In fernen Welten - Robert Hubrich - E-Book

In fernen Welten E-Book

Robert Hubrich

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Beschreibung

Als der junge Straftäter Roland vor der Gefängnisdirektorin steht und hört, was ihm da angeboten wird, kann er zunächst nur ungläubig staunen. Im Zuge von besonderen Resozialisierungsmaßnahmen wurde er ausgesucht, sich in einem Kinderheim voller Waisen zu bewähren. Als er zudem erfährt, dass sich dieses Heim in Kathmandu in Nepal befindet und er nur noch zustimmen muss, sieht er darin eine seltene Chance, seinem Leben die entscheidende Wende zu geben. Ahnungslos betritt er eine fremde Welt, die ihn mit Verantwortung, Hingabe und unerklärlichen mystischen Erscheinungen konfrontiert. Buddhistische Mönche erkennen in ihm das Medium, das die Reinkarnation eines hohen Lamas finden soll. Zusammen mit Anjeela, einer nepalesischen Studentin und anderen Gefährten reist er illegal nach Tibet, um seinem Schicksal zu folgen. Tod, Leid, Angst, aber auch Hoffnung werden zu seinen steten Begleitern - und Anjeela, seine große Liebe. Das tibetische lebensgefährliche Abenteuer bereitet einen neuen Lebensweg für Roland, der sich auch durch die Rückbeorderung nach Deutschland nicht davon abhalten lässt, nach Nepal zurück zu kehren. Aber wieder legt ihm das Schicksal eine Mission in den Weg. Anjeela ist auf der Suche nach einem uralten Artefakt in der Wüste Takla Makan verschollen. Wieder reist er nach China, um den Menschen zu suchen, der ihm alles bedeutet. Überraschend erhält er Hilfe von mehreren Seiten, aber die chinesischen Behörden sind längst auf der Spur des verschollenen Suchtrupps, der das tibetische Artefakt bereits in Händen hält, das der Auslöser für einen erstarkten tibetischen Widerstand sein kann. In den endlosen Weiten der lebensfeindlichen Sandwüste führt das Schicksal die beteiligten Gruppen zusammen und wartet neugierig auf das letztendliche Finale. Und noch ist längst nicht entschieden, ob Roland und Anjeela nicht doch ein sandiges Grab erhalten werden...

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Ächzend öffnete sich die altersschwache Türe. Die rostigen Scharniere quietschten so laut, dass sich die Anwesenden die Ohren zuhielten. Irgendwann würde das alte Ding aus dem Rahmen fliegen. Mitsamt der quietschenden Scharniere. Es grenzte schon an ein kleines Wunder, dass es nicht schon längst passiert war. Ein bisschen Öl oder Fett würde wahrscheinlich wie von Zauberhand Abhilfe schaffen, aber dazu hatte niemand Lust oder ein naheliegendes Interesse. Das würde ja bedeuten, arbeiten zu müssen und Arbeit war jetzt wirklich kein sehr lohnenswerter Begriff. Also beließ man es in dem desolaten Zustand und versuchte, das jaulende und kreischende Geräusch zu ignorieren. Schließlich wohnte man nicht in dem leer stehenden Haus. Es diente nur als gelegentlicher Treffpunkt und mit der Zeit hatte man sich eingerichtet mit ein paar ausgeleierten Sitzgelegenheiten, die niemand mehr gebraucht hatte. Sperrmüll eben.

Ein blondgelockter Kopf erschien und zog einen schlaksigen Körper nach. Grinsend stand Klaus in der Türe, trat mit dem Fuß gegen diese, so dass sie mit einem donnernden Krachen zufiel und schlenderte lässig auf die Freunde zu, die ihn nickend anstarrten.

„Hey, ihr Saftsäcke, was geht ab?“

Er hob die geöffnete rechte Hand und mit einem Klatschen schlugen die Hände zusammen. Roland lehnte an einem Holzbalken und zündete sich gerade eine Zigarette an. Sein Blick war mürrisch und fast abweisend.

„Was soll schon abgehen? Wir bräuchten ein bisschen Kohle, dann könnten wir ein paar Flaschen Stoff kaufen und wenigstens ein bisschen Party machen. - Hast du Kohle?“

Er sah durchdringend Klaus an und erwartete keine zufrieden stellende Antwort. Klaus schüttelte den Kopf und lachte zynisch.

„Nee, meine Alten haben mir das Taschengeld gesperrt. Wegen der verfickten Sechs in Mathe. Die machen den vollen Aufstand wegen der Scheißnoten.“

Er schüttelte verärgert den Kopf. Er hasste die Schule. Zum Glück war es das letzte Schuljahr, dann war Schluss mit Lernen, Noten und dem dauernden Ärger mit den Lehrern und den Eltern. Was er danach machen wollte, wusste er aber auch nicht. Im Moment war ihm das auch völlig egal. Seine Eltern hatten genug Geld, die könnten locker noch länger für ihn aufkommen. Er hatte keine Eile, in irgendeinem Job unterzukommen. Und wenn er an den Sommer dachte, wollte er doch lieber zum Baden gehen als in irgendeiner Arbeit zu schwitzen. Die Eltern kümmerten sich sowieso nicht um ihn, die sollten ihn noch eine Zeit lang in Frieden lassen. Zum Arbeiten hatte er absolut keine Lust. Sollten doch andere machen.

Roland zog an seiner Kippe und schnitt eine Grimasse. Er hatte aus dem Geldbeutel seiner Mutter zwei Scheine herausgezogen, aber das reichte auch nicht richtig. Dass seine Mutter zwei Jobs ausfüllen musste, um die Familie durchzufüttern, interessierte ihn nur am Rande. Er war der Meinung, dass seine Talente vollkommen verkannt wurden und er natürlich auf einem höheren Niveau existierte als andere Menschen. Darum würde er auch niemals billigen Alkohol kaufen. Oder diesen ätzenden Weinfusel, den die Obdachlosen soffen, weil sie sich nichts anderes leisten konnten. Er war überzeugt, dass er nur das Beste verdient hatte und haderte mit seinem so miesen Schicksal, das ihm immer zu wenig Geld in der Tasche ließ. Dieses verdammte Geld, dachte er oft. Warum haben manche so viel davon und viele so wenig? Es machte ihn wahnsinnig, wenn er an diese vermeintliche Ungerechtigkeit dachte. Wahnsinnig und aggressiv. Roland war überaus reizbar. Er hatte sich nicht besonders gut unter Kontrolle. Das war schon so, seit er ein kleiner Junge war. In einer Familie mit fünf Kindern konnte er es sich als zweitjüngster nicht leisten, nachgiebig zu sein. Denn selbst die kleinste Schwäche wurde von den Geschwistern gnadenlos ausgenutzt.

Seine Eltern lebten in ärmlichen Verhältnissen und sein Vater brachte als Maurer nicht allzu viel nach Hause. Sie kamen alle mehr oder weniger knapp über die Runden. Geschenke und Privilegien kannte Roland nicht. Wenn einmal Geld übrig war, konnte man sicher sein, dass sein Vater es schnurstracks in die nächste Kneipe trug. Dann kam er völlig besoffen nach Hause und mehr als einmal hatte er in seinem cholerischen Wahn Rolands Mutter verprügelt und die Kinder gleich dazu. Einmal kam sogar das Jugendamt, das ein Nachbar informiert hatte, aber nach Besichtigung der Gegebenheiten waren sie wieder gefahren, ohne dass noch etwas passiert wäre.

Roland hasste seinen Vater. Früher konnte er sich nicht wehren, weil er körperlich dazu weder in der Lage war noch den nötigen Mut aufbrachte, ihm gegenüber zu treten. Dazu saß seine Angst vor ihm zu tief. Aber jetzt, mit siebzehn Jahren, war er so weit, dass er zumindest kräftemäßig seinem Vater ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen war. Er hatte Unterricht in Karate genommen, den seine Mutter für ihn bezahlte. Dazu ging sie zweimal in der Woche zum Putzen. Nur um ihn von seinen Aggressionen zu befreien. Mit großer Sorge sah sie die Entwicklung ihres Sohnes, der zu der Art seines verhassten Vaters neigte. Cholerisch und unberechenbar in seinen Gefühlsausbrüchen. Noch hörte er ihr zu, wenn sie ihn ab und zu zur Seite nahm und ernsthafte Worte mit ihm sprach. Dann nickte er dazu, murmelte etwas von ‚Ja, ist gut‘, doch es war nicht schwer zu erkennen, dass er nur seine Mutter beruhigen wollte. Immer weiter entfremdete sich Roland von seinem Elternhaus. Eigentlich nur von seiner Mutter, denn ein väterliches Verhältnis, das auch als solches zu bezeichnen gewesen wäre, hatte nie existiert.

In mancher stillen Stunde hätte Roland wer weiß was dafür gegeben, einen Vater zu haben, der für ihn da war und zu dem er hätte gehen können, so wie er es im Fernsehen immer bei diesen Seifenopern gesehen hatte. Aber er musste sich damit abfinden, dass dieser Teil seines Lebens spurlos an ihm vorbei gegangen war. Sein Vater war eben kein Vater, sondern nur ein roher Klotz, dem seine Familie eigentlich scheißegal war. Sollte er einmal sterben, so war sich Roland sicher, dass er ihm keine einzige Träne nachweinen würde. Wahrscheinlich würden er und der Rest der Familie endlich aufatmen können.

Irgendwann war das eingetreten, was seine Mutter immer befürchtet hatte. Die Konfrontation Rolands mit seinem Vater. Als der wieder einmal vollkommen betrunken aus der Kneipe kam und zuhause zu randalieren anfing, auf seine Frau wie von Sinnen einschlug und brüllte wie ein wild gewordener Stier, war Roland auf ihn losgegangen und hatte ihn im wahrsten Sinne des Wortes niedergekämpft. Selbst als sein Vater schon am Boden lag und brüllend und keuchend nach Luft japste, blutverschmiert und nicht mehr Herr seiner selbst, prügelte Roland auf ihn ein. Nur mit Mühe konnten seine Mutter und seine jüngere Schwester ihn von dem halb bewusstlosen Mann wegziehen, sonst hätte er ihn in seiner Wut wahrscheinlich umgebracht.

Acht Tage lag der im Krankenhaus. Als er wieder nach Hause kam, sprach niemand mehr ein Wort über den Vorfall. Aber von diesem Tage an war Roland ein anderer geworden. Mit Erstaunen stellte er fest, dass sein Vater ihm aus dem Weg ging. Er hatte Angst. Das wurde Roland in diesem Moment bewusst. Angst. Er spürte die Angst, die sein Vater zu verstecken versuchte. Der hoffnungsvolle Wunsch, dass der Vater und Ehemann verstehen würde, warum dieser Eklat passieren musste und dass nur er allein dafür verantwortlich gewesen war, erfüllte sich bei den Familienmitgliedern nicht. Aber sie erkannten die tiefe Furcht, die diesen Mann anfing zu beherrschen. Roland fühlte von da an diese gefährliche Macht, die seine innere Stärke in die Höhe hob und ihm suggerierte, dass die Angst der anderen ihn mächtig werden ließ. Unkontrolliert pflanzte sich diese Macht in ihm ein, wurde größer und größer und vernichtete den letzten Rest moralischer Bedenken.

Dann begann ein moralischer Abstieg. Gewalt und Rebellion wurden die Leitbilder seines Alltags. Vermischt mit einem nicht zu unterdrückenden Neid, gepaart mit Eifersucht und grenzenloser Wut auf alle, die ein seiner Meinung nach spießbürgerliches und hassenswertes Leben lebten. Und er daran nicht teilhaben durfte, weil die Gesellschaft es nicht wollte.

Er hatte eine Lehre als Schlosser begonnen. Aber er kam mit dem Lehrherrn nicht zurecht. Und als er zudem einer Kollegin eine Ohrfeige versetzte, weil sie ihm eine Feile genommen hatte, setzte ihn der Chef an die Luft. Um ein Haar wäre er auch noch auf ihn losgegangen, aber im letzten Moment beherrschte er sich und lachte den Mann noch frech an, als der ihm die Papiere aushändigte.

Seitdem war er arbeitslos, ziellos in seinen Zukunftsplänen – die es ohnehin nicht gab – und verbrachte die Tage in Frustration und latenter Aggression. Einzig das Treffen mit seinen Gesinnungsgenossen gab den Tagen noch so etwas wie Struktur. Mit Betrügereien und Diebstählen verschafften sie sich immer wieder Geld, Zigaretten und Alkohol. Handtaschenraub zählte für sie nur noch als Sport und das Stehlen im Supermarkt war alltäglich geworden. Irgendwann kam der Tag, an dem sie ihren ersten Überfall verübten. Ein Mann auf der Straße war das willkürlich ausgewählte Opfer. Sie schlugen ihn zu Boden, leerten seine Taschen und liefen davon. Es war leicht gewesen. Der Mann hatte Angst gehabt und er hätte seine Brieftasche auch freiwillig hergegeben. Aber Roland meinte, es wäre wohl schicker, wenn man brutal vorging. Da keine Einwände folgten, wurde es auch in den folgenden Fällen so gehandhabt. Brutal, skrupellos und vollkommen entartet. Besonders die sechzehnjährige Rosi fand Gefallen an den Ängsten ihrer Opfer und sie musste auch jedes Mal noch einmal zuschlagen, wenn die Überfallenen schon längst zu Boden gegangen waren.

Drei Jungen und zwei Mädchen bildeten eine sonderbare Gemeinschaft, die nur noch aus Hass, Neid und Brutalität zu bestehen schien. In einer schon psychopathischen Art sahen sie sich als Familie, die um ihr Auskommen in dieser Gesellschaft zu kämpfen hatten und dies auch tat. Keiner von ihnen kam auch nur ansatzweise auf den Gedanken, dass ihr Tun falsch gewesen wäre und ihr Verhalten irgendwann Konsequenzen nach sich ziehen würde. Im Gegenteil, sie fanden die Überfälle reizvoll und nervenkitzelnd. Sie fühlten sich stark und überlegen dabei und es brachte teilweise viel Geld ein. Manchmal natürlich auch gar nichts. Vor zwei Tagen hatten sie ein junge Frau von hinten niedergeschlagen. Aber in ihrer Handtasche befand sich nichts außer einem Lippenstift, ein bisschen Make-up und gerade einmal fünfzehn Euro. Vor lauter Wut hatte Roland sie angeschrien, wo ihr verdammtes Geld sei, aber weinend und schluchzend sagte das Mädchen, dass es keines hatte. Daraufhin brach ihr Roland das Nasenbein. Als sie sich von ihrem zusammen gekrümmten Opfer abwendeten, trat ihr Rosi noch einmal so heftig in den Magen, dass das arme Ding sich übergeben musste. Lachend rannten die fünf davon, nur Roland hatte nicht gelacht. Er war lediglich verärgert, dass sie keine Beute machen konnten. Das war das Einzige, was sein Gewissen beunruhigte…

Und nun stand er da, lehnte weiterhin an dem Holzpfosten und überlegte, was sie weiter unternehmen sollten. Eigentlich war das doch alles Peanuts, nichts Großes, nichts, von dem man eine Weile gut leben konnte.

„Also, wo gibt’s heute was zu holen?“ fragte er in die Runde. Klaus hatte sich inzwischen auf eine Kiste gesetzt. Neben ihm saß Rosi und ihr gegenüber hatte Bernhard seinen Fuß auf einen Stapel Bretter gestellt und stützte seinen Ellbogen aufs Knie. Bernhard war ein Waise. Er wohnte immer noch in einem Heim, aus dem er schon zum x-ten Male abgehauen war. Immer wieder war er zurück gekommen und immer wieder hatte man ihm eine neue Chance gegeben. Er hatte keine direkten Bezugspersonen. Früh war er selbständig geworden, aber aufgrund mangelnder guter Freunde wurde er nach und nach in den Sog jugendlicher Kriminalität verstrickt. Für ihn war nur noch wichtig, wie gut oder schlecht er aus einer Sache herauskommen konnte. Alles andere war nebensächlich und interessierte ihn kaum. Er hatte schlichtweg keine Erwartungen mehr an das Leben. Mit siebzehn. Die vielen Chancen, die man ihm geboten hatte, die Möglichkeiten, ein eigenständiges, eigenverantwortliches Leben führen zu können mit einem Job, einem regelmäßigen Gehalt und ein Gefühl, damit etwas für sich selbst schaffen zu können, hatte er leidenschaftslos davon ziehen lassen. Mittlerweile waren seine Gefühle für die Mitmenschen völlig abgestumpft und er kämpfte auch nicht mehr dagegen an. Die Gruppe war das erste Mal in seinem kurzen Leben so etwas wie eine Familie, und das wollte er mit allen Mitteln festhalten.

Ein Zischen erklang und ein Streichholz erhellte den zwielichtigen Raum. Die hübsche Marianne zündete ihre Zigarette an und sog gierig den Rauch in die Lungen. Marianne war die große Ausnahme in der Gruppe. Sie kam aus einem gutbürgerlichen Haus mit einer intakten Familienstruktur und einem familiären Umfeld, das sie Kind und Jugendliche sein ließen. Vielleicht war es genau das, was ihr fürchterlich auf die Nerven ging. Sie hielt ihre Eltern für Spießer der Spitzenklasse. Sie verabscheute die gutbürgerliche Lebensart von ihnen und hielt ihnen laufend vor, wie kleinbürgerlich und langweilig sie doch wären. Sie hatte sich so weit von ihrem Elternhaus distanziert, dass ihre Mutter völlig verzweifelt war und nicht mehr wusste, wie sie jemals wieder Zugang zu ihrer Tochter bekommen sollte. Sie hatte keine Ahnung, was sie denn in der Erziehung falsch gemacht hätte. Und sie würde es auch nie begreifen – denn es gab nichts zu begreifen. Die Menschen entwickeln sich einfach so und niemand weiß, was für Auslöser denn verantwortlich waren, wie sich ein junger Mensch seinen Lebensweg sucht. Vor allem in den pubertären Jahren, in denen sich die Jugendlichen innerlich von ihrem Elternhaus lösten, wird der Erwachsene oft nur verständnislos den Kopf schütteln.

Marianne war intelligent. Selbstverständlich wurde sie auf ein Gymnasium geschickt. Ihre schulischen Leistungen waren auch nicht schlecht. Aber irgendetwas sträubte sich in ihr, dieses Leben mit seinen Doktrinen und seinen Anforderungen zu akzeptieren, ohne aufzubegehren. Sie war die typische Systemrevoluzzerin, wie sie die Studentenrevolten der 68er Bewegung hervorgebracht hatte. Sie war die rühmliche Ausnahme in dieser seltsamen Truppe, aber alle akzeptierten sie so, wie sie eben war. Vor allem ihr schon magischer Hang zum Abstrusen und Mystischen erschien den anderen zwar fremd und seltsam, aber ihr Geschick für das Geheimnisvolle faszinierte die Gruppe immer wieder aufs Neue.

„Geh´n wir doch in die Disco. Da ist heute Abend bestimmt viel los,“ meldete sie sich mit ihrer dunklen Stimme.

Die anderen sahen sich sich an. Rosi nickte zustimmend und Klaus sah fragend Roland an, der schweigend seinen Rauchkringeln nachsah. Dann nickte er bedächtig.

„Ok, gute Idee. Räumen wir den Laden mal auf…“ lachte er kichernd.

Der Freitagabend war der Beginn ins Wochenende. Nur für den arbeitslosen Roland spielte dieser Tag keine Rolle. Er verlief genauso wie jeder andere Tag der Woche. Werktag, Feiertag oder Sonntag – es war doch vollkommen egal. Nur eines veränderte sich stetig: mit jedem Tag, der verging, wuchs seine Frustration und seine innere Wut. Auf sich selbst, auf seine Lebenssituation und auf die Menschen, denen es besser ging als ihm. Und das waren viele. Neid, Missgunst und Aggression beherrschten seine Gedanken und ließen kaum noch positive Gefühle zu. Die Zeit zu verbringen, ohne etwas Sinnvolles zu tun, ließ ihn zunehmend in ein tiefes, schwarzes Loch fallen, das ihn in immer größerer Geschwindigkeit und in immer dunklere Tiefen wie ein überdimensionaler Staubsauger hineinzog, ohne dass er diesen gefährlichen Weg noch bewusst stoppen konnte. Dass er selbst derjenige sein musste, der sich aus dieser Stagnation herausbringen musste, war kein Gedanke, der sich in ihm etablieren konnte. Die Lunte war bereits angezündet worden und es war nur eine Frage der Länge, bis die kleine Flamme die Detonation auslöste.

Dröhnend stampften die riesigen Bassboxen, die rund um die Tanzfläche angeordnet waren. Der Lärmpegel war unbeschreiblich. Vernünftige Gespräche waren unmöglich in Gang zu bringen, also beschränkte man sich auf Gesten und Augensprache. Nur weiter hinten war es unter gewaltiger Anstrengung der Stimmbänder noch möglich, sich wenigstens halbwegs zu unterhalten. Die meisten standen um die halbrunde Tanzfläche herum und verfolgten mit coolem Blick und gespielter gelangweilter Miene das Geschehen vor sich.

Roland stand mit Klaus etwas erhöht neben einer Balustrade. Mitternacht war schon längst vorbei und die beiden dürften gar nicht mehr hier sein. Aber ihr Aussehen täuschte über ihr wahres Alter gewaltig hinweg und niemand kam auf den Gedanken, dass die beiden Burschen erst siebzehn Jahre alte waren. Sie hielten jeder ein Glas Bier in der Hand und nippten seit Stunden daran herum. Bier in der Disco war noch eines der billigeren Getränke, aber trotzdem so teuer, dass Roland immer darauf achtete, nur eines zu trinken. Wenn sie sich besaufen wollten, dann war es billiger, im Supermarkt Alkohol zu besorgen und eine Privatparty in ihrem verlassenen Schuppen zu veranstalten anstatt dies in der überteuerten Disco zu tun.

Zwei hübsche tanzende Mädchen erregten ihre Aufmerksamkeit. Ein dunkler Teint, lange schwarze Haare und kohlrabenschwarze Augen gaben ihrem Aussehen diesen südländischen, fast schon orientalische wirkenden Touch, der so exotische Wirkungen hatte. Immer wieder trafen sich die Blicke der Mädchen und der beiden Jungs und es begann sich ein knisterndes Spiel der Augen zu entwickeln. Irgendwann begann Klaus, im Rhythmus der Musik mitzutanzen. Zuerst auf der Stelle, dann sanft auf der Tanzfläche sich bewegend. In sich versunken näherte er sich immer weiter den beiden Schönheiten, die ihn aus den Augenwinkeln kichernd beobachteten. Dann befand er sich hinter ihnen und als sie sich umdrehten, verzog er das Gesicht zu einem Lächeln und ein lässiges ´Hallo` war zu vernehmen. Nicht akustisch, nur an der Form seines Mundes war es abzulesen. Die Mädchen lächelten aufreizend und ließen ihre perlweißen Zähne blinken. Roland hatte es Klaus inzwischen nachgemacht und nun tanzten sie wie zwei Pärchen im Takt der Musik. Die beiden Mädchen sahen sich an und kicherten immer noch.

Dann tippte Klaus der zierlicheren jungen Dame auf die Schulter und zeigte mit dem Finger an das Ende der Bar, um die unausgesprochene Frage zu stellen, ob sie denn nicht mit ihnen dorthin kommen würde, um sich besser unterhalten zu können. Die beiden Mädchen sahen sich an und blickten nervös auf die gegenüberliegende Seite der Tanzfläche, an der sich gerade zwei Typen einen Weg durch die Menge bahnten und auf Klaus und Roland zusteuerten. Roland bemerkte sie erst, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Langsam drehte er sich um und musste den Kopf heben, um seinem Gegenüber in die Augen sehen zu können. Der Große nickte mit dem Kopf und deutete den beiden Freunden an, mit ihnen zu kommen. Klaus blickte Roland an. Sie dachten in diesem Moment dasselbe. Das waren wohl die Freunde der Mädels. Sie sahen aus wie Türken. Oder Marokkaner. Oder beides. Roland zuckte nur die Schultern und folgte dem einen. Hinter ihm ging Klaus.

Sie waren schon fast am Ausgang, als der finster aussehende Kerl sich umdrehte.

„Willst du meine Frau anmachen oder was ist mit dir los, Arschloch?“

Der Akzent des rollenden R war unüberhörbar. Er rollte wild mit den Augen und stieß mit dem Finger Klaus vor die Brust.

„Ja und? Hast du ein Problem damit?“ fragte Roland dazwischen. Der Große schnaubte und sah ihm noch wilder ins Gesicht.

„Hey, pass´ auf, was sagst. Oder willst gleicht eins auf die Fresse!? Oder was, häh.?“

„Oooh, mein Gott. Du machst mir jetzt aber Angst…“

Roland wedelte zittrig mit den Armen und machte ein entsetztes Gesicht.

„Sind die Mädels aus deinem Harem oder was? Hast sie gekauft oder sind sie vielleicht deine Schwestern?? Und überhaupt...wer hat dich eigentlich aus der Mülltonne geholt und in dieses Land gelassen??? Was willst du hier? Halt warte ich weiß...wahrscheinlich abkassieren und schmarotzen. Hab´ ich recht oder hab´ ich recht, Kümmelfresser??!“

Roland war provokant, zynisch und beleidigend. Um seine Mundwinkel bildete sich ein diabolisches Lächeln und er wartete auf den Wutausbruch. Und genauso reagierte der auch. Sein Gesicht lief rot an und er wollte gerade die Faust heben und brüllend zuschlagen, als er einen stechenden Schmerz an seiner empfindlichsten Stelle spürte. Schlagartig veränderte sich seine Gesichtsfarbe, sein Gesichtsausdruck und nichts war mehr da von Wut und Aggression. Rolands Knie hatte sich blitzschnell in seinen Unterleib gebohrt, die Arme des Großen sanken nach unten, er begann sich stöhnend zusammen zu krümmen und sein Kopf war plötzlich auf Rolands Augenhöhe. Rolands Faust zuckte hoch und er schlug eine gerade Rechte direkt auf die Nase seines Gegners. Ein verdächtiges Knacken und ein Blutschwall zeugte vom Bruch des Nasenbeins. Das Blut tropfte auf das weiße Hemd des jungen Mannes und nach Luft japsend und die Augen verdrehend sank er stöhnend auf die Knie. Sein Kumpel schrie in diesem Augenblick mit sich überschlagender Stimme los und wollte auf Roland zustürmen. Doch Klaus hatte ein Bein dazwischen, gab dem Kerl noch einen heftigen Stoß, dass der über einen Barhocker stolperte und ungeschickt und nahezu tölpelhaft zu Boden fiel. Die Umstehenden sprangen erschrocken auseinander und sahen erst jetzt den sich krümmenden Mann am Boden, der sich, nach Luft röchelnd, den Unterleib und mit der anderen Hand die stark blutende Nase hielt. Das alles hatte nur wenige Augenblicke gedauert und Roland und Klaus machten sich schleunigst aus dem Staub, als sie merkten, dass anscheinend noch mehr aus dieser Clique anwesend waren und sich einen Weg durch die Menge bahnten.

Als sie auf der Straße standen, sahen sie sich um.

„Los!! Da lang!! In die nächste Seitenstraße und dann in die Altstadt,“ rief Klaus und rannte schon los.

Gerade als sie um die Ecke bogen, flog die Türe krachend auf und eine Handvoll junger Männer stand auf der Straße und suchte wütend die Gehwege und die Straßen ab. Wild zeigten sie schreiend durcheinander und wussten nicht, in welche Richtung sie jetzt laufen sollten. Klaus und Roland waren schon in der nächsten Gasse und verschwanden schnell in den diffus beleuchteten Straßen der Altstadt.

Nach ein paar Minuten blieben sie keuchend stehen und lehnten sich schwer atmend an die Wand.

„Puh!! Gerade noch mal gut gegangen. Hast du gesehen, wie viele das auf einmal waren? Die hätten uns platt gemacht…“

„Die blöden Kaffer!! Dreckspack. Die tauchen immer in Rudeln auf, weil sie sich allein nicht trauen. Aber dem Sack haben wir´s gezeigt. Der kotzt noch ein paar Tage...hoffentlich fallen ihm die Eier ab!“

Roland war kurzatmig und quetschte die letzten Worte abgehackt heraus. Ein diabolisches Grinsen überzog sein Gesicht, als er keuchend Klaus anstarrte. Als ihr Atem sich beruhigt hatte, schlenderten sie langsam die engen Gassen hinauf bis zum Rathausplatz. Es war bereits halb zwei, aber immer noch waren etliche Menschen auf den Straßen unterwegs. Es schien, als ob es keine Nacht mehr gab. Die 24-Stundengesellschaft kam nicht mehr zur Ruhe und man zog den traurigen Schluss, dass das auch nicht gewollt war. Die Jugend hatte ihren Spaß daran, gab es doch kaum noch ein reglementiertes Zeitlimit. Roland und Klaus kamen nach Hause, wann sie wollten. Keiner fragte mehr danach. Sie fanden ihr Leben wunderbar frei – zumindest was ihr Zeitvolumen betraf.

„Schau´n wir doch noch ins ´Mo´. Vielleicht sind die anderen noch da,“ schlug Roland vor.

Das ´Mo´ war eine Szenekneipe, in der sich die Gruppe des Öfteren traf. Wenn sie sich aus irgendwelchen Gründen verpassten, war es sicher, den einen oder anderen dort zu treffen. Das hatte sich in der Vergangenheit so eingespielt und es klappte mittlerweile ganz gut.

Als sie die Kneipe betraten, empfing sie eine Wolke aus kaltem Zigarettenqualm und einer Beschallung wie in der Disco. Die Kneipe war gesteckt voll und sie drängelten sich durch die Menge. Klaus sah Rosi und Marianne in einer Ecke stehen und mit irgendwelchen Jungs quatschen. Rosi bemerkte Klaus als Erste und wedelte heftig mit dem Arm. Als sie endlich vor den beiden Mädchen standen, war ihnen heiß geworden. Eine unglaubliche Wärme schien von den Menschen auszugehen und man hatte den Eindruck, dass die Abluftanlage den Geist aufgegeben hatte. Die meisten standen im T-shirt herum, obwohl es bereits Herbst geworden war.

„Warum wart ihr denn nicht in der Disco? Wir haben ewig gewartet…“ schrie Roland. Der Geräuschpegel schien permanent zuzunehmen.

Marianne zuckte die Schultern.

„Keine Lust gehabt. Hier ist es besser.“

„Hättet ihr ja gleich sagen können, dann wären wir gleich hergekommen.“

Marianne grinste leicht und hauchte ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange.

„Warst wohl einsam ohne mich, was?“ hauchte sie ihm ins Ohr. Roland wurde tatsächlich rot, aber schüttelte heftig den Kopf.

„Quatsch!!“

„War´s wenigstens gut?“ fragte sie.

Klaus grinste breit.

„Klar. Ein paar Mülleimern hat´s nicht so gefallen.“

„Mülleimer? Was für Mülleimer?“

„Ach, ein paar Kebabfresser meinten, sie müssten Stress wegen ein paar Mädels machen. Da haben wir sie flachgelegt. Schwuppdiwupp, und weg waren sie.“

Er grinste immer noch, schnalzte mit den Fingern und sah Roland an, der auch ein hämisches Grinsen aufgesetzt hatte.

„Habt ihr ´ne Schlägerei gehabt?“ fragte Rosi.

Roland nickte lässig und winkte mit einer Handbewegung ab.

„Kann man sagen. Aber wir waren diejenigen, die ausgeteilt haben. War recht spaßig.“

Marianne schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

„Euch kann man nicht alleine fortlassen. Wie die Kinder! Tsssss…..“

Mit gespielter Entrüstung sah sie die beiden Jungs an.

„Wo ist denn Bernhard?“

Rosi zuckte die Schultern.

„Keinen Schimmer. Er ist nicht aufgetaucht. Vielleicht hat er wieder mal Ausgangssperre.“

In diesem Moment ging die Türe auf und Bernhards Kopf erschien. Er blieb einen Augenblick stehen und blickte sich suchend um. Roland hatte ihn schon entdeckt und hob die Hand. Bernhards Gesichtszüge veränderten sich zu einem breiten Grinsen und er steuerte auf die Freunde zu.

„Hey, ich hätt´ nicht gedacht, euch noch hier zu treffen.“

Rosi boxte ihn in den Oberarm.

„Wieso? Meinst du, wir liegen schon im Bett, oder was?“

Bernhard sah auf die Uhr.

„Naja, es ist bereits kurz vor zwei.“

Rosi zuckte die Schultern.

„Phh...na und? Meine Alten liegen eh schon lange im Bett. Die merken doch nicht, wann ich nach Hause komme. Außerdem wird’s ihnen scheißegal sein.“

Roland mischte sich ein.

„Was hast du denn den ganzen Abend gemacht? Wo warst du?“

„Zuerst war ich im Heim. Hab´ einfach keine Lust gehabt, irgendwohin zu gehen. Aber dann bin ich auf eine Party eingeladen worden. Na ja, und da war ich bis jetzt. Aber nach Hause wollt ich auch noch nicht. Also hab ich gedacht, ich schau mal hier noch vorbei. Vielleicht seid ihr ja da…“

„Wir haben dafür zwei Kanaken aufgemischt. Ha, der eine würgt wahrscheinlich jetzt noch.“

Klaus rieb sich die Hände und grinste Roland an.

„Wieso? Was war los?“

Roland winkte ab.

„Och, nicht der Rede wert. Die haben gemeint, sie müssten unbedingt vor ihren Frauen den Macho raus hängen lassen. Und einer von denen hat eben nur noch die Zunge raus gehängt. Das war alles. Wie gesagt, nicht der Rede wert.“

Roland mimte den Lässigen und Coolen. Verächtlich hatte er die Mundwinkel nach unten gezogen, so als ob die Auseinandersetzung nur eine lästige Beigabe des Abends gewesen wäre. Lästig wie ein Fliege, die um seinen Kopf schwirrte. Trotzdem bekam er ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, wenn er daran dachte, was passiert wäre, wenn die Gruppe ihn und Klaus in die Finger bekommen hätte. Er fröstelte plötzlich und schüttelte sich kurz. Dann waren die Gedanken wieder verschwunden und er widmete sich wieder den Gesprächen seiner Freunde.

Spät in der Nacht gingen sie nach Hause, gut gelaunt weil leicht angetrunken.

Es war Samstag und sie konnten ausschlafen. Das heißt, sie lagen im Bett bis Mittag, denn als Roland sich die Schlafdecke ans Kinn zog und in die Dunkelheit starrte, war es nicht mehr weit bis zum Morgengrauen.

Die Wochen vergingen und der Winter sagte sich langsam, aber sicher an. Die Tage wurden spürbar kürzer und Schnee lag in der Luft. Das permanente Grau des Tages legte sich wie ein unsichtbares Tuch über die Menschen, die in eine seltsam hektische Stimmung verfielen. Die Weihnachtszeit stand vor der Türe.

In den Geschäften leuchteten bereits stimmungsvolle Lichter. Lebkuchen, Glühwein und Bratwürste ließen die Augen leuchten. Die Weihnachtsmärkte wurden schon aufgebaut und standen kurz vor der Eröffnung. Der gesamte Einzelhandel war auf Weihnachten getrimmt und lieferte sich einen Kampf mit dem Onlinehandel um jeden Euro Umsatz. Die weihnachtlichen Dekorationen in den Schaufenstern und auf den Straßen waren prunkvoll und voller weihnachtlicher Stimmung. Der Konsumrausch hatte begonnen mit dem Ziel, den Menschen so viel Geld wie nur irgend möglich aus den Taschen zu ziehen.

Der Handel hatte Hochsaison.

Die kleine Gruppe um den siebzehnjährigen Roland beteiligte sich nicht an den üblichen Weihnachtsvorbereitungen. Rolands Mutter hatte schon Strohsterne in die Fenster gehängt und die Fensterbretter mit verschiedenen Figuren dekoriert. Sie mochte die Vorweihnachtszeit, weil es immer mit der Hoffnung verbunden war, die zerstrittene Familie wenigstens einmal im Jahr zu einer Familie zu machen, die diesen Begriff auch verdiente. Insgeheim befürchtete sich jedoch, dass auch dieses Jahr ihre Hoffnung wieder als schaler Rauch durch den Kamin verschwinden würde. Ihr Ehegatte hatte einfach über die Jahre die Kinder zu sehr bevormundet und eingeschüchtert, als dass die in dieser Zeit darüber hinwegsehen konnten. Wolfgang war der Älteste. Er hatte sich längst von zu Hause verabschiedet und eine eigene Familie gegründet.

Selten kamen sie zu Besuch und auch nur dann, wenn sie wussten, dass sein Vater nicht da war. Außer zu Weihnachten. Dafür liebte er seine Mutter zu sehr, um zu wissen, dass sie sich sehr freute, wenn die Kinder und Enkel zu ihr kamen. Horst und Silvia, die älteren Geschwister Rolands, lebten allein beziehungsweise mit einem Lebensgefährten zusammen. An Weihnachten kamen sie grundsätzlich alleine. Meistens gab es Krach mit dem Vater, Johann Kretschmann, ein misslauniger Brummbär, der aus der Generation kam, in dem das Oberhaupt immer der Mann war, eine Autorität, der sich alle anderen Mitglieder zu beugen hatten. Er ließ keinen Widerspruch zu und wirkte immer wie ein gereizter Bulle. Niemand der Kinder konnte etwas Freundliches an ihm entdecken und es war allen ein Rätsel, warum ihre Mutter Ingeborg – ein Seele von Mensch – diesen Büffel von Mann überhaupt geheiratet hatte. Und dann noch fünft Kinder! Aber sie hatte sich über die Jahre in ihr Schicksal ergeben und tat alles, um die Familienbande noch an dünnen Seilen zusammen zu halten.

Als Roland damals seinen Vater zusammengeschlagen hatte und sie eine Woche alleine zu Hause waren, weil er im Krankenhaus gelegen hatte, fragte Roland sie in einem Anflug von Mitleid, warum um alles in der Welt sie denn dieses Arschloch – so nannte er seinen Erzeuger – geheiratet hatte.

„Weißt du, er war nicht immer so. Früher war er ein zuvorkommender junger Mann. Er war höflich und hilfsbereit, aber als die Kinder so nach und nach auf die Welt kamen, da hat er sich verändert, so als ob er mir die Schuld geben wollte, dass wir jetzt Kinder haben. Er hat mit euch nie viel anfangen können,“ hatte sie weinend erklärt.

Roland war erschüttert gewesen. Danach hasste er seinen Vater noch mehr.

Roland saß in der Küche und rauchte, während seine Mutter Plätzchen buk. Als sie wieder ein voll belegtes, duftendes Tablett aus dem heißen Ofen zog und auf die Herdplatten stellte, sah sie ihren schweigend dasitzenden Sohn ernst an.

„Wann hast du denn wieder einen Termin auf dem Arbeitsamt?“

Roland zuckte lustlos die Schultern. Er hatte auf dieses Thema keinen Bock.

„Ich glaub´ am Dienstag. Muss noch mal nachsehen…“

„Warum schreibst du denn keine Bewerbungen? Du musst doch eine Lehre machen, Junge. Ohne eine Lehre bist du doch heutzutage aufgeschmissen. Da kriegst du nie einen guten Job.“

„Jaja, es gibt halt im Moment nix. Da kann ich auch nichts dafür,“ maulte er.

„Dann such dir eben einen anderen Ausbildungsberuf. Da gibt’s doch noch so viel, was du machen könntest. Du bist doch nicht dumm. Wie lange willst du denn noch so weitermachen? Seit einem Dreivierteljahr tust du jetzt schon nichts. Dann geh´ doch auf eine weiterführende Schule. Wär das nichts?“

„Schule?? Ich geh´ doch nicht mehr auf eine Scheißschule. Ich bin froh, dass ich draußen bin. Nee, nee...vergiss es. Schule ist nicht. Da verdien´ ich ja wieder kein Geld.“

Er schüttelte wild den Kopf.

„Aber irgendwas musst du tun. In diesem Monat wirst du volljährig. Und dein Vater hat schon angedeutet, dass er dich dann an die Luft setzen wird, wenn du nichts arbeiten willst. Du kennst ihn doch. Der bringt das auch noch fertig.

Aber wenn du einen Job hättest, könntest du wenigstens unseren Haushalt unterstützen und weiter hier wohnen…“

„Was? Der Alte will mich rausschmeißen? Wo soll ich denn hin? Spinnt der jetzt total?“

„Noch kann ich ihn davon abbringen. Aber ich weiß nicht, für wie lange. Also, Roland, bitte kümmer dich zumindest um einen Job, wenn du schon keine Lehrstelle findest. Machst du das?“

Roland nickte. Er wollte mit seiner Mutter nicht diskutieren. Er hatte keine Lust zu arbeiten und das zu tun, was andere ihm dann sagen würden. Aber er hütete sich, irgendetwas in dieser Art verlauten zu lassen. Andererseits wollte er auch nicht, dass seine Mutter sich Sorgen machte oder vielleicht noch Schwierigkeiten mit seinem Vater bekam, wenn der wirklich ernst machen würde. Nein, das wollte er ganz bestimmt nicht. Er musste sich Geld besorgen, um wenigstens einen Teil seiner Mutter geben zu können. Das war das Mindeste, was er für sie tun konnte. Dringend….er brauchte jetzt dringend Geld. Ein Gedanke durchzuckte sein Gehirn. Es war doch Weihnachtszeit. Ja, genau, da hatten die Leute jede Menge Geld schleppten es in die Geschäfte. Da wäre doch etwas zu holen. Vielleicht sogar mal ein ganz dicker Fisch. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die nächsten Tage. Still nickte er in sich hinein, als er einen folgenschweren Entschluss gefasst hatte.

Es war der erste Weihnachtssamstag. Die Geschäfte waren voll von hetzenden und nervösen Menschen, die begannen, die ersten Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Männer und Frauen waren voll bepackt mit Plastiktüten und schon in Geschenkpapier eingepackte Päckchen und bahnten sich ihren Weg durch die wogende Menge.

Roland und seine Freunde warteten die einbrechende Dunkelheit ab. Sie beobachteten die Leute und selektierten diejenigen aus, die alleine waren und viele Päckchen mit sich trugen. Die mussten auch Geld dabei haben. Viel Geld sogar! Klaus sah auf die Uhr. Es war dreiviertel sechs. Die Straßen begannen sich zu lichten und die Geschäfte leerten sich. Roland lehnte scheinbar gelangweilt an seiner Ecke und beobachtete den Eingang des großen Kaufhauses. Er hatte sich noch nicht entschieden und die anderen wurden langsam nervös. Da! Roland reckte den Hals und wurde aufmerksam. Vier Augenpaare folgten seinem fixierenden Blick. Roland sah zu ihnen hinüber und nickte. Ein potentielles Opfer! Eine Frau mittleren Alters kam schwer bepackt durch die Drehtüre. Sie hatte den Kopf gesenkt und mühte sich offensichtlich mit den unkommoden Paketen ab. Zielstrebig steuerte sie die nächste Seitengasse an und bog um die Ecke. Roland folgte ihr und gab das Zeichen, dass sie ein Ziel hatten.

Zwei Straßen weiter befanden sie sich in den nostalgischen Gassen der Altstadt. Der Trubel der lärmenden City war verschwunden. Es herrschte eine seltsame Stille. Die Schritte der Dame hallten über das Kopfsteinpflaster und das gelbliche Licht der diffus leuchtenden Straßenlaternen gaben der Szenerie einen sanften Hauch Unheimlichkeit.

Von der anderen Seite näherten sich Klaus und Rosi. Roland, Marianne und Bernhard folgten ihrem Opfer, die nichts von nahenden Gefahr bemerkte. Sie waren allein in der dunklen Gasse, die durch die schmiedeeisernen Straßenbeleuchtungen mit ihrem schemenhaften gelben Licht den Eindruck vergangener Jahrhunderte erweckte. Dann hatten Klaus und Rosi die Frau erreicht und das Schicksal lüftete den dunklen Vorhang zum ersten Akt des Dramas.

„Entschuldigung,“ sagte Klaus. „Könnten Sie mir sagen, wie spät es jetzt ist?“

Die Frau nickte und streckte den Arm aus, um auf die Uhr zu sehen. Und gerade als sie etwas sagen wollte, hatte Klaus ihr ein Messer an die Kehle gesetzt und sagte leise: „Geldbeutel raus! Aber schnell! Sonst schneid´ ich dir die Kehle durch!!“

Gewohnheitsmäßig erwartete er und auch die anderen, dass ihr Opfer vor Angst gelähmt sein musste und bereitwillig alles tat, was von ihr verlangt wurde. Doch dieses Mal war alles anders. Klaus täuschte sich und Roland wurde überrascht. Ohne auch nur zu zucken, ließ die Frau ihre Taschen aus den Händen gleiten, wehrte mit einer blitzschnellen Bewegung den Messer führenden Arm ab und stieß Klaus die Faust mitten ins Gesicht exakt auf das Auge. In diesem Moment standen alle Angreifer wie erstarrt da und wussten nicht so recht, was sie nun tun sollten. Ihr Opfer wehrte sich! Wie konnte das sein?! Opfer durften sich nicht wehren, das verstieß doch gegen alle Regeln!!

Bevor sie sich noch entschließen konnten, irgendetwas zu tun, musste der mittlerweile schreiende Klaus dieselbe grausame Erfahrung machen wie der ausländische Typ in der Disco. Ein Bein grub sich mit aller Gewalt in seinen Unterleib. Und es war nicht das Knie, sondern der gesamte Fuß. Stöhnend sackte er in sich zusammen. Sein Schrei erstarb augenblicklich, die geschockten Lungen zogen sich zusammen und er bekam keine Luft mehr.

Explosionsartig breiteten sich die Schmerzwellen über seinen ganzen Körper aus, er meinte, die Augäpfel würden aus den Höhlen treten und es wurde ihm schwarz vor Augen. Mit Mühe konnte er die drohende Bewusstlosigkeit vermeiden. In diesem leidvollen Moment spürte er nur noch diesen rasenden, nicht endenden Schmerz. Er dachte nicht mehr daran, warum sie hier waren und dass sie just in diesem Augenblick einen Überfall verübten. Nein, er dachte gar nichts mehr, außer dass er jetzt wohl sterben müsse, so stark hatte der Schmerz seinen Körper im mitleidlosen Griff.

Doch Roland hatte seine Schrecksekunde bereits überwunden. Mit der bloßen Faust schlug er der Frau in den Nacken, so dass sie nach vorne taumelte. Sie spürte nur einen kurzen stechenden Schmerz im Genick und versuchte die Hände zu heben, aber Rosi schlug ihr mit einem kurzen Knüppel derart stark auf den Kopf, dass sie in die Knie ging. Der brüllende Schmerz im Kopf war wie eine innere Explosion und sie konnte nicht mehr richtig sehen. Ihre Augen tränten und sie erkannte nur schemenhaft Umrisse. Bernhard griff ihr in die Haare und zog ihren Kopf nach hinten. Sie blutete aus einer klaffenden Wunde an der Stirn und Wasser schoss ihr in die Augen. Sie stöhnte, aber sie versuchte verzweifelt, sich aufzurichten. Nur ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: die bringen mich um! Um Gottes Willen, die bringen mich um! Warum hilft mir denn niemand?!

Sie wollte schreien, aber nur ein flüsterndes Krächzen entrang sich ihre Kehle.

Bernhard hatte ihr den Arm um den Hals gelegt und drückte nun zu. Roland riss die Handtasche von der Schulter und mit geübtem Griff durchwühlte er das Innere. Als er den Geldbeutel in der Hand hatte, schrie er triumphierend auf und hielt die Geldbörse in die Höhe.

In diesem Augenblick, als die Aufmerksamkeit aller auf die Beute gerichtet war, sah die nach Luft schnappende Frau noch einmal eine Chance, griff mit aller Kraft in die Haare Bernhards, drehte sich um die eigene Hüfte und schleuderte den überraschten Jungen zu Boden. Ihr Fuß zuckte mit einer letzten Anstrengung nach vorne und traf den verdutzten Bernhard am Kinn, der ihn nach hinten warf. Taumelnd richtete sich auf, mit blutüberströmten Gesicht, leicht wankend. Sie verlor die Orientierung und drehte Roland für den Bruchteil einer Sekunde den Rücken zu.

Da sprang er los. Sein Auge registrierte nur den am Boden liegenden Bernhard, der sich stöhnend den Kopf hielt und die Frau, die wieder auf den Beinen stand. Das signalisierte Gefahr! Wie eine Feder schnellte er nach vorne, sprang in die Höhe, so wie er es im Karateunterricht gelernt hatte, stieß im letzten Moment mit dem Fuß nach vorne – und trat der Frau mit seinem ganzen Gewicht und seiner ganzen Wut in das Rückgrat. Eine undefinierbare Wut – gepaart mit grenzenloser Frustration, die seine gequälte Seele in eine Energie geladene Explosion verwandelte – lag in diesem Tritt, der von keinem menschlichen Gedanken mehr gesteuert wurde. Es war das tiefe Animalische, das den jungen Menschen beherrschte und das die Gedanken stillstehen ließ.

Die Gereiztheit eines Tieres, die nach menschlichem Ermessen eben nicht mehr begründet und definiert werden konnte, entlud sich. Und mit dieser Entladung wurden neue Schicksalswege geboren. Einer dieser Wege war die des Opfers.

Im Moment des Auftreffens schien sie in der Mitte auseinander zu brechen, eine unsichtbare Kraft hob sie in paar Zentimeter empor, um sie sofort wieder fallen zu lassen. Ohne sich noch abfangen zu können, fiel sie auf das Gesicht.

Ein brennender Schmerz im Rücken breitete sich rasend schnell aus, bevor sie auf dem Pflaster aufschlug. Man konnte ein Knacken hören, als ein Knochen brach. Rosi hatte noch den Knüppel in der Hand und schlug ihr zusätzlich auf die Schläfe, in der sich im selben Moment noch eine klaffende Wunde auftat, aus der Blut quoll. Aber Rosi war wie von Sinnen, ein wahnwitziger, irrer Blick verzerrte ihr Gesicht zu einer Fratze. Sie befand sich in einem Blutrausch und konnte sich nicht mehr beherrschen. Aber bevor sie noch einmal wie irre zuschlagen konnte, hielt sie ein gellender Schrei zurück.

„Rosi, hör auf...hör sofort auf!!!“

Marianne schrie sie entsetzt an. Rosi hielt inne und sah mit irrem Blick auf die Freundin, die auf sie zuging und der nicht mehr Ansprechbaren den Knüppel aus der Hand nahm. Einige Sekunden herrschte eine lähmende Stille. Sie starrten alle auf die Frau, die blutend und bewusstlos auf der Straße lag. Und bevor sich alle bewusst machen konnten, was sie getan hatten, hörten sie schnelle Schritte. Viele Schritte, Keuchen und Laufen von Menschen. Und Stimmen. Laute Stimmen, schreiende Stimmen.

„Hilfe!! Überfall!! Polizei...schnell. Hilfe!! Hilfe!!“

Die jugendlichen Straßenräuber sahen sich kurz an, dann drehten sie sich um und liefen, so schnell sie konnten. Bernhard hatte Klaus auf die Beine geholfen, der kreidebleich war und sich gerade übergeben hatte. Aber die Schreie und die Angst, erwischt zu werden, setzten seine weich gewordenen Beine in Bewegung und heulend und keuchend rannte er mit Schmerzen hinter seinen Freunden her. Sie liefen, bis sie nicht mehr konnten, dann trennten sie sich jeder sah zu, dass er nach Hause kam. Die Verfolger hatten keine Chance.

Bis sie in die verwinkelten Gassen der Altstadt folgen konnten, war die Bande schon auf und davon.

Als Roland wenig später den nahe gelegenen Park in seinem Wohnviertel durchquerte, hielt er unter einer Laterne an, zog den erbeuteten Geldbeutel aus der Tasche und sah hinein. Geldscheine, Papiere, Münzen und zwei Kreditkarten kamen zum Vorschein. Doch Roland interessierte nur das Geld.

Schnell ließ er es durch die Finger gleiten. Hundert, zweihundert, dreivierhundert, vierhundertfünfzig. Nein, da war noch ein größerer Schein. Wow!!

Fünfhundert! Wahnsinn. Das war mal eine Beute. Zufrieden steckte er den Geldbeutel zurück und schlenderte nach Hause. Seine Gedanken rasten zurück.

Warum hatte sich diese blöde Kuh so gewehrt? Das hätte alles nicht sein müssen, dachte er. Vor seinem geistigen Auge sah er das blutverschmierte Gesicht seines Opfers. Dann schüttelte er sich kurz. Selbst schuld, dachte er noch, dann schloss er die Haustüre auf. Er begrüßte kurz seine Mutter, dann zog er sich auf sein Zimmer zurück und zählte noch einmal seine Beute. Ein erfolgreicher Tag und ein guter Stundenlohn. Er starrte zur Decke und grinste.

Aber weit hinten, in den Untiefen seines frustrierten Geistes, in einer Welt, die scheinbar verschlossen worden war, da hatte sich so etwas wie ein Gewissen gemeldet und begann, leise, aber vehement und stetig anzuklopfen.

„Hallo, Roland. Hier ist Marianne. Hast du schon Zeitung gelesen?!“

Mariannes Stimme war hektisch und ängstlich. Roland nahm den Hörer in die andere Hand. Eine böse Vorahnung stieg in ihm auf.

„Nein! Warum?“

„Ich rate dir dringend, das zu tun. Ich muss Schluss machen, meine Eltern kommen. Wir sehen uns später...Ciao.“

Roland legte den Hörer auf die Station. Was meinte sie denn damit? Stand vielleicht der Überfall drin? Er zog die Mundwinkel nach unten und schlürfte seinen Kaffee. Jemand sperrte die Türe auf. Seine Mutter kam vom Einkaufen zurück.

„Na, du Langschläfer. Heut´ bist du aber schon früh auf. Was ist denn los?“

Roland sah auf die Uhr. Es war halb neun. Stimmt. Ganz schön früh. Es war Montag und er konnte nicht mehr schlafen. Er hatte sowieso den ganzen Sonntag verpennt. Er brachte den Überfall nicht aus seinem Kopf. Ja, sie waren ganz schön brutal gewesen, aber die Frau hatte ihn ja geradezu herausgefordert.

Trotzdem war er nachdenklich geworden. Als sie am Boden lag, hatte sie wie tot ausgesehen. Und dieses viele Blut. Er hatte nicht gewusst, dass ein Mensch am Kopf so bluten konnte. Sein Blick fiel auf die Zeitung, die seine Mutter auf den Tisch geworfen hatte. Seine Hand schob sich nach vorne und holte sie langsam näher. Sachte blätterte er, eine Seite nach der anderen. Dann hatte er den Regionalteil erreicht und schlug die vorletzte Seite auf.

`Brutaler Überfall in der Altstadt´, las er. Seine Hände begannen zu zittern er schwitzte leicht.

`Frau liegt im Koma und kämpft ums Überleben – geringe Chancen´.

Eine halbe Seite war dem Thema gewidmet. Ärzte und Polizei kamen in den Interviews zu Wort und beklagten die enorme Brutalität und die Zunahme der Überfälle. Roland las weiter.

`Die Neununddreißigjährige hat nur geringe Überlebenschancen. Und wenn sie weiterleben sollte, wird sie voraussichtlich nie wieder laufen können. Durch die Zertrümmerung der Wirbelsäule ist sie querschnittsgelähmt und wird bei Überleben ihre Zukunft im Rollstuhl verbringen müssen. Wie stark sich die schweren Kopfverletzungen auswirken werden, wissen wir noch nicht, aber es ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Sie hinterlässt eine Familie mit drei Kindern.´

Das war der Bericht des behandelnden Arztes. Roland spürte, wie sein Hals trocken wurde. Er merkte, wie der Schweiß ihm ausbrach. Im Koma! Das hatte er nicht gewollt. Aber jetzt war es zu spät. Ein seltsames Gefühl der Angst durchströmte ihn von oben bis nach unten und wieder zurück. Die Hände zitterten und wie gelähmt konnte er sich kaum rühren. Die Angst setzte sich fest...es war nicht die Angst, erwischt zu werden. Es war die Angst, dass ihr Opfer sterben würde. Angst, dass er ein Leben zerstört hatte. Sie hat drei Kinder, kam ihm in den Sinn. Er stellte sich die drei Kleinen vor, wie sie um den Sarg der toten Mutter standen und weinten. Und er würde daran schuld sein.

Mit einer schnellen, verzweifelten Bewegung schlug er die Zeitung zu, so als ob er damit alles beiseite wischen konnte. In diesem Moment kam seine Mutter in die Küche und starrte ihn erschrocken an.

„Was ist denn los, Junge? Ist dir nicht gut? Du bist ja kreidebleich. Hast du Fieber?“

Sie fasste hastig an seine Stirn. Aber Roland schüttelte nur den Kopf.

„Nein, nein. Alles okay. Ich hab nichts. Wirklich. Mir geht’s gut.“

„Du siehst aber nicht gut aus,“ erwiderte sie zweifelnd. „Fühlst du dich wirklich in Ordnung?“

Roland winkte nur ab und stand auf. Die Zeitung nahm er mit auf sein Zimmer, setzte sich auf das ungemachte Bett und blätterte noch einmal die Seite auf.

Mit versteinerter Miene las er weiter. Und während er den Artikel zu Ende las, fing er an zu schwitzen. Tropfen bildeten sich auf seiner Stirn, aber er bemerkte es nicht. Erst als einer herunter fiel und mit einem Klatschen die Zeitung durchnässte, erwachte er aus seiner Starre.

Er ging zum Fenster und sah hinaus. Sanft wirbelten einige Schneeflocken durch die kalte Luft. Der Montagmorgen war grau und düster. Wie seine Stimmung. Die Gedanken rasten und ließen ihn nicht los. Er hatte ein Leben ausgelöscht! Wegen nicht einmal tausend Euro. Wegen Geld! Wie tief war er abgerutscht??! Warum nur??

Seltsamerweise übernahm er die ganze Verantwortung selbst. Aber dieser eine Satz spukte in seinem Kopf herum und ließ ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen. Irgendwann packte ihn eine neue Angst. Die, erwischt zu werden. Was ist, wenn sie mich kriegen? Wieder nur das Ich. Seine Freunde, die an der ganzen Tragödie ja mitschuldig waren, ließ er außen vor. Er dachte nicht an sie, er beschäftigte sich ausschließlich mit sich selbst und seiner Tat. Sein Gewissen fing an, zu bohren. Langsam, stetig und gnadenlos. Ohne Unterbrechung. Wie der stete Tropfen Wasser, der den Stein mit der Zeit aushöhlte.

Zwei Tage trafen sich die Freunde nicht. Nach Mariannes Anruf war Funkstille.

Auch Roland meldete sich nicht. Erst am Donnerstag kamen sie wieder zusammen, trafen sich in ihrem Unterschlupf, dem baufälligen Haus, in dem sie sich im Sommer eingerichtet hatten.

Als Roland durch die quietschende Tür schlüpfte, waren die anderen schon da.

Erwartungsvoll starrten sie ihn an. Rosi war die Erste, die sich zu Wort meldete.

„Und? Wie viel haben wir gemacht? Leer mal aus, Mann.“

Sie vergeudete keine einzige Silbe über ihr Opfer. Rosi war eiskalt und vollkommen emphatieunfähig. Es interessierte sie nicht, was passiert war.

Wichtig war ihr nur, wie hoch ihr Anteil war. Roland sah in die Runde. Aber er sagte nichts. Er wollte nicht als Schwächling dastehen, wenn er die Frau, die mit dem Tode rang, erwähnte. Und schließlich war sie selbst schuld gewesen – hätte sie sich halt nicht gewehrt. Er wollte ihre aller Tat schönreden und vor sich selbst rechtfertigen, aber es klappte nicht. Sein Blick fiel auf Klaus, der starr in den Boden stierte.

„Wie geht’s dir? Alles noch dran?“

Klaus sah auf und verzog das Gesicht. Er schüttelte den Kopf.

„Ich war beim Arzt, weil ich es nicht mehr ausgehalten hab vor Schmerzen.

Irgendetwas ist kaputt, aber man konnte noch nicht feststellen, was und wo.

Alles ist noch geschwollen. Im Moment schlucke ich nur Schmerzpillen.

Scheißdreck, verdammter…“ Bestürzt sah ihn Roland an, während er das Geld aus der Jackentasche zog.

„Tausend Euro. Dazu noch Kreditkarten und Bankkarte. Aber mit denen können wir nichts anfangen und sie zu benutzen, wäre zu gefährlich. - Jeder kriegt zweihundert.“

Er fing an, jedem seinen Anteil zu geben.

„Hört auf, so zu tun, als ob es euch einen Scheiß interessiert. Diese Frau liegt im Sterben, verdammt noch mal…!!!“

Mariannes Stimme überschlug sich fast vor Erregung. Sie war nervös und aufgebracht. So hatten sie sie noch niemals erlebt. Ihre Unterlippe zitterte leicht und sie trat von einem Fuß auf den anderen. Nichts war mehr übrig von Arroganz, Coolness und Verächtlichkeit.

„Na und? Die Schlampe hätte sich ja nicht zu wehren brauchen. Dann wär ihr auch nichts passiert. Was geht uns die Tussi an? - Kannst ja hingehen und ihr Blumen bringen.“

Rosi lachte über ihren Witz. Aber keiner lachte mit. Nur Bernhard verzog leicht das Gesicht, aber es sah sehr gekünstelt aus.

Roland setzte sich auf eine Kiste und starrte in den Boden. Er nestelte umständlich eine Zigarette zutage und zündete sie an. Tief sog er den Rauch ein und hob langsam den Kopf.

„Was schlägst du vor, was wir tun sollen?“

Fragend sah er Marianne an. Sie starrte ihn an und zuckte hilflos mit den Schultern. Rosi spuckte verächtlich aus und verzog das Gesicht.

„Seid doch nicht solche Jammerlappen. Bei den anderen hat´s euch doch auch nicht interessiert, oder?!“

Roland sah immer noch Marianne an, ohne Rosi zu beachten.

„Ich weiß es doch auch nicht,“ sagte sie schließlich.

„Sie wird’s schon schaffen,“ flüsterte Roland, aber es klang auf die anderen nicht überzeugend. Dann stand er auf.

„Es ist besser, wir sehen uns mal zwei Wochen nicht. Vielleicht hat uns jemand gesehen und eine Beschreibung der Polizei gegeben. Und als Gruppe würden wir wohl leichter auffallen. Einverstanden?“

Alle nickten. Dann gingen sie auseinander. Klaus hatte den gleichen Weg wie Roland und eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her. Dann blieb Klaus stehen. Roland drehte sich um.

„Was ist?“

„Wir haben verdammten Scheiß gebaut. Wenn das rauskommt, bin ich geliefert.“

Roland nickte.

„Es wird nicht rauskommen, außer einer von uns macht die Schnauze auf.“

„Hoffentlich.“

„Hoffentlich was? Dass einer redet?“

„Nein, hoffentlich halten alle das Maul…“ Sie schlenderten schweigend weiter, bis Roland abbiegen musste. Kurz winkte er noch Klaus zu, ohne etwas zu sagen, dann drehte er sich um und verschwand um den nächsten Häuserblock.

*

Es klopfte. Zweimal hintereinander und dann noch einmal. Die Türe ging auf und eine Billardkugel erschien. Der Kopf glänzte wie frisch poliert und aus einem grinsenden Gesicht blitzten zwei strahlend blaue, zusammen gekniffene Augen Kommissar Metzeler an.

„Was ist los, Mick?“

Rossmann hieß eigentlich Michael, aber Metzeler sagte schon auf der Polizeischule ´Mick` zu ihm. Keiner wusste genau warum, nur einmal hatte Metzeler angedeutet, dass er den Namen in Anlehnung an Crocodile Dundee übernommen hatte. Als Rossmann ihn deswegen fragend angestarrt hatte, weil er keinen Zusammenhang erkennen konnte, hatte Metzeler nur gelacht und mit den Schultern gezuckt. Bis heute war nicht wirklich bekannt, was denn die Assoziation gewesen sein sollte. Rossmann war nicht wirklich ein `Crocodile Dundee´ und in Australien war er auch nie gewesen. Rossmann war´s irgendwann egal gewesen. Er wurde bald von jedem Mick genannt. Seit der Polizeischule waren sie Freunde, hatten längere Zeit Streifendienst geschoben, bis sie irgendwann in den Innendienst versetzt worden waren. Jetzt war Rudolf Metzeler Kommissar und Mick Rossmann eben noch nicht. Zufällig waren sie in der gleichen Abteilung zusammen gekommen. Rossmann war jetzt Metzeler dienstrangmäßig unterstellt, aber Metzeler legte darauf keinen Wert.

Abgesehen davon, dass er Rede und Antwort geben musste, wenn ein Bericht zu rechtfertigen war. Hierarchische Unterschiede waren für Metzeler ein Gräuel, darum funktionierte seine Abteilung auch bestens. Die Unterschiede traten eben nur offiziell auf. Aber das nahm Metzeler gelassen hin.

Rossmann trat ganz herein und schloss die Türe hinter sich.

„Draußen steht ein Herr, der könnte uns im Fall Winter weiterhelfen. Der Überfall in der Altstadt letzte Woche.“

„Ja, ich weiß...hat er was gesehen? Oder kennt er die Täter?“

„Er hat wohl einen Film gedreht,“ sagte Rossmann und hielt eine CD hoch.

Metzeler sprang auf.

„Was?!! Und da kommt der Typ erst jetzt? - Hast du ihn schon gesehen?“

Rossmann schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich dachte, wir schauen ihn zuerst zusammen an.“

Metzeler nickte.

„Okay...dann rein mit dem Mann. Bin ich ja mal gespannt…“ murmelte er dazu.

Zwei Minuten später stand ein Männlein vor ihm. Mit Brille und Regenschirm.

Versteckt in einem beigefarbenen, vollkommen altmodischen leichten Mantel, der sofort an Inspektor Columbo erinnerte. Nervös gab das Männlein ihm die Hand. Metzeler kam es vor, als griff er in schäumende Seife. Leicht angewidert verzog er das Gesicht.

„Guten Tag. Ich bin Kommissar Metzeler und bearbeite diesen Fall. Bitte setzen Sie sich.“

Er zeigte auf einen Stuhl und wartete, bis das Männlein sich setzte. Und sofort wieder aufstand.

„Entschuldigung. Mein Name ist Maiershofer. Hans Maiershofer. Ich wohne in der Alten Gasse...da, wo der Überfall stattgefunden hat.“

Metzeler sah ihn amüsiert an. Maiershofer, dachte er, der Name passt zu dir, Burschi. Er lächelte freundlich, nickte jovial und deutete seinem Gegenüber, sich wieder zu setzen. Rossmann stand an der Tür und konnte sich ein verstecktes Grinsen nicht verkneifen.

„Gut, Herr Maiershofer. Mein Kollege sagte, Sie hätten das alles aufgenommen, ist das so korrekt?“

„Ja, das habe ich. Wissen Sie, ich bin Hobbyfilmer...eigentlich Naturfilmer, aber ab und zu…“

„Verstehe,“ unterbrach ihn der Kommissar. „Nun, wir schauen uns den Film einfach mal an, dann sehen wir ja, ob wir damit weiterkommen, einverstanden?“

Das Männlein nickte heftig.

„Na, dann leg ihn mal ein, Mick.“

Er zeigte auf den Player.

Rossmann legte die CD ein, zog sich einen Stuhl heran und betätigte die Fernbedienung.

Anfangs war lediglich die Gasse mit einigen Menschen zu sehen. Aber dann kam die Frau mit ihren Paketen ins Blickfeld und Rossmann und Metzeler beugten sich etwas weiter vor, um besser sehen zu können. Ihre Blicke verrieten eine gespannte Aufmerksamkeit und Erwartung. Die Qualität der Aufnahmen waren klar und unverwackelt. Das Männlein verstand etwas von seinem Hobby.

Und dann konnten sie zuerst Klaus und Rosi erkennen, die der Frau entgegen kamen, dann den Rest der Truppe. Die Gesichtszüge der beiden Kriminalbeamten verhärteten sich zusehends, als der Überfall mit seiner ganzen Brutalität wie ein grausamer Thriller vor ihnen ablief und sie hilflos mit ansehen mussten, wie das Leben eines willkürlich ausgesuchten Opfers ohne einen Hauch von Mitleid zerstört wurde. Durch eine grenzenlose, menschenverachtende Gewalt, die selbst den vermeintlich abgebrühten Polizisten einen Schauer über den ganzen Körper jagte.

Als der Film zu Ende war, sahen sich Metzeler und Rossmann erschüttert an.

Auf dem Video waren eindeutig Jugendliche zu erkennen. Vielleicht sogar noch Schüler. Rossmann schüttelte ungläubig den Kopf.

„Das sind ja noch Kinder, nicht zu fassen,“ sagte er wie zu sich selbst.

Metzeler wandte sich an Maiershofer.

„Warum kommen Sie denn erst jetzt damit zu uns?“

Das Männlein zuckte kurz zusammen und knetete seine Finger.

„Ich...ja, äh, ich habe...ich meine, ich bin an dem Abend..also, ich habe an dem Abend meinen Koffer gepackt und eben nur noch einen letzten Funktionstest mit der Kamera gemacht. Wissen Sie, am nächsten Morgen ganz früh musste ich zum Flughafen. Weil ich in Urlaub bin, verstehen Sie? Ich bin erst gestern wieder zurück gekommen und als ich das in der Zeitung gelesen habe, da habe ich erst einmal die Aufnahme suchen und kopieren müssen…“

„Aha, verstehe...haben Sie die Polizei gerufen?“

„Polizei?? Nein, ich dachte, da haben bestimmt wieder die Ausländer Ärger.

Das geht mich nichts an, da möchte ich mich nicht einmischen…“ Er wedelte wild mit den Armen.

Metzeler presste die Lippen zusammen und sah Rossmann an, der den Mund verzogen hatte. Dann wandte er sich wieder dem Männlein zu.

„Gut, Herr Maiershofer. Mein Kollege wird draußen Ihre Personalien aufnehmen und ein Protokoll erstellen. Wir fertigen noch eine Kopie der CD an. Ich bedanke mich für Ihr Kommen und Ihre Unterstützung. Das hilft uns natürlich sehr weiter.“

Er war aufgestanden und verabschiedete das Männlein. Rossmann führte ihn hinaus an seinen Schreibtisch, um den Bericht anzufertigen.

Der Kommissar hatte sich indessen wieder vor den Bildschirm gesetzt und sah sich die Aufnahme noch einmal an. Und je öfter er die Szenen sah, desto wütender wurde er. Irgendwann stand er auf und lief auf und ab. Mit Mühe unterdrückte er seine Emotionen. Er war Polizist, er konnte sich keine Emotionen erlauben, wenn er sachlich und rational handeln wollte. Obwohl der Bildschirm wieder dunkel war, starrte er hinein und murmelte: „Ich kriege euch, ihr Schweine. Ich kriege euch…!“

Drei Tage später waren die Bilder in der Zeitung. Die Fotos aller fünf prangten in Farbe auf der Titelseite.

´Wer kennt diese Jugendlichen?` stand groß darunter. Es dauerte gerade ein paar Stunden, da standen die Beamten bereits in der Wohnung von Mariannes Eltern, die sprachlos den Ausführungen der Männer folgten. Gleichzeitig fuhren zwei Streifen vor das Haus der Familie Kretschmann.

Roland stand am Fenster und sah sie als Erster. Seine Beine waren plötzlich wie Blei, sein Puls beschleunigte sich ins Unermessliche und sein Magen zog sich zusammen. Er war unfähig, sich zu rühren. Er spürte, wie seine Hände feucht wurden und ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Dann vernahm er die Türklingel. Er hörte, wie sein Vater geöffnet hatte und er hörte Stimmen. Dann wurde er von seinem Vater gerufen.

„Roland!!!“ brüllte er nach oben.

Rolands Gedanken rasten durch seinen Geist. Was sollte er jetzt tun? Einen kurzen Moment überlegte er, über das Fenster und die Garage abzuhauen. An der Dachrinne konnte er sich ohne weiteres nach unten hangeln. Und dann? Wo sollte er denn hin? Kein Geld, keine Bleibe, keine Hilfe...von der Polizei gesucht. Nein!!

Er drehte sich um und ging zur Türe, als er seinen Vater die Treppe heraufkommen hörte. Dann trat er auf den Gang hinaus. Sein Vater blieb auf der Treppe stehen und sah ihn nur an.

„Was hast du angestellt?“ sagte er leise und tonlos. Seine Augen waren nur noch kleine Schlitze.

Roland sagte nichts. Er war kreidebleich geworden und ging mit weichen Knien die Treppe hinunter. Die Beamten blickten ihm wortlos entgegen.

„Sind Sie Roland Kretschmann?“ fragte einer der Polizisten.

Roland nickte stumm.

„Wir haben einen Haftbefehl gegen Sie. Diebstahl und schwere Körperverletzung. Kommen Sie bitte mit uns.“

Rolands Eltern standen in der Küchentüre. Rolands Mutter hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und Tränen liefen über ihre Wangen. Sein Vater stand nur da und starrte ihn an. Seine Kiefer mahlten und er sah sehr grau aus.

„Was hast du denn getan, Junge? Was ist denn los? Körperverletzung?? Das kann doch nicht stimmen, das ist doch eine Verwechslung, oder? Sag´ doch was…!“

Die Worte aus dem Mund seiner Mutter waren so verzweifelt, dass Roland ein Messer ins Herz stach. Er wollte etwas sagen, aber er brachte keinen Ton heraus. Seine Stimme versagte und er hatte Mühe, sich überhaupt zu bewegen.

Dann wurde er am Arm gefasst und aus dem Haus gezogen. Wie in Trance ließ er alles mit sich geschehen. Er wurde in ein Auto geschoben, der andere Beamte legte noch eine Jacke, die Frau Kretschmann schnell von der Garderobe gerissen hatte, neben ihn ins Auto. Dann schlug die Türe zu und Roland sah seine weinende Mutter an der Türe stehen und fühlte eine nie gekannte Angst und grenzenlose Leere in sich. Vereint mit einer endlosen Scham, dass er seine Mutter so enttäuscht hatte und ihr jetzt so viel Schmerzen bescherte.