Der Tod kennt kein Warum - Robert Hubrich - E-Book

Der Tod kennt kein Warum E-Book

Robert Hubrich

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Beschreibung

Mitten in der Nacht wird der Ermittler Matthias Deininger an einen Tatort gerufen, der ihn trotz seiner langen Erfahrung einen Schock versetzt. Scheinbar friedlich lehnt das Opfer an einem Zaun - wäre da nicht der eigene Kopf, den es in seinem Schoß gebettet in Händen hält. Deininger und seine Kollegen bemühen sich noch um Aufklärung, als ein zweiter Mord die Stadt in helle Aufregung versetzt. Wieder ist das Opfer geköpft worden - und die Ermittler finden keine Spur und keinerlei Motiv. Erst als die dritte geköpfte Leiche gefunden wird, erkennen die Beamten einen möglichen Zusammenhang, ohne die nächsten Morde verhindern zu können. Der Mörder bleibt unsichtbar und agiert wie ein Phantom. Deininger, der rational denkende Hauptkommissar, lässt sich entgegen seiner üblichen Eigenart emotional in diesen Fall hineinziehen. Stein für Stein wird von ihm umgedreht, um jedes noch so kleine Detail erkennen und verstehen zu können. Aber erst eine Reise um den halben Erdball wird ihm offenlegen, dass die Abgründe menschlicher Grausamkeiten wesentlich tiefer liegen als er sich das in seinen schlimmsten Albträumen hätte vorstellen können...

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Die großen durchdringenden, halb geschlossenen Augen in ihrem tiefen Blau schienen Matthias Deininger intensiv, fordernd und doch milde anzustarren, um ihn nachdrücklich darauf hinzuweisen, wo er sich befand und woher er gekommen war. Es waren die Augen des Buddha, zu sehen an jeder Seite des quadratischen Aufbaus auf der Halbkuppel, der Stupa von Boudhanath, des größten Stupa Nepals. Tausende von Tibetern haben seit der chinesischen Annektierung Tibets 1950 Nepal zu ihrer Heimat gemacht. Die vielen Klöster in dieser Gegend und die vielen Rinpoches, die hier leben, haben Boudhanath zum bedeutendsten Zentrum des tibetischen Buddhismus in Nepal werden lassen. Hunderte Gebetsfahnen waren an langen Leinen aufgespannt und flatterten im Wind. Und schenkte man dem Sinn der Gebetsfahnen Glauben, so wurden mit jedem Windstoß und mit jedem noch so leisen Windhauch tausende und abertausende der auf den Gebetsfahnen geschriebenen Gebete gen Himmel getrieben, wo sie hoffentlich Gehör finden würden.

Matthias Deininger saß in einem Teehaus auf einem Balkon im ersten Stock und beobachtete das stete Treiben, das sich zu seinen Füßen abspielte. Er war am Vormittag noch in Timphu gewesen, der kleinen Hauptstadt Bhutans. Dann hatte ihn eine röhrende Maschine nach Kathmandu geflogen – und jetzt wartete er auf den Abend und die Nacht. Dann würde er über Delhi nach Hause fliegen.

Die quirlige Szenerie unter ihm auf den Straßen erinnerte an die Rushhour zu Hause. Die Stunde, in der alle von der Arbeit nach Hause wollten und man tagtäglich in irgendeinem Stau stand. Mit dem Unterschied, dass hier an diesem Ort immer Rushhour war. Permanent strömten Menschen auf die Straßen, um den Stupa zu umrunden, die Gebetsmühlen in Bewegung zu setzen und zu beten. Oder wieder eine der farbenfrohen Gebetsfahnen anzubringen, dessen aufgemalte Gebete der Wind dann in den Himmel mitnehmen würde.

Matthias sah auf die Uhr. Es wurde Abend und die sinkende Sonne zauberte ein magisches Licht auf das Heiligtum. Sein Flug nach Hause ging um halb zwölf. Er hatte noch Zeit und beschloss, hier zu Abend zu essen und seinen ungeordneten Gedanken nachzuhängen. Er nippte an seiner Tasse Tee und lehnte sich zurück. Es war immer noch sehr warm und wenn sich der leichte böige Wind legte, um Atem zu schöpfen, stand die heiße Luft in den Straßen. Deininger kam es vor, als ob der leichte Windhauch mithin ein feines Streicheln mit sich führte, das sich in einem Cocktail aus dem Fremden, dem Neuen, dem Anderen und der inneren Neugierde zusammensetzte und dem Mann aus Deutschland eine so ganz andere Welt präsentierte, die er bis dahin nicht kennen gelernt hatte. Ihm gefiel dieses Gewusel, dieses Gedrängel, dieser unbeschreibliche Lärm und das monotone Geschrei, das trotzdem nicht dasselbe war wie zu Hause. Ihm gefiel das stete Treiben, das auch einen Hauch Gelassenheit implizierte und es verstand, die großen Probleme hinter einer Mauer von Fröhlichkeit zu verstecken. Matthias Deininger kam es vor, als ob die Menschen in diesem Teil der Welt ganz anders wären als zu Hause. Trotz des stetigen Lärmpegels sahen die Menschen offen in die Welt. Wenige starrten abwesend und schlecht gelaunt in den Boden, keiner brummte vor sich hin und niemand machte ihm den Eindruck dieses oft so negativ unzufriedenen Gefühls, das man in den Menschen zu Hause wahrnehmen konnte. Aber vielleicht wollte er das auch so sehen. Wer weiß? Deutschland war weit weg und der trockene Alltag verwehrte einem oftmals die Sicht auf das Wesentliche.

Während er wieder an seiner Tasse nippte, wanderten die Gedanken schon voraus – in den Alltag seines Jobs als Hauptkommissar der Mordkommission.

Wenn er zu Hause ankam, würde es Freitag sein. Montags begann wieder sein Dienst im Kommissariat. Sie würden ihn fragen. Natürlich würden sie ihn fragen. Als erstes sein Kollege und Freund Robert Hauser. Und dann Marion, seine Assistentin. Sie würden ihn fragen, ob er ihn gefunden hatte – den Mörder. Sie würden ihn anstarren und auf eine Antwort warten. Neugierig und erwartungsvoll. Was sollte er ihnen sagen? Sollte er überhaupt etwas sagen? Und was sollte er Gudrun sagen, seiner Frau? Sie wusste, weshalb er nach Bhutan geflogen war. Sie wusste, dass er seinen Urlaub hergenommen hatte, um einem Phantom nach zu hetzen. Sie wusste, dass die vielen Fragen, die ihm in der Seele lagen, beantwortet werden mussten. All die Fragezeichen, die sich in den vielen Monaten der Untersuchung angehäuft hatten, mussten verschwinden. Erst dann würde Matthias den Fall für sich abschließen können. Obwohl nichts, aber auch gar nichts abgeschlossen war. Er lag nur bei den Akten, weiter nichts. Offiziell war der Fall geklärt. Aber nicht aufgeklärt. Der Täter befand sich immer noch auf freiem Fuß. Und niemand außer ihm, Hauptkommissar Deininger, wusste, wo er sich aufhielt. Und jetzt? In ein paar Stunden saß er wieder im Flugzeug auf dem Weg nach Deutschland. Welche Ergebnisse hatte er aufzuweisen? Waren es eigentlich Ergebnisse? Oder nur Bestätigungen, die als Hypothesen bereits feststanden? War er zufrieden mit dem, was er herausgefunden hatte? Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Was hatte er erwartet? Die ultimative Lösung? Aber wie konnte die aussehen? Dass dem Gesetz genüge getan wurde und der Mörder eingesperrt wurde? Für eine lange Zeit, um die Taten zu sühnen. Nein, es war alles anders gekommen, als er es sich vorgestellt hatte. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er auch diese Reise nicht auf sich genommen, um einen Mann zurück zu bringen. Es war doch nur ein Vorwand gewesen, um seine innere Zerrissenheit und das Unstete, das ihn plagte, vor den anderen zu argumentieren. Es war nicht nur Teil seines Berufes gewesen, das ihn so neugierig und nach dem Verstehen suchend werden ließ. Es war wohl sein inneres Selbst gewesen, das ihn antrieb. Die Stimme in ihm, die ihm permanent Fragen stellte und auf einer Antwort beharrte. Der Fragenkatalog war immer länger geworden und die Stimme immer lauter. Und diese Stimme war ausgesprochen hartnäckig. Der ganze unglaubliche Fall wurde Teil des persönlichen Umfeldes von Matthias Deininger...und darum war er auch hier gewesen. In Bhutan. Dieses fremde Land, die fremde Kultur, die Menschen, deren Sprache er nicht einmal verstand, diesen gelebten harmonischen Buddhismus – all dies war so neu für ihn gewesen, dass er sich sicher war, noch Wochen damit beschäftigt zu sein, das Erlebte zu verarbeiten und in die richtige Wertigkeit zu setzen. Wenn überhaupt. Die Dinge hatten sich überschnitten und die Schnittmenge war schwer zu definieren. Er war von dem vielen Fremden und Neuen glattweg überrumpelt und überfordert worden. Er hatte ein Land bereist, das er vorher nur vom Namen her kannte. Bhutan!! B-H-U-T-A-N! Leise sprach er jeden einzelnen Buchstaben in Gedanken vor sich her. Vor Tagen war er noch in den Bergen gewesen. Als er heruntergekommen war, durch die paar winzigen Dörfer gelaufen war, umringt von plappernden und lachenden Kindern, da wurde ihm klar, dass dieses kleine Land am Himalaya eines der letzten Zufluchtsorte für westliche Ruhe suchende Menschen war. Man konnte dort die Einfachheit finden. Äußerlich wie innerlich. Die wunderschöne Landschaft der menschenleeren Bergwelt sorgte dafür, dass Geist und Körper Ruhe fanden. Und trotzdem er von diesem faszinierenden Land eigentlich gar nichts mitbekommen hatte, spürte er doch diesen versteckten Ruhepol, der den westlichen Besuchern so abstrakt vorkommen musste. Vielleicht wurde auch die Klarheit einer Eudämonie entdeckt – die letztendliche Glückseligkeit, die alles Schwere und Untragbare von einem selbst nimmt und Leichtigkeit und Sinnhaftigkeit entfaltete. Eine seltsame Einheit, die nicht erklärt werden kann. Sie muss erfahren werden. Zu Hause im völlig übervölkerten Deutschland war das absolut unmöglich. Oder zumindest äußerst schwer. Er hatte einen kurzen, kaum wahrnehmbaren Einblick in eine andere Welt erleben dürfen. Und er fühlte das sich verschobene Denken in seinem Inneren. Wahrscheinlich war das Denken gar nicht verändert, sondern nur wieder erweckt worden. Durch eine tiefliegende Sehnsucht nach einer Seelenruhe, die sich durch Geist und Spiritualität zog und Dinge und Gedanken ins Licht rückte, die die Hektik und Hetze des heimischen Alltags gar nicht erst zuließen.

Seine Gedanken rasten wieder zurück. Oder vorwärts. Die Zeiten wühlten durcheinander. Er würde ein Statement abgeben müssen. Er war aufgebrochen, einen Mann zu suchen. Er konnte im Augenblick selbst nicht sagen, ob er ihn gefunden hatte. Oder war der Mann, der gesucht wurde, doch schon tot? War er gestorben und hatte seinen Körper hier gelassen? Auf dass ein neuer Geist ihn übernehmen konnte? Keinen toten Körper, sondern einen lebenden. Einen starken Körper. Wie sollte er das erklären? Er hatte einen Mann gefunden - aber war es derselbe Mann gewesen, den er gesucht hatte? War er nicht ein gänzlich anderer geworden? Jemand, der den Kampf mit sich selbst aufgenommen hatte? Er hatte verloren und doch gewonnen. Sollte er das zu Hause erklären? Er konnte sich die fragenden Gesichter vorstellen. Hast du zu viel Gras geraucht? Oder haben dir die Mönche das Gehirn vernebelt? Wie ist das, wenn man meint, meditiert zu haben und stattdessen die Nase weiß von Puder ist?

Nein, er konnte diese Geschichte, so wie er sie empfand, nicht vor seinen Freunden ausbreiten. Sie würden es nicht verstehen. Es war rational schwer zu erklären. Matthias schüttelte den Kopf. Nein, er würde einfach gar nichts sagen. Aber Gudrun, ihr musste er erzählen, was in Bhutan geschehen war. Sie hatte den Fall von Anfang an miterlebt. Hatte erkannt, dass das Geschehene Matthias nicht zur Ruhe kommen ließ. Im Gegenteil. Je mehr Zeit verstrichen war, desto mehr hatte sich der Hauptkommissar Deininger darauf eingelassen. Er hatte seinen Pragmatismus beiseite geschoben und sich emotional geöffnet. Und selbst heute konnte er nicht sagen, warum. Es war einfach geschehen. Die Gedanken hatten ihn nicht mehr in Ruhe gelassen. Eine innere Stimme trieb ihn einfach weiter und weiter. Dann war es soweit gewesen. Es gab kein Zurück mehr. Nur noch nach vorne. Er wollte es begreifen. Und wenn er so zurückdachte, wollte er eigentlich von Anfang an begreifen. Seit dieser verrückten Nacht, als der erste Mord geschah. War es eigentlich ein Mord? Mord ist, wenn man vorsätzlich einen Menschen tötet. Wenn dem Mord eine willentliche Planung vorausgeht – ja, dann spricht man von Mord. Oder doch anders? Mord oder Tötung! Was ist der Unterschied? Tot bleibt tot, egal, wie oder warum. Doch was ist mit der Moral? Mit dem moralischen Recht? Ist es wirklich weniger Recht als das geschriebene einer Gesetzesaussage? Wer möchte das beurteilen und wie soll es begründet werden? Die Moral kann sich nicht über das Recht stellen. Sie darf überhaupt keine Rolle spielen, wenn Recht gesprochen wird. Denn Gesetze gelten für jeden. Das ist der Rechtsstaat. Und trotzdem bleiben immer wieder Zweifel am System. Es bleiben immer Zweifel – wenn es einen selbst betrifft. Eine Sache der Perspektive...wie immer...es ist immer eine Sache der Perspektive.

Deininger starrte auf den Stupa, ohne ihn zu sehen. Die Erinnerung spulte die Bilder zurück und verweilte in der Retrospektive. Sie hatten ihn mitten in der Nacht angerufen...Mord auf offener Straße...an Grausamkeit nicht zu überbieten...der Kopf, der Körper und das viele Blut...dieser verdammte Nebel...diese verdammte Nacht und diese verdammte feuchte Kälte... und dieser gottverdammte Nebel, der die Bilder und die Gedanken so diffus erscheinen lassen konnte....

*

Die kalte Feuchtigkeit des alles beherrschenden Nebels legte sich sanft und zugleich schwer auf Straßen, Wege, Mauern und Gebäude. Die trüben Schwaden schluckten das sonst helle Licht der Straßenbeleuchtung, schwebten durch die nächtlichen Gassen und Straßen, umschmiegten alles und ließen die Umgebung in einem mystischen, unheimlichen Etwas irgendwie an das alte England erinnern. Irgendwann wurde der Nebel so dicht, dass man kaum das übernächste Haus erkennen konnte. Und auch die dumpfen Geräusche des nächtlichen Verkehrs drangen nur müde und weit entfernt an das Ohr.

Die uralte Kirchturmuhr mit den nicht mehr sichtbaren goldenen Zeigern hatte bereits zwei geschlagen und die letzten Gäste verließen die Kneipe. Guns´n Roses´ ´November Rain` klang wie ein Endzeitsong auf die Straße hinaus. Eine der längsten Gitarrensoli der Rockgeschichte. Die klirrenden Gitarrenklänge breiteten sich wellenartig in der Nebelbank aus und kreierten zusammen mit dem dunklen Klang der Kirchenglocken ein paradoxes Lied des Todes.

Ein paar unentwegte Gestalten standen noch vor der Türe und rauchten. Leise lachend unterhielten sie sich, dann machten auch sie sich auf den nächtlichen Heimweg. Die Türe ging auf und ein Mann trat auf den gepflasterten Gehweg. Leicht schwankend wankte er die zwei Stufen hinunter. Andreas Martin war angetrunken und suchte umständlich in seiner Jackentasche nach einer Zigarette. Vor sich hinmurmelnd zog er die Schachtel heraus und fingerte wiederum in der anderen Tasche. Mühsam versuchte er das Feuerzeug zu entzünden. Als er es endlich geschafft hatte, inhalierte er tief den Rauch. Er hob den Kopf und sah nach links und dann nach rechts. Offensichtlich konnte er sich nicht entscheiden, wohin er wollte. Doch dann wandte er sich nach rechts und schlurfte die Straße Richtung Bahnhof entlang. Gutgelaunt überlegte er, wo wohl noch eine Frau aufzutreiben wäre. Eine animalische Lust in ihm wurde immer stärker. Irgendeine, dachte er, irgendwas zum Ficken. Er stellte sich vor, wie er sie über einen Tisch werfen würde, ihr den Rock hochschieben und den Slip herunterreißen würde. Dann würde er ihr zeigen, was ein richtiger Mann war. Seine Vorstellungen schweiften ab ins Abstruse und er spürte die gesteigerte Lust.

Und dann...scheiße, niemand da. Vielleicht konnte er auf der Straße noch jemanden aufreißen. Er hob den Kopf und sah sich um. Nichts, keine Menschenseele, nur der verdammte Nebel. Viel zu spät, dachte er vor sich hin brummend. Er ging weiter und bog um die nächste Ecke. Es war eine Seitenstraße, nur spärlich beleuchtet, aber sie war eine Abkürzung. Die Kälte des Nebels kroch unter seine Jacke und ließ ihn schaudern. ´Scheißkälte`, dachte er und zog noch einmal an seiner Zigarette. Sein Blick fiel nach unten auf den feuchten Gehweg und er taumelte um die Ecke.

Er hatte das Mädchen nicht kommen hören. Und sie ihn wohl auch nicht. In dem Moment, als er um die Ecke bog, rannten sie zusammen. Erschrocken schrie das Mädchen auf und trat schnell einen Schritt zurück. Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.

„Entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gesehen“, stammelte sie.

Der Mann sah sie an. Von einem Moment zum anderen wurde sein Blick klarer. Lüsterner. Begierde stach aus seinen Augen. Begierde, die die Vernunft hinter sich ließ und einen klaren Gedankengang zu verhindern wusste. Der Fokus seines Geistes wurde zum bösartigen Tier.

„Macht ja nichts“, sagte er leise.

Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, ihre langen blonden Haare bis hinunter zu den Hüften und zu den Beinen. Die Augen blieben in ihrem Schritt hängen. Die Jeans lag zu eng an, um seine triebhafte Vorstellung zu beseitigen.

„So spät noch unterwegs?“ fragte er flüsternd.

Das Mädchen nickte schüchtern und ein bisschen ängstlich.

„Ja, ich will nur nach Hause. Sorry noch mal.“

Sie wollte schnell an ihm vorbeihuschen, aber er hielt sie am Mantel fest.

„Nicht so schnell. Wir könnten ja noch was trinken. Wie wär´s?“

„Nein, danke. Keine Zeit.“

Sie versuchte sich von seinem Griff loszumachen, aber er hielt sie weiter fest.

„Los, komm schon. Ein kleiner nächtlicher Fick tut dir bestimmt gut...und mir auch.“

„Lassen Sie mich los!!“

Ihre Stimme zitterte. Sie hatte Angst. Vergeblich versuchte sie sich aus dem Griff zu entziehen. Der Mann zog sie an sich und versuchte sie zu küssen. Sein nikotin- und Alkohol verseuchter Atem schlug ihr ins Gesicht und sie hielt die Luft an. Die Angst nahm ihr alle Kraft, sich zu wehren. Angewidert drehte sie den Kopf zur Seite. Ihre Gedanken jagten in einer unkoordinierten Weise durch ihr Gehirn. Die bebende Furcht in ihr ließ keine Rationalität mehr zu und auch das Adrenalin schaffte es nicht mehr, die abwehrenden Befehle in ihrem Innern zur Ausführung kommen zu lassen. Sie war wie gelähmt und konnte sich kaum rühren.

„Nimm´ die Hand von dem Mädchen!“

Die Stimme hinter ihm war leise, aber bestimmt. Monoton, ohne eine Spur von Emotion. Die neblige Dunkelheit verschluckte den Klang und ließ sie dumpf und dunkel erscheinen.

„Was?!“

Der Mann drehte sich um, ohne den Griff von dem Mädchen zu lösen. Belustigt sah er die Gestalt vor ihm an. Sie hatte eine schwarze Gesichtsmaske auf und nur die schmalen Augen waren zu sehen. Die genauso schwarz waren wie der Mann selbst. Der lange Mantel ließ nichts von seiner Statur erkennen. Das höhnische Grinsen im Gesicht von Andreas Martin wurde breiter. Was sollte denn das sein? Wollte der Kerl Leute erschrecken?

„Was bist´n du für eine Vogelscheuche? Verzieh´ dich oder ich tret´ dir in den Arsch, Mann!“

Das Mädchen versuchte immer noch, den Griff zu lösen. Sie bog seine Finger nach hinten, so dass er schmerzerfüllt aufschrie und sich wieder ihr zuwandte.

„Du Miststück, “ keuchte er und hob die Hand, um sie zu schlagen. Doch der Arm kam aus der erhobenen Stellung nicht weiter...etwas hielt ihn zurück. Die dunkle Gestalt krallte wie einen Schraubstock die Hand um sein Handgelenk. Der Mann ließ endlich die Frau los und wandte sich ganz dem Anderen zu. Seine Augen weiteten sich vor Wut und einer beginnenden aufschäumenden Aggression. Wie kam diese Missgeburt dazu, ihn zu stören??!!

„Ich glaub´ du bist lebensmüde, du Arschloch!!“

Er keuchte und spürte den Drang der Gewalt in sich hochkommen. Die unkontrollierte Aggression breitete sich aus und eine grenzenlose Gewaltbereitschaft schoss ins Uferlose. Der augenblickliche Blitzgedanke einer drohenden Gefahr erreichte nicht sein rationales Gehirn. Er würde jetzt dem Mann mit der Maske die Knochen zertreten. Doch der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, da spürte er einen irren Schmerz in seiner rechten Schulter. Er hatte den Schlag nicht kommen sehen, so blitzschnell war er ausgeführt worden. Sein vernebeltes Gehirn konnte die ankommenden Signale nicht mehr so schnell verarbeiten. Erst Augenblicke später spürte er den stechenden Schmerz genau im Zentrum zwischen Schulter und Brustmuskel. Für den Bruchteil einer Sekunde stockte der Atem vor Schmerz. Stöhnend wollte er den Arm anheben, doch es ging nicht. Die beschädigten Nervenbahnen hatte alles lahm gelegt. Und bevor er noch eine weitere Aktion in Betracht ziehen konnte, verspürte er denselben Schmerz in der anderen Schulter. Geradezu Grotesk und blöde stand er da, starrte auf den Mann vor ihm und war unfähig, überhaupt etwas zu tun. Die Arme hingen unkontrolliert herab. Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber es kam nur ein blökendes Ächzen heraus. Wie ein Schaf, das den Wolf vor sich sah, aber unfähig zur Flucht war.

Langsam, sehr langsam, begriff er seine eigene Unfähigkeit und noch langsamer begann sich so etwas wie Angst in ihm auszubreiten. In sanften wogenden Wellen löste sie sich eine Handbreit unter dem Bauchnabel und durchströmte gleichmäßig den Unterkörper bis in die Beine und den Brustkorb, bis die erste Welle seine Kehle blockierte. Die eigene Hilflosigkeit warnte ihn, aber noch begriff er nicht. Die Abstrusität der Situation verhinderte jegliche Akzeptanz.

Das Mädchen war mittlerweile etliche Schritte zurückgetreten und starrte die unwirkliche Szene vor ihr an. Der Betrunkene und der Mann mit der Maske bildeten ein seltsames Paar auf der nebligen Straße. Einen Moment lang herrschte eisige Stille. Nur das unkontrollierte Keuchen des angetrunkenen Mannes war zu hören.

Die Hand des schwarzgekleideten Mannes verschwand unter dem langen schwarzen Mantel – um gleich darauf mit etwas Blitzendem wieder zu erscheinen. Das metallische Zischen durchschnitt die Stille der nebligen Nacht. Ein leicht gebogenes Schwert mit einem langen Griff lag in seiner Hand. Mit einem gekonnten Wirbel um das Handgelenk hatte der schwarz gekleidete Mann das Schwert in eine andere Postion gebracht. Die Spitze der Klinge zeigte schräg zur Seite. Das Mädchen sah in die dunklen Augen des Mannes. Kurz blitzte eine Reflexion des Lichtes darin auf. Die Augen eines Toten, schoss es ihr in diesem Moment durch den Kopf. Mehr konnte sie nicht erkennen. Sie sah nur noch das tödlich wirkende Schwert in dessen Händen. Und ihre Gedanken blieben stehen. Wie gebannt starrte sie auf die fremdartige Waffe und war sich einen Augenblick nicht sicher, ob sich Realität und Albtraum nicht doch zu einer neuen dunklen Dimension vereinigt hatten.

Der betrunkene Andreas Martin war urplötzlich nicht mehr betrunken. Mit offenem Mund stierte er auf den glänzenden Stahl. Es war nicht ersichtlich, ob er verstand, dass da ein Mann mit einem Schwert vor ihm stand. Er verspürte die schmerzende Trockenheit, die sich in seiner Mundhöhle breit machte und er versuchte zu schlucken. Mühsam presste er die Lippen zusammen. Andreas Martin bekam Angst. Die seltsame, fremde und völlig unübliche Waffe in den Händen des anderen nahm ihm die Sicherheit seiner brutalen Arroganz. Seine Oberlippe begann zu zucken – und er wusste, dass der schwarz gekleidete Mann das sah. In diesem Moment verlor er allen Mut. Jetzt erst spürte er die absolute Überlegenheit seines Gegenüber...und eine dunkle Ahnung wurde von seinem Unterbewusstsein in das Bewusstsein geschickt.

„Was...was soll das? Nimm´ das Ding weg, Mann! Es...es war doch...es war doch nicht so gemeint...Mensch, lass´ das doch...es war doch alles nur Spaß!“

Doch der Mann reagierte nicht. Ausdruckslos starrte er ihn an, so als ob er gar nicht verstanden hätte, was er gesagt hatte. Wären nicht die Augenlider gewesen, die sich ab und zu über die Augäpfel senkten, hätte man an den Kopf einer Schaufensterpuppe glauben können. Eine leblose Gestalt, die alles an menschlichen Emotionen vermissen ließ, was man gemeinhin als menschliches Lebewesen definiert hätte. Dann wandte er sich an das Mädchen.

„Gehen Sie nach Hause, junge Dame. Er wird Ihnen nichts mehr tun.“

Das Mädchen stand immer noch wie erstarrt. Sie konnte sich nicht rühren. Mit aufgerissenen Augen sah sie den dunklen Mann an. Seine Stimme hallte in ihr wie aus einem Grab.

„Bitte!“ sagte die Stimme noch einmal.

Monoton wie vorher. Keine Erregung, keine Änderung des Tonfalls, keinerlei Leidenschaft. Wie aus einer Maschine. Aber die Aufforderung war unmissverständlich.

Das Mädchen nickte, drehte sich um und verließ die Straße. Schnell bog sie in die nächste Gasse ein und verschwand aus dem Blickfeld des Mannes. Sie wollte nur nach Hause. Ihre panische Angst verlieren und den Schock, der in ihr brodelte, verarbeiten.

Das Gesicht des Maskierten drehte sich wieder zu dem mittlerweile völlig verängstigten Martin.

„Knie nieder“, sagte der Mann zu ihm.

„Was???!! Was...was hast du vor?? Bitte...es tut mir leid...!!“

„Knie nieder oder du stirbst im Stehen.“

Andreas Martin riss die Augen vor Schreck auf.

„Wie...warum...wieso...das ist doch nicht....nein...“

„Du willst wissen, warum du sterben wirst?“

„Jaaa...ich weiß nicht...wer bist du?..was meinst du mit Sterben??..ich kenn´ dich doch gar nicht...was willst du denn von mir?...warum..?...willst du Geld?...Hier...!“

Er begann, mühsam in seinen Taschen zu fummeln, aber der brennende Schmerz in seinen Schultern ließ es nur bedingt zu. Mit flatternden Augenlidern blickte er wieder auf den Mann. In seiner zitternden Hand hielt er ein paar Scheine und streckte sie ihm zögernd entgegen. Doch sein Gegenüber schien die Geste nicht einmal zu bemerken. Immer noch bohrten sich die pechschwarzen Pupillen in die Augen des Todgeweihten. Andreas Martin stierte voller Furcht in die wie hypnotisierend starren Augen des Mannes. Er wagte nicht, den Blick zu senken. Er war gebannt wie die Beute einer Schlange vor dem tödlichen Angriff.

„Knie nieder!!“

Die Aufforderung wurde zum Befehl.

Das Schwert hob sich und bedrohlich kreiste es vor den Augen des Mannes, der mit seiner Angst zu kämpfen hatte. Er hatte keinerlei Ahnung, was der Mann vor ihm wollte. Schwerfällig fiel er auf die Knie – und starrte angsterfüllt den maskierten Mann vor ihm an. Mit rollenden Augen beobachtete er die blitzende Waffe in dessen Hand. Doch dann richtete er sich wieder auf, so dass er seinem Gegenüber gerade in die Augen sehen konnte. Der schwarze Mann sagte nichts und wider Erwarten verhinderte er auch nicht das Aufstehen Martins. Er bewegte nicht einen Millimeter den Kopf, als sein Mund zu sprechen begann...und Andreas Martin wusste erst jetzt, dass der Tod eine Stimme hatte.

„Ich soll dir Grüße ausrichten...“

Die Stimme war leise, fast flüsternd, eisig mit einem Hauch von ferner Melancholie. Es klang wie das Echo aus einer dunklen, vergangenen und vergessenen Welt. Eine Welt des Todes und des Untergangs. Eine Welt des Endgültigen, nicht Zurückkehrenden, des ewig in Dunkelheit Verbleibendem.

„Was?..ich verstehe nicht...welche Grüße?!...von wem denn?“

„...von den Ermordeten...“

Ein erschreckendes Erkennen durchfuhr den Mann. Flehentlich sah er auf und starrte in ein dunkles Augenpaar, das nicht irdisch war. Wie dunkle Kohlen funkelten sie ihn an. Er erkannte darin die sich für ihn öffnende Hölle und das ewige Leid. Er öffnete den Mund und wollte schreien, er sah das Blitzen des Lichtes, das die Schneide des Schwertes reflektierte und ihn kurz blendete – aber kein Ton drang mehr aus seiner Kehle. Die Stimmbänder versagten jeglichen Dienst. Jemand schrie in ihm, dass er jetzt, in diesem Augenblick, sterben würde und er genau jetzt den Schritt in die Hölle seines zukünftigen jämmerlichen Daseins machen würde. Die pressende Todesangst drückte ihm die Luft ab, sein Atem stockte und seine Blase entleerte sich. Er hatte die Kontrolle über seinen Körper verloren, so stark nahm ihn die unermessliche Furcht in Beschlag. Nur vage sah er den vollziehenden Bogen der tödlichen Waffe, vernahm kaum das Zischen, als die Schneide durch den Nebel schnitt. Der Mund öffnete sich, um zu schreien – aber die Stimmbänder blieben weiter untätig. Er spürte nur einen explosionsartigen Schlag an seinem Hals, fühlte sich hochgehoben und weggeschleudert - und hörte weit entfernt noch ein helles Knacken - dann erlosch alles Licht.

Die rasierklingenscharfe Schneide traf mit solcher Wucht und solcher Geschwindigkeit den Hals des Mannes, dass der Kopf nur mit diesem einen Schlag vom Körper getrennt wurde. Mit der Exaktheit eines Lasers traf die Klinge seitlich auf den Hals. Sie berührte keine Schulter, keine Jacke, kein Ohr – nichts stellte sich ihr in den tödlichen Weg. Ziel war einzig und allein die Trennung des Kopfes vom restlichen Körper. Der schlug auf dem kalten Teer auf und rollte einen Meter weg. Unaufhörlich pumpte das Herz das Blut aus der schrecklichen Wunde. Dann war nichts mehr da zum Pumpen. Der kopflose Körper war zur Seite gefallen und das viele Blut besudelte den nassen Gehsteig. Der Mann richtete den Körper auf und lehnte ihn an den schmiedeeisernen Zaun. Sorgsam achtete er darauf, nicht in die riesige Blutlache zu treten, die sich langsam auf den Bordstein zu bewegte. Dann griff er nach dem Kopf, packte ihn an den Haaren und legte ihn dem Torso in den Schoß. Die Hände des Toten legte er so, dass es aussah, als ob der Getötete seinen eigenen Kopf hielt. Einen Augenblick lang stand er vor dem grotesken, grausamen Bild und starrte unbewegt die Leiche an. Seine Lippen begannen sich leicht zu bewegen und ein leiser tiefer Ton deutete fast so etwas wie den Beginn eines fremdartigen Gebetes an. Dann säuberte er das Schwert an der Kleidung des Toten. Es verschwand so schnell wie es in Erscheinung getreten war. So drehte sich der Mann um, zog sich die Maske vom Kopf und überquerte die Straße. An einer Telefonzelle blieb er stehen, hob den Hörer ab und wählte 110.

„Polizeinotruf. Was kann ich für Sie tun?“

„In der Wintergasse Ecke Schillerstraße liegt ein geköpfter Mann. Sie sollten ihn entfernen, bevor die Bürger einen Schreck bekommen.“

„Wie bitte? Soll das ein Scherz sein? Wer sind Sie und.....hallo? hallo?..Melden Sie sich bitte!!“

Doch das Gespräch war schon beendet worden, bevor der Beamte nachfragen konnte. Er hörte nur noch ein endloses, gleichmäßiges Tuten. Und der Hörer baumelte wie der Taktgeber des Todes hin und her.

*

Als Matthias Deininger mit seinem Wagen um die Ecke bog, stieg er abrupt auf die Bremse. Die Straße war blockiert. Kreisende Blaulichter der Polizeiwagen blendeten ihn. Die dichten Nebelschwaden setzten den blauen, roten und weißen Lichtern einen Hauch von Fremdartigkeit auf und verstärkten die schon bereitstehende düstere Stimmung. Er fuhr den Wagen auf die Seite und stieg aus. Notarzt und Sanitäter waren schon da – aber sie standen nur am Zaun herum. Deininger ging auf einen Polizisten zu und zeigte ihm seinen Ausweis.

„Deininger. Mordkommission.“

Der Beamte nickte stumm und trat zur Seite. Ein kleiner dicker Mann eilte auf ihn zu. Die halblange Jacke war bis zum Hals zugeknöpft und spannte sich um seinen Leib. Tief atmete er ein und aus. Er schien fast außer Atem und es war nicht ganz erkenntlich, ob es die Aufregung war oder eine körperliche Anstrengung.

„Da bist du ja endlich! Wo warst du denn?“

„Wo soll ich gewesen sein? Ich hab geschlafen. Wie jeder anständige Bürger es zu dieser Zeit tun sollte. – Was ist passiert?“

Robert Hauser wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab.

„Scheiße, Mann. Das hab ich noch nie erlebt. Ein Mann. Man hat ihn geköpft und ihm seinen eigenen Kopf in den Schoß gelegt!“

Hauser war nervös und aufgeregt. Er verzog das Gesicht und versuchte ein gequältes Lächeln, aber Matthias Deininger sah ihm an, dass er überaus schockiert war. Deininger zog die Augenbrauen nach oben. Es war eine nicht endende Nacht bis jetzt gewesen. Erst eine bis in die späten Abendstunden andauernde Besprechung, dann konnte er nicht einschlafen und als er dann doch einmal Schlaf finden konnte, klingelte das verdammte Telefon. Es waren die Nächte, in denen er seinen Job verfluchte. Unwillkürlich sah er auf die Uhr. Es war 3:25 Uhr. Die Nacht war gelaufen.

„Geköpft? Wisst ihr schon, wer der Tote ist?“

Hauser nickte. Pausenlos wischte er sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. Trotz der Kälte schwitzte er.

„Ja, er hatte alle Papiere bei sich. Geld, Bankkarte, Ausweis - alles da. Er wurde nicht ausgeraubt.“

Zusammen traten sie durch die Menge der Beamten. Ein Polizist stand etwas abseits und hielt sich am schmiedeeisernen Zaun fest. Er hatte sich übergeben.

Dann standen sie vor der zugedeckten Leiche. Deininger sah sich um. Tobias Kolland stand am Zaun und nickte ihm mit ernstem Gesicht zu. Er war der leitende Beamte der Spurensicherung.

„Zieht die Plane weg“, befahl Deininger.

Noch konnte er nicht so recht glauben, was ihm sein Kollege und Freund gerade erzählt hatte. Aber er spürte das schnelle Ansteigen seines Pulses.

Ein Polizist bückte sich und zog die Plane herunter. Die Schultern und die schreckliche Wunde des offen liegenden Halses kamen als Erstes zum Vorschein. Deininger schloss für einen Moment die Augen und schluckte schwer. Der erste visuelle Schock zog ihm alle Eingeweide zusammen. Mit Gewalt zwang er sich zur inneren Ruhe. Er spürte, wie sein Herz von einer Sekunde zur anderen schneller schlug. Der Kopf des Toten starrte leer vor sich hin. Die Augenlider waren halb geschlossen. Das Bild war makaber, grausam und irreal.

Die Beamten hatten nichts verändert. Die beiden Kollegen der Spurensicherung waren schon anwesend und sahen Deininger und Hauser abwartend an.

Das Bild, das sich den beiden Beamten bot, war ein unwirkliches, grausames und kaum glaubhaftes Beispiel dessen, was eine Waffe einem Menschen antun konnte. Der bleiche Kopf im Schoß der Leiche erinnerte an einen irren Horrorfilm der untersten Schublade. Immer noch waren die Augen geöffnet und fast schien es so, als ob der Kopf die Umstehenden anstarrte. Deininger hörte hinter sich ein Würgen und Husten. Er drehte sich um. Ein anderer Beamter lehnte kreidebleich an einem Baum und wischte sich gerade den Mund ab.

„Spurensicherung abgeschlossen?“ fragte er seinen Freund.

Doch der schüttelte den Kopf.

„Nein. Sie wollten noch auf dich warten. – Sollen sie anfangen?“

Deininger nickte. Verwirrt starrte er auf die albtraumhafte Szene vor ihm. Irgendwann hatte er einmal gelesen, dass man in früheren Jahrhunderten die Köpfe der Enthaupteten schnell gedreht hatte, damit sie noch ihren eigenen kopflosen Körper sehen konnten, bevor sie tot waren. Fast schien es so, als ob der Mörder das in gewissem Maße auch gewollt hätte. Er hatte sogar die Hände seines Opfers so gelegt, dass es aussah, als ob sie den eigenen Kopf hielten.

Deininger zog die Nasenflügel zusammen und schüttelte leicht den Kopf. Unwillkürlich kam ihm in den Sinn, dass der Täter vollkommen abartig sein musste. Dann drehte er sich zu Robert Hauser um.

„Ich denke, es gibt einiges zu tun. Wir werden zuerst sein engstes Umfeld durchleuchten. Besorg´ mir alles, was wir über diesen Burschen finden können. Und ich möchte schnellstens den Obduktionsbefund haben. Hergang, mögliche Tatwaffe und so weiter...du weißt schon.“

„Okay. Kriegst du.“

Deininger sah sich um.

„Gibt´s Zeugen?“

„Nein. Bis jetzt noch nicht. Wir müssen erst die Nachbarn hier befragen.“

„Na gut. Dann fahr ich jetzt nach Hause. Erledigst du noch alles? Ich bin hundemüde. Die Besprechung war erst um halb elf zu Ende und ich bin nach zwölf ins Bett gekommen.“

„Klar. Mach ich. Wir sehen uns im Büro.“

Deininger nickte.

„Es wird etwas später werden. – Danke, Mann!“

Er trat einen Schritt auf Kolland zu.

„Und? Was meinst du?“

Kolland zuckte die Schultern.

„Ich würde sagen, sehr abstrakt. Anscheinend ist unser Freund ein Meister des Dekorativen. Sieh dir die Hände an. Er hat sogar jeden einzelnen Finger ausgerichtet.“

Deininger sah wieder auf die Leiche. Ein leichter Schauer schob sich über seinen Rücken. Fröstelnd zog er die Schultern nach oben.

„Ein Psychopath?“

„Wer weiß das schon. Vielleicht. Mörder kommen nach ihrer Tat auf die unmöglichsten Gedanken. Ich habe da schon etliches erlebt. Aber das, “ er zeigte auf den am Zaun lehnenden Leichnam, „das ist total abgefahren. Der hat einen Kopf abgeschlagen, ihn wieder aufgehoben, die Leiche an den Zaun gelegt und dann seine Galerie eröffnet. – Naja, dein Part. Bin gespannt, was du rausbekommen kannst.“

„Ich auch, glaub´ mir. Wir sehen uns. Bis dann.“

Kolland winkte ihm kurz zu und begab sich zu seinen Kollegen.

Matthias Deininger setzte sich wieder ins Auto und fuhr nach Hause. Der Zustand der Leiche hatte ihn schockiert. In seinem Beruf war er es gewöhnt, mit Leichen umzugehen. Aber das hier – das war selbst ihm noch nicht begegnet. Ein Mann wurde geköpft und der Mörder oder die Mörder hatten ihm seinen eigenen Kopf fein säuberlich in die eigenen Hände gelegt. Er hatte die riesige Wunde gesehen. Das war keine Säge und keine Axt gewesen. Es war der Schnitt eines riesigen schweren Messers gewesen. Oder einer...wie hieß das noch, das die Franzosen früher bei Hinrichtungen verwendeten? Er kam nicht auf das richtige Wort. Doch – Guillotine, so hieß das. Oder ein Fleischerbeil mit einer sehr langen Klinge. Das war kein Dilettant gewesen, der das getan hatte. Das war handwerklich professionell. Was war das wohl für ein Mensch, der mit der Exaktheit einer Maschine einen anderen Menschen in dieser Art und Weise tötete? Konnten diese Idioten nicht einfach einen Schuss abfeuern? Deininger schüttelte den Kopf. Er musste ins Bett. Wenigstens noch für ein paar Stunden. Obwohl er sehr bezweifelte, jetzt überhaupt noch schlafen zu können.

*

Eine schon in die Jahre gekommene Frau mit hochgesteckten Haaren sah ihn fragend an und legte ihren Stift beiseite.

„Bitte? Zu wem wollen Sie?“

„Ich bin mit Doktor Kremm verabredet. Es geht um den Mann, den ihr heute Nacht bekommen habt. Ich bin Hauptkommissar Deininger.“

Er hielt seinen Dienstausweis vor ihre Nase.

„Einen Moment bitte“, erwiderte die Dame spitz. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte zwei Ziffern.

„Ein Kommissar Deininger wünscht Sie zu sprechen. Soll ich ihn nach hinten schicken?“

Ihr Gesprächspartner sagte etwas zu ihr und sie nickte.

„Ja, ist gut.“

Sie sah wieder Deininger an.

„Sie können gleich nach hinten gehen. Vorletzte Türe links. Nummer 231. Diesen Gang entlang.“

„Danke vielmals“, erwiderte er, steckte seinen Ausweis wieder zurück und bewegte sich in den von ihr gezeigten langen Gang.

Eine Glastüre öffnete sich automatisch und nachdem sie sich hinter ihm geschlossen hatte, nahm er die unheimliche Stille mit einem etwas mulmigen Gefühl wahr. Der Gang in die Pathologie hatte immer etwas Endgültiges an sich. Nie konnte er sich an die sterile und kalte Umgebung gewöhnen. Hier wohnte der Tod. Hier wurde so lange an den Leichen herumgesucht und herumgestochert, bis man wusste, wie und wann ein Mensch gestorben war.

Sein Blick fiel auf das Schild neben der Türe. 231. Zögernd klopfte er, wartete keine Antwort ab und trat ein. Ein Mann stand am Waschbecken und trocknete sich gerade die Hände ab. Als er Deininger erkannte, überzog ein Grinsen sein Gesicht.

„Hallo, Matthias, wie geht´s?“

„Geht gerade noch so? Und dir?“

Klemm trat auf ihn zu und sie gaben sich die Hände.

„Prima. Alles im Lot. Hast du Hunger? Ich hab noch zwei Hamburger.“

Er nahm einen vom Tisch und biss genüsslich hinein. Kauend sah er Matthias an. Doch dessen Blick fiel schon auf die zugedeckte Leiche auf dem Seziertisch und er schüttelte den Kopf.

„Nein, danke. Keine Ahnung, wie du hier Hunger haben kannst.“

Klemm lachte und kaute weiter.

„Der isst mir nichts mehr weg“, sagte er trocken und zeigte auf den Tisch.

Matthias schüttelte verwundert den Kopf. Klemm hatte ein Gemüt wie ein Ochse.

„Und? Hast du was gefunden, das wir noch nicht wissen?“

Langsam traten sie an den Tisch mit der geköpften Leiche. Klemm hatte immer noch die Reste seines Hamburgers in der Hand, während er das weiße Laken zurückschlug. Deiningers Atem stockte für einen Moment. Der Kopf des Opfers lag einige Zentimeter oberhalb des Körpers und starrte an die Neon beleuchtete Decke des Raumes. Deutlich war das zerstörte Gewebe an den Wundrändern zu erkennen.

„Nein, nichts Neues. Außer vielleicht die Art und Weise der Tötung.“

„Wieso? Wie meinst du das?“

Klemm schob ihn an den Tisch.

„Sieh dir das an.“

Er zeigte auf die grausame Wunde des Halses.

„Wenn ein Gegenstand mit Wucht hier auftrifft, zerreißt erst einmal die Haut, dann das Gewebe. Je nachdem wie scharf der Gegenstand ist, kann man das an den Wundrändern erkennen. Diese hier sind kaum erkennbar. Will sagen, der Gegenstand oder die Waffe war scharf wie ein Skalpell. Weißt du, wie scharf ein Skalpell ist?“

„Sehr scharf, denke ich. Schärfer als eine Rasierklinge?“

„So in etwa. Der Täter ist Rechtshänder. Die Wundränder sind hier an der rechten Seite exakter als hier. Das Gewebe und die Wirbel haben die Kraft enorm gebremst. Trotzdem muss es ein unglaublich exakter und kraftvoller Schlag gewesen sein. Präzise wie eine Maschine und durchgezogen wie mit einem Lineal. – Dein Täter ist ein Profi, Matthias. Das bringt nicht einmal ein Metzger so gut hin.“

Deininger sah ihn mit verzogenem Gesicht an.

„Na, du hast Vergleiche. Metzger! Und was meinst du mit Profi? Wer ist denn schon Profi im Köpfe abschlagen?“

„Wenn du jemandem den Kopf abschlagen willst, dann musst du erst mal wissen, wie man das am besten machen kann. Mit Stillhalten ist halt nicht. Und freiwillig niederknien – das macht wohl auch niemand. Und selbst da wäre ich mir nicht sicher, ob du es auf Anhieb schaffen könntest, einen Kopf vom Körper zu trennen, ohne dass du noch einmal ausholen musst. – Also, mit Profi meine ich jemanden, der zum Beispiel den Umgang mit einem Schwert gelernt hat.“

Er sah noch einmal auf den Leichnam. Deininger nickte ernst.

„Schwert...Sonst noch was? Hinweise, dass es ein Schwert war?“

Klemm nickte.

„Schwert, Machete oder ähnliches. Ich tippe auf Schwert anhand der Wunde. Gerade Linie. Das heißt, es war lang. Und nicht gerade leicht. Aber das ist nur eine Vermutung. Der Täter war etwa gleich groß wie sein Opfer. Vielleicht eine Spur größer.“

„Wie kommst du denn da drauf?“

„Du kannst den Winkel der Wunde messen. Bei einem kleineren Mann wäre sie leicht schräg gewesen. Und bei einem größeren auch. Nur konträr. Dieser Mann“– er zeigte auf den Leichnam – „dieser Mann ist im Stehen gestorben. Und ich folgere daraus, dass der Mörder ihn völlig überrascht hat oder dass er seine Waffe so gut kontrollieren kann, dass eine Gegenwehr völlig unmöglich ist. Meine Überzeugung ist aber, dass das Opfer seinem Mörder in die Augen gesehen hat. Er hatte die Hosen ziemlich voll.“

„Was hatte er?“

„Naja, wir haben Urin in seiner Hose gefunden. Die Blase war vollständig entleert. Und wenn er vorher noch Pissen war, dann wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Urin in seiner Hose. Also nehme ich an, dass er vor Angst in die Hosen gemacht hat. Und dabei muss man große Angst haben.“

Deininger sah ihn belustigt an. Bewundernd nickte er ihm zu.

„Logisch. Nicht schlecht, Herr Doktor. Ich habe schon immer gesagt, du hättest dich damals bei der Kripo bewerben sollen.“

Klemm grinste und winkte mit wedelnden Armen ab.

„Nee, das wär´ doch nix für mich. So viele Mordfälle. Nee, nee, da bleib ich lieber hier. Die Brüder und Schwestern, die hierher kommen, schwätzen mich wenigstens nicht voll.“

Er lachte über seinen morbiden Witz und schob sich den letzten Bissen in den Mund.

„Na gut. Hast du vielleicht irgendwelche Fingerabdrücke entdecken können? Spuren von Speichel, Haare oder sonst was?“

Doch Klemm schüttelte den Kopf.

„Nein. Leider gar nichts. Nicht einmal eine Schuppe. Es scheint fast so, als ob er aufgetaucht wäre, einen Kopf abgeschlagen hätte und dann wieder verschwunden ist. Und dass er in einem Ganzkörperkondom gesteckt hat. Wirklich keine einzige Spur.“

„Er muss ihn aber angefasst haben, denn er hat den Kopf in den Schoß von ihm gelegt. Und die Finger hat er auch noch völlig synchron angeordnet. Es muss doch irgendeine Spur geben.“

„Tut mir leid, Matthias. Ich habe wirklich nichts weiter gefunden. Wahrscheinlich hat er Handschuhe getragen.“

„Schon gut. Vielleicht finde ich in seinem Umfeld eine Spur. Mach´s gut, Dieter.“

„Ich bring dich raus. Wir können ja mal wieder auf ein Bier gehen, wenn du Lust hast.“

„Ja gerne. Ich ruf dich an. Bis dann.“

Er hob die Hand zum Gruß und verließ das Gebäude.

*

Das junge Mädchen mit den langen blonden Haaren saß schüchtern und etwas verlegen vor den beiden Ermittlern.

„Nun, Frau ...äh...Hofmeister, ....sie wollten eine Aussage bezüglich des ermordeten Mannes machen. Kannten Sie den Mann?“ fragte Deininger.

Doch sie schüttelte den Kopf.

„Nein, nein...ich...ich kam vorgestern erst spät nach Hause. Und dann bin ich mit dem Mann zusammengestoßen. An dieser Ecke eben.“

„Welcher Mann?“

„Na der, der getötet wurde. – Er hat mich festgehalten und angemacht. Ich glaube, er war betrunken.“

„Was wollte er von Ihnen? Was hat er gesagt?“

„Er wollte mit mir noch was trinken gehen. Und dann eben....na ja…“

Sie verdrehte etwas die Augen und sah ihn vielsagend an.

„Wie bitte?“

„Na ja, er hat gesagt, für einen ...Fick ...wär´ er noch zu haben. Ich habe ganz schön Angst gehabt und wollte weglaufen, aber er hat mich festgehalten. Und dann war plötzlich der andere Mann da.“

Deininger und Hauser wurden aufmerksam.

„Der andere Mann? Weiter!“ „Auf einmal stand er da. Ich habe ihn nicht gehört und nicht bemerkt. Wie ein Geist. Ein Geist ganz in schwarz.“

„Können Sie ihn beschreiben?“

„Er hatte einen langen schwarzen Mantel an und eine schwarze Maske auf. Ich konnte nur seine Augen sehen. Die Maske sah aus wie so eine Skimaske. So was habe ich noch nie gesehen...“

Sie schauderte kurz und unterbrach sich.

„Wie meinen Sie das? Was haben Sie noch nie gesehen?“

„Diese seltsamen Augen. So dunkle schwarze Augen habe ich noch nie gesehen. Wie von einem Toten.“

„Hat er was gesagt? War er Ausländer? Irgendeinen Akzent vielleicht? Dunkle Augen sind ja nicht typisch deutsch.“

Sie nickte.

„Ja. Als der Betrunkene mich schlagen wollte, hat er seine Hand festgehalten und gesagt, er soll die Hand von mir nehmen. Und dann hat er gesagt, ich soll nach Hause gehen.

Der Mann würde mir nichts mehr tun. Er sprach völlig akzentfrei. Ich meine, wie ein Ortsansässiger...“

„Und dann sind Sie gegangen?“

„Ja. Vorher hat er aus dem Mantel noch ein Schwert gezaubert.“

Deininger sah Hauser an.

„Soso, ein Schwert. Können Sie es beschreiben?“

Doch sie schüttelte nur den Kopf und zuckte die Schultern.

„Was soll ich da beschreiben? Es war eben ein Schwert.

Keine Ahnung. Blitzende Klinge. Ach ja, und es hatte einen langen Griff. – So etwa..“

Sie zeigte mit den Armen die Länge des Griffs.

„Ein Samuraischwert“, sagte Hauser leise.

„War es leicht gebogen?“ fragte er das Mädchen.

Sie überlegte kurz und nickte dann.

„Ja, ich glaube schon. ...Ja, genau, es war gebogen. Wie in den Filmen.“

Deininger lehnte sich zurück. Er starrte das Mädchen an.

„Was hat der Mann dann gemacht?“

Sie zuckte die Schultern.

„Ich weiß nicht. Ich bin so schnell wie möglich abgehauen. Ich hatte Angst und wollte bloß weg. Und er hat mich gebeten, zu gehen.“

„Ja, verstehe. – Ich danke Ihnen, Frau Hofmeister. Sie haben uns sehr geholfen. Falls wir noch Fragen haben, rufen wir Sie an. – Unsere Kollegin wird mit Ihnen noch ein Protokoll aufnehmen. Dann können Sie nach Hause gehen. Vielen Dank!“

Sie stand auf und gab den Männern die Hand. Als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, wandte sich Deininger an Hauser.

„Samuraischwert. Woher kennst du Samuraischwerter?“

„Hab mich mal dafür interessiert. Alte asiatische Waffen.

Vor allem japanische Schwerter.“

Deininger goss Kaffee ein.

„Wusste ich gar nicht. – Was hältst du davon?“

„Ich denke, da rennt ein Durchgeknallter herum und meint, er wäre Dschingis Khan. Oder ein japanischer Krieger. Oder eben ein Samurai.“

„Hmmm! Ich weiß nicht. Ein Irrer...ja vielleicht. Was, wenn nicht? Aber man weiß ja nie. – Hast du den Befund schon bekommen? Und was ist der Tote für einer? Irgendwas über ihn gefunden?“

Hauser nickte.

„Ja. Ist auch nur die Bestätigung, was das Mädchen erzählt hat. Ungewöhnlich scharfe Klinge. Exakter Hieb. Ein einziger Hieb. Glatt und mit sehr viel Präzision. Aber das weißt du ja schon von Klemm – Naja, jetzt wissen wir wenigstens sicher, dass es ein Schwert ist. Der Tote heißt Andreas Martin. Kein unbeschriebenes Blatt. War mit neunzehn schon im Jugendknast. Drogengeschichten, Dealerei, Hehlerei, Körperverletzung, Diebstahl....die ganze Palette. Sozial unterentwickelt. Kein Schulabschluss. Hat mit sechsunddreißig schon neun Jahre abgesessen. Zuletzt war er auf Bewährung draußen. Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge vor mehr als zwei Jahren. Freigesprochen wegen mangels an Beweisen. Ihm konnte eine direkte Beteiligung nicht exakt nachgewiesen werden. – Ja, das war´s. Ein Krimineller. Aber nichts Großes.“

Deininger war aufgestanden und starrte aus dem Fenster. Er hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend, wenn er an den Geköpften dachte, wie er mit seinem eigenen Kopf in den Händen an dem Zaun lehnte. Das ist mehr als makaber, dachte er. Was will der Mörder damit sagen? Ein Zeichen vielleicht?? Eine Warnung? Oder doch nur eine morbide Laune? Dieser Fall war nicht gewöhnlich. Er war irgendwie anders. Und das nicht nur wegen der Enthauptung.

„Warum legt er den Kopf in den Schoß seines Opfers? Was will er damit sagen? Und warum richtet er die Finger so exakt aus? Kolland hatte nicht unrecht.“

Er sah Hauser wieder an.

„Kolland? Wieso? Was hat Kolland gesagt?“

„Er meinte, unser Freund hat einen Hang zum Dekorativen.“

Hauser lachte kurz auf.

„Na, so könnte man es auch nennen. Ich glaub´, der hat zu viele Leichen gesehen.“

Doch Deininger winkte ab.

„Nein nein, er hat nicht Unrecht. Warum macht sich jemand die Mühe, den Kopf in den Händen des Opfers so penibel auszurichten. Schließlich macht man das nicht jeden Tag.

Soll das ein Ritual sein? Oder soll man ihn für etwas Besonderes halten?“

„Ich sagte doch, der ist verrückt. Durchgedreht. Wahrscheinlich hat ihn seine Freundin verlassen und jetzt macht er jeden Mann dafür verantwortlich.“

„Ich bin sicher, dieser Mann ist nicht verrückt. Du hast doch gehört, was das Mädchen gesagt hat. So spricht kein Verrückter. Oder ein Durchgedrehter. Ein Psychopath vielleicht. Aber nicht jemand, der panikartig durchknallt.“

„Du willst doch nicht etwa sagen, dass dieser Mord geplant war?“

Doch Deininger schüttelte den Kopf.

„Nein, das glaube ich auch nicht. Und wenn, dann gibt´s leichtere Methoden, jemanden aus dem Weg zu räumen. – Wir werden sein kriminelles Umfeld mal auseinander nehmen. Möglicherweise kommt der Mörder aus der Szene.“

Hauser nickte.

„Da bin ich deiner Meinung. Wahrscheinlich hat er Schulden bei einem Zuhälter und der wollte ein Exempel statuieren.“

Deininger stand am Fenster und sah hinaus. Ja, vielleicht, dachte er. Vielleicht auch nicht. Was, wenn nicht? Deiningers Magen rumorte. Und das war kein gutes Zeichen. Sein Instinkt sagte ihm etwas, das der Verstand nicht umsetzen konnte.

*

Zwei Wochen waren seit dem Auffinden des geköpften Mannes vergangen. Die Zeitungen in ganz Deutschland hatten sich überschlagen. Thesen, Theorien und Spekulationen waren die Folge und für weitere fünf Tage war es das Thema Nummer eins auf allen Titelblättern. Fernsehsendungen über Samurais und dessen Schwerter versorgten die Bevölkerung mit einem sensationsgeladenen Geheimwissen. Dann legte sich die Sensationsgier wieder. Die Ermittler der Polizei taten ihre Arbeit und versuchten, ein Puzzle zusammen zu setzen. Aber darüber schrieben die Zeitungen nicht mehr.

Am Samstag der darauf folgenden Woche war der Vorfall schon nicht mehr diskutabel. Das Wochenende wurde so eingeläutet wie eh und je. Und Deininger und Hauser waren keinen Millimeter weiter gekommen. Kein Anhaltspunkt, keine Verdachtsmomente, niemand, der auch nur den kleinsten Grund gehabt haben könnte, Andreas Martin nach dem Leben zu trachten. Martin war die letzten zwei Jahre polizeilich nicht mehr aufgefallen. Und auch in seinem engsten Bekanntenkreis und sogar in der kriminellen Szene schüttelte jeder nur den Kopf. Nein, der Andy hat niemandem etwas getan, hatte bei niemandem Schulden und mit niemandem Streit. Nein, der Andy ist ein ganz lieber Kerl, der hat seine Strafen abgesessen und ist ganz anständig geworden. Das war bestimmt ein ganz Verrückter, der den Andy abgeschlachtet hat. Der arme Andy!! Jaja, traurig...hoffentlich findet die Polizei den wahnsinnigen Mörder.....

*

Bernd Mannsdorff hatte Freigang. Er durfte sich seit Kurzem auf ein freies Wochenende freuen. Aufgrund seiner guten Führung im Knast konnte sein Anwalt den wöchentlichen Freigang erwirken. Wie immer traf er sich mit seinen seltsamen Freunden in seinem Stammlokal. Einer Spelunke für Junkies, Alkoholiker und Klein- und Großkriminellen. Mannsdorff war einer von ihnen. Früh wurde er schon mit einer kriminellen Laufbahn gesegnet. Die Polizei kannte ihn gut. Meistens waren es Schlägereien und Überfälle, wegen derer er verurteilt worden war. Mit 35 Jahren hatte er mittlerweile schon elf Jahre im Gefängnis gesessen. Das letzte Mal wurde er wegen Vergewaltigung und Totschlag verurteilt. Weil er angeblich im Drogenrausch gewesen war, plädierten seine Anwälte auf nicht zurechnungsfähig zum Zeitpunkt des Verbrechens. Also bekam er nur acht Jahre aufgebrummt. Und er war sicher, dass er nur einen Bruchteil davon absitzen musste. Lachend saß er an der Bar und unterhielt sich mit den Kumpels. Heute konnte er sich besaufen wie er wollte, denn am morgigen Sonntag würde er erst am Abend wieder im Gefängnis erscheinen müssen. Und schlafen konnte er bei seiner Freundin. Vor allen Dingen darauf freute er sich sehr. Es machte ihm nichts aus, dass Daniela auf den Strich ging. Eher im Gegenteil. Sie war bildhübsch und verdiente so eine Stange Geld. Sie liebte ihn und versorgte ihn immer wieder mit Kohle – die er normalerweise nicht hatte. Und fürs Vögeln brauchte er ihr auch nichts zu bezahlen. Wenn schon, dachte er, soll sie mich bezahlen. Mannsdorff war ein Schwein. Skrupellos, kriminell, ohne einen Funken Respekt und Achtung vor anderen. Zeitlebens schlug er sich nur durch seine niedrige Hemmschwelle durchs Leben. Es war ihm egal, ob er alleine irgendwelche Menschen zusammenschlug oder mit seinen Kumpels. Nur einmal war er fast an den Falschen geraten. Der hatte sich gewehrt und hätte ihn fast besiegt – wäre da nicht sein Kumpel Stefan gewesen, der dem Mann eine Eisenstange über den Schädel gezogen hatte. Seitdem war dieser Mann ein Pflegefall. Unfähig, jemals wieder ein normales Leben führen zu können. Mannsdorff hatte damals nur verächtlich die Nase gerümpft. Sie hatten ihn deswegen nie geschnappt.

Er trank sein Glas leer, schnappte seine Jacke und nickte dem Barmann zu.

„Ciao, Mario, man sieht sich!“

Mario hob die Hand und nickte kurz. Dann wischte er mit einem Tuch den Tresen sauber.

Mannsdorff stand draußen und knöpfte sich die Jacke bis zum Kragen zu. Es war kälter geworden. Der Nebel hatte sich verzogen und ein wolkenloser Sternenhimmel glitzerte in die eiskalte Nacht. Er zog die Schultern hoch und lief über die Straße. Über der Brücke war eine Bushaltestelle. Der Bus würde ihn fast bis zur Haustüre von Daniela bringen. Und dann....

Mannsdorff grinste in sich hinein. Das Wochenende würde erfolgreich verlaufen, dachte er sich.

Als er sich der Brücke über dem Fluss näherte, bemerkte er eine Gestalt im Schatten von einem der Pfeiler stehen. Er sah nur eine Bewegung, mehr nicht. Wenn er mir seinen Schwanz zeigt, schmeiß ich ihn in den Fluss, dachte er. Doch die Gestalt rührte sich nicht. Mannsdorff kam immer näher, erkannte inzwischen die Silhouette, die sich vage gegen den Stahlpfeiler abhob. Er spürte den gesteigerten Herzschlag. Sein Puls fing an zu rasen und er formte die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten. Ein Auto kam über die Brücke und die Scheinwerfer blendeten ihn. Genau in dem Moment, als er den ersten Pfeiler passierte. Einen winzigen Augenblick schloss er die Augen, öffnete sie wieder, sah wiederum in den Schatten. Doch die Gestalt war verschwunden.

Der schwarzgekleidete Mann beobachtete Mannsdorff, der sich über die Brücke auf ihn zu bewegte. Seine zusammengekniffenen Augen registrierten jede Bewegung, jeden Schritt und jeden Blick. Seine Hand tastete sich unter den langen Mantel und blieb auf dem Leder umwickelten Griff liegen. Er spürte die Macht, die allein von der Berührung des Schwertes ausging. Ohne Mannsdorff aus den Augen zu lassen, entstanden blitzartige Bilder vor seinem geistigen Auge. Die Erinnerung durchraste ihn wie ein Wirbelsturm. Er sah die Sonne, die markanten Berggipfel, das kleine Hochtal, den See, er spürte die Stille, die ihn umgab, nur unterbrochen durch den leise pfeifenden Wind – der zu einem Gewitter anschwoll. Er sah tote Menschen, blutüberströmt mit weit aufgerissenen entsetzten Augen. Und er spürte das Gewicht des Schwertes, das zur Verlängerung seines Armes wurde. Vertrauen und Sicherheit bahnten sich ihren Weg durch die Meridiane, durch den Geist, durch die Sinne. Die Entschlossenheit verdrängte jegliche Zweifel. Ein Weg gab eine absolute Klarheit frei, die unzerstörbar war. Die Gedanken zerstreuten sich in alle Winde und ließen nur noch einen einzigen zu. Der so stark war, dass keine Macht der Welt ihn zur Seite schieben konnte. Sein Herzschlag verlangsamte sich und er vernahm eine universelle Ruhe in seinem Innersten. Eine Ruhe, die gleichbedeutend mit dem Tod war.

Mannsdorff blieb einen Moment stehen und sah sich um. Es war niemand zu sehen. Er konnte trotz der Stille nichts hören. Kein Geräusch, kein Atmen, nichts. Noch einmal sah er sich um und meinte, sich vielleicht getäuscht zu haben. Da war doch niemand gestanden. Er drehte sich um und sah zurück. Niemand war ihm gefolgt. Die Straße war menschenleer. Er wandte sich wieder um und wollte weiterlaufen. Und blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Keine zwei Meter entfernt stand ein Mann vor ihm. Er hatte ihn nicht kommen hören. Kein Geräusch, kein Atmen, kein Rascheln. Er war erschienen wie ein Geist. Sein Gesicht war von einer schwarzen Maske bedeckt, so dass nur die Augen sichtbar waren. Mannsdorff sah in zwei dunkle Kohlen. Niemals hatte er so dunkle Augen gesehen. Sie waren fast schwarz. Und sie versprühten keinerlei Gefühl. Wie ein Toter! Seine Gedanken waren dieselben wie die der jungen Frau.

„Mann, du hast mich erschreckt! Das solltest du nicht machen, das könnte böse ausgehen. – Und wenn das jetzt ein Überfall werden sollte, dann hast du schlechte Karten, Kasperle!“

„Kein Überfall – Mannsdorff!“

Einen Augenblick war Mannsdorff irritiert. Unsicher sah er die Gestalt vor ihm an.

„Woher...woher kennst du meinen Namen? – Kennen wir uns?“

„Wir kennen uns nicht. Und wir werden uns auch nicht näher kennen lernen.“

Mannsdorff verzog das Gesicht und kniff die Augen zusammen. Noch ahnte er nicht, in welcher Gefahr er sich befand.

„Was willst du?“

Der Mann sah ihn nur an und sagte nichts.

„Was willst du?“ fragte Mannsdorff noch einmal.

„Dich töten.“

Zwei Worte, die tonloser nicht sein könnten. Für einen winzigen Augenblick war Mannsdorff sprachlos.

„Wie bitte? Hast du was eingeworfen oder bist du von Natur aus nicht ganz knusprig?“

Mannsdorff hatte ein verächtliches Lachen aufgesetzt und sah sein Gegenüber amüsiert an.

„Du darfst noch ein Gebet sprechen“, sagte der Mann wieder, trat einen Schritt zur Seite, hob die Hand mit der Handfläche nach oben, so als ob er sagen wollte: bitte, nach Ihnen!

Mannsdorff reckte seine Schultern. Langsam nervte ihn der Typ.

„Hör zu, Arschloch, ich werde dir jetzt erst mal was in die Schnauze geben. Wenn du dann noch reden kannst, dann darfst du deinem Frisör erzählen, was so abgeht in der Nacht.“

Er kicherte blöde und zog die Fäuste aus den Taschen. Der erste Schritt war noch nicht zu Ende getan, da stach ein brüllender Schmerz in sein Kniegelenk. Und bevor er noch weiter nachdenken konnte, fühlte er sich durch eine unsichtbare Kraft in die Luft erhoben, aus der er mit einem Krachen auf dem Rücken wieder aufschlug. Der Mann hatte ihm buchstäblich die Füße unter dem Körper weggezogen. Erst als Mannsdorff am Boden lag, konnte er registrieren, dass ihm ein Tritt das Knie lahm gelegt und dass ihn ein blitzschneller Fußfeger auf das Kopfsteinpflaster geworfen hatte.

Stöhnend richtete er sich auf die Ellbogen auf. Seine Überheblichkeit war gänzlich verschwunden und er verspürte einen leisen Hauch von subtiler Angst. Langsam hob er den Kopf und sah den Mann über ihm an. Und als er in die schwarzen Augen des Mannes sah, ahnte er etwas, das ihn in seinen wildesten Albträumen nicht verfolgt hatte. Er verfolgte die blitzschnelle Bewegung in den langen, schwarzen Mantel. Und mit aufgerissenen Augen erkannte er das gebogene Schwert mit dem langen Handgriff. Die makellose Klinge blitzte im Mondlicht, als der Arm das Schwert so schnell um das Handgelenk wirbelte, dass es mit dem Auge kaum zu verfolgen war. Das pfeifende Geräusch des rotierenden Schwertes setzte der Szenerie den Gesang einer imaginären Unterwelt auf. Eine endlose Sekunde lang überkam ihn ein Gefühl des Deja Vú und er dachte an den `Highlander´.

„Du kannst wählen. Auf die Knie oder gleich im Liegen.“

Mannsdorff fühlte seine Oberlippe zittern und den Schweiß in Strömen ausbrechen. Ein Tropfen rann ihm über die Stirn und sammelte sich im Augenwinkel. Das ausgeschiedene Salz fing an, zu brennen.

„Wer...wer bist du?..was...was willst du denn von mir?..Ich weiß nicht, warum...was...wie!“

„Ich soll dir Grüße ausrichten.“

Mannsdorff konnte den Blick nicht von der blitzenden Klinge nehmen.

„Ich...versteh´ nicht...Grüße?...von wem???...“

„Auf die Knie!“

Zitternd richtete sich Mannsdorff auf die Knie auf. Den Schmerz der geprellten Patellasehne spürte er nicht. Die gnadenlose Angst hatte mittlerweile von ihm Besitz ergriffen. Der heiße Schweiß floss ihm in Strömen den Nacken hinunter. Aber auch den nahm er nur am Rande wahr.

„Grüße von den Toten...“

Die Stimme klang wie aus einem Eiskeller. Kaum verständlich, nur ein Flüstern, fast ein Hauchen mit dem dunklen Ton des Todes. Und dieser Todeshauch kam aus dem Mund des Mannes, verband sich mit dem Nebel und erschien wie das Echo, das sich danach bildete.

Mannsdorff verstand immer noch nicht. Sein Geist schaltete nicht so schnell und die Angst blockierte das geringe Denken.

„Wie?.....“

Dann schoss die Erinnerung wie eine Flutwelle in sein Bewusstsein. Sie riss alles mit, was in seinem Gedächtnis haften geblieben war, spülte es über die Grenzbereiche des Verdrängten und kreierte das tödliche Bildnis eines längst vergessenen Ereignisses. Er riss die Augen auf und wollte schreien, aber es war zu spät. Seine Augen nahmen nur vage das auf ihn zurasende Metall wahr. Irgendein Teil des Gehirns verarbeitete die Visualisation, ein anderer Teil führte die Konklusion – aber selbst die nicht messbare Verarbeitungsgeschwindigkeit des menschlichen Gehirns reichte nicht aus, um aus dem Unterbewusstsein die Information an das Bewusstsein weiterzugeben. Bernd Mannsdorff starb ohne das letztendliche Verständnis. Die Klinge des Schwertes trennte wiederum mit einer unglaublichen Präzision und gnadenloser Gewalt den Kopf vom Rumpf. Der Körper fiel augenblicklich in sich zusammen und blutete aus.

Der schwarz gekleidete Mann stand nur da und starrte in den Himmel mit den blinkenden Sternen. Unverständliche Worte ertönten leise aus seinem Mund. Es war, als bete er. Monotone, kehlige Laute, die tief aus seinem Inneren zu kommen schienen. Dunkel und fremdartig. Das fahle Mondlicht beleuchtete sein verhülltes Gesicht und reflektierte sich in der blutbesudelten Klinge des Schwertes.

Er hatte das Schwert gesenkt, das nach unten zeigte. Dampf stieg aus der riesigen Wunde des Körpers auf und auch die Schnittstelle des Kopfes dampfte. Endlose Sekunden stand der Mann da und starrte in die imaginäre Leere vor sich. Er wischte die Klinge an der Jacke seines Opfers ab und ließ das Schwert wieder verschwinden. Dann packte er den abgetrennten Kopf und legte ihn in den Schoß des kopflosen Körpers, den er an das Brückengeländer gelehnt hatte. Und wie auch bei seinem ersten Opfer wurden die Finger exakt ausgerichtet. Mit den gleichen Abständen dazwischen und mit einer makabren Lust zum Dekorativen. So wie es Kolland gesagt hatte.

Scheinwerfer erleuchteten die Brückenstraße. Doch bevor sie den Mann erreichten, war der schon verschwunden. Der Lichtkegel fiel auf den enthaupteten Menschen. Reifen quietschten, die Fahrertüre wurde zögernd geöffnet.

„Oh, mein Gott......schnell, ruf die Polizei....oh, Gott, mein Gott!!!“

Und nur das würgende Erbrechen durchbrach die nächtliche Stille.

*