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Es ist eine trügerische Ruhe, die über der beschaulichen, im schönen Ilmtal gelegenen Residenzstadt Weimar im Jahr 1775 liegt; denn im Verborgenen werden dunkle Intrigen gesponnen und unheilvolle Pläne geschmiedet, die nicht nur von höfischen Machtinteressen motiviert sind, sondern bis ins Reich der Leidenschaft hineinreichen. Abseits dieser hässlichen Machenschaften blüht jedoch auch die Liebe in der Stadt; die Liebe dreier Pärchen, so unterschiedlich von Stand und Rang wie gleich in ihrem Los, diese nur im Geheimen leben zu dürfen. Gesellschaftliche Konventionen, aber auch die Machtgelüste der Intriganten beeinflussen ihre Schicksale auf eine Weise, die kaum auf einen glücklichen Ausgang hoffen lässt. Nur ein Bewohner der Residenzstadt fühlt sich in der Lage, das stetig dichter werdende Netz aus Lügen, Intrigen, Verbrechen und dunklen Geheimnissen zu durchdringen. Doch ist die Zeit nicht auf der Seite desjenigen, der den Liebenden seine Hilfe gewährt … denn er, der für sich selbst nicht auf Liebe hoffen darf, ist … ein Todeskandidat! Die Quality Books-Neufassung dieses so spannenden wie bewegenden sechsteiligen Sensationsromans von August Schrader wird Sie durch die Schicksale der einzelnen Protagonisten und die Tragik der Ereignisse schnell in ihren Bann ziehen. „In Dumas’scher Manier schrieb sensationell, hochromantisch, auf Effekt und Nervenkitzel rechnend, der talentvolle und fruchtbare Romanschriftsteller August Schrader, eigentlich Simmel – geboren 01. Oktober 1815 zu Wegeleben bei Halberstadt und gestorben 16. Juni 1878 in Leipzig.“ (Dr. Adolph Kohut in: „Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 2“)
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Seitenzahl: 435
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DER
TODESKANDIDAT
Modernisierte Neufassung
des sechsteiligen Romans
von
August Schrader
Band 1 & 2
Quality Books
2018
* * * *
Quality Books
Klassiker in neuem Glanz
Textgrundlage:
Der Todescandidat (Bd. 1 & 2)
August Schrader
Erstdruck: 1855, Leipzig, Verlag von Christian Ernst Kollmann
Neufassung: Marcus Galle
Umschlaggestaltung: Maisa Galle
© 2018 by Quality Books, Hameln
1. Auflage: September 2018
ISBN 978-3-946469-18-6
E-Mail: [email protected]
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757–1828); Jugendbildnis aus dem Jahr 1769
Der Todeskandidat (Erster Band)
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Der Todeskandidat (Zweiter Band)
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Impressum (Anschrift)
DER
TODESKANDIDAT
- Erster Band -
Erstes Kapitel
Es war im Juli des Jahres 1775. Drückend schwül lag der Abend auf dem freundlichen Tal der Ilm, und schwarze, aus Westen langsam aufsteigende Gewitterwolken hüllten W*** in eine frühe Dämmerung ein. Die Stadtuhr kündigte die achte Stunde an, als ein junges Mädchen aus einer der ruhigen Straßen trat und flüchtig den Häusern der äußeren Vorstadt entgegeneilte. Das drohende schwere Gewitter, dessen Ausbruch in jedem Augenblick zu befürchten stand, hatte die Bewohner der herzoglichen Residenz in die Häuser getrieben, und Straßen, Plätze und Spazierwege waren wie ausgestorben.
Der erste grelle Blitz zuckte aus der schwarzen Wolkenschicht herab, als das junge Mädchen über den mit hohen, dicht belaubten Bäumen besetzten Platz eilte, der die innere Stadt von der Gruppe armseliger Häuser der Vorstadt trennte. Rasch zog sie das dünne, ärmliche Tuch über den Kopf und begann wie ein flüchtiges Reh unter den Bäumen hin zu laufen. Aber kaum hatte sie zehn Schritte getan, als dem Blitz ein starker Donner folgte, der schwer und dumpf, wachsend wie eine riesige Lawine, über das ruhige Tal hinrollte. Einen lauten Schreckensschrei ausstoßend, blieb sie bestürzt am Stamm eines Baumes stehen. Majestätisch verhallte der Donner, und wie zuvor herrschte eine bange, unheimliche Stille in dem lieblichen Tal. Die Dämmerung hatte sich in Nacht verwandelt; kein Blatt erzitterte und kein Lüftchen kühlte die glühend heiße Atmosphäre. Langsam, als hätte der Schrecken ihr die Glieder gelähmt, setzte das junge Mädchen den Weg fort. Nach zwei Minuten zerriss ein noch stärkerer Blitz die schwarze Hülle; alle Gegenstände tauchten plötzlich in einer falben Beleuchtung aus der Nacht empor und verschwanden nach einer Sekunde wieder. Ein gewaltiger Donner folgte, Luft und Erde erschütternd.
»Mein Gott! Mein Gott!«, hauchte das junge Mädchen bebend, indem es sich an einen Baum lehnte und das von dem grellen Feuer geblendete Auge nach rechts und links wandte, um den in der Angst verlorenen Weg wiederzufinden.
Ein starker Windstoß rüttelte plötzlich die Bäume aus ihrer Regungslosigkeit; die Wipfel rauschten wie von einer gewaltigen Hand geschüttelt und die Zweige fuhren sausend durcheinander. Dicke Regentropfen fielen prasselnd ins Laub, und ehe drei Minuten vergangen waren, schütteten die Wolken eine wahre Wasserflut herab, die ein Orkan durch die Luft peitschte. Das schwere Gewitter, dessen Schrecken die Nacht erhöhte, begann sich nun zu entladen; Blitz und Donnerschlag wechselten in hastiger Eile, bald schwarze Nacht, bald glühenden Tag schaffend.
Das junge Mädchen befand sich glücklicherweise unter einem Baum, dessen starker Stamm und dicht belaubte, ausgebreitete Zweige ein vor Sturm und Regen sicheres Plätzchen boten. Bebend stand sie da, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend; aber trotzdem fuhr sie heftig zusammen, sobald ein Blitz herabzuckte, und ihre Knie wankten, wenn das Getöse des Donners die Luft erschütterte. Das arme Kind weinte und betete.
Eine Pause trat ein, und es schien, als ob die Kraft des Unwetters sich durch das heftige Toben erschöpft habe. Der Wind hatte sich gelegt und ruhig strömte ein warmer Regen herab. Die Bedrängte ließ die Hände sinken, zog das dünne wollene Tuch ein wenig fester um den Kopf und sah ängstlich um sich. Schwarze Nacht hüllte sie ein, und das dumpfe Rauschen des Regens verriet ihr, dass an eine Fortsetzung des Weges noch nicht zu denken war.
»Es wird wohl bald vorübergehen«, flüsterte sie beruhigt vor sich hin; »ich will lieber noch ein wenig warten, ehe ich mich dem Regenbad aussetze. Gertrud öffnet mir schon die Tür, wenn ich ein wenig später als gewöhnlich nach Hause komme. Hier stehe ich ja so sicher wie unter einem Dach; noch ist kein Tropfen durch die Blätter gedrungen.«
Da erhellte plötzlich ein langer Blitz die Nacht, und das Mädchen, das zufällig den Weg hinabgesehen hatte, erblickte in dem auflodernden Schein die Gestalt eines Mannes, der sich rasch der Stelle näherte, wo sie stand. Die Angst, von dem Ankommenden bemerkt zu werden, erstickte den Schrei zwischen den Lippen, den der hierauf folgende Donner ihr erpresste. Bebend drückte sie sich fester an den Baum und lauschte mit angehaltenem Atem. In dem sanfter gewordenen Rauschen des Regens glaubte sie, die Schritte des Mannes unterscheiden zu können. Sie war im Begriff, sich auf die andere Seite des Baumes zu flüchten, als sie durch einen zischenden Blitz festgebannt wurde; im selben Augenblick trat der Mann unter das schützende Blätterdach, sodass er die Gestalt des Mädchens noch bemerken konnte.
In dem Moment entzündete sich die Atmosphäre noch einmal und zugleich erfolgte ein so furchtbarer Donnerschlag, dass ringsumher die Erde erbebte. Bei dem Schein des Feuermeers, das sekundenlang das Tal überflutete, sah der Mann, dass das Mädchen zu Boden sank. Bestürzt über den fürchterlichen Schlag, der in geringer Entfernung einen Gegenstand zertrümmert haben musste, wollte der durchnässte Spaziergänger den bei einem Gewitter so gefährlichen Aufenthalt unter dem Baum verlassen, aber die Sorge um die Person, die er hatte zu Boden sinken sehen, hielt ihn zurück.
»Wer ist da?«, fragte die volltönende Stimme eines dem Anschein nach noch jungen Mannes.
Als keine Antwort erfolgte, streckte er tappend beide Hände aus, und bald berührte er das junge Mädchen, das in die Knie gesunken war und mit dem Rücken an dem Baumstamm lehnte. Er hob die Ohnmächtige empor, ließ sich auf ein Knie nieder, legte den Kopf derselben in seinen Arm und benetzte mit seinem durchnässten Taschentuch, das er in der Hand trug, die Schläfe.
Obgleich der junge Mann das Gesicht der Ohnmächtigen nicht sehen konnte, denn der schwarze Gewitterhimmel und der dicht belaubte Baum schufen eine undurchdringliche Finsternis, so erregten dennoch die zarten, runden Formen des Körpers, den er mit der linken Hand umschlungen hielt, seine Aufmerksamkeit. Er fühlte, wie der Busen sich leise zu heben begann, wie dem Mund ein leichter Hauch entquoll und wie die schlaff herabhängenden Hände sich bewegten. Unwillkürlich drückte er den reizenden, jugendlichen Körper sanft an sich, während er fortfuhr, mit dem Tuch die Schläfe zu benetzen. Das Licht eines Blitzes zeigte ihm nur für eine Sekunde das an seiner Brust ruhende Gesicht, aber es war hinreichend, ihn die Züge eines Engels erkennen zu lassen.
Dass all diese Wahrnehmungen den Mann das Gewitter, die Gefahr des Ortes, Regen und Windstöße vergessen machten, bedarf wohl kaum einer Erwähnung. Die Sorge um das junge Mädchen nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und jeder neue Blitz, der die Szene beleuchtete, war ihm willkommen.
Nach einigen Minuten regte sich das junge Mädchen; dann fuhr sie erschreckt zusammen und wollte sich den sie umschlingenden Armen entziehen.
»Was ist das? Was ist mit mir passiert?«, flüsterte sie. Und als ob sie plötzlich zur Besinnung gekommen wäre, rief sie mit zitternder Stimme um Hilfe.
Der junge Mann erhob sich und entließ sie aus seinen Armen.
»Fürchten Sie nichts«, sagte er freundlich; »ich habe mich Ihnen nur in der Absicht genähert, um mich Ihrer anzunehmen, denn ich sah Sie bei dem Leuchten eines Blitzes zu Boden sinken. Und nicht wahr«, fügte er in einem weichen Ton hinzu, »jetzt fühlen Sie sich wieder wohl; der jähe Schrecken hat keine üblen Folgen hinterlassen?«
Diese Worte wurden so sanft und so teilnehmend gesprochen, dass sie die Furcht des Mädchens verscheuchten.
»Mir ist wohl!«, flüsterte eine zarte Kinderstimme. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich meiner angenommen haben. Gute Nacht!«
Sie hüllte sich in ihr Tuch und wollte sich entfernen.
Der junge Mann ergriff sanft ihre Hand.
»Bleiben Sie!«, bat er in demselben milden Ton. »Noch strömt der Regen hernieder, und da das Gewitter nicht mehr über unserm Haupt steht, wüsste ich wahrlich keinen Grund, der Sie veranlassen könnte, dieses trockene Plätzchen aufzugeben.«
Schweigend blieb sie stehen und sah auf die Ebene hinaus, die sich nach und nach zu lichten begann. Der junge Mann war völlig durchnässt; er suchte seinen Busenstreifen und sein Halstuch zu ordnen, als ob ihm daran läge, auf das schöne unbekannte Mädchen einen günstigen Eindruck zu machen. Die schweren Wolken zogen rasch nach Osten und im Westen zeigte sich die letzte Glut der Abendröte, die bis jetzt verhüllt gewesen war. Die wiederkehrende Dämmerung erlaubte ihm, die Mädchengestalt deutlicher ins Auge zu fassen. Obgleich sie zart und schlank war, so zeichneten sich unter dem leichten leinenen Tuch dennoch üppige, runde Formen ab. Von dem Gesicht ließ sich nicht mehr als ein jugendliches Aussehen, das der Stimme entsprach, erkennen, und auf dem Kopf eine Fülle von Haaren, die über der Stirn glatt gescheitelt und hinten in einen starken Flechtenkranz zusammengelegt waren. In der ganzen Erscheinung lag der Zauber jugendlicher Anmut und Naivität.
Der junge Mann mochte vielleicht sechsundzwanzig Jahre zählen; er war zwar nur von mittlerer Größe, aber schön und schlank gewachsen. Seine durchnässten Kleider verrieten den Mann von Stand: Er trug einen nach damaliger Mode eleganten Frack mit einem kurzen, aufrecht stehenden Kragen, eine weiße Schoßweste, großen Busenstreifen, weißes Halstuch, eng anliegende bis an die Knie reichende Hosen, weiße seidene Strümpfe und Schuhe mit Schnallen. Sein Gesicht war oval, mit einer hohen, schönen Stirn, großen geistreichen Augen, einer edel geformten Nase und einem aus schönen geschweiften Lippen geformten Mund. Seine Manieren waren die des fein gebildeten jungen Mannes.
Mit großer Aufmerksamkeit betrachtete er eine Zeit lang das junge Mädchen, das in sichtlicher Befangenheit neben ihm stand und das Aufhören des schwächer werdenden Regens erwartete. Sie wagte es nicht, den Mann anzusehen, der sich ihrer so freundlich angenommen hatte.
»Gehen Sie zur Stadt zurück?«, fragte er, um ein Gespräch anzuknüpfen.
Sie wandte das liebliche Köpfchen ein wenig zur Seite und flüsterte:
»Nein, ich komme von dort. Der plötzliche Ausbruch des Gewitters trieb mich unter diesen Baum …«
Eine ängstliche Befangenheit schien ihr den Mund zu schließen. Sie senkte das kaum erhobene Auge rasch wieder zu Boden, als ob sie mit der Beantwortung der Frage eine Sünde begangen hätte. Verwirrt zog sie mit den kleinen Händen das Tuch fester um sich, sodass die reizenden Formen ihres Körpers deutlicher hervortraten.
»Sie wählten einen gefährlichen Ort zu Ihrem Schutz«, fuhr der junge Mann fort. »Mir scheint, dass dieser Baum der höchste von allen ist. Der Blitz sucht die hohen Wipfel«, fügte er belehrend hinzu.
»Ich dachte mir, dass Gott mich überall findet, wenn er mich sucht«, antwortete sie mit leiser, zitternder Stimme. »Der letzte fürchterliche Blitz scheint sich ein anderes, von hier nicht fernes Ziel erkoren zu haben.«
Und sie deutete mit der Hand auf einen Baum, der in einer Entfernung von vielleicht fünfzig Schritten zersplittert am Boden lag und von der Abendröte mild beschienen wurde.
Beide starrten den von einem kalten Schlag getroffenen Baum an. Der starke Stamm war zerrissen und die langen Äste und Zweige lagen zerstreut auf dem Rasen umher.
»Es ist wahr«, antwortete er voller Verwunderung, »hier hat Sie Gottes Hand beschützt; doch die Erfahrung hat meine Ansicht schon oft bestätigt, und daher trete ich ungern bei einem Gewitter unter einen Baum.«
»Dann, mein Herr, bin ich Ihnen zu umso größerem Dank verpflichtet, dass Sie mir zu Hilfe gekommen sind.«
»Das wollte ich nicht andeuten!«, rief der junge Mann, dessen Interesse für das Mädchen sich mit jedem Augenblick mehrte.
»Sie setzten Ihr Leben einer augenscheinlichen Gefahr aus«, fügte sie hinzu, als ob sie erst jetzt die Größe des ihr geleisteten Dienstes erkannte und ihre Dankbarkeit an den Tag legen wollte.
»Mag sein, mein liebes Kind, aber ich bekenne offen, dass ich in dem Augenblick nicht daran dachte, als ich Sie in einem wahren Feuermeer zu Boden sinken sah. Betrachten Sie meine Annäherung als ein Opfer«, sagte er lächelnd, »nun, so bezeigen Sie sich dankbar!«
»Wodurch, mein Herr?«, fragte sie in der größten Verwirrung.
»Dadurch, dass Sie mir erlauben, meinen Dienst vollständig zu machen.«
»Wie?«
»Dass ich Sie, da der Abend vollständig angebrochen ist, zu Ihrer Wohnung begleiten darf.«
Sanft ergriff er ihre Hand und sah ihr bittend ins Gesicht, das in diesem Augenblick von einem aus der Ferne herüberleuchtenden Blitz wie von einem Heiligenschein erhellt wurde. Unwillkürlich bebte er in dieser Berührung zusammen, denn er hatte das lieblichste, anmutigste Gesicht von der Welt gesehen. Wie das Antlitz eines Seraphs, das mild aus einer schwarzen Wolke herablächelt, war es ihm erschienen, und er müsste nicht der gewesen sein, der er war, wenn er die ganze wunderbare Poesie dieser Erscheinung nicht mit vollem Gemüt aufgefasst hätte. Der Schleier der Nacht hatte sich längst wieder ausgebreitet, aber immer noch sah das entzückte Auge die lieblichen, verschämt lächelnden Züge, den milden, schwermütigen Blick des großen Auges und die schöne Stirn, umgeben von einem vollen Wellenhaar. Wie willenlos ließ sie ihre weiche, kleine Hand in der seinigen ruhen, und hätte ihn die rasch eingetretene Dunkelheit nicht daran gehindert, so würde er die unbeschreiblich anmutige Verwirrung gesehen haben, die sich in dem gesenkten Antlitz der Jungfrau aussprach. So standen sie einander Hand in Hand schweigend gegenüber, jedes dem Eindruck erliegend, den es empfangen.
Da ließ sich plötzlich ein schmerzlicher Seufzer vernehmen, der ganz in der Nähe aus einer hohlen, tiefen Brust zu kommen schien. Wie der letzte, krampfhafte Atemzug eines Sterbenden verhauchte der Jammerlaut unheimlich in der Stille der Nacht.
Das junge Mädchen bebte zusammen und zog scheu ihre Hand zurück. Der junge Mann sah einen Augenblick um sich, dann machte er Miene, die andere Seite des Baumes zu gewinnen, von wo das Geräusch erklungen war.
»Bleiben Sie, lieber Herr, bleiben Sie!«, rief sie ängstlich.
»Es ist jemand hinter dem Baum verborgen, der uns belauscht. Vielleicht ein Unglücklicher.«
»Oder ein Mutwilliger, der uns neckt.«
»Umso mehr Grund, dass ich ihn aufsuche.«
Er wollte sich entfernen; rasch trat sie auf ihn zu und hielt ihn bei der Hand zurück.
»Lassen Sie mich nicht allein!«, bat sie in einem rührenden Ton. »Wer auch immer sich dort verborgen halten und uns belauscht haben mag, bleiben Sie! Was wir gesprochen haben, kann alle Welt hören!« fügte sie laut und entschlossen hinzu.
»Sie wollen es – ich bleibe!«, gab er lächelnd zur Antwort. »Meine Aufmerksamkeit für Sie ist größer als meine Neugierde. Leisten Sie auf Untersuchung Verzicht, so ist es meine Pflicht, den Schleier auf dem Geheimnis ruhen zu lassen.«
»Ich habe keine Geheimnisse, mein Herr«, antwortete sie mehr ängstlich als verwirrt.
»Sollte vielleicht ein zärtlicher Mann, der Sie mit seinen Bewerbungen verfolgt und dem Sie abgeneigt sind, seine schmerzliche Eifersucht kundgegeben haben? Ach, ich errate es, die Eifersucht!«, fügte er hinzu, und dasselbe Gefühl, von dem er sprach, begann sich in ihm zu regen.
»Nein, nein!«, sagte sie rasch. »Es ist schon spät – erlauben Sie mir, dass ich mich entferne. Man sagt, dass sich hier nachts böse Menschen aufhalten.«
»Dann dürfen Sie nicht allein gehen! Reichen Sie mir Ihren Arm.«
Zitternd folgte sie dieser Aufforderung, nachdem sie sich noch einmal ängstlich und scheu umgesehen hatte. Beide verließen nun das schützende Blätterdach und traten ins Freie hinaus. Die letzte dunkle Wolke hatte sich verzogen und das tiefblaue, klare Firmament mit seinen flimmernden Sternen breitete sich in seiner ganzen Pracht über dem Ilmtal aus. Die durch den Regen erfrischte Natur atmete Wohlgerüche aus, dem Schöpfer dankend für die lange entbehrte Erquickung. In der Ferne grollte der Donner noch und leuchteten die Blitze. Da verbreitete sich plötzlich ein wunderbares Licht über der Landschaft und die klare Scheibe des Mondes trat hinter einer fliehenden Wolke hervor. In geringer Entfernung vor den beiden jungen Leuten lagen still und freundlich die Häuser der Vorstadt, und hinter ihnen schimmerten die Kuppeln und die Türme und Dächer der Residenzstadt. Die Blätter der Bäume, schwer von Regen, erglänzten wie mit dunklen Steinen besät.
Plötzlich blieb die Jungfrau vor einem der letzten kleinen Häuser stehen.
»Hier ist meine Wohnung«, sagte sie, und indem sie sich zu ihrem Begleiter wandte, fiel das volle Mondlicht in ihr Gesicht.
Das ist wahrlich das Antlitz eines Engels!, dachte der junge Mann, indem er sie sprachlos anstarrte.
»Nehmen Sie noch einmal meinen Dank!«, flüsterte sie. – »Und nun gute Nacht!«
Er hielt ihre Hand fest; sie blickte verwirrt zu Boden.
»Soll ich mich ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen von Ihnen trennen?«, fragte er, unwillkürlich ihre Hand an seine Lippen drückend.
Sie erschrak.
»Was tun Sie, mein Herr!«
»O beantworten Sie mir meine Frage!«, bat er dringend, und zugleich schien er die im Mondlicht schwimmenden Züge des Mädchens mit den Blicken einzusaugen.
»Ich bin ein armes Mädchen … und Sie … der vornehme Herr«, stammelte sie.
»Soll ich an einen eifersüchtigen Liebhaber glauben?«
»Ich schwöre Ihnen, dass sich niemand um mich kümmert!«, rief sie leise und mit einem schmerzlichen Lächeln, das ihrem lieblichen Gesicht einen wunderbaren Reiz verlieh.
»Fast kann ich es nicht glauben.«
»Gute Nacht! Gute Nacht!«, flüsterte sie, sprang zu dem Häuschen und klopfte an die Tür.
»Gleich!«, antwortete die Stimme einer Frau, die aus dem Fenster gesehen und die Ankunft des jungen Mädchens erwartet zu haben schien.
»Auf Wiedersehen!«, rief der Spaziergänger leise.
Sie antwortete durch einen Wink mit ihrem weißen Tuch; dann, als die Tür geöffnet war, verschwand sie in dem Häuschen. Der junge Mann betrachtete noch lange die geschlossene Tür. Fünf Minuten später zitterte ein Lichtschein in einem der Fenster des niedrigen ersten Stocks und gleich darauf sah er die Gestalt des Mädchens, das einen Vorhang herabließ. Erst als das Licht erlosch, trat er den Rückweg zur Stadt an.
»Sie ist zur Ruhe gegangen!«, flüsterte er vor sich hin. »Und diese reizende Blume blüht hier im Verborgenen. Das ist Anmut, das ist Unschuld!«, fügte er wie begeistert hinzu, indem er sich ihre Gestalt und ihre Gesichtszüge im Geiste vergegenwärtigte. »Seit dem Frühling komme ich täglich durch diese Gegend, und noch nie habe ich sie gesehen. Ich muss sie wiedersehen, muss wissen, wer sie ist, und prüfen, ob ich mich in meinem Urteil über sie nicht getäuscht habe.«
Ungeachtet eines leisen Fröstelns, das die durchnässten Kleider verursachten, ging er nur langsam der Stadt entgegen. Er kam bei dem Baum an, wo er die Schöne getroffen hatte. Unwillkürlich blieb er stehen und betrachtete das lauschige Plätzchen. Mit einem Wonneschauder gedachte er der Augenblicke, wo sie in seinen Armen gelegen, wo er den reizenden, elastischen Körper an sich gedrückt hatte; dann das Auftauchen des lieblichen Gesichts aus der Finsternis, wenn ein falber Blitz die Luft zerriss.
Während die Elemente tobten, während der Tod über meinem Haupt in den furchtbar geschwängerten Wolken schwebte, war ich hier glücklich an der Seite eines reizenden Geschöpfs!, dachte er. Durch meine Kühnheit habe ich mir ein Recht erworben, mir dieses Glück zu erhalten und zu erhöhen. Fast möchte ich annehmen, dass es die Vorsehung begünstigt hat; der zersplitterte Baum dort ist ein Beweis. Aber wenn sie schon einen andern liebte? Das seltsame Geräusch in unserer Nähe …!
In diesem Augenblick bildete sich ein wunderlicher Schatten in dem hellen Mondlicht, das den Baum umwebte. Der junge Mann, der gern den Beobachter spielte, fasste ihn verwundert ins Auge. Zuerst erschienen zwei lange, magere Beine mit einem ganz kurzen Oberkörper, auf dem sich ein starker, eckiger Höcker befand. Dann wurden die sich langsam bewegenden Beine kürzer, der Oberkörper ward größer und Höcker und Kopf verschmolzen zu einem unförmigen Knäuel. Nun verschwand das seltsame Gebilde, und der Gegenstand, der diesen Schatten geworfen hatte, erschien. Es war ein kleiner, verwachsener Mann, völlig dem soeben beschriebenen Schatten entsprechend. Er hatte die unverhältnismäßig langen Arme auf den Rücken gelegt, sah starr vor sich hin und schien seinen Weg fortsetzen zu wollen, ohne die Person zu bemerken, die im Schatten des Baumes stand und ihn betrachtete. Plötzlich blieb er stehen. Sein von einer flachen Mütze bedeckter Kopf hob sich empor, die Arme sanken schlaff am Körper nieder und nach einer kurzen Pause stieß er einen dumpfen, hohlen Seufzer aus.
Der junge Mann konnte nicht mehr zweifeln, dass er die Person vor sich sah, die sein Gespräch mit dem schönen Mädchen belauscht hatte. Das war derselbe, wie einem Grab entquollene Ton, der die Unbekannte erschreckt und verscheucht hatte. Es ließ sich annehmen, dass zwischen diesem Buckligen und dem Mädchen eine Beziehung bestand.
»Guten Abend, Freund!«, rief der junge Mann, indem er aus dem Schattenkreis, den der Baum warf, hervortrat.
Der Bucklige legte ruhig seine Hände wieder auf den Rücken, wandte sich zur Seite und sah den Grüßenden schweigend an. Er schien zu überlegen, ob er auf den Gruß danken sollte oder nicht. Seine großen, hohlen Augen blitzten unheimlich im klaren Mondlicht und bei jedem seiner Atemzüge keuchte und kochte es in der spitzen Brust, als ob er der letzte sein sollte.
Ein Geisteskranker!, dachte der junge Mann, indem er dem seltsamen Wesen mitleidig in das aschgraue, hagere Gesicht sah. »Ihr seid wohl krank, mein armer Mann?«
Der Bucklige lächelte ironisch. Dann antwortete er rasch mit einer heiseren, tonlosen Stimme:
»Ich, krank? Ein Tor, wer solches sagen kann!«
»Ihr leidet dennoch, ist der Körper auch gesund!«
»Mein lieber Herr, wer leidet nicht auf diesem Erdenrund?«
»Oho! Ihr seid wohl gar ein Dichter und fantasiert in stiller Mondennacht?«
»Wozu sind denn die schönen Lichter, die Sterne und der Mond, gemacht?«
»Nicht übel!«, rief lachend der junge Mann.
»Ihr seid ein zweiter Hans Sachs, so scheint mir!«
»Verzeihung, bin kein Schuster, bin ein Tapezier!«, antwortete der Bucklige, indem er sich leicht verbeugte.
»Da treibt Ihr eine edle Profession!«
»Und dennoch bin ich nur des Unglücks Sohn.«
»Sind Eure Polster ebenso wie Eure Reime, so kann es nicht an Arbeit fehlen.«
»Mein lieber Herr, Rosshaare sind und Federn keine Träume, und fehlt ein Vers, so kann man ungestraft ihn stehlen. Der Arme bleibt ein Lump trotz seiner Geistesgaben, drum will man weder Polster noch Verse von mir haben. Bring meine Werk’ ich nicht durch Zufall an den Mann, so hungere ich und sticke fast daran. Ein Dichter, Herr, um Gottes willen, kann seinen Hunger nur durch Verse stillen. Drum gehe ich in stiller Nacht spazieren, um meine Not hinwegzufantasieren.«
»Hört, Freund, Ihr interessiert mich in hohem Maße, sodass ich Euch näher kennenlernen muss. Steigt jetzt herab von dem Parnass und redet in schlichter Prosa, denn der Zwang des Reimes hindert oft, die Gedanken so auszudrücken, wie man es eben möchte.«
»Irrtum!«, sagte ironisch lächelnd der Tapezier.
»Ich kenne das!«
»Nun gut, Herr, Ihre Ansicht mag gelten. Ich werde mich bemühen, in Prosa zu reden.«
»Bemühen?«, rief lachend der junge Mann. »Das nenne ich Dichterstolz!«
»Wie es Ihnen beliebt.«
»Geht Ihr zur Stadt zurück?«
»Ja, Herr!«
»So begleitet mich.«
Die beiden Männer setzten nun gemeinschaftlich den Weg fort. Der Bucklige keuchte bei jedem Schritt, und von Zeit zu Zeit nahm er den Hut ab, um mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn zu wischen. Das kleine, gebrechliche Wesen schlich wie ein Kobold an der Seite seines Begleiters hin, der oft über den wunderlichen Schatten lächeln musste, den der verwachsene Körper auf den frischen, dunkelgrünen Rasen warf.
»Wo habt Ihr Schutz gegen das Gewitter gefunden, Freund?«
»Unter dem großen Baum.«
»Ich errate, Ihr seid dem hübschen Mädchen nachgeschlichen.«
»Nun ja, ich leugne nicht, dass ich die Stunde wusste, in der sie aus der Stadt zu ihrer Wohnung zurückkehrte.«
»Ihr habt recht; ein Dichter muss ein Liebchen haben, um sich zu begeistern.«
»Ein Liebchen!«, seufzte der Bucklige. »O seht mich an und sagt mir dann, ob so ein Mensch ein Liebchen haben kann. Teils fliehen mich die Mädchen unter Lachen, teils fürchten sie sich wie vor einem Drachen. Ich kann wohl lieben, doch geliebt zu werden, ist unerreichbar mir auf dieser Erden!«
»Und doch gibt es im Altertum schon ein Beispiel, dass geistige Anmut und Liebenswürdigkeit die Fehler und Mängel des Körpers vergessen machten.«
Der kleine Mann legte die Hände auf den Rücken, blieb stehen und sah mit blitzenden Augen zu seinem Begleiter empor.
»Sie meinen den in Theben geborenen Krates?«, fragte er. »O ich kenne diesen berühmten Zyniker aus der Geschichte und weiß auch, dass ihn Hipparchia, ein reizendes und vornehmes thrakisches Mädchen, trotz seiner körperlichen Hässlichkeit heiratete, weil sie seine geistigen Vorzüge zu schätzen wusste.«
»Ich bewundere Eure Geschichtskenntnis, Freund!«
»Was hilft sie mir? Krates ist mein Vorbild; ich bemühe mich, ihm gleich zu werden, und dennoch kann ich keine Hipparchia finden. Aus diesem Grund habe ich mir vorgenommen, rein platonisch zu lieben, denn bei dieser Liebe kommt der Körper nicht in Betracht.«
»Ihr habt einen sehr klugen Vorsatz gefasst!«, rief lächelnd der junge Mann. »Übrigens scheint mir, dass Ihr dabei nur einseitig, um nicht zu sagen, egoistisch verfahrt.«
»Wie?«, fragte der Bucklige in großer Spannung.
»Euren eigenen Körper wollt Ihr bei der platonischen Liebe nicht berücksichtigt wissen; aber Ihr selbst wählt Euch ein so reizendes, liebliches Mädchen zum Gegenstand Eurer Neigung, dass ich Euren guten Geschmack bewundern muss.«
Des Tapezierers Gesicht verzog sich zu einem schmerzlichen Lächeln.
»Sie meinen, Gretchen?«, fragte er mit leiser Stimme.
»Ich meine jenes junge Mädchen, das dort in dem vorletzten der Häuser wohnt.«
»Es gibt nur ein Gretchen in der ganzen Stadt«, fügte der Bucklige mit leisem Kopfnicken hinzu. »In ihrem schönen Körper wohnt auch eine schöne Seele. Ich habe oft Gelegenheit gehabt, sie zu bewundern. Wer Gretchen näher kennt, muss sie lieben und achten. Könnte ich sie glücklich machen, ich würde mein Leben dafür geben!«
»Ist sie denn unglücklich?«, fragte der junge Mann anscheinend gleichgültig, indem er weiterging.
»Nun, ihr Los ist eben kein beneidenswertes. Vor kaum vier Wochen hat sie ihre alte Mutter begraben, deren einzige Stütze sie seit langer Zeit gewesen ist. Jetzt teilt sie den kärglichen Ertrag ihrer Arbeit mit einer älteren Schwester, der Frau eines Maurers, die drei kleine Kinder hat. Wenn Sie wissen, was eine arme Näherin täglich verdient, werden Sie das Opfer ermessen können, dass Gretchen bringt.«
»Also Gretchen ist eine Näherin?«
»Ja, mein Herr; sie arbeitet von morgens früh bis abends spät bei den reichen Leuten der Stadt. Diesen Abend wurde sie auf der Heimkehr von dem Gewitter überrascht.«
»Ihr wart hinter dem Baum verborgen, als ich dem ängstlichen Kind zu Hilfe eilte?«
»Ich leugne es nicht; aber ich habe nicht absichtlich gelauscht.«
»Bekennt es nur, Freund, Euch hat die Eifersucht ein wenig geplagt!«, rief der junge Mann lachend.
»Eifersucht?«, fragte der Bucklige in einem bedauernden Ton. »Dieses hässliche Gefühl ist mir völlig fremd. Ich war im Gegenteil froh, dass sich dem armen Gretchen ein Beschützer nahte. Du lieber Himmel, wie erschrak sie bei jedem Blitz, wie bebte sie bei jedem Donnerschlag zusammen! Ich sehe, dass Sie die Lust anwandelt zu fragen, warum ich ihr nicht beigesprungen bin, obwohl ich zuerst in ihrer Nähe war?«
»Nun ja!«
»Weil ich das gute Kind nicht noch mehr ängstigen wollte. Sie müssen nämlich wissen, lieber Herr, dass Gretchen einen unüberwindlichen Widerwillen, selbst Abscheu vor mir empfindet. Wenn sie mich sieht, weicht sie mir aus; und ich bin fest davon überzeugt, dass sie den schützenden Baum verlassen und sich in den Regen gestürzt haben würde, wenn sie meine Nähe geahnt hätte. Ist es doch, als ob sie mich für ein unheimliches Gespenst, für ein Unheil bringendes Wesen hält. Ich müsste sie wahrlich nicht lieb haben, wenn ich mich ihr bei jeder Gelegenheit zeigen wollte. Und dennoch sehe ich sie gern, vorzüglich, wenn ich sie heimlich beobachten kann, wenn ich weiß, dass ich ihr durch meinen Anblick nicht wehtue. Ja, wäre sie eine Hipparchia! Wäre ich ein Krates! Aber trotz dieser Abneigung wache ich über Gretchen wie ein unsichtbarer Schutzgeist und versuche, alles Unglück von ihrem Haupt abzuwenden.«
»Unglück – wer möchte dem lieben Kind ein Unglück zufügen wollen?«
»Lieber Herr«, sagte der Bucklige, »es gibt für ein junges hübsches Mädchen eine Art Feindseligkeit, die auf den ersten Blick wie die zarteste Liebe aussieht. Gretchen, das unschuldige, leichtgläubige Kind, ist zu unerfahren, um unterscheiden zu können. Ich müsste mich sehr irren, wenn die Art Feindseligkeit, von der ich rede, nicht schon ein wenig Wurzel bei ihnen gefasst hätte.«
»Ah, ich verstehe Euch, Freund!«, rief der Spaziergänger lachend. »Aber findet Ihr es nicht erklärlich, dass sich Gretchen in Eurem Sinne manchen Feind erwirbt?«
»Gewiss, und ich grolle diesem Feind auch nicht, denn er liefert den Beweis, dass er mein Schönheitsgefühl teilt – aber ich versuche, Gretchen zu warnen und vor seinen Angriffen zu bewahren. Sie lächeln, mein Herr, und glauben vielleicht, dass die Eifersucht aus mir spricht – doch Sie irren! Dass ich Gretchen nicht glücklich machen kann, begreift ein Mensch, der um die Hälfte weniger Verstand besitzt als ich. Wüsste ich einen Mann, der es aufrichtig mit dem Mädchen meint, den sie beglücken kann und in dessen Besitz sich Gretchen glücklich fühlt, ich würde meine uneigennützige Liebe dadurch an den Tag legen, dass ich nach Kräften eine Vereinigung zu bewirken suchte. Aber einen solchen zu finden, ist sehr schwer; ich wüsste keinen einzigen Mann in unserer Residenz, der die erforderlichen Eigenschaften dazu besäße.«
»Element, Freund, Ihr seid sehr diffizil!«
»Weil ich aufrichtig liebe!«
Mit der Miene eines Menschen, der an der Unterhaltung eines seltsamen Geschöpfes Gefallen findet, fragte der junge Mann:
»Was fordert Ihr denn für die, die sich Eures Schutzes zu erfreuen hat?«
»Ich fordere nur das, was Gretchen wirklich nützt, was sie selbst aber zu fordern weder die Erkenntnis noch den Mut besitzt. Gretchen ist ein so unschuldiges, so einfaches und dabei doch so feinfühlendes Mädchen, dass ein gewöhnlicher Mann, auf den eine Näherin Anspruch zu machen hätte, sie nicht verstehen, folglich auch nicht schätzen würde. Ich vergleiche sie mit einer kostbaren Perle, deren wahren Wert nur das Auge eines Kenners zu ermessen vermag. Der Laie wird zwar, wie jeder Mensch mit gesunden Sinnen, durch das liebliche Äußere entzückt, aber das schöne Innere, das unter der Obhut des rechten Mannes sich herrlich entfalten muss, bleibt ihm nicht nur verborgen, es würde auch im Strom des Alltagslebens verkümmern.«
Die beiden Männer hatten die ersten Häuser der Stadt erreicht.
»Wo wohnen Sie?«, fragte der Bucklige.
Der Gefragte bezeichnete die Straße und das Haus.
»Ich finde Gefallen an Euch, Freund!«, fügte er hinzu. »Besucht mich morgen und ich werde sehen, ob sich etwas für Euch tun lässt.«
Der Tapezierer starrte den jungen Mann an.
»Himmel!«, rief er erstaunt, »jetzt geht mir ein Licht auf! In dem Haus, das Sie mir genannt haben, wohnt ja der junge Dichter, den unser Fürst hat kommen lassen und dessen Verse aller Welt den Kopf verdrehen. Sie müssen es sein!«
»Und wenn ich es wäre?«
»Dann, mein Herr, werde ich mich einstellen!«
»Ich erwarte Euch!«, sagte der Dichter lächelnd und verschwand in der Straße.
»Diese Bekanntschaft ist mir erwünscht!«, flüsterte der Tapezierer. »Ein Dichter hat mehr Herz und Gemüt als ein Philister – vielleicht erreiche ich durch ihn das Ziel, das ich mir zur Aufgabe meines Lebens gestellt habe. Man erzählt sich so viel von diesem sonderbaren Menschen; jetzt werde ich erfahren, ob es wahr ist!«
Der Tapezierer ging langsam seiner Wohnung entgegen. Nachdenkend ließ er den Kopf auf die Brust herabhängen.
Zweites Kapitel
Der folgende Tag war ein Sonntag. Die Ruhe des Sabbats lag über der freundlichen Stadt ausgebreitet, deren Straßen sauber gefegt und mit Sand bestreut waren. Die Glocken riefen die Gläubigen zur gemeinsamen Gottesverehrung, als es leise an die Tür des jungen Dichters klopfte. Dieser legte die Feder nieder und forderte mit lauter Stimme zum Eintreten auf. Die Tür wurde geöffnet und der bucklige Tapezierer erschien auf der Schwelle. Heute war der Improvisator festlich geschmückt; er trug einen blauen Leibrock mit großen Metallknöpfen, eine gelbe, schwarz gestreifte Weste, ein weißes Halstuch mit gestickten Zipfeln, schwarze Manchesterhosen, die durch Schnallen unter dem Knie zusammengehalten wurden, und sauber gewichste Stiefel, die bis ans Knie reichten. Sein dünnes braunes Haar, sorgfältig von hinten nach vorn gekämmt, bedeckte nur spärlich den breiten Schädel, sodass die glänzende Haut hindurchschimmerte. Das aschgraue, bartlose Gesicht, mager bis zum Entsetzen, drückte Freundlichkeit und Neugierde zugleich aus.
Der Bucklige musste sich einige Augenblicke erholen, ehe er sprechen konnte. Dann begann er:
»Da bin ich, Herr, ich halte Wort; doch bin ich lästig, jagt mich wieder fort!«
»Ihr kommt mir gelegen, denn ich habe Euch erwartet. Setzt Euch auf den Stuhl dort und erholt Euch. Doch zuvor nennt mir Euren Namen.«
»Ich heiße Werner, Herr, bin, wie ich schon gesagt, ein Tapezierer, der stets am Hungertuche nagt. Habt Arbeit Ihr für mich, ich nehm sie gerne an und diene Euch als ein reeller Mann.«
Nach diesen Worten ließ sich Werner auf dem Stuhl nieder und legte seinen breitkrempigen Hut auf die zitternden Knie.
»Ich habe diese Nacht überlegt, wie ich Euch nützlich sein kann«, begann der junge Dichter. »Da bin ich denn zu dem Resultat gelangt, Euch als Faktotum in meine Dienste zu nehmen. Seid Ihr wirklich der Mann, für den ich Euch halte, das heißt zuverlässig und verschwiegen, so könnt Ihr darauf rechnen, dass Euch von diesem Augenblick an Not und Sorgen fernbleiben. Ich zahle Euch monatlich einen Lohn von drei Talern, werde auch sonst noch für Eure nötigsten Bedürfnisse sorgen und dafür dient Ihr mir, so weit es Eure Kräfte gestatten. Ich zähle dabei mehr auf Euren Geist als auf Euren Körper.«
»So nehmen Sie mich hin; ich bin der Ihre!«, sagte Werner mit großem Eifer.
Zwischen dem Herrn und dem Diener wurden nun noch die nötigen Einzelheiten verabredet, und der Dichter Wolfgang zahlte dem Tapezierer einen monatlichen Lohn im Voraus. Nachdem der Kontrakt abgeschlossen war, entspann sich folgendes Gespräch:
»Mit dem Gedanken an Eure Person«, begann der Dichter, »verband sich noch ein anderer, den ich gern unterdrückt hätte, obgleich er mir nicht unangenehm war. Er beschäftigte mich die ganze Nacht und ging selbst in meinen Traum über. Ihr erratet wohl«, fügte er mit einiger Verlegenheit hinzu, als er das Lächeln Werners sah, »Ihr erratet wohl, dass mir von Gretchen träumte.«
»Mein Gott«, rief der Tapezierer, »ich finde das sehr natürlich! Gretchen ist ein so liebliches Mädchen, dass man sie so leicht nicht wieder vergisst, wenn man sie einmal gesehen hat. Es geht Ihnen und mir nicht allein so, lieber Herr; ich kenne einen reichen Mann, der Tag und Nacht an sie denkt, der stets darauf sinnt, sich ihr zu nähern, und viel darum gäbe, wenn er sich ihre Gunst erwerben könnte. Aber solange ich lebe, wird ihm das nicht gelingen.«
»Warum?«, fragte Wolfgang.
»Weil jener Mann einer von denen ist, welche die Perle nicht zu schätzen wissen. Zur Kurzweil, selbst für einen Junker, ist Gretchen viel zu gut, und um sie sich zu seiner Gattin zu nehmen, hält er sich für zu gut. Nun weiß ich, was aus der ersten Annäherung dieses Menschen entstehen kann. Sie ist ein unschuldiges, leichtgläubiges Mädchen, das die Lüge von der Wahrheit nicht zu unterscheiden vermag, und er ist ein angesehener Mann, mit einem Rednertalent begabt, dem es unfehlbar gelingen wird, dem armen Gretchen den Kopf zu verdrehen. Es kostet mich viel Mühe, diese Gefahr von ihr abzuwenden. Sie ist verloren, wenn sie in die Schlingen dieses Menschen fällt. Ich habe Ihnen gestern schon gesagt, dass ich Gretchen wie meinen Augapfel liebe, und ich füge heute hinzu, dass ich mich längst von meiner jammervollen Hülle befreit hätte, wenn dem lieben Mädchen mein Herumkeuchen auf dieser Welt nicht nützlich wäre. Ihr zuliebe trage ich die Beschwerden meines gebrechlichen Körpers und die Lasten eines mühseligen, sorgenvollen Lebens; bedarf sie meiner Fürsorge aber nicht mehr, nun, dann habe ich nur mein eigenes Wohl im Auge, und ich weiß nicht, wie weit mich mein Egoismus führen wird.«
In dem kleinen, knochigen Gesicht Werners sprach sich eine solche Entschlossenheit aus, und sein dunkelgraues Auge glühte so begeistert, dass in seine Worte durchaus kein Zweifel zu setzen war.
»Wie aber sorgt Ihr denn für Gretchen, da sie vor Euch flieht?«, fragte der junge Mann verwundert. »Wie ist das möglich, wenn sie sich Eurem Einfluss zu entziehen sucht?«
»Ich will Ihnen ein Beispiel anführen, lieber Herr; daraus können Sie schließen, wie ich meine Absicht erreiche. Mir war bekannt, dass Gretchen vorgestern Abend zwischen acht und neun Uhr aus der Stadt zu ihrer Wohnung zurückkehren musste. Schon um acht Uhr trat ich einen Spaziergang unter den Bäumen auf der Wiese an und beobachtete den Weg, der zur Vorstadt führt. Da sah ich plötzlich meinen Mann kommen; er ging sehr langsam und hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Stadt gerichtet. Halt, dachte ich, den edlen Junker führt eine zärtliche Absicht hierher; er lauert Gretchen auf! Während also der Junker unter den Bäumen erwartungsvoll spazieren ging, eilte ich der Stadt entgegen und stellte mich mitten auf den Weg, der über die Wiese führt. Nicht lange hatte ich meinen Posten eingenommen, als Gretchen erschien. Kaum hatte sie mich erblickt, als sie von dem betretenen Pfad abwich und den Nebenweg einschlug, der vom Wassertor hinter den Häusern hindurch zu ihrer Wohnung führt. Sie zog es vor, den unbequemen Umweg zu wählen, anstatt mir zu begegnen. Gehe du nur hin, dachte ich, es ist besser, dass du ein wenig erschrickst, als dass du jenem in die Hände läufst. Um zehn Uhr sah ich den Junker unverrichteter Dinge zur Stadt zurückkehren. Da ich vermutete, dass er gestern Abend wiederkommen würde, fand auch ich mich wieder ein – er kam nicht, und was geschehen ist, wissen Sie.«
»Es ist unbezweifelbar«, sagte Wolfgang, »dass Ihr die gefährlichen Liebhaber abzuhalten imstande seid.«
»Gewiss, ich bin eine Art Vogelscheuche, ein Popanz zum Erschrecken!«, rief Werner zwar lachend, aber in einem bitteren Ton. »Wie oft habe ich sehen müssen, dass Mütter mich ihren schreienden Kindern zeigten, wenn ich gerade vorüberging, und dass sie den Schreihälsen drohten, mich herbeizurufen; erschreckt schwiegen sie bei meinem Anblick still. Gretchen ist ja auch noch ein Kind«, fügte er schmerzlich mild hinzu; »ich zürne ihr nicht, wenn sie davonläuft.«
»Damit ist mir nur nicht gedient«, meinte der Dichter.
»Ach, lieber Herr, ich halte Euch auch für keinen gefährlichen Liebhaber!«
»Wahrhaftig, Werner?«
»Sie sind Dichter, ein Mann, den Serenissimus wegen seines Talentes schätzt und von dem bereits die Welt spricht – ich halte Sie im Gegenteil für den Kenner, der den Wert meiner Perle zu beurteilen weiß. Und – verzeihen Sie Ihrem Diener die Offenheit – dass Sie ein gutes Herz haben und Gretchens Unglück nicht wollen können, beweist mir die Aufnahme meiner unglücklichen Person in Ihre Dienste. Ich bin ein Bürger dieser Stadt, der durch Unglück heruntergekommen ist – wo sind nun meine Mitbürger, da ich ihrer helfenden Hand bedarf? Man lacht über mich, verhöhnt meine verkrüppelte Gestalt und nennt mich einen überspannten Menschen. Um zu betteln, bin ich zu stolz, und um ein neues Geschäft zu begründen, fehlt mir das Geld. Hätten Sie mir ein Almosen angeboten, ich würde es ausgeschlagen haben – aber dass Sie mir Gelegenheit boten, Geld zu verdienen, werde ich Ihnen durch die treueste Anhänglichkeit danken. Den ersten Dienst, den ich Ihnen leisten soll, kenne ich bereits, obgleich Sie ihn noch nicht ausgesprochen haben. Sie wollen sich dem hübschen Gretchen nähern?«
»Nun ja, ich leugne es nicht«, antwortete ein wenig verlegen der junge Dichter. »Das Mädchen hat einen angenehmen Eindruck auf mich gemacht.«
»Mein Herr, das Mädchen wird Sie entzücken, Ihre ganze Seele einnehmen, wenn Sie es näher kennenlernen!«, rief Werner wie begeistert. »Noch weiß sie nicht, was Liebe ist, denn bis zu diesem Augenblick sind ihr die jungen Männer ferngeblieben, weil ich seit zwei Jahren eine unsichtbare Mauer um sie gezogen habe. Ach, wie glücklich muss der Mann sein, der von Gretchen geliebt wird, und dieses Glück gönne ich keinem in der Welt mehr als Ihnen. Von nun an soll es meine Sorge sein, Sie bei Gretchen einzuführen.«
»Sollte Euch das bei ihrer bekannten Abneigung möglich sein?«
»Fragen Sie mich nicht, wie ich verfahre, sondern verlassen Sie sich auf Ihren Diener.«
»Werner, ich zweifele an einem glücklichen Erfolg.«
Der Bucklige wollte eifrig reden, aber ein starker Husten ließ ihn nicht zu Wort kommen. Als ob ein Krampf seinen ganzen Körper zusammenzöge, sank der Kopf auf die spitze Brust und die Brust auf die zitternden Knie. Die beiden großen Hände drückten krampfhaft den Hut zusammen. Mitleidig blickte der junge Mann auf das arme Geschöpf, das in diesem Zustand einem unförmigen, zusammengerollten Gliederknäuel glich; der gewaltige Husten klang so dumpf, als ob er aus einer völlig leeren Brust käme.
Er steht bereits mit einem Fuß im Grab!, dachte der Dichter, der die Symptome einer unheilbaren Krankheit zu erkennen glaubte, da er die Wissenschaft der Medizin zu seinem Studium gemacht hatte, ehe er dem Drang zur Dichtkunst gefolgt war.
Nach einigen Minuten war der Anfall vorüber und Werner erhob langsam seinen kurzen, verunstalteten Oberkörper. Auf seiner hohen, eckigen Stirn perlten große Schweißtropfen, die tief liegenden Augen waren rot und feucht, und auf den mageren Wangen zeigte sich ein matter Hauch von Röte.
»Verzeihung, lieber Herr«, flüsterte er, indem er mit einem weißen Tuch seine Stirn trocknete, »Verzeihung, Anfälle dieser Art sind nur selten und Sie werden nicht oft Zeuge davon sein. Es war eine Folge meiner Aufregung. Jetzt ist alles vorüber.«
Werner atmete tief auf; dann fuhr er fort:
»In Bezug auf Gretchen betrachte ich mich wie ein Gift, das, in kleinen Dosen angewendet, in der Hand eines geschickten Arztes zu einer heilsamen Medizin wird. Und kann man sich nicht endlich an den Genuss von Giften gewöhnen? Gretchens Abneigung hat ihren Grund nur in den Abnormitäten meiner irdischen Hülle; sie beurteilt mich nur nach dem äußeren Schein. Überlassen Sie mir die Sorge dafür, dass sie mich bald, wenn auch nicht liebt, doch ohne Ekel betrachtet und mir einige Achtung und später ihre Dankbarkeit zollt. Wie ich alles Feindliche bisher von ihr ferngehalten habe, so wird es mir eine herrliche Genugtuung sein, mich als die Schwelle betrachten zu können, über die ihr das Glück und eine schöne Zukunft entgegentritt. Bevor ich jedoch meine Einleitungen mache, müssen Sie das liebe Kind bei hellem Sonnenlicht sehen.«
»O sie ist schön wie ein Engel!«, rief der Dichter begeistert. »Die wenigen lichten Augenblicke, welche die Blitze erschufen, haben vollkommen hingereicht, mich ihre himmlischen Züge erkennen zu lassen. Fürchtet nicht, Werner, dass mich das Tageslicht eines andern belehren wird. Mein Entschluss steht fest: Ich will das Mädchen kennen- und lieben lernen. Ich bedarf zu meinen poetischen Arbeiten einer erotischen Aufregung, eines zarten, natürlichen Wesens, das mich durch ungekünstelte Herzlichkeit und Naivität fesselt und begeistert. Mein Leben floss bisher dahin wie ein Bach zwischen steinigen, trostlosen Ufern – die Liebe soll diese Ufer schön und blumig gestalten. Und, Werner, damit Ihr ganz meine Sehnsucht ermessen könnt, damit Ihr den Ernst und den edlen Grund meines Vorsatzes kennenlernt, muss ich Euch sagen, dass ich einst ein Mädchen mit der ersten Glut der Jugend liebte und anbetete und dass mir mit ihr das Glück meines Lebens entrissen wurde. So viele Frauen ich seit jener Zeit auch sah, keine glich meinem verlorenen Engel, keine war imstande, ihn mir zu ersetzen. Die wohltätige Zeit und der Umgang mit den Musen linderten einigermaßen meinen Schmerz; die Erinnerung wurde mir ein schöner Born, aus dem ich Labung für die Gegenwart trank, und das Leben begann sich wieder freundlicher zu gestalten. Mitunter kehrten aber dennoch Stunden zurück, in denen mich die Trostlosigkeit übermannte; ich musste die Menschen fliehen und irrte wie ein Verlassener durch diese einsamen Täler. Die wildeste Gegend war mir die angenehmste; wo kein menschlicher Fuß wandelte, fand mein Schmerz eine Heimat, und der wild aufgeregte Zustand der Natur, harmonierend mit dem meines Innern, gewährte mir eine verzweiflungsvolle Lust! So kämpfte meine schwache menschliche Natur mit dem festen Willen des Geistes, der sich dem Unabänderlichen gewaltsam fügen und die Schläge eines herben Geschickes vergessen wollte; bald wählte ich Ausgelassenheit und Tollkühnheit zu meiner Waffe , um die überlegende Ruhe zu verbannen, bald nahm ich zu strengem Ernst meine Zuflucht, um mich gegen Sentimentalität und unkluge Empfindelei zu panzern – ich schwankte zwischen Vorsätzen, Eindrücken und Anschauungen. In diesem ruhelosen Kampf beschlich meinen Geist eine Abspannung, die mich mit Verzweiflung erfüllte. Da tauchte mir plötzlich aus der furchtbaren Gewitternacht ein Antlitz auf, das die selige Vergangenheit mit all ihren Freuden heraufbeschwor – in Gretchen sah ich das leibhafte Ebenbild jenes Mädchens, das ich betrauere. War es doch, als ob sie ein Gott neu erschaffen hätte, um meiner Sehnsucht ein Ziel zu setzen und mich vor dem Untergang zu bewahren. Wie gestern, so krachte damals der Donner, so grell leuchteten die Blitze und so furchtbar tobte die aufgeregte Natur, als ich jenes Mädchen zum letzten Mal in meinen Armen hielt und zitternd den Scheidekuss auf ihre bleichen Lippen drückte. Mir war, als ob kein Raum zwischen jenem Augenblick und dem gestrigen Abend lag; mir war, als ob ich mich unter derselben Linde befand, als ob ich dasselbe Gewitter toben hörte, als ob ich dasselbe liebliche Geschöpf an meine Brust drückte. Diese Illusion wurde fast zur Wirklichkeit, als ich Gretchens kindliche Stimme hörte – ich zweifelte kaum noch daran, dass sich jener schmerzlich selige Abend, an den Ufern des Mains genossen, in dem Tal der Ilm fortsetzte. Und jeder neue Blitz, der das Engelsangesicht mit einer Himmelsglorie umgab, bestärkte mich in diesem seligen Wahn. Da zogen die letzten schwarzen Wolken vorüber, der Mond trat hervor und die Welt zeigte sich mir in einem neuen Licht. In Gretchens Lächeln erblickte ich das Lächeln einer frohen Zukunft.«
Werner hatte mit großer Aufmerksamkeit und, wie es schien, gerührt zugehört.
»Lieber Herr«, rief er aus, indem er sich mühsam erhob, »Sie sind dazu berufen, Gretchen glücklich zu machen! Jetzt glaube ich an eine Vorsehung, an der ich oft zweifelte – denn für ein Werk des Zufalls halte ich die Dinge nicht, die Sie mir soeben erzählt haben. Man spricht von Ihren ungewöhnlichen Geistesgaben und dass unser Herzog in Ihnen einen außerordentlichen Mann schätzt – der Himmel verbindet sich mit dem großmütigen Fürsten, um der Welt einen großen Dichter zu erhalten. Erlauben Sie mir, lieber Herr, dass auch ich mein Scherflein dazu beitrage. Der arme, bucklige Werner ist zwar nur ein Stümper in der edlen Dichtkunst, aber er liebt sie und weiß sie nach Gebühr zu schätzen. Glauben Sie mir, Gretchen ist wohl fähig, einen Dichter zu begeistern, und wiederum ist nur ein Dichter imstande, sie vollkommen zu schätzen und zu beglücken.«
»Genug, Werner, reizt meine Fantasie nicht bis zum Überfluss. Ihr wisst jetzt, welche Bedeutung Gretchen in meinem Leben hat und dass ich sie kennenlernen muss. Ich halte es aus Rücksichten für nötig, dass mein Vorhaben, wie es auch enden möge, ein Geheimnis bleibe. W*** ist klein; aller Blicke richten sich entweder mit Neid oder Neugierde auf mich, und ein Geheimnis dieser Art zu bewahren, wird nicht leicht sein. Deshalb soll sich Euer Dienst nur auf diesen Punkt erstrecken. Ihr seid hier bekannt, und ich bedurfte einer Person wie der Euren. Jetzt geht ohne Zögern ans Werk. Wo glaubt Ihr, dass ich Gretchen zum ersten Mal sehen kann?«
Der Tapezierer zog eine große Schildpattuhr aus der Tasche seiner gelben Weste und betrachtete das Zifferblatt derselben.
»Gretchen ist in der Kirche«, murmelte er. »In einer Stunde ist der Gottesdienst vorüber. Es wird schwer sein, sie in dem Gedränge, das sich aus der Haupttür wälzt, zu erkennen oder zu beobachten. Sie wählt stets diesen Ausgang – damit Sie das liebe Kind früher und mit Muße sehen können, muss ich sie veranlassen, den Seitenausgang neben der Sakristei zu wählen. Hierzu bedarf es meines Erscheinens in der Kirche. Machen Sie Toilette und begeben Sie sich Punkt zehn Uhr auf den Platz, auf dem sich die kleine Kirchtür öffnet. Ich verspreche Ihnen, dass die erste Person, die nach der Predigt heraustritt, keine andere als unser Gretchen sein wird. Heute werde ich zum letzten Mal abschreckend auf sie einwirken. Morgen früh sehen Sie mich wieder!«
»Also Treue und Verschwiegenheit!«
»Bis in den Tod!«
Der Tapezierer verneigte sich so graziös, wie es seine verwachsene Gestalt erlaubte, und verließ das Zimmer.
»Bis in den Tod!«, wiederholte Wolfgang murmelnd die letzten Worte des Tapezierers. »Du bist dem finstren Gaste schon verfallen, armer Mann! Welch eine furchtbare Ironie liegt in dem Leben eines solchen Menschen! Der Todeskandidat bewirbt sich um die Zukunft eines irdischen Lebens! Beeile dich, Freund, wenn du dein Gretchen noch glücklich machen willst!«
Er trat zum Fenster und sah den Buckligen über die Straße schreiten.
»Wie er sich geputzt hat!«, fuhr er in seinem Selbstgespräch fort. »Eitles Bemühen der Menschennatur! Er kennt seine Gebrechen und dennoch behängt er sie nach Kräften mit einer bunten Hülle. Statt sie zu verbergen, lässt er sie greller hervortreten. Wie richtig denkt Werner über sein Verhältnis zu Gretchen, und hier – erliegt er der Eitelkeit! Dass diese Schwachheit in einem so furchtbar entstellten Körper wohnen kann, bei einem Mann mit einem so richtigen Urteil! Ich bin neugierig, wie sich diese seltsame Natur weiter entwickeln wird.«
Nachdenkend machte der junge Mann seine Toilette, und diesmal sorgfältiger, als es sonst zu geschehen pflegte. Er hatte die beste Brustkrause und die feinsten Manschetten ausgesucht, die sich in seinem Schrank unter der Wäsche befanden. Nachdem er noch eine Musterung im Spiegel vorgenommen hatte, verließ er das Zimmer und das Haus.
Es schlug zehn Uhr, als er auf dem Platz vor der Kirche ankam. Die Predigt war beendet und feierlich erklangen die Töne der Orgel im Gotteshaus. Bekannt mit der Örtlichkeit, suchte er die von Werner bezeichnete Tür auf.
Ich bin neugierig, dachte er, ob dem Buckligen die Ausführung seines Plans gelingen wird – seines in der Tat wunderlichen Plans!, fügte er lächelnd hinzu. Und in welch einem schneidenden Kontrast steht sein Beginnen mit seiner Eitelkeit! Der arme Werner hat sich sonntäglich geschmückt, und dennoch will er durch seinen Anblick Gretchen verscheuchen.
Auf dem Platz zeigten sich nur einzelne vorübergehende Personen; von den Besuchern der Kirche war noch keiner zu sehen; die versammelte Gemeinde sang mit heller Stimme ein Lied zu den Tönen der Orgel. Im selben Augenblick, als Wolfgang um einen kleinen Vorbau der Kirche trat, öffnete sich die vor ihm liegende Tür, und die erste Person, die heraustrat, war ein schwarz gekleidetes junges Mädchen. Betroffen blieb er stehen, denn es konnte keine andere sein als Gretchen, die Perle der Stadt, wie sie Werner nannte. Als sie das Köpfchen emporhob, erkannte er die reizenden, kindlichen Züge wieder, die er abends zuvor beim Leuchten der Blitze nur flüchtig gesehen hatte. Wie wunderbar schön erschienen sie ihm heute im hellen Sonnenlicht! Und wie täuschend war die Ähnlichkeit mit dem Mädchen seiner ersten Liebe! Bestürzt blieb er stehen.
Gretchen, ein dickes Gesangbuch und ein weißes Tuch in den Händen tragend, ging langsam an dem jungen Mann vorüber. Sie sah zufällig zur Seite – eine glühende Purpurröte flammte auf in dem anmutigen Antlitz und rasch schlug sie die Blicke wieder zu Boden. Dann beschleunigte sie ihre Schritte. Entzückt blickte der junge Dichter der dahinschwebenden Jungfrau nach. Der nun nachfolgende Strom der schön geputzten Kirchgänger weckte ihn aus seinem Sinnen. Um sich der auf ihn gerichteten allgemeinen Aufmerksamkeit zu entziehen, ging er auf die nächste Straße zu. Quer über den Platz schreitend, erblickte er Werner, der grüßend und mit einem triumphierenden Lächeln an ihm vorüberging.
Nach kurzer Zeit betrat Wolfgang ein kleines Wäldchen in der Nähe der Stadt. Sinnend durchschritt er die einsamen, mit Gestrüpp bedeckten Pfade. Er fühlte das Bedürfnis, allein zu sein, um sich ungestört dem Eindruck zu überlassen, den die trauernde Kirchgängerin auf ihn ausgeübt hatte. Mittag war längst vorüber, als er seine Wohnung wieder betrat.
Drittes Kapitel
Acht Tage waren verflossen.
Wir führen den Leser zu einem anmutigen Haus, das um jene Zeit in der Nähe des fürstlichen Parks lag. Große Bäume bedeckten mit ihren Zweigen das dunkelrote Ziegeldach, und rings um das alte, aber wohlerhaltene und neu angeputzte Gebäude breitete sich ein duftender Blumengarten aus. Dieser Garten grenzte an einen anderen, der zu dem sogenannten Fürstenhaus gehörte, das in diesem Augenblick vom fürstlichen Hof bewohnt wurde.