Der Torfschuppenmord - Maike Claußnitzer - E-Book

Der Torfschuppenmord E-Book

Maike Claußnitzer

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Beschreibung

Als in der Junihitze ein Torfschuppen im Moor bei Castra Nova über zwei Männern zusammenbricht, glaubt die ganze Stadt zunächst an einen tragischen Unfall. Richterin Herrad hat nach einem unfreiwilligen Neuanfang in der Seemark eigentlich andere Sorgen, doch als sie erfährt, dass ihr alter Bekannter Ivar am Ort des Geschehens war und Verdächtiges beobachtet hat, kann sie nicht untätig bleiben. Schnell erweist sich, dass der Einsturz des Schuppens absichtlich herbeigeführt worden ist. Hatten dabei etwa die Moorgeister die Finger im Spiel, und tut Herrad sich wirklich einen Gefallen damit, die Wahrheit ans Licht zu bringen?

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INHALT

1. Kapitel: Es hätte schlimmer kommen können

2. Kapitel: Zweiundvierzig Solidi

3. Kapitel: Der Torfschuppen

4. Kapitel: Strandgespräche

5. Kapitel: Moorgeister

6. Kapitel: Richtergeheimisse

7. Kapitel: Ein Schuldiger

8. Kapitel: Eltern

9. Kapitel: Die gemietete Hexe

10. Kapitel: Verstohlene Treffen

11. Kapitel: Ein unbrauchbarer Zeuge

12. Kapitel: Es kommt schlimmer

13. Kapitel: Die Richterin

Lateinische Einsprengsel

Meiner Mutter

1. KAPITEL:

Es hätte schlimmer kommen können

ES HÄTTE SCHLIMMER kommen können«, sagte Herrad, als sie nach getaner Arbeit die Leges et constitutiones zuschlug.

»Das sagen wir uns jetzt so lange, bis wir es selbst glauben, nicht wahr?«, gab Ardeija zurück, aber die Richterin war fast froh über seinen beißenden Spott, der immer noch besser war als der Kummer, der in den letzten Wochen so oft in der Stimme des Hauptmanns ihrer Wachen gelegen hatte.

»Das ist so«, verkündete Stig in das Möwengeschrei hinein, das nun, da es im Gerichtssaal still geworden war, wieder gut hörbar durch die halboffenen Fenster hereindrang. Er lächelte sogar leicht, während er seine eben beendeten Notizen zusammenräumte, und Herrad sagte sich, dass es für ihn glücklichere Tage als für die übrigen Leute des Hochgerichts sein mussten. Unversehens vom dritten zum zweiten Schreiber aufzurücken, wäre sicher schon gut genug gewesen, doch hier oben in Castra Nova kam hinzu, dass anders als in Aquae Calicis kein Mensch wusste, dass seiner Zeit in Herrads Gefolge Jahre als Bettler vorausgegangen waren. Ein Neubeginn war für ihn vielleicht selbst mit einer in Ungnade gefallenen und aus dem Amt gejagten Vögtin und einer insgesamt gründlich in Unordnung geratenen Welt nicht zu teuer erkauft.

Allerdings hatte er, im Gegensatz zu Ardeija, im heimatlichen Aquae auch niemanden zurücklassen müssen, und so hatte er dreieinhalb Tagesreisen weiter nördlich den guten Fisch und den eben beendeten ersten Gerichtstag am neuen Ort weit unbeschwerter genießen können als alle, die das dumpfe Gefühl mit sich herumtrugen, dass mehr in Scherben gegangen war, als sich wieder zusammensetzen lassen würde.

Aber immer noch oder vielmehr wieder einen Richterstab in den Händen zu halten, war wirklich besser als nichts, und man durfte nicht klagen.

Ardeija hätte es dennoch gern getan oder vielmehr über Stigs Sicht der Dinge geschimpft, das war ihm anzumerken. Zweierlei hielt ihn davon ab, einmal Wulfilas mahnende Hand auf seinem Arm, dann aber auch, dass sie noch immer nicht ganz unter sich waren. All die Schaulustigen, die sich heute in dem in der Juniwärme viel zu stickigen Langhaus gedrängt hatten, waren zwar ins Freie geströmt, aber einer, den nicht allein die Neugier auf die fremde Richterin hergeführt hatte, war geblieben und stand weiter geduldig neben der großen Tür, um darauf zu warten, dass Herrad ihn begrüßen würde.

Nicht einmal der Blick, den der Hauptmann nun in seine Richtung warf, konnte ihn verscheuchen. »Wenn der da dir nicht schlimm genug ist, weiß ich auch nicht«, sagte nun Ardeija halblaut zu ihr, und das sicher mit voller Absicht in dem Wissen, dass seine Worte bis zu dem Genannten tragen würden. »Aber gut – der ist nicht meine Sorge.«

Damit sammelte er seinen kleinen Drachen ein, der schon seit Stunden unbelastet von Menschensorgen mitten auf einem sonnigen Fensterbrett döste, und ging zur niedrigeren Seitentür hinüber, als gäbe es dringend etwas mit der Wache dort zu besprechen.

Das ließ wiederum Herrad keine Wahl, als von ihrem Faltstuhl aufzustehen und sich auf den Weg zur anderen Tür zu machen, denn wenn man in einer kaum vertrauten Stadt erst allmählich Fuß fassen musste, durfte man nicht auch noch zu seinen Verwandten in der Gegend unhöflich sein.

»Guten Abend, Flavian«, sagte sie also und rang sich zu einem Lächeln durch, während Wulfila ihr folgte wie ein stummer Schatten und ganz gewiss nicht lächelte. »Was für eine Überraschung, dass du hergekommen bist.«

»Eine Überraschung ist doch eher das hier«, gab Flavian mit einem Nicken, das als Gruß durchgehen mochte, zurück. »Als du neulich geschrieben hast, du würdest in die Seemark kommen, klang es nicht danach, als wolltest du hier ein Richteramt übernehmen.«

»Ich mag mich missverständlich ausgedrückt haben«, erwiderte Herrad, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn ihren ersten Brief an Flavian hatte sie auf den Weg gebracht, kurz bevor man ihr das neue Amt angetragen hatte. So hatte sie damals noch geglaubt, sie würde von dem Wohnrecht Gebrauch machen müssen, das mit ihrem Eigentum an einem Sechzehntel des Guts von Balaenae einherging, das Flavian als etwas besser gestellter Mitbesitzer für die weitverstreute Erbenschar bewirtschaftete und verwaltete. Wenn einem nahegelegt worden war, die Stadt, in der man einen Großteil seines Lebens zugebracht hatte, besser vorerst zu verlassen, musste man sich eben zähneknirschend darauf besinnen, dass es einen Ort gab, an den man konnte, ohne verjagt werden zu dürfen, auch wenn einen mit den Leuten dort nach einigem Auf und Ab eher ein vorsichtiger Waffenstillstand als engste Zuneigung verband.

Obwohl vor einigen Jahren nach außen hin so etwas wie eine Versöhnung zustande gekommen war, hatte Flavian ihr vermutlich immer noch nicht verziehen, dass sie einen einäugigen Dieb geheiratet hatte, der sein Brandmal zu allem Elend auch noch ihr zu verdanken hatte, während sie ihrem Verwandten umgekehrt ewig übelnehmen würde, dass er ihren Mann einmal zu Unrecht beschuldigt hatte, ihm einen Silberlöffel gestohlen zu haben. Aber dass manche Risse sich nicht kitten ließen, änderte nun einmal nichts daran, dass Flavians Großmutter die Schwester von Herrads Urgroßmutter gewesen war und dass sie auch über Balaenae verbunden waren, und so musste man sein Bestes tun, miteinander auszukommen.

Dennoch war es viel, dass Wulfila nun fragte: »Du bleibst doch über Nacht oder mindestens zum Essen, Flavian? Dann haben wir Zeit, dir alles zu erzählen; es ist eine etwas verwickelte Geschichte.«

Flavian murmelte, es sei ja doch ein gutes Stück Weges bis Balaenae, zumal am Abend, und nahm die Einladung dankend an.

Drüben an der Seitentür sah Ardeija, der wohl genug gehört hatte, immer finsterer drein, denn alle Hoffnungen, den Tag geruhsam ausklingen lassen und in vertrauter Runde über die ganze Lage fluchen zu können, hatten sich gerade zerschlagen.

Doch daran war, wie an so vielem, nichts zu ändern.

Aus Höflichkeit stellte sie Flavian einige Fragen, wie es seinem gleichnamigen Sohn, der Schwiegertochter und der Enkelin ging, deren Taufe vor knapp einem Jahr den Anlass zu Herrads letztem Besuch in der Seemark geboten hatte, und nahm die Antworten mit einem freundlichen Lächeln zur Kenntnis.

»Geht schon einmal vor«, bat sie dann, »ich vergewissere mich nur kurz, ob Stig auch keine Hilfe braucht, und komme dann nach.«

Dass das nur ein Vorwand war, um noch einen Augenblick hier zurückbleiben zu können, wusste zumindest Wulfila sehr gut, denn viel war nicht in den kleinen Raum am Ende des Hauses, der ihnen nun als Gerichtskanzlei diente, zu schaffen. Stig hätte es trotz seines kranken Beins und der Krücke, die er zum Gehen brauchte, sehr gut allein bewältigen können, die spärlichen Aufzeichnungen des heutigen Tages wegzuräumen. Sie hatte nur zwei Fälle zu entscheiden gehabt, einen albernen Streit um Jagdrechte, mit dem sie lieber gar nicht erst behelligt worden wäre, weil das Ermitteln von Grenzverläufen und Sichten von Urkunden ihre gesamte erste Woche in Castra Nova ausgefüllt hatte, und dann eine Totschlagssache, die damit ausgegangen war, dass die Witwe des Opfers öffentlich bekundet hatte, mit ihrem Anteil der Buße, die der verantwortliche grobe Klotz von einem Landarbeiter mithilfe seines Gutsherrn ihr und dem Hochgericht gezahlt hatte, eigentlich mehr anfangen zu können als mit dem entsetzlichen Kerl, mit dem sie es mindestens zehn Jahre zu lange ausgehalten habe.

»Da bin ich aber froh, wenn du es so siehst«, hatte der Schuldige erleichtert gesagt. Da er auch abgesehen davon eher wie ein zu Fehleinschätzungen der Kraft seiner Fäuste neigendes schlichtes Gemüt als wie ein kaltblütiger Verbrecher gewirkt hatte, war Herrad doppelt froh gewesen, dass Geld für die Buße da gewesen war und sie den Mann nicht in eine längere Gefangenschaft beim Markgrafen hatte schicken müssen, der um diese Jahreszeit verurteilte Missetäter im Moor südlich der Stadt zum Torfstechen einsetzte und ansonsten mit der Instandhaltung von allerlei Wällen und Gräben beschäftigt hielt.

Was das für einen Menschen hieß, wusste Herrad noch nicht aus eigener Anschauung, während sie zu Hause in Aquae eine recht genaue Einschätzung davon gehabt hatte, wer es verdiente, vorerst in den Steinbrüchen von Mons Arbuini zu verschwinden, und wer nicht. Dazu, auf Bohlenwegen selbst bis zu einem der Torfstiche zu wandern, hatte ihr durch die Auseinandersetzung um die Jagdrechte die Zeit gefehlt, aber sie war entschlossen, es in den drei Wochen bis zum nächsten Gerichtstag nachzuholen.

Vorerst ging sie aber nur die wenigen Schritte zu Stig hinüber und winkte Ardeija zu sich, damit er nicht mit unheilverkündendem Blick an der Seitentür stehen blieb, die Flavian und Wulfila gleich nehmen würden.

»Meinetwegen müsst Ihr Euren Verwandten aber nicht warten lassen«, sagte Stig, was aufs Neue bewies, dass Stimmen in diesem Saal ein bisschen zu gut trugen. »Ich komme schon zurecht, und es ist ja nicht mehr viel zu tun.«

»Wenn der verdammte Kerl so dreist ist, euch so zu überfallen, geschieht es ihm nur recht, warten zu müssen, bis er vor Langeweile einschläft«, gab Ardeija zurück, und Herrad dankte stumm allen guten Mächten dafür, dass die Tür gerade hinter Flavian zugefallen war. »Als hätten wir nicht schon genug Sorgen, ohne dass auch er noch hier ist.«

»Morgen wird er wieder fort sein, und, wie gesagt: Es hätte schlimmer kommen können«, erwiderte Herrad mit leiser Heiterkeit und fuhr ernster fort: »Anders als Justa habe ich immerhin noch jemanden, der meine Wachen befehligt, und dafür bin ich dir sehr dankbar.«

Wir hätten dich doch nicht einfach alleingelassen, teilte Gjuki, der, mittlerweile etwas wacher, auf seinen gewohnten Platz auf Ardeijas rechter Schulter geklettert war, ihr auf Drachenart mit und sah sie aus bernsteingelben Augen mit so aufrichtiger Zuneigung an, dass sie die Hand ausstrecken musste, um ihn rasch im Nacken zwischen seinen beiden Rückenkämmen zu kraulen.

Ardeija hätte gefälligst spätestens jetzt lächeln sollen und tat es doch nicht. »Dafür hat die ehemalige Vögtin aber die Wachen – die haben wir nicht.«

»Das habe ich gehört, Hauptmann«, rief ihm Adela von ihrem Posten an der Tür fröhlich zu, und das endlich war genug, ihn die Mundwinkel ein wenig heben zu lassen, und sei es nur, um seiner Stellvertreterin einen Gefallen zu tun, wenn er denn derzeit überhaupt eine brauchte, da Herrads kleine Kriegerschar, die beiden inbegriffen, im Augenblick ganze fünf Köpfe zählte.

»Die, auf die es ankommt, sind doch noch da«, sagte Stig begütigend und klemmte sich einen Stapel von dicht beschriebenen Wachstäfelchen und Papieren unter den Arm. »Aber was Frau Mathilde geritten hat, möchte ich auch gern wissen.«

»Wir werden es nicht erfahren«, beschied ihn Herrad, denn die Frage hatten sie seit Justas Sturz schon zu oft zu erörtern versucht, ohne weiter als bis zu der Vermutung zu kommen, dass der Grund dafür, dass die Vögtin ihr Amt verloren hatte, so unverzeihlich sein musste, dass er sie ihre bis dahin getreueste Gefolgsfrau gleich mit gekostet hatte.

Denn dass Placidia Justa die Vogtei Aquae hatte räumen müssen, um sich auf ihre Güter zurückzuziehen, war zwar unerwartet gekommen, zählte aber noch zu den Dingen, die in einem Leben eben schiefgehen konnten; dass sie ohne Mathilde gegangen war, warf dagegen die Frage auf, ob die Welt noch ihrer rechten Ordnung folgte.

Die beiden waren von frühester Kindheit an unzertrennlich gewesen, erst Spielgefährtinnen, später Rechtsgelehrte und Leibwächterin, dann schließlich Vögtin und Schwertmeisterin. Herrad dagegen war Justa erst begegnet, als sie als junge Frauen gemeinsam für einige Zeit in den Süden, nach Isia, gegangen waren, um ihre Studien bei Crispinus zu vollenden, der damals dort Vogt gewesen war und weit früher mitgeholfen hatte, die Leges zusammenzutragen. Sie hatte es nie anders gekannt, als dass zu ihrer nicht immer einfachen Freundin auch Mathilde gehörte, und sie war so überzeugt gewesen, dass die beiden miteinander alt und grau werden würden, dass sie die Nachricht, Mathilde sei mit ihrer Familie überstürzt und mit unbekanntem Ziel abgereist, erst nicht hatte glauben können.

Justa selbst hatte sich darüber und auch über die Begründung, mit der Königin Radegunde ihr die Vogtei entzogen hatte, nicht geäußert, als Herrad und sie ein letztes Mal miteinander gesprochen hatten, bevor sie Aquae Calicis in unterschiedliche Richtungen verlassen hatten. Herrads Frage danach hatte sie so unbewegt überhört, dass sie an allem, was vorgefallen war, nicht unschuldig sein mochte.

Auf einem der Höfe des einstigen Amphitheaters, das die Burg von Aquae bildete, hatte Herrad nach ihrem Abschied von Justa noch Grimhild zu fassen bekommen, die schon Justas Eltern als Kriegerin gedient hatte und damals mit in Isia gewesen war, doch auch bei ihr war sie nicht weitergekommen, obwohl sie sich darauf beschränkt hatte, sich nach Mathilde zu erkundigen.

»Manche Dinge kann man nicht ungeschehen und ungesagt machen, und was genau es war, ist ja nun auch gar nicht so wichtig. Lasst es dabei bewenden, Frau Herrad«, hatte Grimhild gebeten, und das mit solch einem Ernst in der Stimme, dass die Richterin gespürt hatte, dass jedes andere Wort als freundliche Wünsche für die bevorstehende Reise nach Neustrien und ein Lebewohl nun zu viel gewesen wäre.

Das hatte den Heimweg zum Burgtor hinaus, vorbei an waffenstarrenden Kriegern aus der Leibwache der Königin, und dann durch den schönen Maitag noch sonderbarer gemacht, als er in dem Wissen, dass sie ihre Schritte so schnell nicht mehr durch die vertrauten Straßen lenken würde, ohnehin schon gewesen war.

Ardeija, der derzeit allem und jedem böse war, scheute sich seither nicht, Mathilde feige, unzuverlässig und nur auf den eigenen Gewinn bedacht zu nennen, aber ob dem so war, konnte man nicht wissen, und Herrad zweifelte daran, nicht allein, weil eine Frau, die mittlerweile auf ihr fünfzigstes Jahr zuging, nicht ohne Weiteres hoffen konnte, in einem fremden Gefolge noch einmal in so eine ehrenvolle Stellung wie die zu gelangen, die sie aufgegeben hatte. Die Mathilde, die mit ihnen nach Isia und zurück nach Padiacum geritten war und viele eigene Belange immer ihrem Dienst für Justa untergeordnet hatte, hätte diese im Unglück nicht einfach sich selbst überlassen, es sei denn, sie hatte sich an die dreißig Jahre lang gekonnt verstellt.

Aber vielleicht kannte man die Menschen auch nur schlechter, als man sich einredete, und es waren ohnehin zu wirre, wilde und gehetzte Tage gewesen, um nähere Nachforschungen über die Streitigkeiten anderer anzustellen.

Ardeija allerdings hatte das nicht daran gehindert, sich Gedanken zu machen und viel zu schimpfen, und damit war er auch jetzt noch nicht fertig. »Wie sollen wir es auch erfahren, wenn Mathilde es nicht einmal nötig hat, sich von alten Bekannten zu verabschieden? Aber da ist sie ja nicht die Einzige.«

»Herr Oshelm hätte Euch gewiss Auf Wiedersehen gesagt, wenn Ihr ihn nicht einen treulosen Dreckskerl genannt hättet«, bemerkte Stig mild und hinkte zur Kanzleitür hinüber.

Der Hauptmann hatte den Anstand, verlegen den Kopf zu senken, und Herrad dachte nicht zum ersten Mal, dass sich in sein schwarzes Haar jetzt merklich mehr Grau mischte als zuletzt in Aquae, obwohl die Veränderung doch nach wenigen Wochen nicht so deutlich hätte sein dürfen. »Das sollte er ja auch nicht hören«, murmelte er, ohne einzugestehen, dass er es gar nicht hätte sagen sollen.

Ihm vorwerfen, dass er selbst ungerecht gewesen war, durfte man aber nicht, denn der bittere Streit, in dem er sich so über Herrads ehemaligen ersten Schreiber geäußert hatte, war der Hauptgrund dafür, dass nichts in Castra Nova ihm ganz recht sein konnte. Seine Frau, die als Malerin in Aquae Calicis ein gutes Auskommen hatte, war alles andere als angetan davon gewesen, dass ihr Mann sich ohne Zögern bereiterklärt hatte, in Herrads Diensten nach Castra Nova zu ziehen, und hatte ihm nahegelegt, doch lieber endlich in die Seidenstickerwerkstatt seiner Mutter zu wechseln, als die ganze Familie unglücklich zu machen.

Man war wohl sehr laut geworden; jedenfalls war noch auf der Straße vor dem Haus zu verstehen gewesen, dass Ardeija auf Richenzas Vorschlag erwidert hatte, wenn schon dieser treulose Dreckskerl Oshelm sich davonmache, könne nicht auch noch er selbst die Richterin im Stich lassen. Leider hatte in dem Augenblick Oshelm vor seiner Tür gestanden, und hätte Ardeija das gewusst, hätte er wohl weniger harte Worte gewählt. So aber war der Schaden angerichtet gewesen, und Oshelm hatte sich bis zu seiner eigenen Abreise aus Aquae standhaft geweigert, mit Ardeija zu sprechen, und ihn auch nicht in seine Grüße eingeschlossen, als er später einen Brief geschrieben hatte, der erst vor zwei Tagen in Castra Nova eingetroffen war.

Das war ein zusätzlicher, wenn auch selbst verschuldeter Kummer, an dem Ardeija nun zu tragen hatte, nicht so allumfassend wie der, dass er nicht wusste, ob und wann seine Frau, seine Eltern und seine jüngere Tochter ihm nach Castra Nova folgen oder ihn auch nur besuchen würden, aber doch schlimm genug, ihn gegen alle alten Freunde und Bekannten, die nichts mehr von sich hören ließen, sehr ungnädig zu machen.

Über Mathilde und ihren Mann Ivar hatte er sich deshalb die halbe Reise lang laut geärgert, auch wenn er widerwillig eingeräumt hatte, dass jemand, der Justas bester Spion gewesen war und sich Feinde gemacht hatte, nun, da ihm die schützende Hand der Vögtin fehlte, allen Grund haben mochte, erst einmal unauffindbar zu sein und auch nicht durch ein Schreiben oder eine mündlich ausgerichtete Botschaft seinen Aufenthaltsort zu verraten.

Aber etwas vernunftgemäß zu wissen, war etwas anderes, als es auch von ganzem Herzen zu glauben, und Herrad fragte sich heimlich, ob Justas einstiger Spitzel in dem Fall, dass er doch einen Versuch unternommen hatte, sich unauffällig von Ardeija zu verabschieden, nicht etwas ähnlich Unbedachtes hatte mitanhören müssen wie Oshelm und lieber wieder gegangen war, ohne sich bemerkbar zu machen.

Du denkst doch etwas, sagte Gjuki, das Schnäuzchen witternd erhoben, und Herrad beeilte sich, die Leges hochzuheben und in die Kanzlei zu tragen, um seinen forschenden Drachenblick nicht erwidern zu müssen.

»Nur, dass wir wohl allmählich doch hinüber ins Haus gehen müssen, wenn Flavian mir nicht grollen soll, Gjuki«, sagte sie, und eine Lüge war das nicht, aber eben auch nur ein Teil der Wahrheit.

Der Heimweg war für sie alle wesentlich kürzer geworden, seit sie in Castra Nova waren, und das nicht, weil die Stadt auf dem Geestrücken über dem Meer ein gutes Stück kleiner war als Aquae Calicis. Das Langhaus, das hier als Gerichtssaal diente und an seiner östlichen Stirnseite die Kanzlei beherbergte, während am Westende die Tür auf die breite Straße, die zur Markgrafenburg führte, hinausging, bildete den nördlichen Abschluss eines weiten, zur Straße offenen Hofs. Die Ostseite nahm ein Stallgebäude ein, an dessen Südende nun ein Raum ihren Kriegern und Pferdeknechten Unterkunft bot, während im rechten Winkel dazu im Süden das schmucklose Wohnhaus stand, das weniger zu bieten hatte als der dahinter gelegene Garten mit seinem Brunnen und seinen langgestreckten Beetreihen. Die Rosen waren so schön, dass man dem verdammten Haus schon fast verzeihen konnte, dass es in sich nicht unterteilt war.

Daran, auf vertraute Annehmlichkeiten zu verzichten, musste man sich also hier gewöhnen, doch dass man nur wenige Schritte zwischen dem Sitz des Hochgerichts und der eigenen Bleibe zurückzulegen hatte, war unbestreitbar ein Vorteil, vor allem, wenn man nicht gut zu Fuß war.

Stig kam ohnehin auch an seinen besten Tagen nur langsam voran, und Ardeija hatte heute lange genug auf einem Fleck gestanden, um seinen kranken Knöchel über Gebühr zu belasten. So wurde es, nachdem die Kanzlei für die Nacht verschlossen war, eine sehr gemächliche Wanderung vorbei an dem mächtigen Baumstumpf auf die andere Seite des Hofs hinüber. Hier hätte eine Gerichtslinde stehen sollen; ihr Fehlen hatte Herrad gezwungen, ihre Urteile heute im Saal, in dem bei aller Stickigkeit wenigstens Schatten herrschte, zu fällen, und hatte ihr doch zugleich überhaupt erst zu diesem Amt verholfen.

Denn hätte ein Mann namens Bolli seinen Zorn nicht mit einer Axt erst an diesem Baum und dann an Herrads unglücklichen Vorgänger ausgelassen, wäre das Hochgericht von Castra Nova noch anderweitig besetzt gewesen, und Markgraf Poppo hätte neulich in Aquae nicht an ihre Tür geklopft.

Er war ein fröhlicher, rotblonder Mann, vielleicht vier oder fünf Jahre jünger als Herrad, kräftig und so hochgewachsen, dass er den Kopf hatte einziehen müssen, als er ins Haus getreten war. Den schweren goldenen Armreif an seinem linken Handgelenk, an dem sich zwei Wolfsköpfe ansahen, schien er noch seltener abzulegen als das leichte Lächeln, mit dem er die Welt betrachtete. Der Armreif war schon da gewesen, als Herrad Poppo vor langer Zeit in Castra Nova zum ersten Mal gesehen hatte, während das Lächeln erst mit der Markgrafenwürde gekommen zu sein schien, aber es war gleich breiter geworden, als er sie begrüßt hatte.

»Gott sei Dank, Ihr seid noch in der Stadt! Ich habe so gehofft, Euch zu erwischen, denn ich habe ein Hochgericht für Euch, wenn Ihr es haben wollt.«

»Das kommt unverhofft«, hatte Herrad vorsichtig erwidert, denn wenngleich sich einige der Vögte, Grafen und Markgrafen, die Radegundes Aufenthalt in Aquae dorthin gelockt hatte, in den letzten Tagen schon munter am Gefolge der mit Justa entlassenen Amtsträger bedient hatten, um sich die besten Leute zu sichern, hatte ihres Wissens bisher niemand, der mehr als ein Krieger, Schreiber oder Botenreiter gewesen war, solch ein rettendes Angebot erhalten.

Poppo hatte laut gelacht. »Das sollte es aber nicht! Ich habe nie vergessen, wie Ihr damals von jenen Plünderern aus dem Norden den Arm der heiligen Gemina zurückgestohlen habt, und auch nicht, dass Ihr Euch nicht gescheut habt, meinem Vater unterschwellig Vorwürfe für seinen Bruch des Waffenstillstands mit den Saxones zu machen, als Ihr ihm den Knochen übergeben habt. Ihr habt keine Angst, weder vor Wikingern noch vor den Leuten, auf deren Seite Ihr steht, und außerdem hat Eure Familie doch ihr Gut bei uns in der Seemark. All das schadet weiß Gott nicht, wenn man die hohe Gerichtsbarkeit in Castra Nova versehen will.«

Die Ironie, sich durch einen Reliquiendiebstahl für ein Richteramt empfohlen zu haben, war fast schön genug, Herrad die Einladung ohne weiteres Überlegen annehmen zu lassen, aber doch eben nur fast.

»Das mag sein«, hatte sie gesagt und geflissentlich unbeachtet gelassen, dass Casta, die Magd, die rasch Tee aufgetragen hatte, ihr hinter Poppos Rücken Zeichen gemacht hatte, doch um Himmels willen zuzustimmen und erst später Fragen zu stellen. »Aber beides dürfte auch auf viele Menschen zutreffen, an denen nicht der Makel hängt, sehr gut mit der ehemaligen Vögtin von Aquae ausgekommen zu sein.«

»Dass Ihr Euch nichts vorzuwerfen habt, sagen doch alle bis hin zur Königin selbst – Euch hat es nur getroffen, weil die Stadt einen Neuanfang nötig hat und so wenig wie möglich aus Frau Placidia Justas Zeiten überdauern sollte«, hatte Poppo geantwortet und dann nach einem prüfenden ersten Schluck Tee doch ihrem forschenden Blick nachgegeben und vom Tod seines bisherigen Richters und der gefällten Linde erzählt. »Manch einer denkt nun wohl, dass es bei uns zu gefährlich zugeht, und den Einzigen, der gern nachrücken würde, will ich nicht auf dem Posten haben. Es ist schlimm genug, dass ich den Kanzler meines Vaters geerbt habe; da muss ich nicht auch noch den Kerl, dem er das Niedergericht anvertraut hat, ins Hochgericht heben. Godehard wünscht sich das ein wenig mehr, als mir lieb ist, und das nicht, weil Castra Nova dann eine gerechtere Stadt wäre. Euch, die ich selbst ausgewählt habe, würde ich vorziehen.«

»Und ich soll also nun hingehen und Euch jenen Bolli verurteilen, der Herrn Arnefrid erschlagen hat?«, hatte Herrad sich vergewissert.

Poppo hatte rasch den Kopf geschüttelt. »Das habe ich selbst besorgt, seid nur ruhig; der wird für lange Zeit nicht wieder frei sein. Aber seht … Es ist keine vier Jahre her, dass ich meinem Vater nachgefolgt bin, und es sind noch zu viele in Castra Nova und ringsum, die eher ihm als mir verpflichtet waren oder, schlimmer noch, bis heute meiner Tante verpflichtet sind.«

Anscheinend liebte er die Äbtissin des Klosters der heiligen Gemina nicht ganz so innig, wie ihr Bruder, der vorherige Markgraf, es getan hatte, und seine Begründung, jemand, der von außen, aber doch eben auch ein wenig aus Balaenae und damit aus der Seemark kam, würde noch am ehesten gegen all jene bestehen können, die tiefer in Castra Nova verwurzelt waren, schien immerhin seiner aufrichtigen Überzeugung zu entspringen.

»Ich gebe Euch sogar ein Haus«, hatte er zuletzt zu unverhohlener Bestechung gegriffen, »erst einmal zur Nutzung, aber, sagen wir, nach einem Jahr, wenn wir bis dahin miteinander auskommen und ihr dann bereit seid, dauerhaft zu bleiben, ganz zu eigen. Arnefrid war ein alter Mann. Seine Verwandten hatte er allesamt überlebt, seine Frau auch, und von seinen Kindern ist keines erwachsen geworden. Was er hatte, ist also an die Seemark gefallen, und was hindert mich da, sein Haus in der Stadt an eine verdiente Richterin zu vergeben? Und wenn Ihr es ganz hättet, wäre das doch gut, und ein Erbe in Castra Nova ein Grund mehr für Euren Sohn, Euch irgendwann im Amt nachzufolgen.«

Er hatte Wulfin angelächelt, der sich bei dem ganzen Gespräch im Hintergrund gehalten hatte, und der junge Mann hatte es in dem Wissen, dass seine Stiefmutter und der Rest ihres Haushalts die Einkünfte aus dem Amt und auch ein Dach über dem Kopf, das man nicht mit Flavian teilen musste, gebrauchen konnten, über sich gebracht, zurückzulächeln und wahrheitswidrig zu behaupten, gewiss, das könne er sich sehr gut vorstellen.

»Na, seht Ihr«, hatte Poppo hochzufrieden gesagt. »Werden wir uns einig?«

Das waren sie geworden, und am nächsten Tag war Herrad hingegangen und hatte den eitlen Neustrier, der künftig das Hochgericht von Aquae Calicis unter sich haben sollte, freundlich gefragt, ob er vielleicht in der Stadt ein Haus mieten wollte, das sich vorzüglich für einen Richter und dessen Gefolge eigne.

So hatte der fürchterliche Mensch im blassgrünen Seidenmantel nun drei schöne Räume und für seine Leute eine ganze Reihe von Hütten am Stall entlang zur Verfügung, während diejenigen, die eigentlich dorthin gehörten, sich mit weniger bescheiden mussten.

Allerdings hatte sich heute zumindest in Ansätzen gezeigt, dass sich mit der Entscheidung für Castra Nova leben ließ, und Besseres konnte man unter den gegebenen Umständen nicht verlangen.

Flavian schien die Dinge ohnehin in rosigerem Licht zu sehen, denn als sie im Garten, in dem ihr Schwiegervater den Tisch gedeckt hatte, zu ihm stießen, sagte er: »Ihr habt es doch ganz schön hier.«

Das klang nicht nach Spott, sondern nach dem ernsthaften Bemühen, ein harmloses Gespräch anzuknüpfen, und da Wulf bisher darauf verzichtet hatte, Flavian umzubringen, tat dieser wohl heute wirklich sein Bestes, sich zu benehmen, statt sich am Pech seiner Verwandten zu weiden.

»Ja«, sagte Herrad also, während Casta mit dem Wasser zum Händewaschen die Runde machte, »von dem Garten bin ich recht angetan, und wer auch immer ihn gepflegt hat, bevor wir hier eingezogen sind, hat uns mit allerlei guten Dingen für den Sommer und darüber hinaus versorgt.«

Der Laut einer auffliegenden Amsel nahebei klang eher wie Schimpfen als wie Zustimmung zu dieser Einschätzung, aber Flavian nickte und bestätigte, da könne man wirklich nicht klagen.

Während er sich die Hände abtrocknete, ging sein Blick zu dem einen Platz hinüber, der neben Wulfin am Ende des Tisches leer geblieben war. »Fehlt uns noch jemand?«, fragte er, und man sah ihm an, dass er nachdachte, wer bis auf Herrads Angehörige, ihren zweiten Schreiber und ihren Hauptmann noch an diese Tafel gehören mochte.

»Meine Tochter«, sagte Ardeija und hielt Gjuki, der ihn dafür einen Spielverderber nannte, mit einem raschen Griff davon ab, kopfüber in der Salatschüssel zu verschwinden. »Aber die kommt nach. Ihr habt doch sicher gesehen, dass sie noch zur Burg gegangen ist, um eine vorläufige Notiz über die heutigen Urteile dort hereinzureichen?«

»Ja, schon, dass jemand weggegangen ist, aber dass das Eure Tochter war, wusste ich nicht«, sagte Flavian, der bei seinen wenigen Besuchen in Aquae gewiss mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war als damit, in Erfahrung zu bringen, dass der Hauptmann von Herrads Wachen eine Tochter hatte, und aus ihrem Aussehen heute zugegebenermaßen nicht auf die Verwandtschaft hatte schließen können, da Rambert als angenommenes Kind mit blondem Haar rein äußerlich sehr weit von dem halben Barsakhanen Ardeija entfernt war.

Ardeija sah ihn dennoch finster an, weil er heute nun einmal zornig auf die ganze Welt war, verzichtete aber dankenswerterweise darauf, etwas zu sagen, das die Stimmung am Tisch unrettbar hätte umschlagen lassen.

Wäre es nach Rambert selbst gegangen, hätte hier gar kein Platz für sie bereitgehalten werden müssen.

»Die anderen Krieger werden schlecht über mich reden, wenn sie denken, dass ich mir Vorrechte anmaße, nur weil ich die Tochter ihres Hauptmanns bin«, hatte sie bei der Ankunft in Castra Nova gesagt und ihr Gepäck brav in die an den Stall anschließende Unterkunft geschleppt. Ungefähr eine Viertelstunde später hatte sie mit allem beladen dann auf Herrads Schwelle gestanden und berichtet, Adela, Medardus und Sintram hätten sie hinausgeworfen, weil sie doch ihren Vater nicht einfach alleinlassen könne, und insbesondere Adela habe ihr ins Gewissen geredet, so traurig, wie Ardeija gerade sei, brauche er nun eine Tochter um sich, die ein Auge auf ihn haben könne.

Dabei war es geblieben, und es hatte sein Gutes, dass Rambert so ihrerseits Wulfin hatte, der sie beim gemeinsamen Essen aufheitern und zum Lachen bringen konnte, denn auf ihre Art trug auch sie schwer an dem Streit in ihrer Familie und noch schwerer vielleicht an dem Verlust, den Justas Sturz auch und gerade für sie bedeutet hatte.

Die Nachricht, dass die Vögtin abgesetzt war, hatte Rambert ins Praetorium gebracht, noch bevor man Herrad auf die Burg bestellt und ihr mitgeteilt hatte, dass auch diejenigen, die unter Justa die wichtigsten Ämter in der Stadt versehen hatten, gehen mussten und in Aquae nicht länger willkommen waren.

»Und meinen Platz in ihrer Kanzlei bin ich damit auch los, weil sie wohl keine große mehr brauchen wird«, hatte Rambert voller Bitterkeit gesagt, denn dass ihre angebliche Aufgabe, Justas Kanzler Regin zuzuarbeiten, die meisten Tage über nur der Deckmantel dafür gewesen war, Ivars rechte Hand zu sein, hatten nicht alle von Herrads Kriegern erfahren dürfen, die entsetzt zum Lauschen zusammengeströmt waren.

Erst später, in kleinerer Runde, hatte Ardeija seine Tochter gefragt, was denn Ivar dazu gesagt habe, dass man sie gleich im ersten Augenblick nach Justas Entlassung davongejagt habe.

»Der ist noch nicht aus Corvisium zurück, soweit ich weiß«, hatte Rambert erwidert. »Eigentlich müsste er bald wieder hier sein. Vielleicht sagt er mir dann, was er davon hält.«

Aber Ivar hatte es offensichtlich weder an einem der folgenden Tage noch später für angeraten gehalten, Rambert aufzusuchen, und so war ihre letzte Erfahrung mit dem Gefolge der Vögtin noch immer die, dass Regin, kalkweiß im Gesicht, in die Kanzlei gekommen war und sie – sie allein! – beiseitegenommen hatte, um ihr zu sagen, dass Justa keine Vögtin mehr sei und ihren Anhang nun verkleinern müsse. Nach eigenen Worten hatte er sehr bedauert, Rambert gehen zu lassen, und sie hatte den Verdacht, dass die vergoldete Fibel und der Geldbeutel, die er ihr gleich an Ort und Stelle mit der Weisung, sich danach sofort zu entfernen und nicht mehr auf die Burg zurückzukehren, in die Hand gedrückt hatte, aus seinem Besitz und nicht aus dem der Vögtin gestammt hatten.

Warum sie die Allererste gewesen war, die es getroffen hatte, konnte sie nicht sagen, und auch Gespräche mit anderen Schreibern und Boten aus der Kanzlei, denen es in den Folgetagen nicht besser ergangen war, hatten keine Klarheit gebracht.

Für kurze Frist hatte sie sehr trübsinnig mit ihrem Vater in Asris Werkstatt beim Sticken geholfen, doch als dann festgestanden hatte, dass es nach Castra Nova gehen sollte, hatte Ardeija Herrad gleich gefragt, ob sie nicht auch Rambert unterbringen könnten. Sie hätte eine vorzügliche dritte Schreiberin abgegeben, wenn sie nur gewollt hätte, aber zu den Kriegern ihres Vaters zu stoßen, war ihr lieber gewesen, vielleicht nur, um Ardeija einen Gefallen zu tun, vielleicht aber auch, weil sie nach der Enttäuschung vorerst von aller Kanzleiarbeit genug hatte.

So verstört wie an dem Tag, als Regin ihr ihre Entlassung mitgeteilt hatte, war Rambert heute nicht, als sie von der Markgrafenburg zurückkehrte und ihren Platz beim Essen einnahm, aber doch sichtlich ernst, als sie alle begrüßte und der Richterin sagte, die Nachricht über die heutigen Urteile habe sie abgegeben.

»Die waren ganz überrascht, noch am Gerichtstag selbst eine erste Mitteilung darüber zu bekommen, und wollten die Kanzlei eigentlich schon für den Abend schließen«, berichtete sie.

»Es geschieht dem verdammten Antonius nur recht, wenn er sieht, dass die Krüppel und Verbrecher schneller arbeiten, als er es ihnen zutraut«, sagte Ardeija grimmig.

»Krüppel und Verbrecher?«, wiederholte Flavian fragend und schaute von dem Stück Hähnchen auf, in das er gerade mit sichtlichem Genuss vertieft gewesen war.

»Das hat der Kanzler des Markgrafen zu mir gesagt, als ich mit Wulfila und Ardeija hingegangen bin, um mich auf der Burg zu melden, nachdem wir hier angekommen waren«, erklärte Herrad an Ardeijas Stelle. »›Ich habe es für ein Gerücht gehalten, dass Euer Gefolge eine Ansammlung von Verbrechern und Krüppeln ist, aber anscheinend war es keines.‹«

In dem Augenblick hatte sie sehr gut verstanden, warum Poppo nicht allzu glücklich darüber war, Antonius von seinem Vater übernommen zu haben, und hatte sich zu etwas hinreißen lassen, das die Beziehungen zwischen Burgkanzlei und Hochgericht künftig wohl nicht erleichtern würde.

»Aber Herrad hat ihm entsprechend geantwortet«, sagte Ardeija schon, bevor sie entscheiden konnte, ob Flavian auch diesen Teil der Geschichte erfahren musste. »›Wie sonderbar, Herr Antonius. Ich habe es meinerseits nicht für ein Gerücht gehalten, dass Ihr ein höflicher Mensch wärt, aber es wird wohl doch eines gewesen sein.‹«

Für einen, der ihren Mann selbst schon einen Verbrecher und Schlimmeres genannt hatte, konnte Flavian viel zu sehr darüber lachen, aber vielleicht machte es einen Unterschied, ob Dritte seine Verwandte beleidigten oder ob er es selbst tat.

Rambert fiel in die Heiterkeit nicht mit ein. »Auf der Burg haben sie heute andere Sorgen als uns«, erklärte sie. »Es ist ein schlimmer Unfall geschehen, draußen im Moor. Am Trockenplatz ist ein Torfschuppen unversehens eingestürzt, und einer von den Gefangenen, die dort arbeiten müssen, hat den Firstbalken auf den Kopf bekommen und war gleich tot.«

»Das ist ja entsetzlich«, sagte Flavian.

»Und nicht etwa ›Das haben solche Leute auch nicht besser verdient?‹«, murmelte Wulf. »Da müssen wir wohl gerührt sein.«

Herrad warf ihm einen mahnenden Blick zu und betete, dass er leise genug gesprochen hatte, um von Flavian nicht ganz verstanden worden zu sein. »Weiß man schon Näheres darüber, wie das zugegangen ist? Gab es Verletzte?«, fragte sie eilig, ehe sich ein Streit zusammenbrauen konnte.

»Mehr haben sie mir nicht gesagt, nur, dass es wohl dieser Bolli war, der gestorben ist«, sagte Rambert. »Der, der deinen Vorgänger totgeschlagen hat. Aber sie haben mir versichert, es sei nur ein trauriges Unglück gewesen, und gewiss keine Angelegenheit, mit der sich das Hochgericht befassen müsse, obwohl ich danach gar nicht gefragt hatte. Das fand ich recht seltsam, aber vielleicht haben sie ja auch nur Angst, dass wir ihnen bei etwas ganz Unverdächtigem Scherereien machen könnten, um uns für die Krüppel und Verbrecher zu rächen.«

Flavian runzelte die Stirn. »Aber sie werden doch keinen da draußen im Moor ermordet und dann einem Torfschuppen die Schuld gegeben haben.«

Wulfin unterdrückte mit Mühe ein Auflachen, und so ausgedrückt klang es in der Tat nach einer reichlich wüsten Geschichte.

»Man kann aber nicht wissen, ob der Schuppen schlecht instandgehalten war und ganz allgemein wenig auf die Sicherheit derjenigen, die dort arbeiten müssen, gegeben wird«, sagte Herrad dennoch mit allem angemessenen Ernst. »Wenn die schuldige Sorgfalt vernachlässigt worden ist und irgendjemand darauf kommt, Klage zu führen, dann könnte es für die Verantwortlichen ungemütlich werden.«

Nun sah Flavian womöglich noch zweifelnder drein als eben. »Wenn du solch eine Klage zulässt, wirst du dich bei deinem neuen Dienstherrn aber nicht beliebt machen.«

»Falls dem so sein sollte, habe ich ja immer noch ein Wohnrecht in Balaenae«, erwiderte Herrad und schob heimlich dem kleinen Mäusegeist, der die Familie aus Aquae herbegleitet hatte und nun neugierig neben ihr den Kopf aus der Tischplatte reckte, einen Brotkrumen zu.

Ihr lieber Verwandter murmelte etwas, das sie wohl gar nicht verstehen sollte, und diesmal lachte Rambert unten am Tisch mit Wulfin, auch wenn sie beide mit geringem Erfolg so taten, als hätten sie sich durch irgendeinen Zufall gleichzeitig verschluckt.

Wulfila war friedlich genug gesonnen, das Gespräch in unverfänglichere Bahnen zu lenken, indem er seinen Vater fragte, welche Gewürze er denn bei dem Hähnchen verwendet habe, und obwohl Wulf sehr gut wusste, dass sein Sohn ohne jegliche Hilfestellung genau das gleiche Gericht hätte auf den Tisch bringen können, antwortete er bereitwillig.

Von da an verging das Essen in vorsichtiger Langeweile.

Stig sagte nicht viel, was nicht weiter besorgniserregend war, schien aber zudem keinen Hunger zu haben, und das ließ nach seiner fröhlichen Stimmung früher am Tag nichts Gutes ahnen.

Am nächsten Morgen waren Fieber und Halsschmerzen dann schon schlimm genug, ihn dem Frühstück fernbleiben und in seinem Bett drüben in der Nordostecke des Hauses sehr elend aussehen zu lassen, während die zweite Runde von Höflichkeiten mit Flavian zu bewältigen war und sogar eine Einladung nach Balaenae für irgendwann nach der Heuernte dankend angenommen werden musste.

Ardeija und Rambert nutzten den Vorwand, die Nachtwache rechtzeitig ablösen zu müssen, nicht ungern, um sich, gefolgt von Gjuki, so bald wie möglich vom Tisch davonzumachen. Der Ausweg bot sich Herrad nicht, weil die Übertragung des gestern Entschiedenen ins Urteilsbuch des Hochgerichts leider nicht dringlich genug war, um einen Gast verfrüht hinauszuwerfen, und so blieb sie wohl oder übel freundlich, während sie ihren Tee trank und sich sagte, dass alles ja bald überstanden sein würde.

»Droht der uns nun häufiger?«, fragte Casta, als Flavian dann endlich auf den Heimweg gebracht war, und noch ehe Herrad zu einem Schluss darüber gelangt war, ob sie entschieden den Kopf schütteln durfte oder ihrer Magd raten musste, nicht so über einen ihrer Verwandten zu reden, verkündete Wulf, das wolle er nicht hoffen, und damit war alles gesagt.

Als sie dann zu dritt in die Kanzlei hinübergingen, war die Morgenluft bereits so warm, dass der Nachmittag wohl ähnlich heiß und drückend wie am Vortag geraten würde. Wulfin hatte sich Herrad und seinem Vater angeschlossen, als wäre es selbstverständlich, dass er für Stig einspringen würde, wie er auch gestern schon in der leidigen Jagdrechtsangelegenheit Urkunden bereitgelegt hatte.

»Der Markgraf wird es doch gern sehen, wenn der Nachfolger, den er sich für dich wünscht, dir zuarbeitet«, hatte er mit einem schiefen Lächeln gesagt, »und es ist ja nicht so, als ob ich sonst viel zu tun hätte.«

Ob und wann sich sein in Aquae gerade erst erworbener Ruf, einer zu sein, der Runen ritzen und besser als manch ein anderer mit Geistern reden konnte, in Castra Nova wiederherstellen lassen würde, war tatsächlich nicht abzusehen, denn einem Fremden, und noch dazu einem, der erst siebzehn Jahre alt war, traute man in solchen Dingen ja doch weniger als seinen eigenen Leuten. Dennoch war es für Wulfin keine Frage gewesen, mit in die Seemark zu gehen, und da er wild entschlossen zu sein schien, das Beste aus der neuen Lage zu machen, und unten am Strand schon Freundschaft mit einem Kegelrobbengeist geschlossen hatte, war Herrad nicht allzu besorgt um ihn.

Anders ging es ihr mit Ardeija, und so war sie erleichtert, zu erfahren, dass er vorerst zu beschäftigt sein würde, um zu grübeln.

Wie Sintram, der an der Seitentür eine sehr einsame Wache hielt, berichtete, war schon in aller Frühe ein Bote des Niedergerichts gekommen. »Die schicken uns einen Dieb, weil sich gestern in seiner Verhandlung erwiesen hat, dass das, was er hat mitgehen lassen, doch teuer genug für das Hochgericht war, und der Hauptmann und Rambert sind ihn gleich holen gegangen. Das gibt uns dann auch Gelegenheit, die sogenannte Zelle zu erproben.«

Herrad wusste darauf keine bessere Antwort zu geben als ein unfrohes Lachen, denn dass der am Nordende des Stallgebäudes gelegene, fensterlose Raum, der angeblich der Kerker des Hochgerichts war, wirklich zur längerfristigen Aufnahme von Gefangenen taugte, würde sich erst noch erweisen müssen. Der schon vor ihrer Ankunft in der Stadt verhaftete Totschläger hatte bis gestern auf der Burg gesessen, und der Markgraf hatte erklärt, ganz gefährliche Leute – solche wie Bolli etwa – könne man auch weiterhin dort bis zum nächsten Gerichtstag verwahren, aber für gewöhnliche Missetäter habe die Zelle immer ausgereicht. In Castra Nova waren die Maßstäbe eben auch in dieser Hinsicht ganz andere als in Aquae Calicis.

»Wenn Ihr nun da seid, schließe ich hier ab und sperre die Vordertür auf, um dort zu wachen, nicht wahr?«, fuhr Sintram fort, als sie alle an ihm vorbei in den Gerichtssaal getreten waren.

Herrad zögerte nur kurz. »Ich denke, Ihr könnt die Tür hier unverschlossen lassen, auch wenn Ihr nach vorn geht. Ihr werdet es wohl bemerken, wenn jemand von der Straße auf den Hof und zu dieser Tür will.«

Sintram nickte, sah aber zweifelnd drein. »In Aquae hätten wir das nicht getan«, sagte er, als er sich auf den Weg zur Vordertür hinüber machte.

»Nein«, räumte Herrad ein, »aber wir sind nicht mehr in Aquae.«

Daran erinnerte sie auch die Kanzlei überdeutlich, die ihr nach den zwei Räumen, die sie dafür im Praetorium von Aquae Calicis zur Verfügung gehabt hatte, immer noch eng erschien. Immerhin gab es nach Norden, Osten und Süden hin jeweils ein Fenster und damit genügend Luft und Licht, doch drei oder vier Leute hier so unterzubringen, dass sie in Frieden nebeneinanderher arbeiten konnten, ohne sich auf die Füße zu treten, war eine Kunst.

Aber es half ja nichts, sich darüber zu grämen, und man konnte sich immerhin sagen, dass Stig es als eindeutige Verbesserung empfand, mit seinem kranken Bein nun keine Treppe mehr steigen zu müssen.

»Eigentlich sollten wir schnell fertig sein, da es doch gestern nur zwei Urteile waren«, bemerkte Wulfin, während er daran ging, die Federn zu spitzen.

»Wenn uns bis auf den Dieb vom Niedergericht keine neue Arbeit ins Haus steht, dann ja«, sagte sein Vater und wusste nicht, dass Herrad sich lächelnd daran freute, wie schön sein Haar im hellen Junilicht glänzte, als er sich über sein Schreibpult beugte, um Ordnung in die gestrigen Notizen zu bringen.

Ungefähr zwei Atemzüge lang hatte sie Zeit für den Gedanken, dass es ein großes Glück war, Wulfila zu haben; dann näherten sich eilige Schritte, und Sintram steckte den Kopf durch die Tür, die Gerichtssaal und Kanzlei verband und an diesem warmen Tag ohnehin halb offen stehen geblieben war.

»Frau Herrad? Da will Euch jemand sprechen, und nicht in Hochgerichtsangelegenheiten, glaube ich … Hoffe ich«, sagte er in so eigenartigem Ton, dass die Richterin sicherheitshalber an ihm vorbeispähte, aber niemanden mit gezogener Waffe dort stehen sah. Wer auch immer dafür verantwortlich war, dass Sintram nun etwas blass um die Nase vor ihr stand, musste draußen vor der Vordertür geblieben sein und sein Anliegen auch so leise vorgetragen haben, dass keine Stimmen ins Innere des Gebäudes gedrungen waren.

»Wer denn?«, fragte Herrad und überlegte, ob es wohl besser sein würde, den Besuch im Gerichtssaal statt in der gedrängten Enge hier zu empfangen.

Sintrams Antwort ließ sie allerdings davon Abstand nehmen, denn als könne er es selbst nicht ganz fassen, sagte er kopfschüttelnd: »Frau Mathilde. Vielleicht sind wir doch noch in Aquae, nicht wahr?«

»Schickt sie mir herein«, befahl Herrad, suchte im Geiste Gründe dafür, dass es die frühere Schwertmeisterin der Vögtin ebenfalls nach Castra Nova verschlagen haben sollte, und scheiterte.

»Gott sei Dank ist Ardeija noch nicht wieder hier«, flüsterte Wulfila, kaum dass Sintram sich zum Gehen gewandt hatte, und Herrad nickte nur, denn finstere Blicke und Vorwürfe von der Seite hätten gewiss nicht einfacher gemacht, was nach allem Vorangegangenen ohnehin ein seltsames Gespräch werden würde.

»Meinst du, die will, dass du für sie an Justa schreibst, damit sie sich wieder versöhnen?«, erkundigte sich Wulfin kaum lauter.

Herrad schüttelte den Kopf. »Nach dem, was Grimhild gesagt hat, wäre da wohl die beste Vermittlung vergebens, aber vielleicht erfahren wir wenigstens endlich, warum die beiden sich entzweit haben.«

Mehr konnten sie nicht besprechen, denn Mathilde war wie immer schnell, aber das war, als sie eintrat und sich sehr förmlich verneigte, bis auf die Spatha mit der glänzenden Schwertperle aus Bernstein, die hier oben nichts so Besonderes wie in Aquae und weiter südlich war, auch das Einzige, was noch an Justas langjährige Gefolgsfrau erinnerte. Das streng zurückgebundene Haar sagte schon viel, denn so trug Mathilde es Herrads Erfahrung nach nur, wenn sie auf Reisen war oder in den Kampf ziehen wollte. Auch ihre Kleidung war schlichter als sonst alle Tage auf der Burg, als wäre sie sich nur zu gut bewusst, dass sie nun über nichts und niemanden mehr den Befehl führte, sondern nur noch eine herrenlose Kriegerin unter vielen in Austrasien war.

Warum sie allerdings hier war und nicht bei ihren Verwandten unten in Neustrien Schutz gesucht hatte, war eine der vielen Fragen, die Herrad durch den Kopf gingen. Sie stellte keine davon, sondern sagte, nachdem sie Mathildes Gruß erwidert hatte, nur: »Na, das ist eine Überraschung.« Indem sie zu dem einen Stuhl hinübernickte, der von der Tür aus halbwegs zugänglich war, ohne dass man über ein Schreibpult oder eine Truhenecke stolperte, setzte sie hinzu: »Macht es Euch gern so bequem, wie es geht – ganz haben wir hier noch nicht die beste Art gefunden, uns einzurichten.«

Mathilde hatte ein flüchtiges Lächeln für diese Einschätzung übrig, als sie dankend annahm, aber in ihren dunklen Augen stand weiterhin ein Ausdruck, den Herrad darin nicht kannte und der über bloßen Kummer über ihren neuen Platz in der Welt hinausging und von Sorge, wenn nicht gar Angst zeugte.

»Ich kann Tee kochen«, bot Wulfin an, und ihm war anzumerken, dass er einen Herzschlag lang überlegte, ob er, statt sich an Herrad und dann an Mathilde vorbeizuzwängen, vielleicht den Weg durch eines der Fenster nehmen sollte, um rasch in den Gerichtssaal hinüberzugelangen, wo das Kohlenbecken zum Wasserwärmen seinen Standort gefunden hatte.

Doch Mathilde hob abwehrend die Hand. »Lange wird mein Besuch nicht dauern, und ich fürchte ohnehin, dass Ihr mein Anliegen abschlägig bescheiden werdet.«

»Wenn Ihr einen neuen Dienst sucht, rennt Ihr bei mir offene Türen ein«, sagte Herrad, »aber das ist vielleicht von mir zu viel gehofft, da ich Euch nicht einmal annähernd das bieten kann, was Ihr hattet.«

Mathilde überlegte nicht lange. »Wenn das Euer Ernst ist, bin ich dazu gern bereit«, sagte sie, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, nach dem Befehl über die Krieger einer Vögtin nun mit lästigen Wachpflichten für eine Richterin so gut wie am Ende der Welt zufrieden zu sein.

»Ist es«, entgegnete Herrad und verschob das Nachdenken darüber, wie sie Ardeija diesen Neuzugang in seiner kleinen Schar schmackhaft machen sollte, auf später. Es musste etwas wert sein, dass sie Mathilde seit der Reise damals nach Isia kannte, und ganz gleich, was zwischen der Kriegerin und Justa zuletzt vorgefallen war, darauf, dass etwas, das man ihr anvertraute, wohlbewacht sein würde, hatte man sich immer verlassen können. »Ihr wisst, was ich meinen Leuten in Aquae gezahlt habe? Weniger ist es auch hier nicht, und ich kann allen ein Dach über dem Kopf bieten, auch wenn es nur am Ende des Stalls ist. Aber da nur Adela ihre Familie mit hergebracht hat, ist noch viel Platz, sorgt Euch nicht.«

»Gut«, sagte Mathilde, ohne die unausgesprochene Frage zu beantworten, ob sie allein kam oder mit denen, die zu ihr gehörten. Die Hand, die sie Herrad reichte, um die wohl für beide Seiten unerwartete Abmachung zu besiegeln, war trotz der Sommerwärme so eiskalt, dass die Richterin sich fragte, ob sie Wulfin nicht doch noch Tee kochen lassen sollte. »Und seid unbesorgt, dabei bleibe ich auch, wenn Ihr mir mit dem, was mich eigentlich herführt, nicht weiterhelfen könnt. Ihr müsst dem Markgrafen gegenüber gewiss selbst noch ein wenig vorsichtig sein, aber für Euch wird es dennoch einfacher sein als für mich, zu erfragen, wie es meinem Mann geht – und wenn ich das erst weiß und zumindest ein wenig ruhiger schlafe, bin ich Euch vermutlich auch nützlicher.«

»Eurem Mann? Ist der denn nicht bei Euch?«, stellte Wulfila die Frage, die Herrad auch selbst auf der Zunge lag, während sie sich noch bemühte, aus den Versatzstücken, die Mathildes Äußerung zu entnehmen waren, die Erklärung zusammenzufügen, die sie nach Meinung ihres Gegenübers offenbar gar nicht hätte benötigen sollen.

Mathildes Blick ging von Wulfila zu ihr, dann hinüber zu Wulfin, der große Augen machte und vermutlich gerade dabei war, die gleichen beunruhigenden Schlüsse zu ziehen, zu denen Herrad allmählich gelangte.

»Gott steh mir bei«, sagte die ehemalige Schwertmeisterin der ebenso ehemaligen Vögtin dann. »Ihr habt allesamt nicht die leiseste Ahnung, was geschehen ist, nicht wahr?«

2. KAPITEL:

Zweiundvierzig Solidi

DAS UNHEIL BEGANN mit den Vorbereitungen zu Justinas Hochzeit. Zumindest erschien es Mathilde im Nachhinein so, auch wenn sie sich denken konnte, dass die Dinge noch weit früher in Bewegung geraten waren. Doch wenn Graf Ebbo von Corvisium die Einladung zu dem Fest nicht mit einer späten Absage beantwortet hätte, wäre vielleicht manches anders gekommen.

Dass er plötzlich zu krank war, um sich anzusehen, wie ihre älteste Tochter heiratete, glaubte die Vögtin keinen Augenblick lang, zumal er in seinem gewundenen Schreiben der Hoffnung Ausdruck verliehen hatte, wieder genesen zu sein, bis die Königin nach Aquae Calicis kommen würde. Da das sehr bald nach der Hochzeit geschehen sollte, war die Sache doppelt verdächtig, und Justa schickte Ivar nach Corvisium, um nachzuforschen, ob Ebbo sie absichtlich kränken wollte oder gar irgendetwas gegen sie ins Werk zu setzen gedachte.

Willkommen war dieser Befehl weder Ivar selbst noch Mathilde, denn abgesehen davon, dass er eigentlich gerade genug damit zu tun hatte, Unregelmäßigkeiten in der Kanzlei unauffällig auf den Grund zu gehen, während Mathilde Wachpläne für all die Tage aufstellen musste, an denen die Burg vor Gästen von Rang überquellen würde, hatte Sigrid sich übel den Magen verdorben, der Hund hatte Flöhe ins Haus geschleppt, und Ivars Bruder Gorm war auf einem Botenritt nach Ripa hinunter und konnte nicht helfen.

Aber die Vögtin hielt die Sache nun einmal für wichtig, und so überließ Ivar es Rambert, weiter in Regins Akten nach den Spuren betrügerischer Schreiber zu stöbern, machte sich reisefertig und sprach zwischen Tür und Angel ein letztes Mal für viel längere Zeit, als sie es sich beide vorstellen konnten, mit Mathilde.

Für mehr als seine Versicherung, wie leid es ihm täte, sie mit einem Kind, das sich gerade heftig übergeben hatte, und dem ganzen Ungeziefer allein zu lassen, ihre Bitte, er solle gut auf sich aufpassen und heil zurückkommen, und einen Abschiedskuss blieb unter diesen Umständen keine Zeit.

Die nächsten Tage vergingen im Aprilregen mit einer Mischung aus all diesen Alltagssorgen und den Vorkehrungen, die für die Hochzeit und für Radegundes Aufenthalt in Aquae getroffen werden mussten, aber Sigrid erholte sich bald wieder, und am dritten Abend war Gorm aus Ripa zurück und konnte ein Auge auf seine Nichte haben, wenn Mathilde mit dem Ordnen ihrer Krieger beschäftigt war.

Erst überraschte es sie nicht weiter, dass keine Nachricht von Ivar kam, denn wenn er irgendwo für die Vögtin die Ohren spitzte, war es ihm nicht immer möglich, zu schreiben, und es konnte sich hinziehen, bis er zusammengetragen hatte, was Justa wissen musste.