Die Blinde - August Schrader - E-Book

Die Blinde E-Book

August Schrader

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Beschreibung

In August Schraders Buch 'Die Blinde' wird die Geschichte einer jungen Frau namens Elisabeth erzählt, die von Geburt an blind ist. Das Buch folgt ihrem Leben, ihren Herausforderungen und ihrer Suche nach Sinn und Identität in einer Welt, die von visuellen Eindrücken geprägt ist. Schrader schreibt in einem einfühlsamen und präzisen Stil, der die Leser in die Welt von Elisabeth eintauchen lässt. Das Werk wird oft als ein herausragendes Beispiel des literarischen Realismus angesehen, da es die menschliche Natur und psychologische Tiefe in den Vordergrund stellt. Mit einer Vielzahl von Symbolen und Metaphern bietet 'Die Blinde' eine facettenreiche und bedeutungsvolle Lektüre.

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August Schrader

Die Blinde

Ein Weihnachtsroman

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-7583-888-9

Inhaltsverzeichnis

I
II
III
IV
V
VI

I

Inhaltsverzeichnis

Mild und freundlich, bevor sie von der Erde schied, beschien die Julisonne die Häuser des reizend gelegenen Dorfes G. In dem weißen Kirchthurme mit seinem stumpfen Schieferdache ward die Abendglocke geläutet, und von den nahen Wiesen herüber hörte man das Geläute der heimkehrenden Heerden. Vor den Thüren der Häuser standen Kinder und Frauen, harrend der blanken Kühe und Rinder, die durch Brüllen ihre Nähe ankündigten. Auch die fleißigen Feldarbeiter erschienen nach und nach in den belebten Gassen, folgend dem verhallenden Abendrufe der Glocke.

Um diese Zeit gingen zwei Männer langsam zwischen den Häusern hin. Der eine war ein freundlicher Greis von mittlerer Gestalt, dessen schwarze Kleidung und weißes Halstuch den geistlichen Herrn verrieth. Er mußte viel danken, denn von allen Seiten kamen dem geehrten und geliebten Pfarrer freundlich ehrerbietige Grüße entgegen. Der andere war ein junger Mann von vielleicht achtundzwanzig Jahren; er trug einfache, aber elegante dunkele Kleider, welche seine schönen männlichen Körperformen deutlich abzeichneten. Sein bleiches Gesicht war völlig von großen Blatternarben zerrissen; aber es sprachen sich Geist und Gutmüthigkeit darin aus, und das große dunkelblaue Auge unter den starken Brauen spiegelte einen festen, energischen Charakter ab. Eine Salondame, in dem Geschmacke unserer Zeit gebildet, würde dieses Gesicht unbedingt häßlich genannt haben; dem Beobachter aber mußte es wegen seines Ausdrucks von Interesse sein.

Arnold Bließ, Kandidat des Predigtamts, war zum Besuche bei seinem Onkel, dem Pfarrer Braun. Der junge Mann hatte früh schon seine Aeltern verloren, und dadurch wäre er gehindert gewesen, die angefangenen Studien fortzusetzen, wenn der Onkel, der nur eine Tochter besaß, ihn nicht großmüthig unterstützt hätte. Harrend eines Amtes, lebte er nun in der ziemlich entfernten Residenz, wo er sich durch Unterricht und schriftstellerische Arbeiten gerade so viel erwarb, daß er seinem Stande gemäß existiren konnte, ohne ferner die Hülfe des guten Onkels in Anspruch zu nehmen.

Die beiden Männer hatten das Dorf durchschritten. Da zeigte sich plötzlich ein großes Eisengitter, durch dessen Stäbe man die Aussicht in einen weiten, aber nicht im besten Zustande befindlichen Park hatte. Hinter einer entfernten Baumgruppe hervor ragte das Schieferdach eines hohen, stattlichen Gebäudes mit seinen Zinnen und Thürmchen.

„Folge mir!“ sagte lächelnd der Pfarrer, indem er das angelehnte Thor öffnete. „Ich werde Dir jetzt die einzige Merkwürdigkeit unsers Dorfs, aber vielleicht die größte der ganzen Provinz zeigen.“

„Dieses Schloß?“ fragte Arnold, den Park betrachtend.

„Es ist ein Denkmal der Baukunst aus dem sechszehnten Jahrhundert, wohlerhalten durch die Grafen von Krayen, die es von Vater auf Sohn bis vor zehn Jahren bewohnten. Der letzte Sprößling dieser edeln Familie machte eine eben nicht ehrenvolle Ausnahme – als er nach dem Tode seines Vaters das zwar nicht sehr reiche, aber immerhin beträchtliche Erbe erhielt, ergab er sich einem verschwenderischen, leichtfertigen Leben, und man sah ihn nur dann auf dem Schlosse Krayen, wenn er ein Ackerstück oder ein Gehölz verkaufte. Die schöne Besitzung ist nun völlig zerrissen, Aecker, Wiesen und Waldungen sind dahin, und dieses Gitter umschließt alle Zubehörungen des Schlosses, das seit drei Jahren ein alter Kastellan verwaltet. Von dem leichtsinnigen Grafen ist weiter nichts bekannt, als daß er in der Residenz lebt, und dem Spiele und dem Trunke ergeben ist. Man fürchtet allgemein, daß er auch den letzten Rest der Besitzung veräußern werde. Aber wer wird dieses alte Gebäude kaufen, das nichts einträgt und höchstens zu einem Sommeraufenthalt benutzt werden kann?“

Der Pfarrer hatte seinen Neffen auf einen Hügel geführt, von wo aus man das alte ehrwürdige Schloß völlig übersehen konnte. Die in Stein gehauenen Bogenfenster mit den schweren Verzierungen blitzten, von der Abendsonne beschienen, wie Stahlplatten. Ein großes gothisches Fenster, das der Kapelle, glühte dunkelroth wie Gold, denn die Scheiben desselben waren bemalt. Guirlanden von Weinreben und wildem Epheu schlängelten sich von der Terrasse bis zu dem hohen Söller hinauf, der in der Mitte des ersten Stockes lag und von vier starken Säulen getragen ward. Zwischen diesen Säulen befand sich die große Eingangsthür, zu der eine stufenreiche Steintreppe führte. Weder in dem Parke noch in der nächsten Umgebung den Schlosses zeigte sich ein menschliches Wesen; in dem hohen Grase der weiten Beete weideten zwei weiße Ziegen, über die hinweg ein Schwarm Schwalben seine leichten Spiele trieb, und in den stillen Wipfeln der riesigen Ulmen sangen einzelne Vögel ihr Abendlied. Arnold schwelgte in den Reizen der prachtvollen Landschaft, mit stummem Entzücken betrachtete er das graue Schloß, und unwillkürlich schuf sich seine Phantasie abenteuerliche Gestalten zu Bewohnern des romantischen Gebäudes. Der greise Pfarrer, der das für Poesie empfängliche Gemüth seines Neffen kannte, ließ ihn eine Zeit lang in dem stummen Anschauen der herrlichen Abendlandschaft, dann forderte er ihn lächelnd zum Weitergehen auf. Ueber eine Holzbrücke, welche die bebuschten Ufer eines Baches verband, kam man auf den Platz vor dem Schlosse. Eine Menge blühender Hortensien in verwitterten Kübeln umgab wie ein Kranz diesen Platz, dem es anzusehen, daß ihm die sorgende Hand des Gärtners fehlte.

Der Pfarrer trat zu einem offenen Fenster, das sich in der Giebelseite des Erdgeschosses befand.

„Vater Klaus!“ rief er.

Als er noch einmal lauter seinen Ruf wiederholt hatte und keine Antwort erfolgte, sagte er zu dem Neffen: „Der alte Kastellan befindet sich ohne Zweifel in dem Schlosse, denn ich sehe, daß die Thür angelehnt ist, die zu der Treppe in dem kleinen Thurme führt. Wir werden ihn in den obern Räumen antreffen.“

Beide stiegen eine Wendeltreppe hinan, die sich in einem der Eckthürme emporwand, und nach zwei Minuten betraten sie den gewölbten Corridor, der mit Skulpturarbeit geziert und ausgemalt war. Rechts und links zeigten sich die hohen Flügelthüren, die zu den Gemächern führten. Nachdem der Führer von einem der Fenster aus seinem Gaste eine prachtvolle Fernsicht über das Thal gezeigt und die Fluren angedeutet hatte, welche durch die Verschwendung des letzten Grafen nach und nach in den Besitz reicher Oekonomen und Bauern übergegangen waren, sagte er: „Wir wollen jetzt die Kapelle in Augenschein nehmen, die sich in diesem Corridor befindet und stets geöffnet ist. Ich verhehle es nicht, daß ich das Kirchlein gern betrete, denn es übt einen wunderbaren Eindruck auf mich aus. Und dieser Ort ist es, dem sich wohl kein zweiter in Deutschland zur Seite stellen läßt. Man sieht, daß ihn alle Grafen von Krayen mit besonderer Vorliebe und Pietät gepflegt haben, er vereinigt heute noch alles Schöne und Großartige, was unser Zeitalter aufzuweisen vermag. Es würde mir Kummer machen, wenn diese alte Behausung einem Besitzer zufiele, der sie nicht zu schätzen wüßte; und doch läßt sich dies fürchten, da der Graf in seinem leichtsinnigen Leben beharrt.“

Am entgegengesetzten Ende den Corridors öffnete der Pastor, der das Innere des Schlosses genau kannte, den schweren Flügel einer Bogenthür. Man trat in eine gewölbte Vorhalle, an deren Wänden einzelne kleine Betstühle standen. Darüber hingen Bildnisse in großen braunen Holzrahmen, alte Grafen von Krayen darstellend. Schweigend betraten die Männer die Schwelle eines Bogens, der sich der Eingangsthür gegenüber befand, und die Kapelle, in magischer Beleuchtung der Abendsonne, lag vor ihnen. Aus dem kleinen, mit einer weißen Decke überhangenen Altare flimmerten zwei silberne Kandelaber, und das einfache Crucifix dazwischen schien von einem Heiligenscheine umgeben zu sein. Darüber wölbten sich zierliche Spitzbogen, von deren Vereinigungspunkte herab eine schwere mit Epheu umwundene Alabasterampel hing. Das Altargemälde, das das volle Licht durch ein gothisches Fenster empfing, mußte von der Hand eines alten Meisters gefertigt sein, denn die Reiterfigur des heiligen Georg, dessen Pferd den Drachen zertritt, schien aus dem schweren Goldrahmen hervortreten zu wollen.

Eine feierlich ernste Stimmung hatte sich Arnold’s bei diesem Anblicke bemächtigt. Schweigend betrachtete er die einzelnen Gegenstände, während der alte Pfarrer sich seiner Ueberraschung freute. Da erklangen plötzlich die Töne der kleinen Orgel, die sich über den Häuptern der beiden Männer befand. Sanft und lieblich zitterten sie durch die Halle.

„Was ist das?“ flüsterte überrascht der Pfarrer.

Arnold hörte die Frage nicht, Auge und Ohr waren dergestalt beschäftigt, daß er die Anwesenheit des Onkels vergaß. Es mußte ein Meister sein, der die Töne dem vortrefflichen Instrumente entlockte. In freier Phantasie entwickelte sich die einfache, innige Melodie, und Arnold, ein Musikkenner, mußte das richtige Fortschreiten der Harmonien bewundern. In der Musik sprach sich bald eine wehmüthige Freude, bald eine innige Andacht aus.

Kaum war der letzte Ton verhallt, als sich das Geräusch von Schritten auf dem kleinen Chöre hören ließ. Onkel und Neffe traten tiefer in die Kapelle, und sie sahen zwei Damen langsam die Treppe herabsteigen, die zu dem von braunem Holze erbauten Chore führte. Hinter ihnen erschien Klaus, der alte Kastellan. Die Kapelle sollte diesen Abend Alles vereinigen, was die Bewunderung des Kandidaten erregen konnte. Hatte ihn der Ort schon mit seiner magischen Beleuchtung und die reizende Musik erhoben, so begeisterte ihn jetzt der Anblick der jüngeren Dame, die von der ältern geführt, langsam die letzten Stufen der offenen Treppe herabstieg. Die schlanke, elegante Gestalt war einfach in Weiß gekleidet. Als sie sich wandte, sah Arnold ein wahres Madonnengesicht. Für ihn, den schon begeisterten Kandidaten, schien die Dame in dem stets matter werdenden Schimmer der goldigen Abendsonne von überirdischer Schönheit, ein Engel zu sein. Das waren Züge, wie sie nur die Phantasie eines Malers zu schaffen vermag. Schwere dunkele Locken, die auf schneeweiße Alabasterschultern herabfielen, umwallten ein zartes, fein geschnittenes Mädchenantlitz. Schön geschweifte dunkele Brauen zeigten sich über den langbewimperten Augen, die züchtig zur Erde gesenkt waren. Die blühenden Lippen formten einen reizenden Mund. Eine einfache Goldkette schmückte den zarten Hals. Die rechte Hand des vielleicht zwanzigjährigen Mädchens lag in der ihrer Begleiterin, die linke trug ein Bouquet Rosenknospen, die eine goldene Hülse zusammenhielt.