Sterben als Reifeprüfung - Robert Hubrich - E-Book

Sterben als Reifeprüfung E-Book

Robert Hubrich

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Beschreibung

Wie wollen wir heutzutage mit dem Tod umgehen? Warum wird das Sterben und der Tod immer noch als Tabuthema behandelt, obwohl wir wissen, dass Leben und Tod untrennbar miteinander verbunden sind? Der Autor schlägt eine Brücke zur ernsthaften Beschäftigung mit dem Sterben, das nichts Abnormes darstellt, sondern den Menschen dazu ermuntern möchte, damit die uns eigene intuitive Angst vor dem Tod nehmen zu können. Die Anleitungen und Möglichkeiten, die er vorgibt, sind Wege, die jedem Menschen offenstehen. Es ist nicht notwendig, eine subtile Todesfurcht über sein ganzes Leben mitzutragen, um dann unwissend und hilflos einer unumgänglichen Tatsache gegenüber zu stehen, für die man keinen Entwurf und kein Konzept entwickelt hat. Der Autor will den Leser aufrufen, seine Ignoranz zu überwinden und den Tod als etwas ganz Natürliches anzusehen, das uns alle eines Tages betreffen wird. Sich darauf vorzubereiten, um gelassen und vertrauend ein gut gelebtes Leben verlassen zu können, sollte die Übung sein, die alle Ängste überwinden kann, um dadurch sein Leben noch bewusster und intensiver wahrnehmen zu können.

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Vorwort

Um es gleich vorweg zu nehmen – dies soll keinesfalls ein Buch sein, um das Sterben und den Tod zu verharmlosen oder gar zu glorifizieren. Er ist ein Teil von uns, der keiner besonderen Wertigkeit entspricht und dem Leben gleichgestellt ist. Es ist lediglich der Versuch, eine längst überfällige Akzeptanz zu schaffen, die uns viel von dieser subtilen Angst nehmen kann, die wir mehr oder weniger erfolgreich ignorieren. Der Tod ist weder gut noch schlecht, er ist schlichtweg neutral. Er gehört zu uns wie das Leben und genauso sollten wir das auch sehen.

Haben Sie nicht auch schon einmal daran gedacht, wie es sein wird, wenn dieses Leben zu Ende geht? Wenn einem bewusst wird, dass es zu einem unwiderruflichen Abschied kommen muss. Was passiert denn dann? Was kommt danach? Kommt überhaupt etwas? Was spielt sich im Augenblick des Todes in uns und unserem Geist ab? Es ist ja nicht nur die Frage, was kommt, sondern es ist auch ein rückschauendes Gefühl nochmaligen Ablaufes des eigenen zurück liegenden Lebens, das gelebt wurde. Glaubt man den vielen Nahtodberichten, so spult sich unser vergangenes Leben noch einmal in einem winzigen Augenblick ab. War es gut gewesen? War es schwierig? Vielleicht sogar anstrengend? Oder war es wirklich schön, leidenschaftlich und lohnenswert? War ich damit zufrieden und oft genug glücklich? Habe ich irgend etwas zu bereuen? Glücklich ist wohl der, der dieser Frage ein ´Nein` erwidern kann.

Viele dieser Fragen nach dem „Danach“ können wir ja gar nicht beantworten, weil wir es nicht wissen. Wir können nur spekulieren und die Möglichkeiten auswerten. Was wir sicher wissen, ist, was wir über die Zeit unseres Lebens getan haben, um zufrieden oder gar glücklich zu sein. Wir wissen sehr genau, was wir gedacht haben, was wir empfunden haben und ob wir wirklich und wahrhaftig gelebt und geliebt haben - und hoffentlich auch geliebt wurden. War das Leben erfüllend oder eben nicht? Haben wir etwas geschaffen, das uns mit Stolz erfüllt? Haben wir Spiritualität erfahren?

Es ist gar nicht so ganz einfach, sein eigenes Leben zu analysieren. Denn allzu leicht vergessen oder verharmlosen wir die schwierigen Zeiten, die unsäglichen schmerzlichen Momente, die unser Gehirn verdrängt und in eine Ecke schiebt, die wir so resolut verschließen können. Und das ist auch gut so. Im Resümee verbleiben meist die guten und schönen Zeiten, denn ansonsten würden wir wohl verzweifeln und verrückt werden. Stets werden uns die schönen Zeiten und Momente in Erinnerung bleiben. Die Natur hat unser Gehirn mit dieser einzigartigen Gabe versehen, die es uns erlaubt, trotz allem immer wieder Freude im Herzen verspüren zu können.

Aber zurück zum Ausgangspunkt – nämlich einem Ende, dem ein jeder irgendwann begegnen muss. Auch der Ignoranteste wird sich dem eines Tages konfrontiert sehen. Die letzte Frage, wie ich dem gegenüber zu treten bereit bin, wird unausweichlich gestellt werden müssen. Werde ich Angst haben? Wie groß wird dann diese Furcht sein, die ich empfinden werde? Was wird mich erwarten und was ist, wenn ich vor lauter Schmerzen nicht mehr denken kann?

Ich kann Ihnen jetzt schon versichern, dass es keinen Grund geben wird, Angst zu haben. Vorausgesetzt, Sie haben sich beizeiten darauf vorbereitet. Denn das wird die Bedingung sein, ob wir dann gelassen, mutig, vertrauensvoll und voller Hoffnung empfangsbereit sind – oder eben furchtsam, ängstlich und panisch unseren Geist nicht mehr unter Kontrolle haben werden.

Dieses Buch soll Sie auffordern, Ihren Geist, Ihre Seele und Ihr Herz zu öffnen. Sterben kann und darf nicht ein Tabuthema sein. Wie sollen wir aus diesem Leben gehen können, wenn wir nur noch von Angst und Furcht beherrscht werden? Wir können nicht leben, wenn wir auch nicht sterben. Und wir können nicht sterben, wenn wir nicht gelebt haben. Wir bemühen uns doch ständig um ein gutes Leben...dann sollten wir uns auch um ein gutes Sterben bemühen. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Und mit einem guten Sterben ist vor allem gemeint, die Angst davor zu beherrschen, im Idealfall keine zu haben und dem Vertrauen und der Hoffnung allen verfügbaren Raum zu geben. Ja, ich weiß, Vertrauen zu wem oder zu was und welche Hoffnung? Ich bin doch dann tot, da gibt es keine Hoffnung mehr. Eben das steht längst nicht fest. Zwar ist niemand je zurück gekommen, um davon zu berichten und die vielen Nahtoderfahrungen basieren auch nur auf persönlichen Erzählungen. Es gibt auch keinen wissenschaftlichen Beweis, dass nach dem Tod irgend etwas kommen sollte. Es gibt allerdings auch keinen wissenschaftlichen Beweis, dass danach nichts kommen wird. Wir stecken sicherlich in einem Dilemma, dem wir rein rational nicht begegnen können. Aber das müssen wir auch nicht, weil es gar nicht notwendig sein wird. Ich denke, der schlechteste Weg ist die Ignoranz. Ignoranz wird nur Angst erschaffen. Ignoranz fördert das Nichtwissen und damit auch Unsicherheit und Furcht. Die Natur hat uns doch einen Geist gegeben, den wir leider nur sehr wenig nutzen. Dieser Geist wird aber das sein, was uns am Ende bleibt. Trainieren wir ihn, öffnen wir ihn, lassen wir ihn genügend Raum einnehmen. Geben wir ihm die spirituelle Kraft, um mit dem Tod gelassener umgehen zu können. Denn diese seine Akzeptanz befähigt uns, auch das Leben wesentlich bewusster und intensiver leben zu können. Denn das ist es doch, was ein jeder wirklich möchte.

Begeben wir uns auf eine besondere Reise. Auf eine Reise durch die Kulturen, durch die Welt und um die Welt. Eine Reise auch oder gerade durch das eigene Ich und durch das eigene individuelle Wesen mit all seinen Stärken und mit all seinen Schwächen. Wie gehe ich heute mit dem Tod um und habe ich ein ernsthaftes Interesse, mich einmal intensiv damit auseinander zu setzen? Wie gehen denn zum Beispiel die Menschen fernab von unserer westlichen Gesellschaft mit dem Sterben und dem Tod um? Was für eine Hoffnung bieten die Religionen und der Glaube? Dreht sich wirklich alles um den Glauben? Muss ich denn glauben, was einst irgend jemand gesagt oder getan hat? Oder gibt es da doch noch etwas anderes? Etwas, das sich uns noch gar nicht offenbart hat…

Im Folgenden werden wir verschiedene Phasen durchleben. Angefangen mit der Bewusstmachung unserer Endlichkeit und einem neugierigen Wissensdurst, der zum Ziel hat, sein Leben eben nicht ohne das Sterben zu planen, zu organisieren und zu lieben. Wir werden sehen, dass unser Geist der Schlüssel zu allem sein wird und wir ihm wesentlich mehr Aufmerksamkeit widmen müssen als wir das tagtäglich tun. Die Erkenntnis, den Tod mit in sein tägliches Leben einzubeziehen, bedarf erst einem gewaltigen Sprung über den eigenen Schatten, denn unsere westliche Gesellschaft zieht nach wie vor eine dunkle Decke über das Thema. Nichtsdestotrotz ist die Beschäftigung damit nichts Abstoßendes oder gar Morbides. Es ist weder eine depressive Abartigkeit noch etwas seltsam Unheimliches. Es hat weder etwas mit Okkultismus noch mit Schamanismus oder gar Schwarzer Magie zu tun. Genügend Menschen müssen sich doch auch jeden Tag damit beschäftigen, man denke nur an das Hospiz oder eine Palliativstation, eine Einrichtung für Schwerkranke oder eine Klinik für Krebspatienten. Nicht zu vergessen die vielen Seelsorgestationen und die Kirche mit ihren Pfarrern und Priestern. Beerdigungsinstitute können ohne eine gewisse Empathie für die Hinterbliebenen ihr Geschäft gar nicht aufrecht erhalten. Selbst die Mitarbeiter der Sozialstationen werden oft genug mit dem Sterben konfrontiert. All diese vielen Menschen, die zum Teil ehrenamtlich damit arbeiten, verbindet eines ganz sicher: das Sterben und damit der Tod kann nicht ignoriert werden. Denn es geht immer um einen Menschen, der fühlt, der sich fürchtet, der sich sorgt, der Angst hat und der jemanden oder etwas braucht, das ihm Klarheit, Ruhe und Vertrauen gibt. Wenn sich dies alles in seinem Geist etabliert hat und die Macht übernimmt, wird es keine Ängste mehr geben. Und erst dann kann man von einem guten Sterben sprechen.

In weiteren Phasen werden wir versuchen, den Bedingungen für das Öffnen des Geistes auf den Grund zu gehen. Der Geist ist es, der uns dazu befähigt, Gelassenheit zu erlernen und zu manifestieren. Unsere alltäglich begrenzte Sichtweise, die durch den engen Rahmen des Berufs und der Familie eingeschränkt ist, dient sicherlich nicht dazu, alle bestehenden Möglichkeiten in Betracht zu ziehen oder sich damit ernsthaft und ausgiebig beschäftigen zu können. Neugier, Wissen, Lernen und Verstehen sind die Bereiche, in die wir erst eintreten müssen, um dadurch Klarheit und Vertrauen aufbauen zu können. Wir müssen unsere eigene Spiritualität bemühen, auch wenn sie noch so lange vor sich hin geschlummert hat. Es sind oftmals steinige Wege, die wir beschreiten, aber mit zunehmendem Verstehen werden alle Wege leichter, heller und sanfter.

Inhalt

1. Die Konfrontation

2. Erste Gedanken

3. Der Beginn einer Reise

4. Neugier und Wissen

5. Abkehr von Traditionen

6. Das Neue

7. Öffnung des Geistes

8. Die Größe der Welt

9. Verbindung in die universelle Tiefe

10. Leben und noch mehr Leben

11. Gelassenheit, Akzeptanz und Erleuchtung

12. Zur Ruhe finden

13. Übung und Konzentrationsfähigkeit

14. Die Magie des Lebens

15. Und nun?

Die Konfrontation

Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich das allererste Mal mit dem Tod direkt konfrontiert worden war. Bis dahin beschränkten sich die realen Todesmeldungen auf die grausamen Berichte über Vietnam und die vielen Toten, über Verkehrsopfer, manche Gewaltdelikte und Gespräche der Verwandtschaft, wenn entfernte Familienmitglieder verstorben waren, die ich nicht einmal kannte. Aber dieses Mal war es anders. Meine Großmutter war gestorben. Eine Frau, die in meiner Erinnerung nur als fürsorgliche, liebevolle Mutter und Oma existiert. Die Türe zu ihrer Wohnung war immer offen, jeder konnte jederzeit zu ihr kommen und immer hatte sie etwas Süßes für uns Kinder zur Hand. Es war eine echte Anlaufstelle, die ich als Zuflucht, als Nest und als Schutzraum immer wahrgenommen hatte. Leider sind meine Eltern mit uns Kindern frühzeitig weg gezogen, nicht weit, aber doch so weit, dass ich meine Großmutter nur noch sehen konnte, wenn wir zu Besuch kamen.

Als meine Mutter mir ihren Tod mitgeteilt hatte, war ich mir dieser Tatsache zunächst gar nicht richtig bewusst gewesen. Ich erinnere mich noch daran, dass ich außer einem kleinen Stich im Herzen keinen großen Schrecken verspürt hatte. Vielleicht war ich noch zu jung gewesen, um diese Endgültigkeit richtig verstehen zu können. Zumindest in diesem Augenblick. Das wurde anders, als der Tag der Beisetzung näher kam. Es geschahen ein paar entscheidende Dinge, die ich bis heute – mehr als fünfzig Jahre später – niemals vergessen habe.

Ich weiß nicht mehr, welcher Wochentag es gewesen ist. Wir fuhren schweigsam zur Beerdigung. Mein Vater – es war seine Mutter, die er sehr verehrt hatte – war äußerst still. Meine Mutter legte ihm ein paarmal die Hand auf den Arm, das mir nicht entgangen war. Das war die einzige mitfühlende Reaktion, die ich damals mitbekommen hatte. Mein Vater kam aus einer Generation, in der man alles tat, um nicht große Gefühle zeigen zu müssen. Emotional war er mehr als zurückhaltend. Das hat er leider bis zu seinem Tode niemals ablegen können. Jedenfalls haben wir Kinder, meine Schwester und ich, sehr wohl mitbekommen und verstanden, wie tief ihn der Tod der Mutter getroffen hatte. Gesprochen hat er darüber nie.

Als wir vor der Kirche ankamen, waren die Verwandten alle schon anwesend. Wir waren eine große Familie, dementsprechend voll war es in der Kirche während der Trauerfeier. Erst da konnte ich meine Tränen kaum mehr zurückhalten. Und erst da begriff ich die Unumkehrbarkeit dieser Tatsache. Die gesamte Trauergemeinde war erschüttert, saß weinend in den Bänken und schluchzte mehr oder weniger stark vor sich hin. Doch eines ließ mich bereits vor dem Gang in die Kirche aufhorchen. Meine Großeltern väterlicherseits hatten in ihrem Leben elf Kinder in die Welt gebracht. Da zwei oder drei, ich weiß es nicht mehr so genau, schon frühzeitig oder kurz nach der Geburt verstorben waren und ein Kind meines Wissens später verstorben ist, blieben noch acht der Geschwister übrig, die mit ihren Familien alle zugegen waren. Wie gesagt, es war eine sehr große Familie gewesen. Zu meiner größten Überraschung begrüßte mein Großvater vor der kirchlichen Trauerfeier alle mit einem Lächeln und dem Statement, dass meine Oma friedlich und schmerzlos eingeschlafen war. Er war völlig ruhig gewesen und ich bewunderte das damals sehr. Natürlich musste auch er während des Gottesdienstes so viele Tränen vergießen und ich erinnere mich noch an dieses tiefe intensive Mitgefühl, das ich damals für ihn empfunden hatte. Es war weniger der Schmerz aufgrund des Todes meiner Großmutter, eigentlich war es der Stich in meinem Herzen, weil ich nicht wollte, dass mein Großvater so leiden musste. Ich wollte ihm beistehen, ihn irgendwie trösten, ihm diesen traurigen Schmerz nehmen, aber ich hätte wohl gar nicht gewusst, wie ich das anstellen sollte. Erst viele Jahre später konnte ich meine tiefen Gefühle verstehen - dass ich bereits als Kind und dann vor allem als Jugendlicher ein Hochsensibler, ein stark reaktiv introvertierter Mensch war, der auf solche Ereignisse heftiger reagiert als andere. Und das immer schon so gewesen war. Eine Erkenntnis, die sich erst nach Jahrzehnten herausgebildet hatte.

Nach der Trauerfeier mussten wir einen längeren Weg bis zum Friedhof laufen. Viele fuhren mit dem Auto, aber mein Großvater wollte laufen. Ich begleitete ihn damals und er erzählte mir, wie die Oma in der Nacht gestorben war. So weit ich mich noch erinnern kann, wachte er in der Nacht zwischen zwei und drei Uhr auf. In diesem Moment hatte er schon gewusst, dass sie gegangen war. Mein Großvater hatte zwei Weltkriege überlebt, er war in Russland und in Gefangenschaft in Frankreich, er wusste, wann ein Mensch tot war.

Er rief nicht den Notarzt, er setzte sich nur auf und nahm Abschied von seiner Frau, mit der er ein so langes Leben geteilt hatte. Kein leichtes Leben während der schlimmsten Zeiten in Deutschland und Europa. Noch heute hege ich allergrößte Bewunderung für diesen Mann, der trotz so vieler schrecklichen Erlebnisse, trotz der Vertreibung aus seiner Heimat und einer Flucht ins Ungewisse seinen Humor und seine Lebensfreude niemals verloren hatte. Mein Großvater ist immer noch mein großes Vorbild, weil er inmitten eines traditionell patriarchalischen Familienbundes so ganz anders war als seine Kinder. Er war eine Respektsperson, ohne dass er es nötig gehabt hätte, Angst oder Furcht zu verbreiten. Längst schon weiß ich, dass er dem Leben gegenüber sehr weise gewesen war. Ich habe ihn nur freudig und humorvoll kennen gelernt. Immer offen und niemals furchtsam. Oft sagte er, wenn die Reihe an ihm wäre, zu gehen, würde er sofort gehen. Er würde nicht als Bettlägriger abhängig von der Güte anderer enden wollen. Jedenfalls habe ich das immer so erlebt. Und ich kann mich noch gut an das schelmische Lächeln erinnern, das er dabei aufgesetzt hatte.

Erst am frühen Morgen rief er den Arzt. Die Stunden mit seiner toten Frau hatte er genutzt, um sich intensiv von ihr verabschieden zu können.

Am Friedhof angekommen, war meine Großmutter in der Aussegnungshalle aufgebahrt. Damals war es noch üblich, dass der Sarg geöffnet war und die Angehörigen sich verabschieden konnten. Heutzutage hat sich das ja geändert, wobei ich glaube, dass auf dem Lande dies bestimmt immer noch so gehandhabt wird. Wir gingen in einer Reihe an diesem riesigen Glasfenster vorbei, hinter dem der Sarg stand und wir unsere Großmutter sehen konnten.

Ich hatte vor diesem Augenblick große Angst und wollte das eigentlich nicht. Aber ich traute mich nicht, es nicht zu tun. Dementsprechend schockiert starrte ich in ein totes Antlitz, das nicht mehr an meine Oma erinnerte. Verstehen Sie mich nicht falsch, man hatte sie wirklich ansprechend hergerichtet, aber in diesem Moment wurde mir bewusst, dass dies nur eine leblose Hülle war, die vom Leben verlassen wurde. Ich bin mir nicht mehr sicher, aber ich glaube, mir ist übel geworden. Bis dahin hatte ich noch nie einen toten Menschen gesehen. Der weitere Verlauf auf dem Friedhof ist mir weitestgehend entfallen. Ich weiß nur noch, dass wir uns alle hinterher zum Leichenschmaus getroffen hatten und dass ich das damals als absolut widerwärtig empfunden hatte. Wie kann man im Angesicht des Todes noch essen und gute Laune zeigen? Ich empfand das frevelhaft und fast pervers – Ergebnis einer christlichen Erziehung, in der der Tod nichts zu suchen hatte. Heute, nachdem ich so viele andere Kulturen kennen gelernt, mich mit dem Tod intensiv beschäftigt habe, denke ich darüber natürlich vollkommen anders.

Ein Ereignis an demselben Tag ist mir auch jetzt noch in mein Gedächtnis eingebrannt. Als wir wieder zu Hause waren, saßen wir alle noch abends im Wohnzimmer. Der Freund meiner Schwester, mein späterer Schwager, war auch dabei. Während des Abends wurde mein Vater immer blasser. Bis mein Schwager irgendwann scherzhaft fragte, ob er vielleicht ein Bier bräuchte. Dann kippte mein Vater um, der Notarzt wurde gerufen, der ihn fragte, ob etwas vorgefallen war. Als meine Mutter ihn aufklärte, dass wir gerade die Großmutter zu Grabe getragen hatten, war die Sachlage für den Arzt klar. Mein Vater hatte einfach einen Kreislaufzusammenbruch. Das Bewusstsein des großen Verlustes konnte er nicht mehr kompensieren. Damals kam mir schon der Gedanke, den Umgang mit dem Sterben und dem Tod nicht einfach zu ignorieren und dabei zu hoffen, dass dieses Thema spurlos an mir vorübergehen würde.

Neun Jahre später starb mein Großvater. Fast auf den Tag genau wie meine Großmutter. Vielleicht war es auch derselbe Tag, ich bin mir heute nicht mehr sicher. Ich lebte schon mit meiner späteren Frau zusammen. Ich hatte Grippe und lag fiebrig im Bett. Meine Freundin kam ins Schlafzimmer und sagte mir, dass mein geliebter Opa gestorben sei. Nie zuvor hatte ich so tiefe Trauer empfunden und nie zuvor hatte ich so geweint. Es war einfach völlig unerwartet. Ich konnte nicht einmal zu seiner Beerdigung gehen, weil ich so krank war. Erst später hatte ich sein Grab besucht. Allein. Ich wollte niemanden dabei haben. Er hatte sein Versprechen, nicht als Pflegefall enden zu wollen, wahr gemacht. Es war ein Schlaganfall, der ihn umgeworfen hatte. Die Diagnose war eine halbseitige Lähmung und wahrscheinlich der Verlust motorischer Fähigkeiten wie zum Beispiel auch das Sprechen. Mehr konnte man nicht sagen, weil er nicht ansprechbar gewesen war. Zwei Tage später ist er gestorben. Eigentlich war der Schlaganfall nicht unbedingt akut lebensbedrohlich gewesen, aber als ich das alles erfahren hatte, wuchs meine Verehrung ins Unendliche. Mir war vollkommen klar, dass er seinen Tod selbst herbeigeführt haben musste. So, wie er es immer gesagt hatte. Kein Pflegefall. Auch diese Gedanken behielt ich bei mir – bis heute.

Sein Tod hatte mich schwer getroffen, aber auch etwas Entscheidendes in mir ausgelöst. Ich wollte nicht noch einmal unvorbereitet vor dieser Endgültigkeit stehen. Ich wollte endlich wissen, was der Tod eigentlich ist. Was passiert mit uns, wenn wir sterben? Und was passiert mit unserem Geist, wenn unser Körper nur noch eine wertlose Hülle ist? Und warum zum Teufel spricht niemand darüber?

Der Tod meines Großvaters war der Beginn einer unerklärten Neugierde, die ich im Grunde genommen immer schon hatte und nur mit niemandem geteilt habe. Mir war damals schon klar, dass ich nur verständnisloses Kopfschütteln ernten würde, wenn ich mit jemandem über so etwas angeblich Morbides sprechen sollte. Also beließ ich es dabei, meine Nachforschungen für mich zu behalten. Ich glaube, es war eine gute Entscheidung, weil ich mir mein eigenes, verständliches Bild machen konnte, ohne dass ein Einfluss von außen dieses Bild verzerren könnte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich begann, mich mit dem Buddhismus zu beschäftigen und – naiv wie ich war – meinte, ich müsste mein Umfeld und meinen Familienkreis mit einbeziehen. Die erste Reaktion war die, dass man mir vorwarf, mich mit unsinnigem Quatsch zu beschäftigen und es besser wäre, niemanden damit zu behelligen. Ich war schockiert gewesen über die Intoleranz und der Ablehnung eines Bereichs, von dem niemand auch nur den Hauch einer Ahnung hatte. Alles, was fremd war, wurde von vornherein abgelehnt und als Nonsens deklariert. Tatsächlich wurde ich teilweise böse ermahnt, den Namen des Herrn nicht zu verunglimpfen, wenn ich es ab und zu wagte, die Lehre des Christentums und die Bibel in Zweifel zu ziehen und ihrerseits auf einen gewissen Nonsens verwies.

Ich ließ mich sowieso nicht beirren und als über die Jahre ein paar Familienmitglieder ihr Leben beenden mussten und einen langen schmerzvollen Weg dahin gingen, weil sie sich beizeiten nicht damit beschäftigen wollten, bestätigte das mir nur meinen Willen, das Thema des Sterbens und des Todes nicht zu ignorieren. Die Sterbenden konnten trotz oder gerade der vielen Medikamente wegen einfach nicht loslassen und Monate mussten vergehen, bis sie bereit waren, den letzten Schritt zu tun. Die letzten Wochen waren sie kaum mehr ansprechbar. Erst als einer in ein Hospiz verlegt werden konnte, die Medikation eingestellt wurde und die ansprechende stille Umgebung ihn zur Ruhe kommen ließ, konnte er sein sinnloses und leidvolles Festhalten aufgeben und in Frieden sterben. Für mich war das noch mehr Beweis, mich damit ernsthaft auseinander zu setzen. So wollte ich einmal nicht diese Welt verlassen. Verwirrt, ängstlich und panisch...

Der Tod meiner Großeltern war für mich ein Weckruf gewesen und hat mich gegenüber dem Leben unglaublich sensibilisiert. Ohne es sofort zu bemerken, öffnete sich mein Geist, um diesen Zusammenhang des Daseins begreifen zu können. Ich begann gleichzeitig, die christliche Lehre langsam aber sicher in realen Zweifel zu ziehen. Es beschäftigte mich sehr, warum das Thema Tod und Sterben so ein absolutes Tabu sein musste und nur als bibelintensive Rezitation Erwähnung fand. Ich war sowieso nie der große Gläubige und ein regelmäßiger Kirchgänger schon gar nicht. Ich wurde evangelisch – meine Mutter ist streng katholisch aufgewachsen und mein Vater kam aus evangelischen Verhältnissen - erzogen und als Kind fast schon gezwungen, Sonntags den Gottesdienst zu besuchen. Ich hasste das und oft genug ging ich gar nicht hin, fuhr dafür mit meinem Fahrrad eine Stunde durch die Gegend und erzählte später auf Nachfrage irgendwas, was ich noch vom Religionsunterricht wusste. Ich war wohl recht überzeugend, weil meine Eltern, hauptsächlich meine Mutter, meine umfassenden erfundenen Ausführungen nie anzweifelten. Meine Fantasie war schon immer weit umfassend. Und ganz ehrlich ging mir der Gottesdienst im wahrsten Sinne des Wortes am Arsch vorbei. Wie alles, was man mir in meinem Leben unter Zwang auferlegen wollte.

Natürlich musste ich auch vor meiner eigenen Konfirmation in den Konfirmandenunterricht gehen. Was mir im Übrigen von Anfang an großen Spaß machte, weil unser Lehrer nicht der typische Pfarrer war, der uns nur die Bibel nahebringen wollte. Es war mehr ein spiritueller Unterricht, der mich sogar interessierte. Fragen Sie mich bitte nicht, welche Themen wir diskutierten, ich habe keinen blassen Schimmer mehr. Aber dieses freudige Gefühl, zweimal die Woche dorthin gehen zu können, dieses Gefühl kenne ich noch. Wahrscheinlich hatten auch die vielen Mädchen großen Anteil daran. Ich war vierzehn und wenn sie mich anlächelten, begann in mir etwas zu brennen, das ich bis dahin eigentlich nicht gekannt hatte.

Na, jedenfalls hatte ich nach dem Tod meines Großvaters das große Bedürfnis nach Spiritualität. Keine Kirche, kein Glauben, keine Doktrin, sondern die Suche nach geistiger Weite und Erkenntnis. Nach einem Verstehen, das ich noch nicht in Worte fassen konnte, weil erst ein Gefühl am Entstehen war, das ich zwar in mir laut pochen hörte, aber keine Sprache dafür hatte. Ich bin heute sehr froh und dankbar, dass mir meine Frau niemals in meine Beschäftigungen hinein geredet hatte und mich einfach machen ließ. Selbst hatte sie kein großes Interesse an Spiritualität, aber sie respektierte mein tiefes Beschäftigen dafür. Wie so oft, erscheint zuerst ein imaginäres Gebilde, das eine Emotion in Gang setzt. Bis es klar ersichtlich wurde und eine wörtliche Beschreibung erfuhr, verging viel Zeit. Aber ein unumkehrbarer Anfang war gemacht. Ein Same war am Aufgehen – und ich auch.

Erste Gedanken

Um sich ernsthaft und objektiv mit dem Sterben und dem Tod zu beschäftigen, muss man zuerst einmal lernen, das Leben wirklich zu schätzen, zu genießen und zu lieben. Die Selbstverständlichkeit, in der wir unsere Kindheit verbracht hatten, nahm langsam und schleichend ab, weil mit zunehmendem Alter auch konkrete Wünsche und Träume entstanden. Die Realität wurde uns mehr und mehr bewusst und die heimische Nestwärme transformierte sich zum Drang nach außen. Irgendwann war eben die Kindheit vorbei und es bildete sich langsam eine eigene Persönlichkeit heraus. Die enthusiastische Aufbruchstimmung der jungen Jahre bietet dazu die beste Gelegenheit. Denn alles ist ja neu, passiert das erste Mal, lässt uns jubeln, feiern, ausrasten, staunen und über alle Maßen das Leben lieben. Die großartigste Zeit meines ganzen bisherigen Lebens – welch Wunder - waren die Jahre zwischen dem sechzehnten und dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Es war die Zeit des Wow-Effekts. Die ganze Welt öffnete sich wie eine gigantische riesige Türe, die das Leben in Form von gleißendem Licht hereinließ. Es war eine aufregende Entdeckungsreise, die sich im eigentlichen Sinne nie mehr wiederholen würde. Leider weiß man das als junger Mensch ja nicht. Darum habe ich immer versucht, meiner Tochter nahe zu bringen, wie wichtig diese Zeit ist und wie prägend sie für die Zukunft sein wird. Die Kindheit war ja schon wunderschön und so sagenhaft sorglos gewesen, aber die Jugendzeit und die frühe Erwachsenenzeit katapultierte uns so manches Mal in Sphären, die später nur noch selten erreicht werden würden. Zusammen mit einer mehr oder weniger lauten Rebellion gegen konservative Ansichten der Eltern und den anderen Erwachsenen traten wir an, um ein eigenes selbstbestimmtes Leben aufzurufen. Wir befanden uns in den Siebzigern und die autoritären Ansichten waren längst nicht vorbei. Menschen über dreißig waren für uns uralt und hatten verschobene Ansichten und die Generation der Eltern war für uns ein konservatives engstirniges Spießervolk, das uns junge Leute nur gängeln wollte und durch ihre fast schon kranken, konventionellen Thesen einer gehorsamen und „anständigen“ Jugend jeden von uns zum spöttischen Lachen brachte. Bestimmt kennen viele diesen idiotischen Spruch: „Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, hast du zu tun, was wir dir sagen…“ Ich verfiel regelmäßig in einen Lachanfall, wenn mein Vater mit so etwas anfing. Das kam immer dann vor, wenn er nicht mehr weiter wusste, wie er sich durchsetzen sollte. Ich war durchaus provokant und zynisch, was vor allem meinen Vater auf die Palme brachte. Aber auch meine Mutter stand ihm in nichts nach. Sie wussten es eben nicht besser, hatten nie etwas anderes gelernt als Autorität und Strafe und wollten auch nichts anderes lernen. Aber seit den 68-er Revolten hatten sich die Zeiten eben geändert. Die Jugend begehrte auf und ich insbesondere auch. Die elterliche Generation wollte das nicht begreifen und schon gar nicht akzeptieren und bewirkten mit ihrer autoritären Art nur noch mehr Widerstand. Was meinen empfindlichen Nerv traf, der sich gegen jeglichen Zwang erhob. Es war einfach meine Art, mir einen Platz zu erkämpfen. Ich war so etwas wie ein stiller Rebell, aber wohl sehr bestimmt, wenn ich den Aussagen meiner Freunde zur damaligen Zeit Glauben schenke. Es kam soweit, dass ich zu Hause gar nichts mehr erzählte und mich weitgehend zurückzog. Meine Eltern wussten nicht mehr, wo und mit wem ich irgendwo war, sie hatten von verschiedenen Freundinnen keine Ahnung, weil ich sie nicht zu mir nahm – nur in seltenen Ausnahmen - und meinen Freundeskreis kannten sie nur noch im Kern, der schon immer bestanden hatte. Kurzum, ich begann, meine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und konnte dabei am wenigsten die Eltern gebrauchen. Und wer brauchte die als Jugendlicher schon. Das Abenteuer Leben fand ohne sie statt und das war auch gut so.