.: aufstehen gegen) – unbewaffneten und bewaffneten Widerstand, um die Gemeinde funktionsfähig zu halten und der existentiellen Bedrohung, die vom deutschen Besatzungsregime ausging, die Stirn zu bieten?15
Die Frage nach Amida ist entscheidend und bedarf weiterer Untersuchung. Die Forschung zur Shoah in Osteuropa hat bislang das Schicksal großer Gemeinden ins Zentrum gestellt. Zu Städten wie Warschau (Warszawa), Lodsch (Łódź), Białystok, Wilna (Vilnius), Kaunas (Kovno), Krakau (Kraków), Lemberg (Lwów), Riga, Tschenstochau (Częstochowa) und anderen gibt es detaillierte monographische Untersuchungen. Sie zeigen, dass die Juden dort, wo sie in größeren Gruppen zusammenlebten, versuchten, der zunehmenden Gewalttätigkeit der deutschen Besatzer etwas entgegenzusetzen, zunächst durch unbewaffnete Aktionen, dann auch – wie in Warschau, Wilna, Kovno, Krakau und Częstochowa – durch die Organisation bewaffneten Widerstands. Die unbewaffneten Aktionen waren von großer Bedeutung. In Warschau zum Beispiel gab es über tausend so genannter Hauskomitees, die von den Bewohnern der meist um einen zentralen Hof gruppierten Gebäudeblocks gewählt wurden. Diese Komitees organisierten Schulunterricht für die Jüngsten beziehungsweise versuchten zumindest, die Kinder zu beschäftigen; sie arrangierten kulturelle Aktivitäten für alle und bemühten sich zudem, die Schwächsten vor dem Verhungern zu bewahren, indem sie durch Selbstbesteuerung für Nachschub an Brot sorgten. Die Komitees sorgten auch für einen gewissen Schutz der Bewohner vor Plünderungen durch jüdische und nicht-jüdische Polizisten, die nicht nur die Menschen, sondern auch deren Bettzeug und Kleidung zur so genannten Desinfektion fortschafften, was oft zu Krankheit und Tod führte. Die soziale Arbeit in den Ghettos bestand unter anderem in der Hilfe für Waisen und medizinischer Versorgung. Krankenstationen und sogar Kliniken wurden mit Ärzten und Krankenschwestern besetzt, die, mit wenigen oder gänzlich ohne Medikamente, ihr Bestes taten, um die Menschen vor dem Tod durch Krankheiten zu bewahren, die Unterernährung und Hunger verursacht hatten. Viele Ärzte und vor allem Krankenschwestern starben, weil sie sich an Typhuskranken ansteckten. Wo möglich wurden Suppenküchen eingerichtet, teils von den Judenräten, meist aber von sozialen Aktivisten (in Warschau vom amerikanischen Jewish Joint Distribution Committee [JDC], in dem der Historiker Emmanuel Ringelblum eine führende Rolle spielte). Diese Suppenküchen fungierten auch als Zentren für politische Aktivitäten im Untergrund. In Wilna legte man großes Gewicht auf die Organisation von kulturellen Aktivitäten, um den Lebensmut und die Widerstandskraft zu stärken. Der Judenrat in Kovno wiederum konzentrierte sich auf die Hilfe für Kinder und auf soziale Fürsorge. Und so weiter.
In manchen Städten, in Łódź etwa, waren die Bedingungen so hart, dass sich die Sozialfürsorge extrem schwierig gestaltete. Doch selbst an solchen Orten gab es Ansätze zu Amida. Um nicht in unangebrachte Nostalgie zu verfallen, möchte ich betonen, dass beinahe überall Korruption herrschte, dass es zur Kollaboration mit den Mördern kam, dass gesellschaftliche Normen und persönliche Moralvorstellungen zerfielen, worunter große Teile der jüdischen Bevölkerung zu leiden hatten. Zu alledem gibt es eine Menge detaillierter Untersuchungen, und die Fragen werden klarer, wenn auch die Antworten noch umstritten sein mögen.
Eine Frage, auf die jeder stößt, der sich näher mit den Verhältnissen in den Kresy beschäftigt, ist, ob die Entwicklungen in den größeren Städten in West- und Zentralpolen parallel zu denen in den Schtetlech des Ostens verliefen. Die Antwort ist nein, zumindest gibt es nicht viele Parallelen. Der bewaffnete Widerstand war in den Kresy verbreiteter als anderswo – und das ist nicht überraschend, denn die umliegenden Wälder ließen Widerstand zur gangbaren Option werden.
Mit derart generalisierenden Antworten übersieht man aber leicht die großen Unterschiede zwischen den Schtetlech. Ich glaube, man muss sich dem Gesamtkomplex systematischer nähern. Wir sollten die Schtetlech untereinander vergleichen und mit Städten im Westen und Norden, in Zentral- und Westpolen, in Litauen und Lettland, und wir müssen mögliche Manifestationen von Amida detaillierter betrachten: Deren Ausprägungen könnten von Ort zu Ort verschieden gewesen sein. Zu untersuchen sind die Bemühungen, Schulunterricht zu organisieren, die Zwangsarbeit und die Reaktionen darauf sowie die Strategien der Judenräte im Hinblick auf Arbeit, das Schmuggeln von Lebensmitteln, Suppenküchen, Sozialfürsorge und den Schutz des Einzelnen vor Misshandlung und Erniedrigung durch die Deutschen und ihre Kollaborateure. Zu fragen ist auch nach dem religiösen Leben: Konnte es fortgesetzt werden? Welche Versuche gab es, wenigstens ein Minimum an kulturellen Aktivitäten aufrechtzuerhalten? Schließlich müssen wir nach politischen Untergrundaktivitäten und nach den Formen des bewaffneten Widerstands in den Schtetlech fragen. In manchen Teilen der Kresy war es möglich, in die Wälder zu fliehen, und die Flüchtlinge konnten dort versuchen, sich mit der Hilfe von Einheimischen am Leben zu erhalten oder sich Gruppen antideutscher Partisanen anzuschließen. Insofern gehört auch die sowjetische Partisanenbewegung zu unserem Thema. Welche Beziehungen bestanden zwischen den antideutschen Kämpfern und den in die Wälder geflohenen Juden? Wie viele Juden haben sich der Partisanenbewegung anschließen können?
Dies führt zu einem weiteren Fragenkomplex: Wie stand es um die Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden? In der Kresy waren die Nicht-Juden überwiegend Ukrainer, Polen und Weißrussen. Während die jüdische Amida in den Kresy oder in den polnischen Schtetlech meines Wissens noch gar nicht erforscht ist (Schtetlech in Bessarabien, Litauen und Lettland wurden 1941 direkt nach der Besetzung dieser Gebiete durch Deutsche oder Rumänen vernichtet), ist inzwischen eine wachsende Zahl wichtiger Studien zu den Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden sowie zur sowjetischen Partisanenbewegung und deren Haltung gegenüber Juden erschienen. Diesbezüglich kann ich also Argumente von Kollegen heranziehen und diesen vielleicht auch Ergebnisse meiner eigenen Untersuchungen anfügen.
Die Quellenlage ist hinsichtlich all dieser Themenfelder problematisch. Einige Informationen zur Vorkriegszeit liefern polnische Quellen, wenn sich auch die polnischen Behörden nicht für die inneren Angelegenheiten jüdischer Gemeinwesen interessierten, sondern eher für deren Politik und deren wirtschaftliche Aktivitäten. Diese Informationen sind allerdings nicht immer aufschlussreich oder zwangsläufig korrekt – Ende der 1930er Jahre waren viele polnische Beamte Antisemiten, und das färbte ihre Berichte. Ein großer Teil der Dokumente zu den Schtetlech wurde im Krieg zerstört oder ging verloren, erhalten blieben nur Reste. Gelegentlich haben Stadtarchive etwas davon bewahren können.
Noch düsterer ist die Quellenlage für die Sowjetzeit, für die Jahre zwischen 1939 und 1941. Was sich an Informationen in sowjetischen Quellen finden lässt, ist inzwischen weitgehend aufgearbeitet. Auch die Sowjets interessierten sich nicht für das Leben innerhalb der jüdischen Gemeinden. Sie zerstörten die kommunalen Institutionen, verboten alle sozialen und politischen Aktivitäten, die dem Regime nicht direkt nutzten, und bekämpften den Widerstand gegen ihr Regime, wobei sie sich weitgehend auf Denunziationen stützten. Darüber hinaus galt das Interesse der Sowjets vor allem der Entwicklung der lokalen Wirtschaft und ihrer Integration ins Sowjetsystem. Es sind nur eine Handvoll jüdischer Dokumente verfügbar, die über die Reaktion von Juden auf die Sowjetherrschaft und die anderen hier erwähnten Fragen Auskunft geben.
Dagegen gibt es eine Fülle von deutschem Material zur Vernichtung der Juden während der Besatzungszeit.16 Auch die Deutschen aber hatten kein Interesse an den internen Angelegenheiten der jüdischen Gemeinden und berichteten nur selten darüber. Das Gleiche lässt sich über die vereinzelten Quellen sagen, die den polnischen Untergrund in den Kresy betreffen. Indes werden Juden in Berichten über sowjetische Partisaneneinheiten erwähnt, die nach der anfänglichen Konsolidierungsphase und der Errichtung des Zentralen Kommandos sowjetischer Partisanenverbände im Mai 1942 verfasst wurden, und diese Dokumente beziehen sich manchmal auch auf die Schwierigkeiten, die Juden in der Bewegung hatten. Auch von aktiver Teilnahme von Juden an bewaffneten Partisanenaktionen ist gelegentlich die Rede.17
Es haben sich zahlreiche Tagebücher, Briefe und Memoranden erhalten, die sich auf die großen Gruppen in Polen zusammenlebender Juden beziehen. Zu verdanken ist das vor allem den drei Sammlungen, die diese Materialien bewahrt haben: dem Untergrundarchiv Oineg Shabbes (hebr.: Oneg Shabbat), das Emmanuel Ringelblum in Warschau aufgebaut hat und dessen Bestände den Krieg zu zwei Dritteln überlebt haben, sowie den beiden sehr viel kleineren Sammlungen von Zvi Mersik in Białystok und von Herman Kruk in Wilna. Soweit ich weiß, blieben nur sehr wenige Tagebücher erhalten, die sich auf die Kresy beziehen; Briefe überdauerten im Wesentlichen nur aus der Sowjetzeit, aus der Zeit der deutschen Besatzung gibt es nur noch ganz wenige. Die Tagebücher sind von größter Bedeutung. Eines davon hat Aryeh Klonicki/Klonitsky (Klonymus) geführt, ein Hebräischlehrer aus Pinsk in Polesien, der sich mit seiner Frau Malvina im ostgalizischen Buczacz befand, als die Deutschen einmarschierten. Das Paar hatte einen kleinen Sohn namens Adam. Nach einer der Mordaktionen im Ghetto versteckte sich das Ehepaar im Feld eines einheimischen Bauern, dessen Frau bereit war, sie mit Lebensmitteln und Milch für den Säugling zu versorgen. In seinem Versteck führte Klonicki Tagebuch, und er berichtet in exzellentem Hebräisch darüber, was er und seine Frau während dieser Zeit erlebten. Beiden wurde bald klar, dass sie nicht überleben würden, und sie baten die polnische Frau, das Kind an sich zu nehmen, was diese tat. Die Eltern wurden entdeckt und ermordet, das Kind wuchs als Ukrainer auf und weigerte sich nach dem Krieg, in die jüdische Gemeinde zurückzukehren. Das zweite Tagebuch wurde von einem Mann namens Beinish (Benjamin) Berkowicz verfasst, offenbar ebenfalls ein Hebräischlehrer, entweder aus Nowogródek oder aus einem der benachbarten Schtetlech. Im Frühjahr und Sommer 1942 in ausgezeichnetem Hebräisch niedergeschrieben, gibt es die Ansichten des Autors zur sozialen und politischen Situation und zum Schicksal der Juden wieder. Der Mann war Atheist und wetterte gegen den Glauben an einen Gott, den er für die Schrecken der Shoah verantwortlich machte. Die Aufzeichnungen enden im Februar 1943, am Tag einer der Mordaktionen in Nowogródek. Der Verfasser übergab das Tagebuch einem polnischen Bekannten und bat ihn, es einer jüdischen Institution auszuhändigen. Der Pole überlebte den Krieg und überantwortete das Tagebuch 1946 dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Zunächst nahm man an, Berkowicz sei in der Februaraktion umgebracht worden, doch einem Dokument zufolge, das im weißrussischen Nationalarchiv gefunden wurde, gehörte ein Kämpfer namens B. Berkowicz zu einem Partisanenkommando aus der Abteilung Bielski, das einen deutschen Zug angegriffen hatte. Da eine Liste aller Toten dieses Kommandos existiert, wissen wir, dass keines der Mitglieder mit diesem Namen vor Ende des Krieges starb; Berkowicz könnte also überlebt haben. Versuche, über sein weiteres Schicksal Aufschluss zu erhalten, waren vergeblich. Das Tagebuch ist das beeindruckende persönliche Zeugnis eines Menschen, der mit den Erfahrungen von Massenmord und entsetzlichem Leid zurechtkommen musste; zu unserem Wissen über das, was mit seiner Gemeinde geschah, trägt es allerdings nichts bei. Solche Tagebücher sind äußerst wichtig für das Verständnis der seelischen Verfassung der Opfer, sie sind jedoch im Hinblick auf ein allgemeines Bild der Situation nur von begrenztem Wert.18
So sind wir auf schriftliche und mündliche Zeugenberichte, auf Ton- und Filmaufnahmen aus der Nachkriegszeit angewiesen. Deren Verwendung ist unter Historikern ziemlich unpopulär. Oft wiederholt wird der naheliegende Einwand, Erinnerung sei unzuverlässig, stets müsse man mit bewusster Verzerrung oder Schlimmerem rechnen (wie der Fall der erfundenen Memoiren von Binjamin Wilkomirsky, dessen wahrer Name Bruno Grosjean ist, zeigte).19 Aussagen, die direkt nach dem Krieg niedergeschrieben wurden, gelten als verlässlicher als die aus späteren Jahren.
Wie ich bereits andernorts ausgeführt habe, halte ich solche Argumente nicht für überzeugend, doch lohnt es sich, die Diskussion hier nochmals aufzunehmen und etwas zu vertiefen. Historiker müssen, so denke ich, die historischen Quellen, insbesondere solche, die die Shoah betreffen, in einen breiteren Kontext stellen. Wie verlässlich sind geschriebene Dokumente? Das klassische Beispiel, auf das schon viele hingewiesen haben, ist das so genannte Wannsee-Protokoll, die Aufzeichnung eines Treffens führender deutscher Regierungsbeamter, das am 20. Januar 1942 in einer Villa am Berliner Wannsee stattfand. Die Versammelten besprachen die Umsetzung der so genannten Endlösung, der Vernichtung der Juden. Wir wissen heute, dass dieses Protokoll von Adolf Eichmann »aufbereitet« wurde, der es auf Anweisung und unter den aufmerksamen Blicken seines Chefs Reinhard Heydrich verfasste. Während seines Prozesses in Jerusalem hat Eichmann ausgesagt, dass das auf der Konferenz Besprochene weit über das hinausgegangen sei, was das geschriebene Protokoll enthält. Auch wenn die Vergasung der Juden nicht erörtert worden sei, dann doch andere Einzelheiten der Massenmorde und Aktionen, die bereits stattgefunden hatten oder für die Zukunft geplant waren. Das Dokument ist also eindeutig unzuverlässig, gleichwohl lässt es die Grundstruktur dessen erkennen, was dort diskutiert wurde. Eichmanns mündliche Aussage, 20 Jahre später protokolliert, scheint demgegenüber verlässlicher. Ähnliche Überlegungen lassen sich zum Geschehen in den Kresy anstellen. Es gibt einen Fall aus den 1960er Jahren: Damals wurde den deutschen Ermittlungsbehörden ein sowjetisches Dokument übermittelt, das sich auf die Ermordung der Juden der Stadt bezog; es stammte angeblich vom März 1942 und ist von einem Rabbi unterzeichnet. Es lässt sich aber zeigen, dass die Sowjets das Dokument vordatiert hatten, um Deutsche zu belasten, die vor einem deutschen Gericht standen. Kein Rabbi hat je ein Dokument zum Massenmord in Nowogródek von 1942 unterschrieben.20 Das heißt natürlich nicht, dass die Ereignisse, von denen in diesem Dokument die Rede ist, nicht geschehen seien oder nicht so schlimm gewesen wären wie beschrieben. Doch sind mündliche Aussagen aus der Nachkriegszeit viel verlässlicher, denn sie können durch Gegenproben auf ihre Genauigkeit und Richtigkeit hin überprüft werden.
Ich möchte damit nicht sagen, dass mündliche Aussagen prinzipiell verlässlicher sind als geschriebene Dokumente. Allgemein gesagt, sind zeitgenössische Dokumente, ob Berichte, Briefe oder Tagebücher, vorzuziehen. Auch schriftliche Dokumente, und dies gilt für jede Art von Dokumentation, müssen auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden. Im Bezug auf die Shoah ergibt sich ein zusätzliches Problem daraus, dass Deutsche und ihre Kollaborateure versucht haben, die Morde zu beschönigen. Eine besondere Sprache wurde entwickelt, eine Unterart dessen, was Victor Klemperer Lingua Tertii Imperii genannt hat – es gab damals Sprachregelungen, mit denen die Gräueltaten verschleiert wurden.21 So sprechen deutsche Dokumente in doppelter Sprache zu uns und können nur nutzbar gemacht werden, wenn man sie genau seziert. Dann liefern sie die Grundlage für eine »Geschichte der Täter«; sie zeigen, was die Deutschen und ihre Kollaborateure getan haben – wer, wo und wann. Selten nur werfen solche Dokumente ein Licht auf das Warum.
Zeugenberichte aus der Nachkriegszeit erfordern doppelte Vorsicht. Natürlich ist zunächst richtig, dass die Erinnerung nicht immer zuverlässig ist. Doch können Zeugenaussagen anhand anderer Aussagen überprüft werden. Wenn ich die Wahl habe, mich entweder auf ein zeitgenössisches Dokument zu verlassen oder aber zehn Zeugenaussagen zu vertrauen, die übereinstimmend zu einem anderen Ergebnis kommen als das Dokument, dann entscheide ich mich für die Zeugenaussagen. Allerdings haben wir, wenn es um Forschungen zur Kresy geht, oft gar nicht die Wahl: Es gibt nur wenige Dokumente, dafür aber zahlreiche Zeugenberichte aus der Nachkriegszeit.
In solchen Zeugenberichten lauern zwei Fallen. Zum einen stammen diese Aussagen von der winzigen Minderheit der Überlebenden, geben also nicht zwangsläufig die Erfahrung derjenigen wieder, die ermordet wurden oder umkamen. Zum anderen stammen die Zeugenaussagen meist von Menschen aus der Mittelschicht und nicht von der großen Mehrheit der ärmeren Juden. Das hat einen einfachen Grund: Bessergestellte Menschen ist es oft auch unter schwierigen Umständen gelungen, etwas von ihrem Hab und Gut zu retten. Ihr Geld oder ihre Wertgegenstände konnten sie dann einsetzen, etwa bei dem Versuch, Verstecke im Wald zu finden oder um Bauern für Lebensmittel zu bezahlen. Manche Kaufleute, Krämer und Landbesitzer hatten freundliche Beziehungen zu Bauern und anderen Menschen aufgebaut, was über Leben oder Tod entscheiden konnte. So spiegeln die Zeugnisse, über die wir verfügen, vor allem das Schicksal von Angehörigen der Mittelschicht und von wohlhabenden Personen wider.
Einem Zensus aus dem Jahr 1931 zufolge lebten damals in Polen 3 133 933 Juden. Mit rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung hatte das Land 1939 den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil in ganz Europa.
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