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An manchen Tagen geht alles schief. An einem Montag wird Jakob Kolb gleich kurz nach Arbeitsbeginn in das Büro des Chefs gerufen, in dem ihm in knappen Worten die Kündigung überreicht wird. Sofort freigestellt, kommt er schon vormittags nach Hause, wo ihm seine Frau offenbart, dass sie ihn mit den Kindern verlassen wird und zu einem anderen Mann zieht. Bevor er sich auch nur ansatzweise der Auslöschung seines bisherigen gradlinigen Lebens bewusst wird, trifft er sich am selben Abend mit seinen ebenfalls gekündigten Kollegen in der Kneipe, wo er während des unumgänglichen Frustsaufens den Astrophysiker Albert kennenlernt, der ihn zu einem nie dagewesenen Experiment einlädt. Er soll Hauptakteur bei einem Zeitreisenexperiment und damit der erste Zeitreisende der Weltgeschichte sein. Aus seiner Niedergeschlagenheit heraus nimmt er bereitwillig an, ohne auch nur im Ansatz zu ahnen, auf was er sich einlassen wird. Das Team schickt den unbedarften Jakob auf eine Reise ohne bekanntes Ziel und ohne dass sichergestellt ist, überhaupt zurückkehren zu können. Jakob landet im Tibet des Jahres 1959. Es ist der 8. März. Zwei Tage vor dem größten Aufstand der Tibeter gegen die chinesischen Besatzer. Er findet sich inmitten eines politischen Chaos wieder und wird mit Geschehnissen konfrontiert, die ihn nicht nur auf den Grat zwischen Leben und Tod katapultieren, sondern ihn auch als Führer und Beschützer der tibetischen Flüchtlinge erhebt. Mit Frauen, Kindern und Männern begibt er sich auf die gefährliche Reise über den Himalaya - und nicht nur das gewaltige Gebirge birgt tödliche Gefahren, sondern auch das chinesische Militär, das alles unternimmt, um die Menschen an der Flucht in die Freiheit zu hindern...
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Seitenzahl: 485
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`Es ist ein sonniger herrlicher Morgen und wir haben bereits 19° zu verzeichnen. Es ist 7:00 Uhr und Sie hören die Nachrichten auf Rockantenne Bayern.´
Die Stimme der Moderatorin klang fröhlich und forderte damit die Hörer auf, genauso fröhlich in den Tag zu gehen. Weil dieser Tag so grandios ist und sein wird und weil im Radio alle fröhlich und gut gelaunt sind. Und wenn schon das Radio Fröhlichkeit verbreitet, dann haben sich auch alle Menschen – oder zumindest die Hörer – danach zu richten. Ungeachtet dessen, dass es wohl mehr als genug Menschen gab, die weder fröhlich noch gut gelaunt aus dem Bett stiegen oder laut singend durch die morgendliche Wohnung tanzten. Vor allem nicht an einem Montag...
Missmutig schlürfte Jakob seinen Tee und dachte an die Moderatorin, die keine Ahnung hatte, ob es ein herrlicher Morgen werden würde. Sie kannte ihn doch gar nicht. Und er sie auch nicht. Gutgelaunte Menschen am frühen Morgen waren für Jakob ein Gräuel. Herrlicher Morgen? Von wegen. Die Chancen standen eher schlecht. Zumindest für ihn. Er hatte keinen Hunger, verzichtete auf Toast und Marmelade. Kaffee würde er im Büro trinken. Er starrte nur auf eine Tasse Tee. Ohne Zucker. Er suchte den Honig, aber er fand keinen. Eigentlich hatte er keinen Morgen Hunger.
Er wachte schon auf mit dem Gedanken, dass er wieder nichts zu essen brauchte. Schade eigentlich, dachte er oft. Frühstücken am frühen Morgen sollte schon so etwas wie Aufbruchstimmung in sich haben. Wären die morgendlichen Umstände andere, dann könnte man sich schon mit dem Gedanken anfreunden... leider war dem nie so. Denn sofort nach dem Aufwachen war er sich bewusst, dass der Morgen nicht leise beginnen würde - eine tief in ihm einbetonierte Sehnsucht nach morgendlicher Stille, die selten befriedigt wurde. Der Gedanke daran katapultierte etwaige Hungergefühle ins grenzenlose Universum und schaffte somit Raum für den Ärger, der die Magenwände reizte.
Der kreischende Lärm am Morgen machte ihn rasend. Es war nicht einmal der Lärm von draußen, von der Straße, nein, es war der Geräuschpegel von hier drinnen in seinem Haus. Morgendlich und fast täglich – außer Sonntag. Er hörte Getrampel und lautes Geschimpfe aus dem Flur tönen. Claudia und Yvonne stritten sich wieder einmal, wer zuerst ins Bad gehen durfte. Ein täglicher Zickenkrieg und ein undurchschaubares Phänomen, dass die Mädchen es auch nach Jahren nicht schafften, zumindest einen ungefähren Plan des morgendlichen Badaufenthaltes zu erstellen. Jeder dachte wohl, dass es ungerecht wäre, wenn die andere zehn Minuten länger im Bad bleiben konnte. Denn dafür lohnte sich anscheinend immer ein Streit.
Meistens entschied ihn die vier Jahre ältere Claudia für sich. Mit ihren achtzehn Jahren hatte sie längst ihren eigenen Kopf, pubertierte nach wie vor auf allerhöchster Ebene und fand grundsätzlich Eltern, Geschwister oder einfach Menschen, die die fünfundzwanzig bereits überschritten hatten, grässlich, uralt, spießig und schrecklich uncool. Mit Erfolg ignorierte sie einen möglichen aufkommenden Respekt vor anderen, ließ vor allem ihren Vater spüren, dass er in ihren Augen ein vollständiger Loser war und sprach, wenn überhaupt, nur mit ihrer Mutter - obwohl die auch schon länger die Vierzig überschritten hatte. Aber das war natürlich wieder etwas ganz anderes. Geschlechterloyalität. Diskussionsunwürdig.
Yvonne stand ihrer älteren Schwester im eigentlichen Sinne in nichts nach. Meistens war sie schlecht gelaunt, hatte die Mundwinkel ständig nach unten hängen und ließ keine noch so kleine Gelegenheit aus, um ihrer Umwelt mitzuteilen, dass ihr Leben völlig inakzeptabel war. Sie machte die ganze Welt dafür verantwortlich, dass ihr Zuhause nur aus Spießigkeit und Kleinbürgertum bestand, dass sie nicht ausgehen konnte, wann und wie oft sie es wollte und dass sie mit ihren gerade vierzehn Jahren eben nicht bis in die Morgenstunden in den Discos und Clubs rumhängen durfte. Sie fühlte sich eingesperrt und bevormundet, unfrei und versklavt und machte selbstverständlich ihre kleingeistigen Eltern dafür verantwortlich, ließ oft genug durchblicken, dass sie bei nächster Gelegenheit ausziehen würde. Dafür erntete sie jedes Mal ein hämisches Lachen und wurde darauf aufmerksam gemacht, einmal in ihren Ausweis zu sehen. Da stand nämlich das Geburtsdatum drin. Und das bedeutete, dass sie nicht nur schulpflichtig war, sondern auch außerstande, sich selbst zu versorgen. Danach war sie noch stinkiger. Zog beleidigt ab und ließ sich bis zum Abend nicht mehr sehen. Was wiederum ihrer Umwelt zugute kam. Sie befand sich in der Hochphase der Pubertät und die einzigen, die sich ihrer gleichwertig befinden durften, waren die Freundinnen ihrer Klasse. Vielleicht noch ein paar Jungs, die ihr Desinteresse an der Welt und damit ihre besondere Coolness auf den Gipfel der Einzigartigkeit stellten. Es war mitunter schwer zu durchschauen, wer den genervtesten und gelangweiltesten Blick drauf hatte. Der Wettbewerb war stetig und erfreute sich größten Beifalls, wenn Gestik, Mimik und Tonfall perfekt zusammentrafen. Garniert mit wunderbar abfälligen Bemerkungen und ausgesuchter Wortwahl über die weit unter ihrem Niveau anzusiedelnden Mitmenschen...also definitiv dem Rest der Welt.
Jakob belastete der Unfrieden zu Hause. Er fühlte sich durch die Unverschämtheiten seiner Töchter angegriffen und verletzt. Mit ernsthaftem gutem Zureden war er von vorn herein gescheitert und stellte damit nur sein mangelndes Durchsetzungsvermögen zur Schau. Weil er nicht mehr weiter wusste, fing er zu Schreien an. Wurde laut und viel zu oft einseitig und autoritär. Es war ein letzter Versuch, sich damit durchsetzen zu können. Leichter würde er damit eine Wand zum Einsturz bringen. Der weiblichen Nachzucht brachte er damit lediglich bei, ihn in ihren Augen noch weiter herunter zu setzen, als er eh schon war. Irgendwann hatte er es aufgegeben, nickte oft nur noch oder zuckte mit den Schultern. Das ewige verbale Kreis laufen ermüdete ihn und seine Widerstandskraft. Er hatte einfach die Lust verloren, sich ernsthaft mit Problemen auseinanderzusetzen, die keine waren und wenn doch, sie sich mit ihm oder ohne ihn nicht lösen lassen würden.
Ohne es zu merken, provozierte er durch seine Passivität erst recht die sich unverstandenen Mädchen, die bei sich jeder bietenden Gelegenheit die Augen dahin rollten, wo eigentlich die Gehirnwindungen begannen. Jakob versuchte auch das zu ignorieren und sagte sich, dass jedes Wort doch nur eine weitere Plattform zur infantilen Rebellion werden würde. Er hoffte auf die Zeit, die auch die eruptiven Hormonaufwallungen in eine gewisse Ordnung bringen konnte und sich irgendwann das aggressive Verhalten seiner Töchter verflüchtigte.
Doch damit nicht genug...schließlich hatte er noch seine Ehefrau. Seit einiger Zeit fühlte er, dass sich seine Frau Helga von ihm distanzierte. Ohne es auch nur mit Worten beschreiben zu können, sagte ihm sein Gefühl, dass sich zwischen ihnen langsam ein immer größer werdender Graben auftat. Wann immer sie es einrichten konnte, hatte sie etwas vor, musste einkaufen, eine Freundin besuchen. Ins Fitnessstudio gehen. Dann wurde sie wieder von ihrer Mutter gerufen, veranstaltete Kaffeeklatsch mit Freundinnen und nutzte jede Gelegenheit, in denen Jakob zu Hause war, um außer Haus gehen zu können. Was sie tagsüber tat, wenn er arbeiten musste, sagte sie nie. Und er hatte es aufgegeben, nachzufragen. Dafür erntete er doch nur immer blöde Antworten, die ihm vorwarfen, grundlos eifersüchtig zu sein und sich aufzuführen wie der letzte Kontrollfreak. Aus Angst, doch zu einem Freak geworden zu sein, unterließ er seine Fragerei und versuchte, seine abschweifenden Gedanken zu ignorieren. Was ihm gründlich misslang, denn bohrende Fragen sind selten zu ignorieren. Selbst wenn man es einmal schaffte, sie als bloße Provokation seines eigenen Ego zu entlarven und sie darum in den Mülleimer werfen konnte – nächsten Tages tauchten sie fröhlich wieder auf, als ob nichts gewesen wäre. Sie ließen sich nicht weg leugnen, zumindest nicht so lange, bis sie gestellt wurden.
Jakob hatte zudem andere Sorgen. Im Geschäft kam er nicht voran. Nach wie vor wurde er bei möglichen Beförderungen ignoriert. Und er konnte nicht über seinen Schatten springen, um seinen Vorgesetzten zu fragen, warum er nicht für eine höher stufige Stellung in Betracht kam. Stolz und auch ein bisschen Angst waren die Blockierer in ihm. Stolz, weil er nicht einsah, sich anzubiedern und Angst, weil man ihm vielleicht mitteilen würde, dass er für eine leitende Tätigkeit nicht die Qualifikation mitbrachte, die man von ihm verlangen würde. Kurz – er hatte Angst, dass man ihm ins Gesicht sagen würde, er wäre einfach zu blöd dafür. Fünfzehn Jahre hatte er bereits in dem Großhandelsbetrieb verbracht. Die ersten zehn Jahre war es ein guter Job gewesen. Sicherer Arbeitsplatz, nicht langweilig, angenehme Kollegen. Dann wurde umstrukturiert, weil Kosten eingespart werden mussten. Zudem etablierte sich eine neue Geschäftsleitung mit einem externen Geschäftsführer, der nichts anderes zu tun hatte, als von Anfang an die Kostenschraube anzuziehen. Menschen wurden entlassen und Arbeitsplätze wurden einfach wegrationalisiert. Die anfallenden Mehrarbeiten wurden kommentarlos auf die verbliebenen Mitarbeiter aufgeteilt. Druckaufbau, der nicht von ungefähr kommt.
Jakob war für den Einkauf von Werkzeug, Schrauben und Beschlägen zuständig, die dann den Weg zu den Handwerksbetrieben oder den Baumärkten fanden. Früher waren sie zu acht im Büro gewesen. Jetzt war die Abteilung auf drei Leute zusammengeschrumpft worden, obwohl die Aufträge und dementsprechend auch der Arbeitsaufwand zugenommen hatten. Was für einen Zwischenhändler überraschend war. Eigentlich. Sah man genauer hin, resultierte das starke Arbeitsaufkommen aus den Rationalisierungsmaßnahmen, die die nach wie vor bestehenden Arbeitsabläufe einfach auf die verbliebenen Mitarbeiter aufteilten. Die Unzufriedenheit war vorprogrammiert. Jakob Kolb fühlte sich seit langem überfordert. Man ließ ihm keine Pause mehr und oft hatte er den Eindruck, dass ihm die viele Arbeit bewusst hin geschoben wurde, um ihn aus dem Job zu drängen. Aber empfindlich, wie er mit den Jahren geworden war, konnte er sich das auch einbilden. Was er sich nicht einbildete, war die zusehends ansteigende Kontrolle und Überprüfung der Kollegen gegenseitig und die seltsame Art und Weise, Fehler des Kollegen oder Kollegin sofort dem Abteilungsleiter zu melden. Natürlich anonym nach dem Motto „Aber von mir haben Sie das nicht“. Vielleicht war es gar nicht dieses Denunzieren von Menschen, sondern einfach die Überzeugung, dass dann die Aufmerksamkeit gegenüber einem selbst nicht so groß werden würde. Der Gedankengang war paradox und krank, hatte dennoch die entscheidende Prise Wahrheit in sich.
Jakob Kolb war fünfundvierzig Jahre alt...und wähnte sich bereits in einer Sackgasse, die ihn nicht mal mehr umblicken ließ. Helga und er waren der gleiche Jahrgang. Früh hatten sie sich kennen gelernt, hatten sich verliebt und blieben zusammen. Schon ein Jahr nach der Hochzeit kam Claudia auf die Welt – und weil die Lebensplanung das verlangte, wurde beschlossen, ein zweites Kind in die Welt zu setzen. Folglich musste auch ein adäquates Heim geschaffen werden und Jakob hatte keine Probleme, aufgrund seines sicheren Jobs die Finanzierung eines Eigenheims anzugehen. Alles, was ein Leben in Sicherheit forderte, wurde umgesetzt. Und eigentlich hätte er zufrieden sein müssen. Doch dann schlug eben der Alltag unbarmherzig zu. Ohne sich dessen bewusst zu sein, fing das stetige gleiche Leben an langweilig zu werden. Ein schleichender Prozess begann, ohne sich bemerkbar zu machen. Wie so oft, verbanden sich Selbstverständlichkeit und Routine zu einer Macht, die sämtliche Zweifel und manch mögliches Hinterfragen in den Schatten stellte. Man begann, nicht mehr miteinander zu leben, sondern nebeneinander. Der Anfang einer Spirale, die man immer erst viel zu spät erkennen würde. Nachdem die Mädchen groß genug waren, ging Helga wieder arbeiten. Zunächst nur einen Tag pro Woche, dann zwei. Mittlerweile waren drei daraus geworden. Einer davon allerdings nur vormittags.
Irgendwann kam die Zeit, in denen sie grübelten, was sie miteinander sprechen sollten. Jakob kam es so vor, als ob alles schon zigmal gesagt worden war. Ihm fiel kein Thema mehr an, das es wert wäre, darüber zu diskutieren oder mit irgendeiner Meinung übereinander herzufallen. Das Desinteresse an Unterhaltung mit dem eigenen Ehepartner eroberte sich nach und nach Raum und ließ es gar nicht zu, dass sich etwas Positives in dieses destruktive Reich einschleichen konnte. Jakob und Helga waren wie das berühmte alte Ehepaar, das sich unausgesprochen auf die Nerven ging und es trotzdem nicht realisierte, dass es wesentlich sein musste, eine unbedingte Änderung herbei zu führen. Es fiel ihnen nicht mehr viel ein – und sie begannen wirklich, nebeneinander her zu leben. Nach und nach überkamen Jakob Kolb der Frust und eine gewisse Ausweglosigkeit. Es wurde die tausendmal gestellte Frage geboren, ob dies wohl alles im Leben gewesen sein sollte. Er versuchte dahinter zu kommen, ob er seine Frau noch genauso liebte wie damals, als sie so jung gewesen waren - als sie im Urlaub mehr Zeit im Bett als anderswo verbracht hatten. Oder ob er überhaupt noch die Liebe empfand, die notwendig für ein Zusammensein war und das Fundament einer Partnerschaft darstellen sollte. Er versuchte, seine Gefühle zu erforschen – und schaffte es nie, zu einem akzeptablen Ergebnis zu kommen. Jakob fühlte sich einfach müde und ausgelaugt. Erschreckend stellte er hin und wieder fest, dass das auch Anzeichen von Depressionen sein könnten. Oder Burnout? Er war fünfundvierzig! Zu früh für so was!! Oder doch nicht? Vielleicht war es genau das richtige Alter für den emotionalen und sinnigen Verfall. War der Zeitpunkt nicht geradezu prädestiniert für den Lebensburnout?? Zu lange zusammen, Kinder fast erwachsen, kein Interesse mehr am Partner. Das sind doch die niederschmetternden Fakten, die den Boden bereiten für die Frage nach dem Sinn. Vielleicht doch Depression?? Geht es nicht so los? Dass man die Frage nach dem Sinn stellte? Keine Antwort darauf weiß, keine Lösung für das weitere Leben sieht, erschrocken eine nicht endende Monotonie feststellt und nicht weiß, wie es weiter gehen soll. Was kann man tun? Wie wollen wir leben? Philosophie in seiner reinsten Frageform. Sinnlosigkeit – falsche Wege - gar keine Wege – unfähig zur Änderung - Depression.
Doch nach verschiedenen Online-Tests, die das Internet bereitstellte, war er sicher, dass er nur in einer Lethargie verharrte, aus der es doch bestimmt Auswege gab. Nur wie dieser Ausweg aussehen sollte, das wurde nirgends erwähnt. Dafür umso intensiver, dass er für einen sehr günstigen Preis eine sehr persönliche umfangreiche Lebensberatungsexpertise bekommen würde. Oder ein speziell für ihn ausgerichtetes Horoskop. Und wie wäre es mit einer Persönlichkeitsanalyse, die es ihm natürlich ermöglichen würde, in sich selbst zu sehen, um dann zu erkennen, dass alle Probleme, die er sich eingeredet hatte, nur der Spiegel war, der die große Illusion als Wahrheit verkaufte?
Das Internet war eben ein großes Kaufhaus, in dem man alles haben konnte, was man bereit war, monetär auszugeben. Jakob wusste das – und fuhr trotzdem fort, Seiten für Seiten aufzuschlagen, die angeblich die Lösung für sein persönliches Dilemma bereit hielten. Und je öfter er sich vor den Bildschirm setzte, desto größer wurden seine Frustration und seine desillusionierte Lebensauffassung. Auch das wusste er. Aber es war eben sehr viel bequemer, durch einen Klick Lösungen ins Leben zu rufen, als sich um seiner selbst zu bemühen. Denn das wäre wohl der erste Schritt, der sich dann irgendwann als allerletzter Schritt herausstellen würde. Jakob Kolb hatte sich über die Jahre selbst eingelullt in die größte aller Illusionen, die so aussah, dass die soziale Etablierung und deren scheinbare Sicherheit es nicht mehr für nötig befanden, sich außerhalb dieses Bereiches weiter zu entwickeln.
Er befand sich in einem Hamsterrad, aus dem er nicht herauskam, weil er immer weiter lief. Gar nicht auf den Gedanken kam, einfach auszusteigen und das Rad alleine weiter laufen zu lassen. Was einst freiwillig gewesen war – nämlich ins Rad zu steigen, um eine Aufgabe zu erfüllen und das vorgeplante Leben so sicher wie nur möglich im Fluss zu halten – so zwangsläufig hatte sich die Aufgabe zur Pflicht, wenn nicht gar Lebenspflicht degradiert und somit schon aus sich heraus den Riegel der Kreativität umgelegt, verschlossen und vergessen. Oft dachte er daran, wie es wäre, ungebunden zu sein, eben keine Familie zu haben, um die man sich Sorgen machte und seine ganze Kraft dafür hernahm, um alle versorgt zu sehen. Dann erschrak er förmlich über sich selbst. Schimpfte mit sich und seinen kranken Abschweifungen und redete sich ein, dass es ein Privileg sein musste, Teil einer intakten Familie zu sein und durch diese Verantwortung auch den Stolz dafür in sich tragen dürfte. Doch insgeheim wusste er, dass der Begriff „Familie“ so nicht mehr zutraf. Sie waren doch eher nur noch eine Nutzgemeinschaft, die aus lauter Individuen bestand und nur aus den gemeinsamen Vorteilen zusammen wohnten. Und er ahnte auch, dass seine Frau Helga schon längst nicht mehr mit ihrem Leben zufrieden war. Jakob konnte das nicht vor sich selbst verleugnen. Sogar als Mann hatte er Antennen, die ihm das signalisierten. Kleine zwar, aber sie waren da. Und piepten schüchtern vor sich hin. Es war offensichtlich - sie hatten sich schlichtweg auseinander gelebt und blieben doch nur zusammen, weil...wegen der Kinder natürlich. Die beliebteste Ausrede. Und die beste und einfachste. Der fade Geist griff immer darauf zurück. Nur blitzartige, fremde Gedanken machten schüchtern darauf aufmerksam, dass seine Ehefrau vielleicht doch einmal Konsequenzen daraus ziehen würde. Er ahnte nicht, wie nahe er der Wahrheit bereits gekommen war.
Es wurde Freitag. 14:00 Uhr. Büroschluss. Er hatte seinen Schreibtisch aufgeräumt, kramte seine Sachen zusammen und ging zur Garderobe, um seine Jacke zu holen. Sein jüngerer Kollege Thomas saß noch an seinem Schreibtisch und stierte Löcher in die Luft.
„Was ist? Willst du noch da bleiben? Oder träumst du?“
Jakob sah ihn schräg grinsend an, während er die Jacke vom Ständer nahm. Thomas atmete tief ein und aus und erhob sich von seinem Sessel.
„Hast du´s auch schon mitgekriegt?“
„Mitgekriegt? Was?“
„Da geht ein Gerücht um.“
„Was geht um?“
„Na, ein Gerücht. Keine Ahnung, wo´s hergekommen ist.“
„Und was ist jetzt schon wieder?“
Jakob nervte die Gerüchteküche. Ständig lag irgendeine besondere Bedrohung in der Luft und ständig stand jeder irgendwie vor dem Weltuntergang.
„Umstrukturierung des gesamten Einkaufs.“
Jakob verzog angewidert das Gesicht.
„Aha. Sind diesmal wir dran?“
„Ich glaub, da ist was dran...Marianne hat auch so was erwähnt.“
„Marianne?“
Jakob hielt inne. Marianne war die Chefsekretärin und bekam als Erste diese Dinge mit.
„Hast du mit ihr gesprochen?“ fragte Jakob.
„Hab sie vorgestern Abend zufällig in der Kneipe getroffen und wir hatten ein bisschen abgelästert. Und da hat sie gesagt, dass unsere Probleme bald keine mehr wären.“
„Na und? Weiter...“
Er legte die Jacke auf die Armlehne des Stuhles.
„Hab ich auch gefragt. - Wir sollen als erstes aufgelöst werden.“
Jakob war für einen Moment sprachlos. Ungläubig starrte er Thomas an.
„Bist du sicher?“
Thomas´ Mimik war ernst und sorgenvoll. Und er sah nicht aus, als ob er einen Scherz machen wollte.
„Eigentlich schon. Marianne spricht normal nicht über solche Sachen, aber sie hatte schon einen kleinen Knaller und war recht redselig. Und dann wollte ich natürlich alles wissen.“
„Red schon...“
Thomas fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
„Die Geschäftsleitung hat wohl schon länger überlegt, Sparten auszulagern oder extern zu vergeben. Dieser Arsch von Laskowski hat bestimmt alles angetrieben. Und jetzt ist man sich wohl einig geworden.“
Jakob war völlig überfahren. Man konnte doch den Einkauf von wichtigen Betriebsmitteln nicht einfach fremd vergeben.
„Also...das ist schon weit hergeholt, findest du nicht? Die können uns doch nicht so einfach rausschmeißen...“
„Warum denn nicht? Ist doch alles kein Problem. Outsourcing nennt man das. Das heißt betriebsbedingte Kündigung. – Scheiße, Mann. Wenn das wirklich so ist, bin ich am Arsch. Hab mir grad eine Wohnung gekauft. Arbeitslos zu werden kann ich mir absolut nicht leisten.“
„Meinst du ich?? Mein Haus ist noch längst nicht bezahlt. Nicht mal annähernd. Und ich bin zehn Jahre älter als du.“
Thomas stand auf und nickte mit dem Kopf.
„Ich würde sagen, schau dich schleunigst mal um, wie es mit Jobs so aussieht. – Ich mach mich erst mal schlau, wie teuer ich denen das machen kann. – Ich muss gehen. Schönes Wochenende mal. Ciao, Jakob.“
„Bis dann, Thomas. – Lass mal, ich sperr schon ab.“
Thomas nickte, hob noch die Hand zum Gruß und verschwand im Treppenaufgang.
Jakob stand noch eine ganze Weile da und stierte auf den Boden. Seine Gedanken jagten sich. Hatte er nicht schon genug mit sich selbst zu kämpfen? Nein, all das reichte ja noch nicht. Jetzt auch noch das! Wenn das alles der Wahrheit entsprach, dann würde sich ein Rattenschwanz bilden, dessen Ende noch gar nicht absehbar war. Kein Job - kein Geld. Kein Geld - keine Möglichkeit, die Tilgungsraten für das Haus zu entrichten. Aus den Schulden würden noch mehr Schulden werden. Der Lebensstandard müsste drastisch eingeschränkt werden. Er konnte sich die Gesichter seiner Familie vorstellen. Vor seinem geistigen Auge erschienen hämische Fratzen und lautstarke Schuldzuweisungen. Gepaart mit abfälligen Bemerkungen und den subtilen Äußerungen, was er denn für ein unglaublicher Versager und Weichei sei. Nichts gemein hätte mit einem Mann und nur ein Bubi und Softi sei... und wie er sich das denn vorstellen würde, wie das weiter ginge? Schließlich brauchte man Geld für seine persönlichen Freiheiten und konnte nicht als Assi vor seinen Freunden dastehen. Jakob sah wieder mal die Augen rollen.
Er wandte sich zur Türe. Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit gaben sich die Hände und führten eine personifizierte Desillusionierung die Treppe hinunter. Als er vor seinem Auto stand, sah er in einen imaginären Abgrund und blickte hinunter in ein dunkles Loch. Es war so tief und so dunkel, dass es unmöglich war, den Grund erkennen zu können. Unwillkürlich erschauerte er und dachte daran, wie er sich sein Leben vorgestellt hatte. Nämlich gar nicht. Eigentlich hatte er nie eine konkrete Vorstellung gehabt. Viel zu früh war er in eine Beziehung gestolpert, die ihn voll und ganz in Anspruch genommen hatte und die ihn eine gewisse Zeit auch ausgefüllt hatte. Doch nachdem Yvonne auf die Welt gekommen war, spürte er die Fesseln, die sich immer mehr um sein Leben und seine Person spannten. Trotzdem fügte er sich. Natürlich fügte er sich. Familie erforderte Verantwortung und die Bereitschaft, dafür alles zu tun. Natürlich liebte er seine Töchter. Hauptsächlich ihretwegen fügte er sich. Er fügte sich in ein Schicksal, das ihm Verantwortung auferlegte und das ihm seine Gedanken, seine Träume und seine Eigenheit nahm.
Im Grunde genommen wollte er seit seiner Jugend auf Reisen gehen, wollte die Welt sehen, Abenteuer erleben, andere Menschen kennen lernen und seinen inneren Blick schulen. Auf der anderen Seite sehnte er sich aber auch nach Liebe, nach einem Menschen, der ihm Halt und Sicherheit gab. Nach Zärtlichkeit. Nach Sex. Nach Zugehörigkeit und nach Nähe. Er wollte alles haben und nichts davon hergeben. Die Reisepläne wurden dementsprechend verschlossen und vergraben. Andere Pläne übernahmen die Führung und drängten ihn dahin, wohin er nicht wollte, sich aber niemals dagegen wehren konnte. Dafür sorgte schon Helga und dann die Kinder. Auch die Eltern und Schwiegereltern. Zögernd und zaudernd, wie er war, hatte er nie aufbegehrt oder zumindest einmal angedeutet, dass er das gar nicht wollte. Er wollte doch gar kein Haus bauen. Er wollte sich nicht in diese finanzielle Abhängigkeit bringen. Er wollte sich nicht dem Diktat des Geldes und des Besitzes unterwerfen. Er hatte einfach Angst, es nicht schaffen zu können. Und er hatte Angst, sich in diesem dogmatischen Schema zu verlieren.
Und nun, da er vor seinem Auto stand und diese ganzen Gedanken ihn zum wiederholten Male überschütteten wie ein Wasserfall – da wusste er, dass er genau davor Angst gehabt hatte. Dass er irgendwann vor dieser Situation stehen könnte und nicht mehr wusste, wie es weiterginge.
Seufzend sperrte er den Wagen auf, schmiss die Jacke auf den Rücksitz und steckte den Schlüssel in das Zündschloss.
`Verdammt noch mal, was bin ich doch nur für ein kleiner Arsch´, dachte er sich und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Dann noch einmal und wieder. Die Linke fuhr das Seitenfenster herunter. ´Alles für die verdammte Katz`, schimpfte er mit sich und seinem Los.
„Schönes Wochenende, Herr Kolb!“
Erschrocken fuhr sein Kopf herum. Er hatte sie nicht kommen sehen.
„Was...oh, ja, schönes Wochenende...“ stotterte er unsicher. Marianne Feist blieb stehen und sah ihn unsicher an.
„Irgendwas nicht in Ordnung....?“
„Nein...alles klar...soweit...“
Er wandte den Kopf und biss sich auf die Lippen. Marianne drehte sich nervös um sich und suchte den Parkplatz und die Fenster der Gebäude ab.
„Oh weh...Thomas hat geplaudert, nehme ich an...“
Er sah sie an und nickte ernst.
„Hat er. Ist da was dran?“
„Leider ja. Bitte...das haben Sie nicht von mir. Ich weiß auch nicht, wann es spruchreif ist.“
„Schon gut. Natürlich. Machen Sie sich keine Sorgen. – War das dieser Laskowski?“
„Klar, was denken Sie? Dafür holt man doch so jemanden. Damit er durchsaugt. – Im Moment ist wirklich niemand mehr sicher. Aber alles streng geheim. Mehr weiß ich auch nicht.“
Jakob zuckte die Schultern und versuchte ein zynisches Grinsen, was gründlich misslang.
„Auch ein Arsch braucht eine Existenzberechtigung.“
„Verkaufen Sie sich so teuer wie möglich, Herr Kolb. Tut mir echt leid. – Also, bis Montag dann.“
„Tschüss, Frau Feist. – Ich werd mein Möglichstes tun.“
Er ließ den Wagen an und verließ den Parkplatz. Er dachte daran, dass er normalerweise sofort mit seiner Frau sprechen müsste. Zusammen würde es viel leichter sein, Lösungen zu finden oder Wege, um schnellstens wieder zu einem Job zu kommen.
Normalerweise. Aber für Jakob war das nicht normal. Irgendwie widerstrebte es ihm, mit ihr sprechen zu müssen. Und irgendwie hatte er auch Angst davor. Vielleicht war es Scham oder die Erwartung, dass sie ihm doch sowieso Vorhaltungen machen würde. Im Endeffekt würde er sich in die Ecke des Versagers stellen lassen, ohne dass er fähig wäre, etwas dagegen unternehmen zu können. Er fühlte wieder dieses lethargische Gefühl in ihm drin, das ihn so heftig zu Boden ziehen konnte und das ihn dann so festnagelte, dass seine Widerstandskraft in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus.
Er beschloss, heute sowieso nichts zu sagen, da ja noch gar nichts passiert war und alles im Moment nur als reine Spekulation zu deklarieren war. Er verteidigte seine Passivität mit einem Noch-nicht-geschehen und verlegte die Gedanken einfach auf die kommende Woche. Vielleicht passiert ja gar nichts und Marianne hatte sich einfach verhört. Könnte ja sein. Natürlich, so wird´s wahrscheinlich auch sein. Was sollten die ihm schon tun können? Er war mehr als fünfzehn Jahre in der Firma. Die konnten ihm nichts anhängen. Er war weder faul noch unfähig für seinen Job. Im Gegenteil war er doch so gut wie unersetzlich mit seinen Kenntnissen über die täglichen kaufmännischen verzwickten Prozesse. Nein – sie konnten ihm nichts tun. Und einfach so kündigen geht doch gar nicht...
Jakob irrte sich. Kündigen geht ganz einfach. Noch bevor er sich an seinen Schreibtisch setzen konnte, wurde er ins Chefbüro gerufen. Es war Montagmorgen. Die schlechteste Zeit für so was. Oder die beste. Danach kann die Woche wohl nur noch besser werden. Eine Sache der Sichtweise.
„Nehmen Sie Platz, Herr Kolb!“
Peter Behrends saß ihm gegenüber und sah ihm ernst in die Augen. Neben ihm lümmelte sich Laskowski in den Ledersessel. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und sah Jakob zurückgelehnt ausdruckslos an. Er spielte Langeweile und verbreitete Desinteresse. Gepaart mit einer darstellerischen Überlegenheit und dieser ignoranten Arroganz, die Menschen auf die sprichwörtliche Palme bringen konnte. Obwohl er nicht viel älter als Jakob war, sah man ihm ein Leben im Überfluss an. Laskowski hatte einen unübersehbaren Bauchansatz. Das weiße Hemd spannte sich um den feisten Wanst, der schon die Gürtelschnalle unsichtbar werden ließ. Er hatte immer weiße Hemden an. Dunkler oder grauer Anzug. Weißes Hemd. Mehr Farben kannte er nicht. Er erinnerte Jakob an einen vollgefressenen Hund. Die waren doch farbenblind und konnten nur dunkel und hell unterscheiden. Vielleicht war Laskowski so ein Drecksköter. Unwillkürlich dachte Jakob daran, wie es aussehen würde, wenn er ihm in seine arrogante Fresse schlagen würde und er samt seinem scheiß Ledersessel rückwärts umfallen würde. Klack! Klappe zu. Szene vorbei!
Behrends war einer der Gesellschafter und verantwortlich für Vertrieb und Personal. Jakob und er kannten sich schon lange. Behrends hatte ihn damals eingestellt, als Jakob noch ein junger Mann gewesen war. Das Verhältnis zwischen beiden war immer höflich und respektvoll gewesen. Jakob konnte sich nicht erinnern, jemals ein böses Wort von Behrends gehört zu haben. Er war froh, dass er mit ihm sprach und nicht Laskowski.
„Herr Kolb, ich weiß, dass Sie schon sehr lange bei uns sind. Wir waren mit Ihrer Arbeit und Ihrem Engagement immer sehr zufrieden gewesen. In Ihrer Abteilung sind Sie ein wichtiger Mitarbeiter, der seine Aufgaben ernst nimmt und sie auch dementsprechend bewältigt.“
Er räusperte sich kurz und lehnte sich zurück. Fast hätte man meinen können, es war ihm unangenehm. Das wiederum schwer nachvollziehbar war, weil er als Personalleiter nicht das erste Mal – und wohl auch nicht das letzte Mal – Kündigungen aussprach. Innerlich schüttelte Jakob den Kopf. Ihm war klar, dass jeder im Raum wusste, auf was das Gespräch hinführte – und jeder tat so, als ob Jakob nicht wusste, dass er es wusste. Eine Situation für Narren, dachte er.
„Nun, im Zuge von gravierenden Umstrukturierungen in unserem Hause sind wir gezwungen, deutlich und vehement an den laufenden Kosten zu arbeiten, um überhaupt noch wirtschaftlich arbeiten zu können. Sie wissen selbst, wie es im Großhandel bestellt ist. Die ganze Branche hat mit den Direktverkäufen zu kämpfen. Und die Onlineshops nehmen uns sehr viel Marktanteile weg. Wir sind gezwungen, umzudenken und neue Wege zu gehen.“
Wieder Räuspern. Laskowski schaltete sich ein. Seine Stimme klang kalt und arrogant. Wie ein Arsch eben. Ein bleiches und breites unappetitliches Endstück!
„Was Herr Behrends damit sagen will, Herr Kolb, ist, wir müssen uns von einigen Bereichen trennen. Es waren schwerwiegende Entscheidungen, die wir zu treffen hatten, aber es ist notwendig, dass wir die Abteilung Betriebsmittel auslagern und sie somit kein Teil des Unternehmens mehr ist, die ihm direkt unterstellt sein wird. Leider betrifft das Sie und Ihre Kollegen. Deswegen müssen wir Ihnen leider betriebsbedingt kündigen.“
Jakob sah Behrends an, der einen Punkt auf dem Schreibtisch suchte. Dann sah er wieder den Arsch an. Der wurde immer breiter.
„Aha“, sagte er nur.
Einen Moment war der Geschäftsführer verwirrt. Der kurze Kommentar Jakobs war ihm noch nicht geheuer. Aber er legte gleich nach.
„Sie werden natürlich nach den gesetzlichen Regelungen abgefunden werden. – Ich möchte nur, dass Sie dieses Gespräch hier bestätigen und diesen Auflösungsvertrag unterschreiben. Alles andere werden wir dann in die Wege leiten.“
Er schob ihm ein Papier hin und legte einen Kugelschreiber darauf. Jovial und selbst überschätzend lehnte er sich zurück. Er hatte die ausgestreckten Zeigefinger aneinandergelegt und signalisierte eine unantastbare Überlegenheit. Jakob spürte ein leichtes Würgen aufsteigen und sah auf das Blatt, auf dem „Auflösungsvertrag“ stand. Alle Alarmglocken begannen zu klingeln. Er sah den Arsch an und ekelte sich vor der eigenen Vorstellung. Bleich und breit sah Laskowski aus. In der Mitte geteilt.
„Auflösungsvertrag?“
„Äh...ja...ist nur der Form halber.“
„Möchten Sie, dass ich diesen Auflösungsvertrag unterschreibe, Herr Behrends?“ wandte er sich an den Mann ihm gegenüber. Behrends sah ihn an und nickte.
„Ja, das sollten Sie sicherlich tun“, meinte er.
„Es ist notwendig, um die Kündigung protokollarisch festzuhalten.“
Laskowski hatte die Stimme erhoben und sah Jakob streng an. Er wollte dadurch dem Drängen Druck verleihen. Einen winzigen Augenblick wollte Jakob dem nachgeben und durch die Unterschrift diese Demütigung beenden. Aber ein kleiner Widerständler in ihm weigerte sich. Einen Auflösungsvertrag zu unterschreiben bedeutete, dass man gleich gehen kann und keinerlei Anspruch auf irgendwelche Abfindungen hatte. Jakob wusste das längst und ärgerte sich plötzlich, dass er wirklich den Gedanken hatte, einfach zu unterschreiben und die Unterredung zu beenden. Und er ärgerte sich, dass man ihn auf eine Falltür schob, damit er schnellstens aus dem Blickfeld verschwand. Aus seinem Ärger wurde aufkommende Wut. Überrascht nahm er dieses Gefühl wahr. Es verdrängte die Unsicherheit und die nervöse Angst.
„Einen Scheiß werd ich“, sagte er nur und stand auf.
Seine beiden Gegenüber waren einen Moment sprachlos und sahen ihn konsterniert an.
„Was sagten Sie bitte??!!“
Laskowski blitzte ihn an und rollte mit den Augen. Ein fremdsprachiger Widerstand flammte in Jakob auf und er sah dem bleichen Arsch ins Gesicht.
„Lassen Sie mir eine ordentliche Kündigung zukommen. Und dann werden wir uns über eine angemessene Abfindung unterhalten. – Was soll das? Halten Sie mich für ganz blöd? Ich hätte schon ein klein bisschen Respekt erwartet, Herr Laskowski. So geht´s jedenfalls nicht.“
Der Arsch rang tatsächlich nach Luft. Jakob wandte sich an Behrends.
„Sie haben mich damals eingestellt, Herr Behrends. Wir haben einen ordentlichen Vertrag gemacht, der für beide Seiten okay war. So sollte es auch in diesem Falle sein. Warum machen Sie so was mit? Das ist nicht Ihr Stil.“
„Jetzt passen Sie mal auf, Herr...“. Laskowski wurde laut und richtete sich drohend in seinem Ledersessel auf.
Doch Jakob unterbrach ihn und wurde seinerseits laut. Er dachte nicht mehr nach und wollte auch nicht nachdenken. Er wollte nur noch seinen Frust loswerden und seine Enttäuschung. Und der Arsch ihm gegenüber kam ihm gerade recht. Und was hatte er denn zu verlieren?? Er stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich drohend vor. Einen Moment zuckte Laskowski zurück. Jakobs Augen blitzten wütend. Seine Stimme wurde scharf und schärfer und er war fast geneigt, seine Hand in das feiste Gesicht ihm gegenüber zu klatschen.
„Nein, Sie passen auf! Hören Sie auf, mich über den Tisch ziehen zu wollen. Wenn Sie uns kündigen wollen...okay. Dann aber mit Anstand und nach den üblichen Regeln. Wenn die Ihnen nicht bekannt sein sollten, dann machen Sie sich schlau. Auflösungsvertrag!! – Das ist wirklich das Allerletzte!!!“
Den letzten Satz schrie er Laskowski ins Gesicht, der erschrocken seinen Stuhl nach hinten schob und mit flatternden Augen anzeigte, dass er eben doch nicht Mister Souverän war. Aber Jakob wurde schon wieder ruhig.
Er richtete sich auf und mit einer schnellen Handbewegung nach unten unterstrich er seine Empörung und seine Entrüstung.
„Wollen Sie damit sagen, dass...?“
„Ja, genau“, unterbrach ihn wiederum Jakob. „Genau das will ich damit sagen. – Soll ich noch ins Büro gehen oder werde ich sofort freigestellt?“
Seine Stimme wurde wieder ruhig.
Er sah Behrends an. Der nickte. Seine Miene war angespannt und ernst. Laskowski wollte schon wieder lospoltern, aber Behrends winkte ab.
„Wir werden Sie sofort freistellen, Herr Kolb. Es tut mir leid, aber die Umstände...“
Jakob winkte ab und verdrehte angewidert die Augen.
„Lassen Sie´s. Alles okay!“
Damit drehte er sich um und verließ das Büro. Als er die Türe hinter sich geschlossen hatte, spürte er, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er war verwundert über sich selbst. Tatsächlich hatte er Worte des Widerstandes herausgebracht. Trotz dieses niederschmetternden Gesprächs brachte ihn die Erkenntnis, dass er dies doch konnte, einen kleinen Schub an Euphorie bei. Die hielt dann solange an, bis er vor seiner Bürotüre stand. Dann hatten ihn die Nervosität und die Aufregung voll im gnadenlosen Griff.
Als er eintrat, sahen ihn Thomas und Bernd erwartungsvoll an. Er brauchte nichts mehr zu sagen, sie sahen ihm an, dass alles so gewesen war, wie sie befürchtet hatten.
„Und?!“
Jakob zuckte die Schultern und presste die Lippen zusammen.
„Genauso“, sagte er und nickte dazu.
„Scheiße!“ Bernd atmete laut aus und sah Thomas an.
„Ich bin mit sofortiger Wirkung freigestellt.“
„Was?! Jetzt sofort?“
„Ja! Ich sollte einen Auflösungsvertrag unterschreiben.“
„Hast du?!!“
„Nein, natürlich nicht. Macht das bloß nicht. Sonst könnt ihr gleich gehen, aber ohne Abfindung.“
„Oh, Mann...diese Schweine. Wer war denn dabei?“
„Behrends und Laskowski.“
„Und Behrends hat nichts weiter gesagt? Du kannst gehen und das war´s?“
„So in etwa...ich glaube, es war ihm ein bisschen peinlich. Aber ich kann mich auch täuschen.“
Er ging an seinen Schreibtisch und suchte seine Sachen zusammen. Das Telefon klingelte. Thomas hob ab und meldete sich. Jakob sah, dass er blass wurde, nickte und sagte, dass er gleich da sei.
„Okay, ich bin dran.“
Er stand auf und wirkte nervös.
„Lass dir nichts vormachen. Die wollen so billig wie möglich davonkommen. Nichts unterschreiben, klar?“
„Klar!“
„Wir könnten heut´ Abend noch in die ´Post`. Wenn ihr wollt. Ist vielleicht besser, noch ein paar Dinge zu besprechen.“
Bernd nickte.
„Gute Idee. Ich bin da.“
Thomas war schon an der Türe.
„Ist gut. Ich komme. Bis dann.“
Dann verschwand er.
„Also. Dann bin ich weg.“
Bernd stand auf.
„Scheiße, Mann, das hätte ich wirklich nicht geglaubt, dass uns das mal passieren könnte. Ich bin wahrscheinlich der nächste. Also, Jakob, halt die Ohren steif. Wir sehen uns heut´ Abend.“
Er gab ihm die Hand. Jakob nickte nur, murmelte ein ´bis dann` und wollte so schnell wie möglich aus dem Büro raus. Erst als er sich auf dem Firmenparkplatz wieder fand, registrierte er, was gerade geschehen war. Er hatte seinen Job verloren. Innerhalb von einer Viertelstunde wurde sein Leben durcheinander geworfen, verändert und kastriert. Er sah noch einmal auf das vierstöckige Gebäude, in dem er die letzten fünfzehn Jahre verbracht hatte. Fünfzehn Jahre! Und dann ist in einer Viertelstunde alles zertrümmert. Die Welt ist seltsam...!!
Wie ging es nun weiter? Okay, Job suchen, Arbeitsamt, Bewerbungen schreiben. Hoffen. Beten? Nein. Vorstellen. Anrufe tätigen. Dafür sorgen, dass man so schnell wie nur möglich wieder in den Strom der Stabilität kommen konnte, um ja nicht abzudriften in den Sumpf einer Unplanbarkeit und Unsicherheit.
Doch irgendwie vernahm Jakob auch eine andere Stimme in sich, die ihm zurief, dass vielleicht gerade diese Situation dazu bestimmt war, ihn aus seiner muffigen Lethargie herauszuholen, um einen stehen gebliebenen Motor wieder in Gang zu bringen. Einen Motor, der schon lange abgestorben war und nie mehr die Möglichkeit bekommen hatte, wieder rund zu laufen. Vielleicht war dieses vermeintliche Ende gar kein Ende. Vielleicht war dies ein Anfang in jeder Beziehung. Er wollte es schönreden, aber es gelang nicht. Zumindest nicht so, wie er meinte, dass es sein müsste.
Er sperrte das Auto auf.
„Hmmm...“, murmelte er in sich hinein.
Er konnte seine Gefühlsaufwallung nicht einordnen. Der erste Schock hatte sich schon verflüchtigt. Eigentlich sollte er doch am Boden zerstört sein. Eigentlich sollte er doch vor Angst schwitzen. Sein Mund sollte trocken sein und seine Gedanken müssten sich jagen. Die Knie mussten doch weich werden und im Magen sollte er dieses Brennen spüren, das jegliches Hungergefühl verjagte und nur diesen Durst entwickelte, der sich bis ins Gehirn vergrub, um darzustellen, dass die jetzige Situation untragbar geworden war.
Aber dies alles stellte sich nicht ein. Eher deutete er es als eine perverse Akzeptanz und als eine abstruse Belustigung seiner selbst. Verspürte er nicht eine tiefe Freude, dass er seinen Vorgesetzten Worte der Entrüstung und der Enttäuschung entgegen gebracht hatte? Verspürte er nicht eine fast abartige Befriedigung, nicht mehr einen Job ausüben zu müssen, der ihm im Grunde nichts mehr bedeutet hatte? Hatten Behrends und Laskowski ihm nicht auch einen Gefallen getan, indem sie ihn kündigten und eine Entscheidung abgenommen hatten, die er sich niemals selbst zu stellen getraut hatte?
Eigentlich war es doch genau so. Durch die Kündigung wurde er nun gezwungen, aktiv zu werden. Er musste etwas tun, er musste etwas unternehmen, er konnte nicht einfach da sitzen und warten, dass sich etwas tat. Er hatte jetzt endlich etwas zu unternehmen, was für ihn, für seine Situation, für die Familie und für sein persönliches Umfeld am besten war.
Er stieg ins Auto und verließ den Parkplatz, den er so nicht wieder betreten würde. Jetzt musste er zuerst einmal eine finanzielle Neuorientierung vornehmen und sich schlau machen, was ihm mit seiner Betriebszugehörigkeit eigentlich seitens der Firma zustand. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass es eine Standardformel zur Abfindungsberechnung gab. Halbes Monatsgehalt mal Zugehörigkeitsjahre. Jakob rechnete. Es kam nicht sehr viel dabei heraus. Das würde nicht lange reichen. Und Abfindungen wurden beim Arbeitslosengeld gegen gerechnet. Laut atmete er aus. Er brauchte schnellstens einen neuen Job. Das war das Wichtigste. Und er musste sich noch schneller arbeitslos melden. Noch einmal überschlug er die nächsten Monate. Natürlich musste die Firma die Kündigungsfrist einhalten. Also drei Monate zum Monatsende. Das hieße, dass er auf jeden Fall noch drei Monate Gehalt bekommen musste. Danach griff entweder das Arbeitslosengeld oder er musste mit der Abfindung rechnen. Aber die musste auch noch versteuert werden.
Er schüttelte den Kopf. Er brauchte spätestens in vier Monaten einen neuen Job. Nachdenklich fuhr er nach Hause. Und da hatte ihn bereits das Eisen der Sorge gepackt. Er bekam Angst. Angst vor der Zukunft und Angst, aus seinem bis dahin sicheren Leben herausgeschleudert zu werden. Ganz versteckt in den hintersten Bereichen seines Gehirns tauchte noch so etwas wie Unbekümmertheit und Sorglosigkeit auf – Begriffe, die er seit seiner Jugend nicht mehr empfunden hatte und die im Moment wohl keinerlei Chance auf irgendwelche Empfängnis haben würden.
*
Helga stand in der Küche, hatte ein Glas Wein in der Hand und starrte nach draußen. Als Jakob herein kam, wandte sie nicht den Kopf. Leicht zog er die Augenbrauen nach oben, als er seine Frau mit dem Wein in der Hand sah. Das kannte er von ihr nicht, dass sie am frühen Vormittag Wein trank. Er warf seine Jacke über die Stuhllehne.
„Hallo. So früh schon Wein?“
Sie drehte sich um und sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht an. Er wirkte abwesend und flatternd. Ihre Augen zuckten leicht. Auf seine Frage ging sie nicht ein. Und über sein ungewöhnlich frühes Erscheinen war sie anscheinend nicht sonderlich überrascht.
„So früh wieder da? Was ist los?“
Die Frage war lapidar und zeugte auch in ihrem Tonfall von Desinteresse.
„Äh...ja...hat sich heut´ so ergeben...wir...“
„Wir...wir müssen reden“, unterbrach sie ihn.
Die Tatsache, dass er schon am Vormittag von der Arbeit kam, registrierte sie wohl gar nicht und spielte auch keine große Rolle.
Erschrocken hielt Jakob inne. Wusste sie vielleicht schon etwas aus der Firma?
„Aha...ist was passiert?“
Helga stellte das Glas ab und verschränkte die Arme. Sie sah ihn nicht an, sondern suchte irgendwas auf dem Boden.
„Ich werde dich verlassen...“
Jakob glaubte sich verhört zu haben.
„Was ist...??!“
„Ich werde dich verlassen“, wiederholte sie.
Jetzt sah sie ihm in die Augen. Sie flatterten nicht mehr.
„Wieso? Was ist denn los?“
Jakob verstand noch nichts, aber er ahnte bereits alles. Sein ´Wieso` klang damit dermaßen daneben, dass er sich in diesem kurzen Moment einen Idioten schimpfte.
„Ich...ich habe jemanden kennen gelernt...und unsere Ehe ist doch schon längst ausgelaufen...ich will nicht mehr so leben.“
„Was meinst du mit ausgelaufen? Und wen kennen gelernt? Einen anderen Mann?“
„Natürlich. Denkst du eine Frau?“
Kopfschüttelnd sah sie ihn an. Sie presste die Lippen zusammen und drehte das Weinglas nervös in den Fingern.
„Soso?! Wie lange schon?“
Sie sah wieder zu Boden. Ohne dass sie schon etwas sagte, wusste Jakob, dass sie nicht die Wahrheit sagen würde.
„Ein paar Monate...“
Die Aussage klang fast wie eine Frage, die damit eine gewisse Provokation in sich trug. Für einen Augenblick schwieg Jakob und starrte sie nur an. Helga log. Er spürte es und er sah es ihr an.
„Ich glaub dir kein Wort“, sagte er nur.
Sie hob den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen flatterten wieder und die Lippen zuckten leicht.
„Was?? Wie meinst du das?..Ich sagte, dass ich weggehen werde. Hast du das überhaupt gerade kapiert?“
Sie wurde laut und wollte sich in Wut reden. Niemand konnte das besser als eine Frau. Damit sollte die Nervosität beiseite geschoben werden. Und meistens klappte das auch ganz gut.
„Ich hab´s schon kapiert. Ich glaub dir bloß nicht, dass das erst ein paar Monate geht. Ich glaub eher, das geht schon über ein Jahr. – Stimmt´s etwa nicht??!! Deine Vorhaltungen von wegen Eifersucht und Kontrollfreak!! Du wolltest damit doch nur von deiner Affäre ablenken...ist es nicht so!!!??? Du hast mich betrogen…!!“
Jakob hatte nicht bemerkt, dass er die letzten Worte geschrien hatte. Er spürte die Wut und Enttäuschung hochkochen und er spürte den letzten Rest Sicherheit sich ins Nichts auflösen. Sein Puls hatte sich beschleunigt und er wurde kurzatmig. Er hatte das Gefühl, als ob die ganze Welt ihm alles, was bis dahin wichtig gewesen war, entreißen wollte.
„So will ich nicht mit dir reden“, sagte Helga und wandte sich schon zum Gehen. Das tat sie immer, wenn sie sich ertappt fühlte. Sie verließ einfach den Raum und ließ Jakob mit sich selbst alleine. Doch er ließ sie diesmal nicht gehen.
„Du bleibst jetzt hier und sagst, was Sache ist, verdammt noch mal!!!“
Er stand kurz vor der Explosion. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss und sich gleichzeitig wieder nach unten bemühte. Weiß und Rot wechselten sich im Sekundentakt ab. Er stellte sich vor die Türe und ließ sie nicht vorbei. Mit Mühe beherrschte er sich und versuchte ruhiger zu werden. Erschrocken hielt Helga inne und sah ihn mit großen Augen an. So außer sich hatte sie ihren Mann noch nie erlebt. Für einen Bruchteil einer Sekunde befürchtete sie, dass er sie schlagen würde.
„Setz dich hin!“ sagte er schroff und zeigte auf einen Stuhl. Wider Erwarten folgte sie seiner Aufforderung.
„Also. Was ist mit diesem Mann und was ist mit uns?“
Jakob war stehen geblieben und sah sie mit einem wilden Blick an. In diesem Moment begriff er, dass alles, von dem er glaubte, Stabilität zu haben, nur reine Illusion gewesen war und dass dieses Gerüst schneller als man denken konnte, zusammenstürzen konnte. Mit einem schockierenden Erkennen stellte er fest, dass all seine jahrelangen Bemühungen um Sicherheit, Planbarkeit, Schutz und Geborgenheit völlig umsonst gewesen waren. Im Bruchteil einer Sekunde fiel alles in sich zusammen, so als ob man ein Haus aus Papier baute und fest darauf vertraute, dass es jedem noch so starken Sturm standhielte. Um dann völlig überrascht festzustellen, dass der Wind nicht einmal einen Sturm benötigte, um das Haus zu vernichten. In diesem kurzen Moment musste er sich eingestehen, dass alles für den sprichwörtlichen Arsch gewesen war. Dass das Gerüst, auf dem er gebaut hatte, so schwach und labil war, dass die daraus resultierende Erkenntnis ihn einfach zu Boden warf und er nicht einmal die Arme hochnehmen konnte, um sich abzufangen. Voll auf die verdammte Fresse!!!!
Ihm fiel ihr Blick auf, der ihm suggerierte, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte. Für einen winzigen Augenblick sagte ihm dieser Blick, dass ihr gemeinsames Leben, das er für so wichtig gehalten hatte, beendet war. Und dass es kein Zurück mehr gab. Obwohl er es geahnt hatte, innerlich gewusst hatte, eine innere Stimme ihn schon länger darauf hinwies, dass ihre Ehe Auflösungserscheinungen an den Tag legte – traf ihn diese Erkenntnis doch härter, als er es sich eingestehen wollte. Und bestätigte ihm nur, dass er durchaus fühlen konnte, wenn etwas nicht stimmte. In einem paradoxen Moment beschloss er, in Zukunft auf seine innere Stimme zu hören und zu reagieren. Noch nicht zu Ende gedacht, war der Gedanke schon wieder verschwunden.
Helga hatte immer noch nicht geantwortet.
„Ich warte“, drängelte er.
„Was soll schon sein? Da gibt´s halt einen anderen Mann“, erwiderte sie pampig. Jakob versuchte, den Ton zu ignorieren. Dem Wunsch nach einer Ohrfeige widerstand er. Allerdings mit einem enormen Aufwand.
„Und? Weiter...jetzt hast du halt deine Affäre. Wie geht´s weiter?“
„Ich werde zu ihm ziehen.“
„Wie bitte??! Nur weil er dich ein paar Mal gefickt hat, glaubst du, dass er die große Liebe ist?“
Er versuchte, hämisch zu wirken, aber sein falsches Lachen beschwor gerade das Gegenteil herauf. Fassungslosigkeit und ein Nicht-Verstehen-Wollen standen in seinem Gesicht geschrieben.
„Du brauchst nicht vulgär zu werden. Wir lieben uns und ich werde mit den Kindern zu ihm ziehen.“
Jetzt wurde Jakob aschfahl im Gesicht.
„Mit den Kindern?...Heißt das, sie wissen das schon?“
Ihm fiel gar nicht auf, dass die Tatsache, dass seine eigenen Kinder schon von ihrer Affäre wussten, mehr wog als die Erkenntnis, dass sie einen anderen Mann liebte – und das auch noch vor ihm ausbreitete.
Helga nickte und sah wieder zu Boden.
„Na toll...“, mehr brachte er nicht mehr zustande.
Wie lange rannte er wohl schon mit dem Wort ´Vollidiot` auf seiner Stirn herum?
Einen Augenblick schwieg er und versuchte, seine rasenden Gedanken zu beruhigen. Ein Gefühl namens Enttäuschung verabreichte ihm eine Dusche mit Eiswasser.
„Jetzt wird mir natürlich vieles klar...wenn man jemanden zum Idioten macht, dann wird er auch wie ein Idiot behandelt...“
Helga schüttelte den Kopf. Sie versuchte, zu beschwichtigen.
„Nein...so ist das nicht...ich habe den Kindern alles sagen müssen, weil ich doch wissen muss, ob sie mit mir gehen würden oder lieber hier bleiben wollen. Sie sind alt genug, um selbst entscheiden zu können. Es hat nichts mit dir zu tun...wirklich nicht...“
Jakob lachte sarkastisch auf.
„Nichts mit mir zu tun? Spinnst du eigentlich? Alles hat mit mir zu tun...!!“
„Du hast doch selbst gemerkt, dass wir uns schon lange nichts mehr zu sagen haben. Wir reden kaum mehr miteinander und du musst zugeben, dass du auch nichts unternommen hast, um die Situation zu verbessern...so was passiert halt. Ich bin schon lange nicht mehr sicher, ob du überhaupt noch etwas für mich empfindest. So ist es doch...da ist einfach so viel weg. Niemand hat da Schuld...“
Jakob sah sie an. Gerade wollte er losbrüllen, aber er hielt sich zurück. Vielleicht hatte sie gar nicht so Unrecht. Natürlich hatte niemand Schuld. Sie hatten sich definitiv auseinander gelebt. Und Jakob war ein Mann. Männer verdrängten solche Erkenntnisse, weil sie nur Probleme aufwarfen. Männer wollen keine Probleme. Und noch weniger wollen sie über Probleme sprechen. Es sind eben meistens die Frauen, die den ersten Schritt machen. Und selbst wenn es eine Affäre ist, die diesen Schritt ins Leben rufen. Oder noch mehr als das. Eine neue Liebe.
Jakob zog einen Stuhl heran und setzte sich. Gedankenverloren rieb er sich das Kinn und überlegte. Sie hatte ihn hintergangen und ihm ganz große Hörner aufgesetzt. Es war ihm unbegreiflich, wie er mit diesem Riesengeweih noch durch die Türen kommen konnte. In einem Anfall von Selbstironie musterte er den Türstock, ob er im oberen Bereich etwaige Beschädigungen aufwies. So ein Geweih ist groß, hart und spitz. Aber er fand nichts. Die Spuren blieben unsichtbar.
Er war der Betrogene. Er war das Opfer. Und das gleich mehrfach. In einem plötzlichen Anflug von Galgenhumor fing er an zu grinsen. Leicht senkte er den schüttelnden Kopf, aber Helga sah es.
„Ist irgendetwas jetzt lustig?“
Er sah sie wieder an und verzog das Gesicht. Noch einmal schüttelte er den Kopf. Er presste die Lippen zusammen und seine Mundwinkel fielen herunter.
„Nein. Nichts ist lustig. Ich verstehe. - Das war´s dann??“
„Ich glaube schon. Es gibt keine andere Lösung. Ich kann nicht mehr bei dir bleiben. Und ich will das auch nicht. Wir öden uns schon viel zu lange an und es ist Zeit, einen Strich zu ziehen. Ich kann das nicht mehr. Das bringt uns beide nur noch mehr an den Abgrund. – Und ich glaube, du weißt das auch. Leider haben wir nie richtig drüber gesprochen. Vielleicht hätten wir das tun sollen...“
Beschwörend sah sie ihn an.
Ausdruckslos erwiderte er ihren Blick. Es widerstrebte ihm, ihr Recht zu geben, aber es war wohl so. Der Alltag mit seiner niederschmetternden Monotonie und seiner Linearität hatte sie beide unfähig werden lassen, Farbe in ihr Leben zu bringen. Das was jetzt geschah, war nur die unvermeidliche Konsequenz. Das jetzt frei gelegte Erkennen durchzog Jakob Kolb. Dann erhob er sich. Es war alles gesagt. Und es fiel ihm auch nichts mehr dazu ein. In seinem Kopf herrschte im Moment ein zu großes Chaos, als dass er noch einen einzigen vernünftigen Gedanken daraus bilden konnte.
„Wann willst du ausziehen?“
„Am Montag!“
„So schnell??“
„Ja. Es ist besser für uns beide.“
„Gut. Hat denn...dein Freund so viel Platz, dass er gleich drei Frauen aufnehmen kann?“
„Ja. Er hat ein großes Haus. Keine Sorge. Den Kindern wird´s an nichts fehlen.“
„Ist klar. Verstehe. – Wenn wir schon dabei sind, die Dinge auf den Tisch zu legen. – Ich habe heute meine Kündigung bekommen. Thomas und Bernd auch. Also mach dich bereit, dass eventuelle Unterhaltsleistungen eben nicht geleistet werden können.“
Seine Mimik war starr geworden. Er fühlte, wie das Augenlid zu zucken begann und er wehrte sich dagegen. Helga sollte seine Nervosität nicht sehen. Aber er schaffte es nicht. Nervös senkte er den Kopf, aber dieses dunkle Gefühl, dieses niederschmetternde, versagende und unheimliche Gefühl blieb bestehen. Er konnte nichts, aber auch gar nichts dagegen tun.
„Was???....Das ist jetzt aber nicht dein Ernst??....“, sagte sie bestürzt. Ihr Gesichtsausdruck war blass geworden.
„Leider ist das Ernst...“
Er lachte zynisch auf und zuckte mit den Schultern. Sein Blick wurde hoffnungslos und starr.
„Wenn´s kommt, dann auf einmal und ganz heftig...“ setzte er hinzu, fast flüsternd, mit einem Hauch melancholischer Selbstaufgabe.
„Aber....“
Jakob winkte ab. Er hatte die Schnauze voll. Er musste raus hier. Noch Erklärungen bezüglich seiner Kündigung abzugeben, dafür hatte er keinen Willen mehr. Und er wollte auch nichts mehr reden. Er wollte jetzt allein sein. Allein mit seinem Frust, seiner Wut, seiner langsam aufkommenden Scham, die ihm Versagen einredete. Er spürte seine Widerstandskraft in sich zusammenfallen und er hatte nur noch diesen gewaltigen Fluchtgedanken im Sinn. Raus, weg von hier, egal wohin, nur weg. Er spürte diese niederschmetternde Überforderung seines Geistes, der wirr durcheinander wirbelte und keine vernünftigen Gedanken mehr zuließ. Es gab nur noch eins... raus hier!!
„Du verstehst, wenn ich jetzt erst einmal weg muss. Zwei Hiobsbotschaften an einem Tag kann ich nicht so einfach wegstecken. Ich muss mir erst einmal über manches klar werden. – Wir werden uns auch noch ernsthaft unterhalten müssen, das Haus zu verkaufen. Unter diesen ganzen Umständen wird es eh nicht zu halten sein. – Lass´ uns die nächsten Tage darüber sprechen, wenn wir uns wieder beruhigt haben.“
Er wartete keine Antwort ab, sah sie nicht einmal mehr an, hob die Hand und verließ fast fluchtartig das Haus. Kurz sah er auf die Uhr. Es war nach zehn. Für die Kneipe war es noch zu früh. Die machten zwar mittags wegen dem Biergarten auf, aber jetzt noch nicht. Er beschloss, an den See zu fahren. Dort könnte er alles noch einmal überdenken und versuchen, wenigstens innerlich ein wenig ruhiger zu werden.
Er startete den Wagen und fuhr los. Der Tag war noch nicht zu Ende, dachte er. Was wird noch kommen? Er spürte sein Herz schlagen. Doppelt so heftig wie sonst. Wahrscheinlich wird´s gleich zerspringen! Seine Gedanken fielen in ein wirres Chaos. Sie verlässt mich... ein anderer Mann. Ich bin abgeschoben, hab keinen Wert mehr, bin nur noch ein idiotisches Überbleibsel, das entsorgt werden muss...Sein Stolz meldete sich. Ein männlicher Stolz, der wie schon so oft auf dem scharfen Grat der Lächerlichkeit entlang wankte.
Wie oft hatten die schon Sex? Immer tagsüber, nachts ging ja nicht. Sex am Nachmittag. Hat sie mit mir das letzte Mal im letzten Jahrhundert gemacht. Was hatten die wohl für einen Sex? Leidenschaftlich? Heftig? Machte sie vielleicht das, was sie mit ihm nie machte??...und wenn, wie führte sie sich dann auf...hatte sie dann einen Orgasmus? Vielleicht sogar mehrere? Wurde sie laut? In den seltenen Fällen war es schon mal so gewesen – vor ungefähr hundert Jahren. In einer Zeit vor der Zeit, kam es ihm vor. Eine vage Erinnerung eines Bildes, das vor seinem geistigen Auge zerfloss und alle Konturen auflöste. Im Moment konnte er nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es auch wirklich so gewesen war. Vielleicht war dieser Mann der bessere Mann im Bett? Besser als er...vielleicht?...Scheiße, Mann...sie hatten schon Monate keinen Sex mehr gehabt. Warum auch? Wenn sie mit einem anderen vögelte, brauchte sie den heimischen Sex ja gar nicht mehr...verfluchte Scheissgedanken!!...weg damit...
Jakob schüttelte sich und schrie laut in den Verkehr. Keine Worte, sondern nur Laute wie aus einem verwundeten Tier. Es waren Schreie aus der Kehle, würgend und sich überschlagend, fast schluchzend und verzweifelt gleichzeitig, ein keuchendes Aneinanderreihen von archaischen Tönen, die wohl schon der Homo Erectus gehört haben musste. Wütend schlug er permanent auf das Lenkrad. Gut, sie hatten schon lange keinen Sex mehr, aber musste sie gleich mit einem anderen...? Er war beleidigt. Nicht einmal, weil sie ihn verließ, sondern weil sie mit einem anderen Mann Sex hatte. Ihn bewusst betrog. Vielleicht lachte sie insgeheim über ihn...vielleicht freute sie sich auch, dass sie ihm ihre Affäre vorenthalten konnte. Für so eine lange Zeit. Vielleicht lachte sie ihn auch aus, weil er so ein Idiot war. Nichts gemerkt hatte.
Jakob redete sich so in Wut, dass er ganz vergaß, dass er heute gekündigt worden war. Erst als er den kleinen Parkplatz ansteuerte, erst als er den Schlüssel aus dem Schloss zog, erst als er die Stille bemerkte, die sich um ihn breit machte – erst dann kam er wieder zu sich. Sein Herz schlug immer noch wie wild, aber er konnte langsam wieder klar denken. Er stieg aus dem Wagen und spazierte nachdenklich an den See, an dem sich kaum Leute aufhielten. Es war ja noch vormittags und außer ein paar Hundehaltern kam um diese Zeit niemand hierher. Er setzte sich auf eine Bank und starrte auf das glitzernde Wasser, das ihn zumindest ein bisschen ruhiger werden ließ und seinen aufgewühlten Geist ganz langsam zur Ruhe brachte. Permanent zuckte sein Knie und sein Fuß trommelte auf den Boden. Er fühlte sich den tiefsten Abgrund hinunter gestoßen, den er je gesehen hatte. Noch war er im freien Fall und jeden Augenblick konnte er aufschlagen. Unfähig, die Hände oder die Füße zum Abfangen hernehmen zu können. Der Fall würde mit dem ganzen Gesicht gestoppt werden.
„Die blöde Sau!!!!“ murmelte er in einem letzten aufflammenden Wutanfall in sich hinein. Er stand auf und setzte sich wieder. Stand wieder auf, drehte sich im Kreis, setzte sich wieder. Der Fuß trommelte wieder einen taktlosen Marsch in den Boden. Aber nicht mehr so schnell. Er wurde langsamer – bis er das Trommeln aufgegeben hatte. Er starrte wie ein Irrer auf den See, die Knie mit den Händen umfassend.
Dann legte sich alles. Er lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken. Mit geschlossenen Augen versuchte er ein Resümee. Mit Gewalt musste er sich darauf konzentrieren. Job weg, Frau weg, Familie weg. Konsequenz würde sein; Haus weg, Geld weg, Unterhaltsleistungen. Was würde noch folgen? Neues Leben, neuer Beruf, gänzlich Neuorientierung, neue Gedanken, alles wird anders, ganz anders, was wird wichtig sein? Die Kinder? Ich? Wie geht´s grundsätzlich weiter? Wird sie den anderen Mann heiraten? Dann hätten die Mädchen einen Stiefvater. Er versuchte sich den Rivalen vorzustellen. Aber außer wirren Konturen brachte er nichts zustande. Ein vorstellbares Gesicht wollte sich nicht einstellen. Die Hitze stieg wieder auf und beschleunigte den Atem, der fast zum Keuchen wurde. Er schlug die Augen auf und starrte in den wolkenlosen Himmel. Seine Kiefer mahlten hörbar aufeinander und die Nase presste die Luft heraus.
Er richtete sich wieder auf. Er musste sich auf das Nächstliegende konzentrieren. Und das hieß erst einmal wegen der Kündigung einen Anwalt aufsuchen. Dann Abfindung aushandeln und die Finanzen regeln. Das Haus verkaufen. So schnell wie möglich. Und dann....? Klar, ein anderer Anwalt. Scheidungsanwalt. Termine machen und eine Strategie mit dem Anwalt besprechen. Was muss ich für sie zahlen? Für die Kinder? Solange sie in einer Ausbildung standen, sowieso. Also zahlen! Klar, wie viel? Und was blieb übrig? Konnte er damit überhaupt leben?...