Verzauberte und Unbesungene - Maike Claußnitzer - E-Book

Verzauberte und Unbesungene E-Book

Maike Claußnitzer

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Beschreibung

Nicht jeder, der ein Heldenlied verdient hätte, bekommt auch eines. Wer dunkle Machenschaften in der Hofkanzlei aufdeckt, an alten Feinden keine Rache nimmt oder einem Geist hilft, sich Gehör zu verschaffen, bleibt also vielleicht unbesungen - aber ist das wirklich von Nachteil? Vier Geschichten laden ein zu einem Besuch in einer verzauberten Welt.

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Bisher erschienen:

Tricontium

Rattenlied

Die Teeräuber

Der Ringeltaubenmantel

Geschichtensammlungen:

Greifen, Grabraub und Gelichter

Immergrün und Walküren

Inhalt

Der Urkundenleser

Falsch herum

Trollzauber

Auf Umwegen

Anhang

Der Urkundenleser

Die Novemberdunkelheit war nach einem regnerischen Tag früh hereingebrochen, und Mathilde fror, obwohl der blaue Wollstoff ihrer besten Tunika doch sonst viel abhielt. Vielleicht hätte sie sich ihren Mantel umlegen sollen. Aber die äußere Kälte, die durch alle Ritzen und Spalten der alten Halle des Königsguts kroch, das sich seines sinnigen Namens Silva Frigida wohl als würdig erweisen wollte, trug nicht allein die Schuld an ihrem eisigen Unbehagen.

Keine zwei Schritte von ihr entfernt saß Placidia Justa, und es war ihr anzusehen, dass sie damit rechnete, morgen um diese Zeit schon mit Schimpf und Schande aus der königlichen Kanzlei geworfen worden zu sein. Sie spielte unruhig mit dem Anhänger an ihrer Halskette, einer goldenen Münze, die das Bild der römischen Kaiserin Ulpia Severina zeigte, und starrte dumpf zum Feuer hinüber, das den großen Raum nur unvollkommen erhellte.

Vorhin, gleich nach ihrer Rückkehr vom Kanzler, war sie einige Augenblicke lang sogar aufgeregt genug gewesen, wieder »du« und »Hildi« zu Mathilde zu sagen, als wären sie nicht eine Rechtsgelehrte in König Gundoalds Diensten und ihre Leibwächterin, sondern wieder die beiden kleinen Mädchen, die miteinander aufgewachsen waren.

»Das geht nicht gut aus, Hildi, ich sage es dir!«

»Abwarten«, hatte Mathilde erwidert, um nicht entscheiden zu müssen, ob auch sie so weit gehen durfte, in dieser angespannten Lage auf das höfliche »Ihr« zu verzichten, das sie sich vor Jahren angewöhnt hatte.

Inzwischen war sie der Verlegenheit enthoben, solch eine Wahl treffen zu müssen, denn sie waren nicht mehr allein, sondern wieder unter Leuten in dem zugigen Winkel, den man ihnen unweit der nördlichen Tür der Halle zugewiesen hatte.

»Vielleicht findet sich die Urkunde ja noch wieder an«, sagte Regin, der unter den Schreibern, für die Justa die Verantwortung trug, ihr engster Vertrauter war.

Justa wandte sich ihm kurz zu, doch seine eher gutgemeinte als wirklich zuversichtliche Bemerkung hatte den düsteren Ausdruck nicht aus ihren dunklen Augen verscheucht. »Wenn wir sie tatsächlich verlegt hätten, wäre das möglich«, sagte sie und sah dann wieder dorthin, wo man unweit der Feuerstelle gerade die Tafel für das Abendessen errichtete. Dass es Petrus von Alba, dem Kanzler des Königs, oder irgendjemandem aus seinem Gefolge sonderlich schmecken würde, stand allerdings nach dem bisherigen Gang der Ereignisse kaum zu hoffen.

Es war schon in höchstem Maße unersprießlich, dass der Kanzler selbst mit so vielen Leuten gezwungen gewesen war, bei dem schlechten Wetter die zweieinhalb Tagesreisen von Padiacum bis nach Silva Frigida zu unternehmen, um in Gundoalds Namen eine erbitterte Gebietsstreitigkeit mit dem Kloster von Portacaeli zu klären, dessen Ländereien in dieser Gegend auf höchst unübersichtliche Art mit den königlichen verflochten waren. Dass alles hier in schlechtem Zustand war, seit im Frühjahr der nahe Fluss über die Ufer getreten war und auch das Königsgut nicht verschont hatte, machte die Sache nicht besser, aber als wären die äußeren Umstände nicht schon schlimm genug gewesen, war heute auch noch viel geschehen, was nicht hätte geschehen sollen.

Begonnen hatte das Unheil am frühen Nachmittag kurz nach der Ankunft der Leute aus Padiacum mit einer Bluttat.

Der Verwalter des Königsguts, der sich zwischen der halben Hofkanzlei und den für morgen erwarteten Abgesandten des nahen Klosters ein wenig verloren fühlen mochte, hatte sich einen Verwandten zu Hilfe geholt, und der hatte, weil es unruhige Zeiten waren und man allein nicht auf jeder Landstraße sicher reiste, zwei Söldner als Leibwächter angeworben, undurchsichtige Kerle aus dem Norden, denen man besser nicht einmal so weit traute, wie man spucken konnte.

Den Mann, der sie bezahlt hatte, hatten sie allerdings gut und sicher an sein Ziel gebracht. Dort angekommen, waren sie aus unklaren Gründen mit einem Krieger aus dem Gefolge des Kanzlers aneinandergeraten. Bevor die paar Wachen des Königsguts sie hatten auseinanderbringen können, war ein Messer gezogen worden und hatte den Krieger des Kanzlers so gut getroffen, dass man wohl eher von einem gescheiterten Mordanschlag als von einem in Handgreiflichkeiten ausgearteten Streit sprechen konnte. Welcher der Fremden die Klinge geführt hatte, war nicht zweifelsfrei festzustellen gewesen, und so saßen sie nun beide in irgendeinem Nebenraum des Küchenhauses eingesperrt, bis beschlossen war, ob sich die Sache vor Ort klären ließ oder ob man sie nach Padiacum mitschleppen musste, um sie dort vor Gericht zu stellen.

Das hätte Aufregung genug sein können und hatte Justa und ihren engsten Kreis bei allem Mitgefühl mit dem verwundeten Krieger doch nur am Rande betroffen. Was ihre Welt kurz darauf aus dem Gleichgewicht gebracht hatte und vielleicht gar einstürzen lassen würde, war vielmehr das Verschwinden der Urkunde, auf die es bei den Verhandlungen mit dem Kloster ankommen würde.

Darin hatte Guntram, der Vorgänger des jetzigen Königs, ganz zu Beginn seiner Regierungszeit einen geringen Teil von Silva Frigida an Portacaeli abgetreten, um Gott für seine Genesung von einer schweren Krankheit zu danken. So viel stand fest; wie genau die Grenzen innerhalb des für das Gut namensgebenden Waldstücks verliefen, war allerdings seit der Flut umstritten, vielleicht, weil beide Seiten sich gern die Stelle mit dem besten Bauholz sichern wollten. Die diesbezüglichen Unterlagen des Klosters schienen anders auszusehen als die, über die man in der königlichen Kanzlei verfügte, und das Kopiar, das hätte Klarheit schaffen können, welche Urkunde nun die richtigere war, schien zu denen zu gehören, die vor einigen Jahren einem Brand in Padiacum zum Opfer gefallen waren.

Dementsprechend würde es wohl, wie Petrus von Alba es bei ihrer Abreise noch selbst ausgedrückt hatte, darauf ankommen, wer besser gefälscht hatte.

Um die Wahrheit ans Licht bringen oder auch nur gut betrügen zu können, wäre es allerdings von Vorteil gewesen, zumindest das Urkundenexemplar aus der Kanzlei noch zu haben. Es nach Silva Frigida zu schaffen, hatte in Justas Verantwortung gelegen, und sie hatte bei ihrer Ankunft hier noch einmal überprüft, ob das wichtige Schriftstück vorhanden und wohlverwahrt war.

Das war es gewesen; Mathilde hatte es selbst gesehen. Aber dann, als nach all der Aufregung um die gewalttätigen Söldner der Kanzler noch einmal hatte Einblick nehmen wollen, war die Urkunde unauffindbar gewesen, und dabei war es bis jetzt geblieben, obwohl sie alles Gepäck auf das Gründlichste durchsucht hatten.

Herr Petrus war mehr als ungehalten darüber gewesen, und was er Justa dafür erzählt hatte, dass sie die Urkunde ganz offensichtlich nicht gut genug im Blick behalten hatte, ließ sie befürchten, dass sie teuer für das Versäumnis bezahlen würde.

»Aber wir müssen sie ja verlegt haben«, sagte Regin nun, anscheinend wild entschlossen, seine Herrin aufzumuntern. »Dass dieser Abt für ein paar Bäume so weit geht, einen Dieb vorauszuschicken, um unsere Urkunde zu stehlen, glaube ich nicht, und dass jemand von unseren Leuten sich vom Kloster kaufen lässt, noch viel weniger.«

Justa ließ den Blick nur kurz über die Ansammlung von niederen Schreibern, Boten und Dienern gehen, die sich in achtungsvollem Abstand von ihrem engsten Kreis auf den Bänken an der Hallenwand drängten und miteinander tuschelten. Dann sah sie Regin an, und ihre Miene war vielleicht noch ein Stück trostloser als zuvor. »Unsere Leute hier habe ich auch nicht in Verdacht. Wenn sich kein äußerer Feind bis hierher vorgewagt hat, dann war es Donatus, auf mein Wort.«

»Donatus?«, wiederholte Mathilde und sah unwillkürlich zu den beiden geschlossenen Türen am Südende der Halle hinüber, hinter denen die Zimmer der zwei glücklichen Gäste lagen, die jeweils ein eigenes beanspruchen konnten. Sie mochte Donatus, den Stellvertreter des Kanzlers, zwar genauso wenig, wie Justa es tat, aber dass jemand, dessen größter Ehrgeiz es war, irgendwann selbst an der Spitze der Kanzlei zu stehen, gegen die Interessen des Königs arbeitete, indem er diese Urkunde verschwinden ließ, wirkte dennoch weit hergeholt.

Justa schien die Richtung ihrer Bedenken zu erraten, denn sie erwiderte: »Um mir zu schaden. Er kann mich nicht leiden, das merkt man ihm an.«

Sie musste nicht ausführen, dass sie auch zu den Wenigen gehörte, die ihm die Nachfolge des schon alten und buckligen Kanzlers streitig machen konnten. König Gundoald hatte sie immer geschätzt, aber damit würde es vorbei sein, wenn in dieser Angelegenheit, scheinbar durch Justas Schuld, zu seinen Ungunsten entschieden werden musste.

Justa senkte die Stimme, bevor sie weitersprach. »So weit zu gehen, hätte ich selbst ihm eigentlich nicht zugetraut … Aber vorhin ist er hier herumgeschlichen, als ich nach dem Aufruhr um die Messerstecherei auf dem Hof wieder hereinkam, und als ich ihn fragte, ob er mich suche, hat er nur verneint und war nicht sehr gesprächig. Ich möchte wetten, dass er die Urkunde eingesteckt und dann Herrn Petrus erst darauf gebracht hat, sie heute noch einmal sehen zu wollen. Vernichtet haben kann er sie nicht, so sehr kann er den König nicht verärgern wollen. Ich bin mir sicher, dass er das Ding gerade noch zur rechten Zeit in den Staub unter eine Bank gefallen wiederfinden wird, damit ich als gefährlich nachlässig dastehe, ohne dass die Sache Folgen für den Ausgang der Auseinandersetzung hätte.«

Kurz herrschte Schweigen, und Mathilde erkannte, als sie zurückdachte, dass Donatus tatsächlich nicht mit ins Freie geeilt war, als es dort vorhin laut geworden war. Er konnte sehr wohl die günstige Gelegenheit genutzt haben, um zu tun, was Justa ihm nun unterstellte.

»Habt Ihr Herrn Petrus von Eurem Verdacht erzählt?«, erkundigte sich Regin flüsternd und sah sich um, als hätten die Wände Ohren.

Justa schüttelte den Kopf. »Wenn ich ohne Beweise solch eine Beschuldigung ausspreche, habe ich zu allem anderen Ärger noch eine Verleumdungsklage am Hals.«

Mathilde musterte noch einmal die Türen am Südende der Halle. Donatus mochte die Urkunde vorhin für kurze Zeit unter seinen Kleidern verborgen haben, wenn er sie tatsächlich an sich genommen hatte, aber er konnte sie wohl kaum den ganzen Abend über bequem und unauffällig bei sich tragen. »Dann müsste man es ihm nachweisen, bevor Ihr damit zu Herrn Petrus geht. Während des Essens wird sein Zimmer verwaist sein, und wenn er die Urkunde eine Weile versteckt halten will, dann doch wohl am ehesten dort. Wir sollten …«

»Wir können nicht beim Stellvertreter des Kanzlers einbrechen!«, schnitt Justa ihr das Wort ab.

»Wir nicht, nein«, stimmte Mathilde zu. »Aber wenn nun einer es täte, mit dem er nicht rechnet?«

»An wen denkt Ihr?«, fragte Justa, und zum ersten Mal an diesem Abend stahl sich ein Anflug von Hoffnung in ihre Augen. »Euer alter Freund hier auf dem Gut ist doch viel zu aufrecht, um sich auf so etwas Fragwürdiges einzulassen, und ohnehin sollten wir keine unschuldigen Dritten mit hineinziehen, falls wir doch Unrecht haben und alles umso böser endet.«

Mathilde lächelte in sich hinein. »An Radulf habe ich auch nicht gedacht, sondern an die Söldner aus dem Norden. Einer von beiden wird sich dazu schon überreden lassen, meint Ihr nicht? Wer für Geld seine Dienste an jeden vermietet und nichts zu verlieren hat, ist doch der richtige Mann dafür, und die Kerle wird man beim Essen auch nicht vermissen. Wenn wir alle brav am Tisch sitzen und Donatus uns im Auge hat, wird er nichts ahnen, und es wäre Zeit genug. Man müsste es nur schnell in die Wege leiten.«

»Sehr schnell«, stimmte Justa zu, denn drüben legte man mittlerweile schon die Tischdecken auf.

»Dann nehmt das hier mit«, sagte Regin, als wäre alles schon entschieden, und holte aus einem heute schon doppelt und dreifach vergeblich durchsuchten Kästchen ein Schriftstück hervor, das mit der verschwundenen Urkunde nur Guntrams prachtvolles Siegel gemein hatte und einige Jahre nach der fraglichen Landschenkung auch die Überlassung irgendwelcher Fischereirechte an Portacaeli bestätigt hatte. Darum gab es jetzt zwar keinen Streit, aber der Vollständigkeit halber war auch diese Zusicherung mitgeführt worden. »Steckt es ein«, drängte Regin, als Mathilde zögerte. »So ein ungebildeter Krieger von dort, wo kein Mensch lesen kann, erkennt doch König Guntrams Siegel nicht, wenn er es nie gesehen hat, auch wenn Ihr es noch so gut beschreibt.«

Mathilde hörte Justas Untergebene noch eifriger raunen als zuvor und musste sich nicht umsehen, um zu wissen, dass sich alle fragten, was genau hier eigentlich besprochen und ins Werk gesetzt wurde. Aber wenn sie nun tatsächlich ging, um zu tun, was sie sich vorgenommen hatte, würde es Justa und Regin zufallen, die Leute zu beruhigen, nicht ihr.

Sie wartete noch einen Herzschlag lang ab, aber da Justa keine Einwände erhob, stand sie auf, griff nach ihrem Mantel und wagte sich hinaus in den Regen.

Es war Mathildes Glück, dass der alte Radulf, der die wenigen Krieger des Königsguts befehligte, sie nicht nur als Justas beschützenden Schatten, sondern auch und vor allem als Tochter eines einstigen Kampfgefährten kannte.

Als sie ihn vorn am Tor aufsuchte und ihm sagte, dass sie dringend einen der beiden gefangenen Söldner unter vier Augen sprechen müsse, ohne dass jemand etwas davon erfuhr, musterte er sie zwar kurz, schlug ihr aber die Bitte nicht ab.

»Such dir einen aus«, sagte er nur, ging zum Küchenhaus voran und holte keinen seiner Krieger, aber dafür einen ebenso starken wie wortkargen Knecht zu Hilfe, bevor er ihr die Tür zu dem behelfsmäßigen Gefängnis aufschloss.

Die Kammer, die als vorläufiger Verwahrungsort der Söldner aus dem Norden diente, war eng und dunkel, und so sah Mathilde nur das Wichtigste, als sie dicht vor den beiden stand und sich entscheiden musste, wer ihr für den Auftrag, den sie zu vergeben hatte, tauglich erschien. Der kräftige Kerl zu ihrer Rechten mit dem lockigen schwarzen Bart wirkte, als wäre seine Hilfe bei wirklich allem und jedem für den richtigen Preis zu erkaufen, aber sein schmalerer Gefährte – bartlos, braunhaarig und allem Anschein nach ein paar Jahre jünger – hatte Augen, die ihr gefielen. Das gab binnen eines Atemzugs den Ausschlag.

»Den da«, befahl sie kurz entschlossen und wusste noch nicht, dass sie damit ihre Wahl für ein ganzes Leben traf.

Auch der Söldner, auf den sie zeigte, wusste es nicht, konnte es nicht wissen; so wie er dreinsah, nahm er eher an, dass sie gerade festgelegt hatte, wessen Kopf sie zuerst rollen sehen wollte.

Aber er leistete keinen Widerstand, sondern ging zwischen Radulf und dem Knecht brav mit durch die Tür und dann die Treppe hinab in einen der Vorratskeller, die seit der Flut ungenutzt geblieben waren, weil die Feuchtigkeit noch immer in den Wänden steckte. Die schlanke Säule in der Mitte des Raums, die das Gewölbe trug, wirkte aber unerschütterlich fest. Radulf war nicht unnötig grob, als er Mathildes neuen Bekannten mit dem Rücken daran stellte und ihm die Hände hinter der Säule mit Handschellen fesselte, die so uralt wirkten, als wären sie aus Römertagen übriggeblieben, aber er bestand darauf.

»Sicher ist sicher«, verkündete er mit zufriedener Miene, als er zurücktrat und dem Knecht einen Wink gab, dass sie Mathilde nun mit dem Gefangenen allein lassen könnten. »Sag nachher einfach Bescheid, wenn wir ihn wieder einsammeln kommen sollen.«

Mathilde nickte und hielt die Hand auf. »Gib mir bitte den Schlüssel.«

Diesmal ruhte Radulfs Blick länger auf ihr, doch am Ende reichte er ihr das rostige Ding und bat: »Aber sei vorsichtig. Ich glaube, dass er derjenige war, der das Messer geführt hat.«

Der Mann aus dem Norden sah anscheinend keinen Anlass, zu leugnen oder zu bestätigen, dass es sich so verhalten hatte.

Dann waren nur noch er, das flackernde Talglicht, das der Knecht neben der Tür abgestellt hatte, und Mathilde selbst da.

Als ihr auserkorener Helfer – zwei Fingerbreit kleiner als sie und mit in Unordnung geratenem Haar, aber mit diesen wachen Augen in klarem Meerblau – so vor ihr stand, kam sie zu dem Schluss, dass sie froh war, dass ihre Notlage ihm einen Weg eröffnen würde, ungestraft aus dieser Sache herauszukommen. Eigentlich hatte sie keinen Grund, ihn zu mögen, und mochte ihn doch, ohne auch nur ein Wort mit ihm gewechselt zu haben.

Hab keine Angst, hätte sie gern gesagt, und begann das Gespräch doch kühler und nüchterner, wie sie es musste.

»Du weißt, dass diese Geschichte übel für dich und deinen Gefährten enden könnte. Einen Krieger des königlichen Kanzlers zu verwunden, ist keine Kleinigkeit. Wenn ihr die Buße dafür zahlen müsst, wird es teuer, und es ist nicht gesagt, dass man euch das überhaupt gestattet und nicht lieber beschließt, euch in einem Steinbruch oder Bergwerk verschwinden zu lassen.«

»Wenn der Kerl sich nicht darüber lustig gemacht hätte, dass Styrkar stottert, hätte es gar nicht erst Streit gegeben, und dann wäre er auch nicht verwundet worden«, wandte der Söldner ein, und Mathilde staunte heimlich, wie wenig man ihm anhörte, dass er nicht in seiner Muttersprache mit ihr redete. Ein Hauch von etwas, das weder nach Austrasien noch nach Neustrien oder Septimanien passte, schwang in seiner Stimme zwar mit, aber kaum merklich.

Dementsprechend war der Inhalt seiner Äußerung erst das Zweite, was zu ihr durchdrang, aber als es angekommen war, taten ihr die beiden Fremden fast leid. »Das mag so sein oder auch nicht«, sagte sie dennoch, weil sie es musste. »Styrkar – das ist dein Freund mit dem schwarzen Bart, ja?« Ein Nicken. »Und dein Name?«

»Ivar«, sagte er schlicht, ohne Mutter- und Vaternamen oder einen Ort, von dem er stammte, beizufügen, aber seine meerblauen Augen fragten sehr laut: Und deiner?

Mathilde nannte ihn ihm nicht. »Dann hör mir jetzt zu, Ivar. Wenn du tust, was ich dir sage, geht ihr als freie Männer von hier fort, und du kannst dich zusätzlich noch über ein bisschen Geld freuen. Klingt das gut?«

»Das hängt davon ab, was ich tun soll«, sagte Ivar.

»Nichts Verwerfliches«, versicherte sie ihm. »Aber mehr verrate ich dir erst, wenn ich deine Zustimmung habe.«

»Dann stecken wir wohl fest, denn die kann ich nur erteilen, wenn ich weiß, worum es geht.«

Für jemanden, der so an eine Säule gekettet war, dass er sich keinen Schritt davon fortrühren konnte, verhandelte er hart, und das ließ Mathilde hoffen, dass er tatsächlich daran dachte, sich auf ihr Angebot einzulassen. Einer, der nur auf eine Gelegenheit zur Flucht hoffte, hätte sich doch wohl zum Schein zu allem bereiterklärt, ohne sich an seine eigenen Zusicherungen halten zu wollen.

»Wir stecken fest, in der Tat«, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln, »aber du noch etwas fester als ich. Vielleicht solltest du dir also noch einmal überlegen, wie deine Antwort lautet.«

Ivar schwieg, und seine klugen, meerblauen Augen musterten sie so genau, dass es verstörend zu werden drohte. Er konnte nicht wissen, dass er mehr Zeit als Mathilde hatte, aber sie wusste es sehr wohl und musste sich zwingen, ruhig abzuwarten, statt überhastet zu viel preiszugeben.

»Natürlich hast du in Styrkar eine Geisel.« Ivar schien beschlossen zu haben, dass er Mathilde kein höfliches »Ihr« schuldete, wenn sie ihm ihrerseits keines gönnte. »Und ich nehme an, du kannst mich hier auch einfach stehen lassen, bis es unbequem wird, oder Schlimmeres mit mir anstellen. Aber das, was ich für einen zugegebenermaßen willkommenen Lohn zu tun bereit bin, hat seine Grenzen, und das, wozu ich mich zwingen lasse, auch.«

Mathilde dachte bei sich, dass es ein Jammer war, dass sie keinen brauchte, der in jeder Lebenslage gut zu reden verstand, denn dafür hatte sie den geeigneten Mann anscheinend gefunden.

Sie wünschte nur, sie hätte wissen können, wie ehrlich er war, aber da sie ihm früher oder später ohnehin trauen musste, konnte sie genauso gut schon jetzt damit anfangen.

»Es ist längst unbequem, nicht wahr?«, fragte sie und ging um die Säule samt Ivar herum, bevor sie sich selbst zur Vernunft mahnen oder zu sehr über Radulfs Verdacht nachdenken konnte. »Warte eben.«

Der Schlüssel war wohl argwöhnischer als sie, denn er sträubte sich dagegen, auch nur in das Schloss in dem schweren Eisenring gesteckt zu werden, der Ivars linkes Handgelenk umspannte. Sie verschob diese Seite auf später und versuchte es rechts. Dort ging es besser.

Links hingegen widersetzte sich weiterhin alles hartnäckig, auch als sie Ivar – immerhin von der Säule erlöst aber alles andere als völlig frei – selbst einen Versuch mit dem Schlüssel unternehmen ließ, der dabei beinahe abbrach.

»Die Ketten haben sie sich wohl hundert Jahre nur für mich aufgespart«, murmelte Ivar, aber dass er sich weiterhin allein mit dem Schlüssel beschäftigte und anscheinend nicht auf rasche Flucht oder neuerliches Blutvergießen sann, beruhigte Mathilde.

»Jetzt siehst du ja wohl, dass ich dich nicht mit Gewalt zu etwas zwingen will«, sagte sie, »und dass es nichts Verwerfliches ist, weißt du doch schon. Ich brauche nur einen, dessen Fehlen beim Essen in der Halle nicht auffällt, weil er ohnehin nicht dort sein sollte, und der mir einen kleinen Gefallen tun kann. Du sollst keinen Meuchelmord für mich begehen, sondern nur ein Zimmer gründlich nach einem Gegenstand durchsuchen.«

Ivar sah von dem immer noch unbesiegten Schloss auf. »Und wenn ich ertappt werde, bin ich allein aus- und eingebrochen, und du weißt von nichts, wie?«

In etwa in die Richtung waren Mathildes Gedanken ursprünglich gegangen, aber sie stellte nicht zum ersten Mal an diesem Abend fest, dass sie ihre eigene Ruchlosigkeit beträchtlich überschätzt hatte.

»Nein«, erwiderte sie also widerstrebend. »Wenn sie dich fangen, dann sagst du die Wahrheit – dass eine Frau, die du zuvor noch nie im Leben gesehen hattest, dich dazu erpresst hat, zu tun, was du getan hast, und dass es dir leidtut.«

»Ob es mir leidtun wird, ist noch die Frage.« Etwas an Ivars Blick hatte sich verändert, als wüsste er, dass er nun endlich die richtige Mathilde zu sehen bekommen hatte, die weniger eiskalt als verzweifelt war. »Und dass ich dich noch nie gesehen habe, wäre gelogen. Du warst drüben an der westlichen Hallentür, als sie uns vorhin festgenommen haben, und hast uns sehr verächtlich gemustert.«

»Habe ich das?«, fragte Mathilde, die nur meinte, das Durcheinander auf dem Hof aufmerksam beobachtet zu haben. Dass Ivar allerdings selbst das Gleiche getan und sich ihren Standort zutreffend gemerkt hatte, auch wenn ihre Meinungen über ihren Gesichtsausdruck auseinandergehen mochten, ließ hoffen. Wer selbst in höchster Not noch so viel mitbekam, würde wohl zumindest nichts übersehen, was es in Donatus’ Zimmer aufzustöbern gab.

»Und wie«, bekräftigte Ivar und unternahm einen letzten vergeblichen Versuch, die Handschelle doch noch irgendwie loszubekommen. Als es nicht glückte, zögerte er nur unmerklich, bevor er auch noch den zweiten Eisenring neben dem ersten um seinen linken Arm zuschnappen ließ. »Aber ein Zimmer durchsuchen … Das kann ich meinetwegen. Hoffen wir nur, dass diese verdammte Kette nicht klirrt.«

Mathilde nickte knapp. »Gut. Dann sieh dir das hier ganz genau an und merk es dir.« Sie zog das Schriftstück, das Regin ihr aufgenötigt hatte, aus der Tasche und hielt es so, dass für Ivar nur Guntrams Siegel zu sehen war. Zwar glaubte sie nicht, dass einer wie er auch nur ein Wort lesen konnte, aber es konnte nicht schaden, wenigstens in der Hinsicht noch ein Mindestmaß an Vorsicht walten zu lassen, wenn sie insgesamt schon leichtsinnig sein musste. »Es ist eine Urkunde verschwunden, die das gleiche Siegel trägt. Alles, woran es hängt, bringst du mit und kommst wieder hierher, ohne dich erwischen zu lassen.«

Sie erläuterte ihm rasch, durch welches Fenster er einsteigen sollte, sobald zu erkennen war, dass das Essen in der Halle begonnen hatte. Vielleicht hätte sie noch anfügen sollen, dass er nicht einmal daran denken sollte, stattdessen einfach zu fliehen, weil das seinem gefangenen Freund nicht gerade weiterhelfen würde, ganz zu schweigen davon, dass sie dafür sorgen würde, dass man auch ihn wieder einfing und für jede Unzuverlässigkeit büßen ließ, aber die Drohungen würde er sich schon denken können.

So beschränkte sie sich darauf, nachzusehen, ob die Luft auf der Treppe rein war, und schickte ihn dann, nachdem sie zum Besten der Hofkanzlei ein Küchenhandtuch beschlagnahmt und wie einen Verband um seine Linke geschlungen hatte, damit nicht wirklich noch ein Klirren zur Unzeit alles verdarb, durch den Hintereingang des Gebäudes in den um diese Tageszeit verlassenen Kräutergarten hinaus.

Mittlerweile regnete es noch kräftiger, und Mathilde packte das Mitgefühl, als ihr bewusst wurde, dass man Ivar bei seiner Verhaftung den Mantel abgenommen hatte und seine Tunika, die fast das gleiche Blau wie ihre hatte, keinen hinreichenden Schutz bieten würde.

»Willst du meinen Umhang?«, fragte sie flüsternd. »Du wirst länger dort draußen sein als ich, bevor du dich ins Haus wagen kannst.«

Doch Ivar schüttelte den Kopf. »Findest du nicht, dass ich schon genug mitschleppen muss?«, fragte er und hob die allzu beladene linke Hand prüfend an. »Ohne Mantel ist es besser.«

Mathilde widersprach nicht, da vorn in der Küche schon zu hören war, dass Vorkehrungen getroffen wurden, erste Speisen über den Hof zu schaffen. Ihr blieb nur, auf ihren Platz in Justas Gefolge zurückzukehren und zu beten, dass sie die Lage nicht noch schlimmer gemacht hatte, als sie ohnehin schon gewesen war.

Weit kam sie allerdings vorerst nicht, denn unter dem Vordach der Nordtür, dessen tragende Säulen, passend zum Namen des Guts, mit geschnitzten Waldtieren aller Art verziert waren, hielt Radulf sie auf.

»Ich traue dir, Mathilde«, sagte er, wie man es doch nur sagen musste, wenn man gerade auf dem besten Wege war, dieses Vertrauen zu verlieren, »aber davon, dass du den gefährlichen Kerl einfach frei herumlaufen lässt, war nicht die Rede.«

Mathilde holte tief Luft. »Hast du allein es bemerkt, oder weiß es jetzt das halbe Gut?«

Radulf warf ihr einen missbilligenden Blick zu, in dem die Einschätzung lag, sie hätte vorsichtiger sein sollen, statt solche törichten Fragen zu stellen. »Ich habe die Sache im Auge behalten, damit hättest du doch eigentlich rechnen müssen.«

Dem ließ sich nicht widersprechen. Mathilde musterte sein unter allem Tadel gutmütiges Gesicht mit den buschigen Brauen und dachte an Justas Annahme, dass er sich niemals auf etwas wie ihren Plan einlassen würde. Aber er war zu ihr gekommen, um ihr Vorhaltungen zu machen, statt gleich Dritte in Kenntnis zu setzen oder Ivar eigenhändig wieder einzusammeln; vielleicht war noch nicht alles verloren.

»Ich traue dir auch, Radulf«, sagte sie also und hoffte, dass sie es konnte. »Und wenn du mir traust, dann hilfst du mir jetzt, denn ich muss ein Verbrechen in der Kanzlei unterbinden und weiß nicht, wie viele von unseren Leuten aus Padiacum mit in die Angelegenheit verwickelt sind.«

»Und da holst du dir einen verhinderten Mörder zu Hilfe und nicht mich?«, gab Radulf gekränkt zurück.

»Ich dachte, wer zugestoßen hat, steht gar nicht fest?«, erwiderte Mathilde, um sich nicht für ihre Vorgehensweise rechtfertigen und damit Fehler einräumen zu müssen.

Radulf schüttelte den Kopf. »Nein, aber das sieht man doch! Dieser widerlich kalte Blick … So einer ist zu allem imstande.«

Mathilde hätte ihm auseinandersetzen können, dass er sich ihrem Empfinden nach gehörig irrte und in den meerblauen Augen zwar vieles, aber keine Kälte lag, doch dazu war jetzt keine Zeit. Stattdessen erläuterte sie ihm hastig mit gesenkter Stimme, was er tun konnte, um sie zu unterstützen, und floh auf sein zögerliches Nicken hin in die Halle, um nicht zu spät zum Essen zu erscheinen und Justa wissen zu lassen, dass sie in die Wege geleitet hatte, was sie nur konnte.

Justa nickte dazu auch knapp und dankte, aber ihr schönes Gesicht unter dem kunstvoll aufgesteckten schwarzen Haar blieb angespannt. Im Verlauf des Abends aß sie kaum etwas, obwohl das Brot herrlich nach Gewürzen duftete und der Kohl mit Wein, Liebstöckel, Bohnenkraut und Thymian zubereitet war, wie sie es aus ihren Kindertagen in Aemilianum kannten, während der Koch, der sie heute im Stadthaus der Placidii im weiter östlich gelegenen Padiacum versorgte, sich nicht so recht auf diese Mischung verstand und aus allen Kohlsorten viel langweiligere Gerichte machte.

Mathilde war eigentlich entschlossen, sich von der Aufregung nicht den Appetit verderben zu lassen, aber wenn man sich bemühte, alle wichtigen Leute im Blick zu behalten, und darüber hinaus noch mit Regin flüstern musste, der eigene Beobachtungen beizusteuern hatte, fand man wenig Muße, das Essen zu genießen.

Entscheidend war, dass weder Donatus noch jemand aus seinem engsten Umfeld dem Zimmer, das ihm für den Aufenthalt in Silva Frigida als Unterkunft diente, während des Mahls einen Besuch abstattete, und Mathilde war dankbar, dass sie von ihrem Platz weiter unten an der Tafel sowohl den Stellvertreter des Kanzlers als auch die geschlossene Tür ein gutes Stück hinter ihm im Auge hatte.

Falls Donatus triumphierte, weil es ihm so glänzend gelungen war, Justa in ein schlechtes Licht zu rücken, verbarg er es geschickt, denn auch seine Miene wirkte alles andere als zufrieden.

»Der tut ja gut so, als wäre auch ihm nicht recht, was geschehen ist«, sagte Regin leise und fügte etwas lauter eine empörte Bemerkung darüber an, dass hier, weiter unten am Tisch, wirklich nur die schlechteren Stücke der Hähnchen ankamen, obwohl man doch der Hofkanzlei wohl ein paar Hühner mehr hätte opfern können. Als er dann glaubte, etwaige Lauscher hinreichend getäuscht zu haben, raunte er wieder an Mathilde gewandt: »Und Herr Petrus sieht aus, als wollte er sich früh zurückziehen; das ist gar nicht gut.«

In der Tat schien dem Kanzler daran gelegen zu sein, das Essen schnell hinter sich zu bringen, und er ärgerte sich womöglich noch mehr als sogar Justa über das heute Vorgefallene.

Petrus von Alba mochte es nicht, wenn in seiner Kanzlei Unordnung herrschte, und eine abhandengekommene Urkunde war nun wahrhaftig die größte Unordnung überhaupt. So etwas war ihm in seiner langen Zeit an der Spitze der Rechtsgelehrten und Schreiber des Königs vermutlich noch nicht oft begegnet.

Nach dem Sturz Autharis von Vinea vor gut fünfzehn Jahren war niemand allzu erpicht darauf gewesen, seine Nachfolge als Kanzler anzutreten. Dass selbst jemand, der in dem Amt solch eine Machtfülle angehäuft hatte wie Authari, vor einem bösen Ende nicht gefeit gewesen war, hatte dabei noch die geringste Rolle gespielt. Vielmehr waren wohlunterrichtete Kreise davon ausgegangen, dass König Guntram den Posten zunächst übergangsweise an einen leidlich tüchtigen Verwalter vergeben würde, um sich seinen eigentlichen neuen Kanzler in aller Ruhe zu suchen. So hatte auch niemand viel Widerstand dagegen geleistet, dass die verantwortungsvolle Aufgabe vorerst dem kleinen, krummen Zuständigen für Wegzollangelegenheiten übertragen worden war, denn trotz seiner mehrjährigen Erfahrung in der Kanzlei hatte niemand geglaubt, dass er sich lange halten würde, zumal er nach einer gründlich gescheiterten Ehe und einer eben erst überstandenen schweren Erkrankung nach menschlichem Ermessen ganz andere Sorgen hätte haben sollen.

Doch vielleicht war ihm die Führung der Kanzlei gerade deshalb eine willkommene Ablenkung gewesen, und er hatte sich gehalten, nicht nur unter Guntram, sondern auch unter dessen Nachfolger Gundoald. Man tat also gut daran, Petrus nicht zu unterschätzen.

Das hatte Justa stets beherzigt und kam deshalb gemeinhin blendend mit ihrem Vorgesetzten aus, aber eine verschwundene Urkunde war nun einmal eine verschwundene Urkunde, solange man sie nicht wiederfinden konnte. So richtete Petrus das ganze Essen hindurch kein einziges Mal das Wort an sie, und dem unglücklichen Gutsverwalter gegenüber war er zwar höflich, aber auch nicht übertrieben gesprächig.

Danach, noch lange bei Wein und Walnüssen zusammenzusitzen, war niemandem zumute, und so endete das Mahl viel schneller, als es Mathilde lieb sein konnte. Wie rasch Ivar in Donatus’ Zimmer eingedrungen war, wenn er nicht ohnehin sein Heil in der Flucht gesucht und seinen Mitgefangenen im Stich gelassen hatte, konnte sie nicht wissen, und so ließ sich nicht einschätzen, ob die Zeit auch nur ansatzweise für eine gründliche Durchsuchung gereicht hatte.

Einfach mit den Übrigen aus Justas Gefolge in die Ecke an der Nordtür zurückzukehren und still dazusitzen, bis niemand mehr beobachten würde, dass sie zum Küchenhaus zurückschlich, brachte sie nicht über sich. Deshalb wartete sie im Schatten eines der wuchtigen Pfeiler, die die Decke trugen, stumm ab, während das Gutsgesinde in aller Eile die Tafel ab- und forträumte, Donatus’ Schar aus Schreibern, Wachen und Dienern sich unweit seines Zimmers in der Südwestecke der Halle für die Nacht einrichtete, Petrus’ engster Kreis im Südosten näher bei seiner Tür das Gleiche tat und die beiden Herren selbst, nachdem sie dem Gutsverwalter und dessen Anhang eine gute Nacht gewünscht hatten, noch leise einige Worte miteinander wechselten.

Als Donatus’ vertrautester Diener sich anschickte, ins Zimmer seines Herrn vorauszugehen, um Vorbereitungen für die Nacht zu treffen, überlegte sie einen Augenblick lang wild, ob sie den Mann irgendwie aufhalten und dabei genug Lärm schlagen konnte, um Ivar vorzuwarnen, wenn er denn noch hinter der Tür steckte. Aber zu ihrer Verblüffung war es Donatus selbst, der ihr zu Hilfe kam, denn er gab dem Bediensteten einen Wink, noch einmal umzukehren, und erteilte ihm rasch irgendeine Anweisung, die es offensichtlich mit sich brachte, dass der arme Kerl unverzüglich in die Nacht hinauseilen musste, vielleicht, um etwas Tee oder dergleichen aus dem Küchenhaus zu beschaffen.

Dann ging die Unterhaltung mit Petrus noch eine Weile weiter, lange genug, um Mathilde einen Pfeiler näherschleichen zu lassen und an einen guten Standort zu bringen, um zuzuschlagen, als der Kanzler sich endlich von seinem Stellvertreter verabschiedete und sich zurückzog.

»Herr Donatus?«, sagte sie mit einem ehrerbietigen Neigen des Kopfes und trat in den Feuerschein. »Verzeiht, dass ich Euch so spät noch damit überfalle, aber ich denke, wenn mir jemand helfen kann, dann Ihr. Ich vermute etwas Schlimmes und weiß nicht, an wen sonst ich mich wenden könnte.«

Donatus musterte sie mit leisem Unmut, aber sie hatte laut genug gesprochen, um hinter seiner Tür zu hören zu sein, die vorerst noch geschlossen war, und darauf kam es an. Wenn Ivar sich dort noch aufhielt, würde er doch wohl den Verstand haben, sich jetzt davonzumachen?

Donatus überraschte sie ein weiteres Mal ungewollt, denn er erwiderte: »Dann sagt, was Ihr zu sagen habt.«

Das war so einiges, denn auch wenn Mathilde eigentlich keine große Rednerin war, ließ sie sich einfallen, was sie nur konnte, und achtete darauf, so zu stehen, dass Donatus jederzeit gut sehen konnte, dass Justa und Regin am kalten unteren Ende der Halle im flackernden Kerzenschein über irgendwelche Papiere gebeugt saßen und ihre Leute mittlerweile friedlich schliefen oder so zumindest so taten.

Donatus ließ sie auch ruhig ausreden und nickte gar verständnisvoll, als sie weitschweifig ausführte, sie habe den Verdacht, dass jemand ihrer Herrin schaden wolle.