Der Torwächter - Die verlorene Stadt - Markus Stromiedel - E-Book

Der Torwächter - Die verlorene Stadt E-Book

Markus Stromiedel

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Beschreibung

Ein Dorf aus Ruinen und in der Ferne der Tower, der alles überragt: Bei seiner Suche nach seinem Großvater ist Simon in eine Welt gelangt, die seiner eigenen gleicht und die doch vollkommen anders ist. Hier herrscht Drhan, der Fürst der dunklen Macht. Zusammen mit Ira und der Schneeleopardin Ashakida macht sich Simon auf den Weg, und der führt sie mitten in das Herz der Finsternis ... "Der Torwächter - Die verlorene Stadt" ist der spannende zweite Teil der Torwächter-Reihe und Teil des Internet-Lese-Projektes "Kopf-Kick".

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Prolog

Die plötzliche Hitze traf Simon wie ein Schlag. Er riss den Mund auf und sog den Atem ein wie ein Ertrinkender, der verzweifelt nach Luft ringt. Nach zwei, drei Atemzügen ging es besser. Dann kam der Schmerz. Er kroch in seinen Körper hinein, vom Kopf abwärts in den Rumpf und weiter bis zu den Spitzen seiner Finger, den Enden seiner Zehen.

Wo war er?

Simon blieb liegen, bis die Schmerzen nachließen und er unter seinen Händen feuchte Erde spürte. Der satte Geruch von Moder stieg ihm in die Nase. Vorsichtig bewegte er seine Arme, seine Beine. Dann richtete er sich auf und blinzelte in das Licht.

Um ihn herum war es grün. Großblättrige Pflanzen wucherten unter gewaltigen Bäumen, Schlingpflanzen hingen von den Ästen herab und bedeckten die Stämme. Dazwischen öffneten sich Blüten in allen Formen und Farben. Der Boden dampfte, wie Nebel hingen die Wassertröpfchen in der Luft. Ein vielstimmiges Kreischen und Zetern erfüllte das Dickicht.

Mühsam stand Simon auf. Es fiel ihm schwer, seinen Körper zu beherrschen, doch mit jeder Bewegung ging es besser. Seine Haut war feucht, der Dunst kroch in seine Kleidung und durchnässte den Stoff.

Wie kam er hierher?

Erst jetzt sah Simon, dass er sich in einer Senke befand. Wände aus Backstein lugten durch das wuchernde Grün. Er kletterte an einer Liane aus der Vertiefung. Auch oben entdeckte er Mauerreste im Dickicht der Pflanzen. Moos überzog die Trümmer, Schlingpflanzen schoben ihre Triebe in jede Ritze. Der Dschungel umklammerte alles mit festem Griff.

Ein Funkeln ließ ihn aufmerken: Es war ein Lichtschein, er schwebte über der Mulde. Das Licht verblasste, Simon kam es vor, als hörte er von weit her ein Klacken, so als ob eine Tür zufallen würde. Das Leuchten erlosch.

Das Weltentor! Die Erinnerung durchzuckte ihn wie ein heißer Blitz. Jetzt wusste er wieder, was geschehen war! Er war durch ein Weltentor geflohen, hierher an diesen fremden Ort. Doch er hatte das Tor nicht alleine passiert. Sein Großvater war bei ihm gewesen.

Eilig kletterte Simon zurück in die Senke und durchsuchte das Unterholz. Er fand seinen Großvater unter einer fetten Sumpfpflanze. Simon riss die Blätter zur Seite und beugte sich über ihn. »Opa!« Der Alte sah ausgemergelt aus, er war am Ende seiner Kraft. Simon rüttelte ihn. »Opa, wach auf!«

Die Lider des Alten zitterten, dann, unendlich langsam, öffneten sich seine Augen. Sein Großvater schien überrascht zu sein, mit gerunzelter Stirn blickte er in den Blätterhimmel. Endlich erkannte er seinen Enkel. Er lächelte. »Hast du es geschafft?« Seine Stimme war schwach und heiser, Simon musste sich über ihn beugen, um die Worte zu verstehen. »Wo sind wir? Wo ist Ashakida?«

Simon antwortete nicht.

Der Alte tastete nach Simons Hand, er spürte die Sorge, die seinen Enkel erfüllte. »Was ist geschehen?« Er hustete.

Simon holte eine Flasche mit Wasser aus seinem Rucksack. Der Großvater trank in kleinen Schlucken, bis er Simons Arm beiseiteschob. »Jetzt sag endlich: Was ist passiert?«

Stumm steckte Simon die Wasserflasche in den Rucksack zurück.

So viel war geschehen. Wo sollte er beginnen?

Er dachte an die Nacht am Rand des Dorfes zurück, an die Stunden am Lagerfeuer, nachdem er tagelang suchend durch den Ort gestreift war. Auf einmal war alles wieder da: seine Sorgen, die Angst, die Einsamkeit.

Sogar der Geruch des Feuers stieg in seine Nase …

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1

Das Haus brannte. Die Flammen schlugen aus den Fenstern, sie leckten aus dem Dach und loderten aus dem Schornstein. Gerade sprangen die ersten Feuerzungen hinauf in die alten Olivenbäume, die ihre Äste über dem Anwesen ausgebreitet hatten. Als wären sie glühende Eichhörnchen, huschten die Flammen über das knorrige Holz und vermehrten sich, bis die Bäume wie riesige Fackeln brannten. Die Nacht war hell wie der Tag.

Erschrocken starrte Simon auf das Feuer. Die Hitze nahm immer mehr zu, je höher die Flammen tanzten. Er wich zurück und sah sich suchend um. Warum half ihm denn keiner? Der Brand musste kilometerweit zu sehen sein! Doch außer ihm war niemand hier, der Platz vor dem Haus war leer. Auch auf der Auffahrt und im Garten entdeckte er niemanden.

Da bemerkte Simon etwas Merkwürdiges: Gleich hinter dem schmiedeeisernen Tor auf der anderen Seite der Mauer, die das Grundstück des Großvaters umgab, war alles wie erstarrt, so als wäre die ganze Welt ringsherum in einem großen Block aus Eis eingefroren.

Was passierte hier?

»Hilfe!«

Simon fuhr herum: Er kannte die Stimme, es war die seines Vaters.

»Simon, ich bin hier!«

Jetzt entdeckte er ihn. Sein Vater lag in der Scheune, auf einer freien Fläche zwischen den Flammen, über sich das brennende Dach. Jeden Moment konnten die Dachbalken nachgeben und ihn unter sich begraben.

Simon lief zur Scheune, den Arm schützend vor das Gesicht gelegt. Die Hitze war unerträglich, doch er ging unbeirrt weiter. Erstaunt bemerkte er, dass die Flammen vor ihm zurückwichen. Doch ihm blieb keine Zeit, sich zu wundern: Im Dach krachte es, dann fiel ein brennender Balken herab. Funken stoben, Asche wirbelte auf. Sein Vater schrie, Simon stürzte zu ihm. Er war entsetzt, als er ihn sah. Zwar hatte der Balken seinen Vater verfehlt, doch seine Haut war verbrannt und seine Kleidung qualmte.

Ohne nachzudenken, packte Simon seinen Vater, wuchtete ihn hoch und trug ihn aus dem brennenden Haus. Gerade als sie die Wiese erreicht hatten, krachte es erneut, und das Dach der Scheune stürzte ein.

Erschöpft ließ sich Simon in das Gras fallen.

Sein Vater neben ihm regte sich, er schlug die Augen auf und sah ihn an. Er lächelte. Simon stutzte: Wie war das möglich? Die Brandwunden auf der Haut seines Vaters waren verschwunden und auch seine Kleidung trug keine Spuren des Feuers. »Papa …« Verblüfft sah Simon auf: Die Flammen waren erloschen, die Scheune, die eben noch gebrannt hatte, war unbeschädigt, so als hätte in ihr nie ein Feuer gewütet.

»Das hast du gut gemacht.« Behutsam strich ihm sein Vater eine Haarsträhne aus der Stirn. »Du bist jetzt so weit. Du bist ein Torwächter.«

»Nein!« Simon schüttelte abwehrend den Kopf. Er wollte kein Torwächter sein!

»Doch, Simon. Es ist unsere Aufgabe. Dein Großvater war ein Torwächter und auch ich war einer. Nun musst du die Tore zwischen den Welten bewachen.«

»Aber warum hast du mir nie etwas davon gesagt?«

Sein Vater antwortete nicht. Er lächelte traurig. Seine Haut wurde rissig und begann zu bröckeln. Erschrocken begriff Simon, dass sich der Körper seines Vater vor seinen Augen aufzulösen begann.

»Geh jetzt.« Sein Vater wies auf das Weltentor, das sich auf der Wiese geöffnet hatte, eine leuchtende, sanft pulsierende Fläche, die von einem Türrahmen eingefasst war. Simon beachtete es nicht. Er sah entsetzt, dass die Haut seines Vaters immer dünner wurde, genau wie die Kleidung, die mehr und mehr zerfiel. Ein Windstoß trieb den Staub fort, der von dem bröckelnden Körper herabrieselte. Sein Vater war inzwischen kaum noch zu sehen. »Geh, Simon! Finde deinen Großvater. Nur so kannst du uns alle retten!«

»Papa!« Simon war verzweifelt. »Papa, bleib hier!«

»Du wirst es schaffen, Simon! Vertrau dir.« Ein letzter Windstoß, dann war sein Vater verschwunden. Nur noch seine Stimme strich über das Gras, dessen Spitzen knisternd vereisten.

Simon wich zurück. Die Kälte, die in die Welt eingefallen war, hatte die Mauer überwunden und kam langsam näher. Hastig sah er um sich. Das Eis hatte ihn umzingelt, ihn und das Weltentor, dessen Leuchten schwächer wurde. Simon hörte ein Knarren, wie von einer Tür, deren Scharniere rostig waren. Das Weltentor fiel zu!

Simon rannte los, er stürzte auf das Tor zu, das Knirschen des Eises hinter sich. Er schloss die Augen und sprang. Im gleichen Moment hörte er, wie das Tor ins Schloss fiel. Das Leuchten erlosch, das Weltentor verschwand, nur der leere Türrahmen blieb zurück. Simon prallte hart auf den Boden des Gartens. Entsetzt schrie er auf.

Das Knistern wurde lauter. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch, wie das Eis auf ihn zukroch und ihn erfasste …

 

Mit einem Schrei fuhr Simon hoch. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er brauchte eine Weile, bis er sich zurechtfand. Das Eis, das ihn gerade noch hatte verschlingen wollen, war fort, ebenso der Garten, die Scheune und das Haus. Er hatte geträumt! Erleichtert ließ sich Simon zurück auf sein Lager sinken. Langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder.

Ein sanfter Tritt traf seine Seite. Ashakida lag neben ihm, auch die Leopardin träumte unruhig, sie bewegte ihre Läufe im Schlaf. Simon rückte zu ihr und strich behutsam über ihr helles, geflecktes Fell. Sie fauchte, ohne zu erwachen, doch sie entspannte sich unter seiner Hand. Ruhig schlief sie weiter. Simon betrachtete sie nachdenklich, dann schob er die Folie zurück, mit der er sich zugedeckt hatte, und stand auf, um ein Stück Holz in das nur noch glimmende Lagerfeuer zu legen. Das trockene Holz knackte und begann zu qualmen, bis nach einer Weile eine Flamme am Rand des Scheits aufzüngelte. Bald brannte das Feuer wieder hell, das Licht erleuchtete die Ruine, in der sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten.

Doch Simon zögerte, sich wieder hinzulegen. Er hatte Angst davor, einzuschlafen. Noch einmal wollte er nicht vom brennenden Haus des Großvaters träumen, und auch nicht von seinem Vater, sosehr er ihn auch vermisste. Der Anblick, wie er sich aufgelöst hatte, war furchtbar gewesen.

Ein Windstoß trieb durch die Ruinen und ein herber Duft mischte sich in den Qualm des Feuers. Es roch nach Meer, es war ein vertrauter Geruch, der ihn an das Dorf seines Großvaters erinnerte. Kurz entschlossen warf Simon den Ast fort, mit dem er das Feuer geschürt hatte, und ging hinunter zum Strand. Die Küste war nicht weit, er hörte das leise Rauschen der Wellen, die an das Ufer rollten.

Die Gasse schlängelte sich den Hügel hinab. Der Weg war steil, Simon kannte ihn gut, er war ihn in seiner Welt oft gegangen. Für einen Augenblick stellte er sich die Gassen seines Dorfes vor: die Hitze zwischen den ockerfarbenen Mauern, die Menschen, die entspannt vor ihren Häusern standen und redeten, die Oleanderbüsche, die in den Gärten blühten. Kurz kam es ihm vor, als würde er den Duft aus der Bäckerei unten am Hafen riechen. Doch in dieser Welt gab es keinen Oleander und auch keine duftende Bäckerei und schon gar keine entspannt plaudernden Menschen. Die Straßen des Dorfes waren verlassen, statt ockerfarbener Häuser standen hier Ruinen mit rußgeschwärzten Fassaden und eingestürzten Dächern. Die Mauerreste zeichneten scharfe Linien in den Nachthimmel.

Noch nie hatte Simon sich so alleine gefühlt wie jetzt, seit er in dieser Welt angekommen war. Sicher, Ashakida begleitete ihn, die Schneeleopardin stand ihm treu zur Seite. Doch sie konnte nicht die Menschen ersetzen, die er in seiner Welt zurücklassen musste. Was hätte er gegeben, mit seiner Mutter über alles reden zu können! Wie gerne hätte er seinem Vater all die Fragen gestellt, die ihm auf der Seele brannten. Selbst seinen Bruder Tim vermisste er, obwohl sie sich doch so häufig gestritten hatten.

Und ihm fehlten seine Freunde: Tomas, Filippo, Luc und natürlich Ira, das Mädchen aus dem Dorf und der erstaunlichste Mensch, den Simon je kennengelernt hatte. Es zog ihm das Herz zusammen, wenn er daran dachte, wie sie am Weltentor getrennt worden waren.

Wütend kickte Simon einen Stein die Gasse hinab: Bis vor einer Woche hatte er nicht gewusst, dass es diese Weltentore gab, geschweige denn, dass er zur Familie der Torwächter gehörte. Warum hatten seine Eltern nicht mit ihm geredet? Alles wäre anders gekommen! Jetzt war sein Zuhause zerstört, nur er hatte sich gemeinsam mit Ashakida durch ein Weltentor hierher retten können.

Hatte sich seine Familie vor Drhan in Sicherheit bringen können? Lebten seine Freunde noch? Simon wusste es nicht. Verzweiflung mischte sich in seine Wut.

Simon musste an die Legende denken, die Ashakida ihm erzählt hatte: wie Drhan einst der Göttin Aphyr den Krieg erklärt hatte, ein Krieg, an dessen Ende die Zeit zersplitterte und sieben Parallelwelten entstanden waren. Seither gab es sieben Welten, die sich glichen und doch verschieden waren, weil sie sich seit dem Tag der Trennung unterschiedlich weiterentwickelten. Simon hatte der Geschichte nicht glauben wollen. Jetzt wusste er es besser. »Avaritia« hieß die Parallelwelt, in der sie gelandet waren, nachdem sie das Weltentor durchschritten hatten. Die Küste, das Dorf, die Menschen, die hier lebten, alles war fast so wie in seiner Welt, in der er zu Hause war. Und zugleich war alles anders. Denn in dieser Welt herrschte Drhan, und seine dunkle Macht hatte die Menschen von Avaritia ins Elend gestürzt.

Der Strand unterhalb der Uferstraße war menschenleer. Simon blickte über das Wasser. Dort drüben, am anderen Ende der Bucht, lag die Stadt, von der aus Drhan seine Truppen befehligte. Umgeben von Fabriken mit qualmenden Schloten, ragten Hochhäuser in den Nachthimmel, düstere Wolkenkratzer, deren Spitzen tagsüber in einer Dunstglocke verschwanden. Eine Mauer begrenzte den stinkenden Moloch. Über allem thronte der Tower, ein riesiger Turm, größer als jedes Gebäude, das Simon bisher gesehen hatte. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Noch immer zog ihn der Tower magisch an, obwohl er wusste, dass dort die Soldaten auf ihn lauerten, er hatte es erlebt.

Ob sein Großvater dort war? Auch er hatte nach Avaritia fliehen müssen, genau wie Simon. Doch hier im Ruinendorf war er nicht, Simon hatte ihn in den vergangenen Tagen überall gesucht. Er musste ihn finden, egal, wo er war! Denn sein Opa war der Schlüssel zu allem. Simon hoffte, dass er mit dem Wissen des Großvaters wiedergutmachen konnte, was geschehen war. Nur dann konnte er seine Familie und seine Freunde retten. Nur dann konnte er wieder nach Hause.

Er hatte Angst vor dem, was vor ihm lag.

Der Kies oberhalb des Strandes knirschte, Ashakida huschte heran. Simon freute sich, sie zu sehen, auch wenn er fürchtete, dass die Leopardin ärgerlich sein würde, weil er nachts alleine an den Strand gegangen war.

Und tatsächlich, Ashakida sah angespannt aus.

Simon wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als sie ihn mit einem leisen Fauchen unterbrach. Sie sah hinauf zum Dorf, Simon folgte ihrem Blick.

Vier Gestalten schlichen durch die Dunkelheit.

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2

Simon folgte der Leopardin, so leise er konnte, hinauf zum Dorf. Ashakida war ein Stück vorgelaufen, sie wartete auf ihn am Rand des Kiesstreifens, der den Strand von der Uferstraße trennte. Mit ihren leuchtenden Augen deutete sie auf eine Stelle, an der er lautlos den Kies überqueren konnte. Dann schlichen sie gemeinsam in das Gewirr aus Treppen und Gassen, das die Häuserruinen durchzog.

Die vier Gestalten waren im Licht des Mondes gut zu erkennen, sie gingen vor ihnen die Straße hinauf und näherten sich ihrem Nachtlager. Simon konnte das Flackern des Feuers sehen, an dem er und die Leopardin noch vor einer Stunde fest geschlafen hatten. Ashakida neben ihm knurrte leise, ihre Nackenhaare hatten sich aufgestellt. Plötzlich schnupperte sie. Der Wind vom Meer war abgeflaut, seit sie im Windschatten der Häuser gingen, und jetzt nahm Ashakida Witterung auf. Was sie roch, schien sie zu amüsieren. »Komm.« Mit langen Sprüngen lief sie auf die Gestalten zu. Simon folgte ihr.

Die vier fuhren herum, als die Leopardin heransprintete. Simon erkannte nun ebenfalls, wer vor ihnen durch das nächtliche Dorf schlich, und nun war auch er erleichtert: Es waren Ira, Luc, Tomas und Filippo. Die vier trugen nicht nur dieselben Namen wie seine Freunde zu Hause, sondern sie sahen auch genauso aus wie sie. Noch immer verblüffte es Simon, sie hier zu sehen.

Ashakida sprang zwischen die vier Jugendlichen und fauchte freundlich zur Begrüßung. Die drei Jungen wichen unsicher zurück, doch Ira freute sich beim Anblick der Leopardin. Sie streckte sogar ihre Hand aus, um über das Fell der Raubkatze zu streichen. Ashakida ließ es zu.

Simon kam hinzu, ein wenig außer Atem, er hatte vergeblich versucht, mit der Leopardin mitzuhalten. Mit ernstem Blick sahen die vier ihn an.

»Was ist passiert? Warum seid ihr hier?«

Ira antwortete für sie. »Wir suchen dich!«

Simon betrachtete sie nachdenklich. Obwohl er Ira und die anderen erst vor ein paar Tagen kennengelernt hatte, war sie ihm auf eine eigenartige Weise vertraut. Immer wieder musste er sich sagen, dass sie nicht seine Freundin war, seine Ira, die das Weltentor nicht durchgelassen hatte. Denn sie glich der Ira in seiner Welt bis ins Detail. Selbst die winzigen Lachfalten waren dieselben.

»Was starrst du mich so an?« Das Mädchen runzelte die Stirn. »Ist was?«

»Nein, nichts«, log Simon und lenkte eilig ab: »Und warum sucht ihr mich?«

»Weil alle auf den Beinen sind.« Filippo grinste ihn an und seine Stupsnase kräuselte sich. »Großes Powwow in der Markthalle.«

Simon verstand kein Wort.

»Unsere Eltern treffen sich am Versammlungsort«, sagte Tomas.

»Nicht nur unsere Eltern«, ergänzte der kleine Luc und hob den Finger, offenbar nahm er die Dinge sehr genau. »Alle Erwachsenen aus dem Dorf treffen sich.«

Filippo lachte frech. »Alle außer Iras Oma. Die sitzt in ihrem Zimmer und kichert.« Er kassierte von Ira einen Nasenstüber für seinen Kommentar, was Filippos Fröhlichkeit nicht minderte.

Simon hatte ihnen erstaunt zugehört. »Aber was hat das alles mit mir zu tun?«

»Kannst du dir das nicht denken?« Filippo sah ihn mit großen Augen an. »Die treffen sich wegen dir!«

»Wegen mir?«

Ira nickte. »Außer uns lebt niemand an der Küste, sagen sie, nur unser Dorf ist bewohnt. Ist doch klar, dass die Erwachsenen nervös werden, wenn ein Fremder auftaucht.«

Ashakida hatte still zugehört. Jetzt legte sie ihren Kopf schief und fauchte leise, ihre leuchtenden Augen auf Simon gerichtet. Sie wirkte nachdenklich. »Wir sollten wissen, was sie besprechen.« Sie sah zu Ira. »Danke, dass ihr uns gewarnt habt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte sie davon. Sekunden später war ihr Körper mit der Dunkelheit verschmolzen.

»Und jetzt?« Simon schaute die anderen fragend an.

Luc blickte unruhig zum Mond, der ein Stück weitergezogen war. »Ich muss nach Hause. Ich kriege riesigen Ärger, wenn meine Eltern mitbekommen, dass ich mich nachts heimlich weggeschlichen habe.«

Filippo zuckte mit den Schultern. »Meine Tante bemerkt nie was. Und mein Vater …« Er verstummte.

Einen Moment lang sagte keiner etwas.

Simon beobachtete unauffällig Ira, er konnte nicht anders, so fasziniert war er von der Ähnlichkeit zwischen ihr und der Ira in seiner Welt: Ihr Blick, ihr Lachen, der Klang ihrer Stimme, alles war ihm vertraut. Er wusste sogar, wie sie sich durch die Haare fuhr und die Augen niederschlug, wenn sie verlegen war.

Tomas bemerkte seinen Blick und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Er drehte sich zu den anderen um. »Ich glaube, es ist besser, wenn er hier verschwindet.«

»Warum das denn?«, fragte Filippo.

»Warum sollten wir ihm trauen? Glaubst du, die Erwachsenen treffen sich ohne Grund?« Tomas sah Simon misstrauisch an. »Jetzt sag schon: Woher kommst du wirklich?«

»Aber das hab ich euch doch erzählt.« Simon ärgerte sich, dass Tomas an seinen Worten zweifelte. »Ich bin durch ein Weltentor hierher geflohen.«

Tomas schnaubte spöttisch durch seine Nasenlöcher.

Filippo grinste breit. »Jetzt mal ehrlich: Das ist doch ein Scherz, oder? Das mit diesem Weltentor hast du dir doch ausgedacht.«

»Nein! Das ist die Wahrheit!«

Filippo riss die Augen auf. »Du meinst wirklich, es gibt sieben Welten, die alle so ähnlich sind wie unsere? Das heißt ja, dass es mich sieben Mal gibt! Wow!« Er lachte ungläubig, der Gedanke war für ihn unvorstellbar. »Erzähl mir von mir. Wie bin ich so?«

»In meiner Welt schlägt dich dein Vater. Tut er das hier auch?« Simon hatte spontan gesagt, was ihm als Erstes in den Kopf gekommen war.

Filippo starrte ihn mit offenem Mund an, sein Lachen war wie weggewischt. »Woher weißt du das?«

Simon erzählte, wie der Filippo in seiner Welt in dem Versteck unter dem Dach des Abbruchhauses lebte, um seinem Vater nicht begegnen zu müssen.

Filippo hörte ihm mit großen Augen zu. Dann seufzte er. »Das würde ich mich niemals trauen …« Er verstummte.

Tomas betrachtete Simon herausfordernd. »Und dich, gibt es dich auch sieben Mal? Ist doch komisch. Dann müssten wir dich doch eigentlich kennen, weil dein Doppelgänger hier im Dorf lebt.«

Simon wusste nicht, was er antworten sollte. Die gleiche Frage hatte er sich auch schon gestellt. Doch niemand hier schien ihn zu kennen, und er hatte in dieser Welt auch keine Spur von seiner Familie gefunden.

Luc zog nervös an Tomas’ Ärmel. »Ich muss los! Komm, lass uns gehen.«

Tomas zögerte. Er sah zu Ira, die keine Anstalten machte, mit ihnen zu kommen. »Geht vor«, sagte sie, »ich komme nach. Meiner Oma ist es egal, was ich tue.«

»Jetzt mach schon, Tomas«, bettelte Luc. »Komm!« Und er zog ihn mit sich. Tomas folgte ihm widerstrebend. Filippo schloss sich den beiden an, nicht ohne Simon vorher das Versprechen abzunehmen, ihnen am nächsten Tag mehr von seiner Welt zu erzählen. Bald waren die drei in der Dunkelheit verschwunden, Simon und Ira waren allein.

Sie setzten sich an das Lagerfeuer. Das Holz knackte leise, ein paar Funken stoben auf. Keiner der beiden sagte etwas. Schließlich brach Ira ihr Schweigen. »Ganz schön verrückt, deine Geschichte …«

Simon zuckte mit den Schultern. Sie hatte ja recht, er konnte es selbst kaum fassen.

Er traute sich nicht, sie zu fragen, ob sie ihm glaubte.

»Und jetzt? Was hast du vor?« Sie betrachtete ihn forschend.

»Das weißt du doch. Ich suche meinen Großvater. Er muss hier irgendwo sein.« Simon, der ihre Zweifel spürte, erinnerte sich an das Skizzenbuch, das er aus dem Atelier unter dem Dach mitgenommen hatte. Er holte es aus seinem Rucksack und gab es ihr. »Das gehört ihm. Er hat es für mich zurückgelassen, bevor er verschwunden ist. Ich glaube, dass das Bilder von den verschiedenen Welten sind.«

Ira schlug das Buch auf. Eine der ersten Skizzen war ein Selbstporträt seines Großvaters, er durchschritt gerade ein Weltentor. Nachdenklich betrachtete Simon die Zeichnung. Sein Großvater hatte sich freundlich dargestellt, mit einem verschmitzten Lächeln unter den weiß gelockten Haaren. Genau so hatte Simon ihn in Erinnerung. Er musste an den vergangenen Sommer denken, als er die Sommerferien mit ihm verbracht hatte. Sein Großvater hatte ihm viele Dinge beigebracht, die ihm jetzt nützten, sogar Spuren konnte Simon nun lesen. Damals hatte er nicht geahnt, dass ihn sein Opa auf seine Zeit als Torwächter vorbereitete. Es war einfach nur ein toller Sommer gewesen.

Ira hatte die Seiten des Skizzenbuches weitergeblättert, jetzt stutzte sie bei einer Zeichnung. »Das ist unsere Stadt!« Sie wies auf eine mit groben Strichen auf das Papier geworfene Skizze. Das Bild zeigte Drhans Reich auf der anderen Seite der Bucht, deutlich war die matt glänzende Mauer zu erkennen, die das Stadtzentrum umgab. Auch der Tower erhob sich aus dem Moloch von Schloten und Hochhäusern, so hoch und so mächtig, wie Simon ihn vorhin gesehen hatte.

»Glaubst du mir jetzt?«

Plötzlich hörten sie hinter sich Schritte, Steine knirschten unter schweren Stiefeln. Erschrocken fuhren sie herum. Ein Mann stand vor ihnen, sehr groß und breitschultrig, er trug schwarze Kleidung, die ihn mit der Nacht verschwimmen ließen. Feindselig starrte der Hüne Simon an. »Los! Mitkommen.«

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3

Simon wich zurück, als der Mann auf ihn zukam. Ira neben ihm war wie erstarrt. Sie hielt das Skizzenbuch fest mit ihren Händen umklammert. Simon unterdrückte den Wunsch zu fliehen, er schubste Ira zur Seite, um sie aus ihrer Versteinerung zu lösen. »Lauf!«, schrie er, bevor er aufsprang und direkt auf den Riesen zustürzte, um Ira die Flucht zu erleichtern.

Der Hüne war verblüfft von dem Angriff. Er versuchte, Simon festzuhalten, doch der schlug in letzter Sekunde einen Haken und tauchte unter den Armen des Mannes hindurch. So schnell er konnte, rannte Simon davon. Der Hüne wirbelte herum und setzte ihm nach, Simon hörte seine Schritte hinter sich, sie kamen rasch näher. Gerade als er den Rand des Platzes erreicht hatte, packte ihn sein Verfolger und warf ihn zu Boden. Dreck wirbelte auf und drang in Simons Mund, er hustete, doch der Mann, der nun auf ihm kniete, ließ nicht locker. Ohne Rücksicht riss er Simons Arme nach hinten und fesselte sie mit einem Paar Handschellen. Erst dann zog er ihn hoch.

Simon hustete und spuckte Dreck direkt vor die Füße des Mannes. Dabei sah er sich unauffällig um. Ira war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.

Der Hüne betrachtete ihn verächtlich. Dann, ohne ein Wort zu sagen, packte er Simons Arm und zerrte ihn mit sich. Simon schrie auf, der Griff war fest wie ein Schraubstock. Sie gingen zurück zum Lagerfeuer, der Mann schnappte sich Simons Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und löschte mit ein paar Tritten die Flammen. Dann, ohne Simons Protest zu beachten, zog er ihn mit sich in die Gassen des Dorfes hinein. Glasscherben knirschten unter ihren Füßen.

Simon warf seinem Begleiter einen unauffälligen Blick zu. Er kannte den Mann, er war einer der Dorfbewohner. Auf der Suche nach seinem Großvater hatte er ihn häufiger unten am Hafen gesehen, zusammen mit einem sehr alten weißhaarigen Mann.

»Warum tust du das?« Simon hustete kurz und spuckte ein paar Sandkörner aus. »Wohin gehen wir?«

Der Hüne schwieg.

Simon versuchte es noch einmal, doch der Mann beantwortete keine seiner Fragen.

Nach einer Weile bogen sie in eine schmale Straße ein, sie schlängelte sich zwischen den Ruinen den Hang hinab und endete an einer Treppe. Simon kannte die Abkürzung, sie führte direkt hinunter zum Hafen. Schweigend stiegen sie die Stufen hinab. Die Häuser, an denen sie vorbeikamen, wirkten verlassen, auch aus den Kellergewölben, in denen die Menschen lebten, drang kein Lichtschein. Außer ihnen schien niemand wach zu sein. Doch da hörte Simon das Stimmengemurmel, das der Wind zu ihnen herübertrug. Es waren die Dorfbewohner, die sich in der alten Markthalle am Rand des Hafenkais versammelt hatten. Sie erwarteten ihn dort.

Als Simon an der Seite des Hünen das verfallene Gebäude betrat, wurde das Stimmengemurmel leiser, es verwandelte sich in ein Wispern, ein Raunen, bis es schließlich ganz erstarb. Ein kleines Mädchen kicherte. Dann war nur noch der Wind zu hören, der vom Meer herüberkam und der durch die zerbrochenen Fenster in das Innere der Halle wehte. Einige Nächte zuvor hatte Simon genau hier mit Ashakida sein Lager aufgeschlagen. Es war dunkel und kalt gewesen, und sie hatten sich nicht getraut, ein Feuer anzuzünden. Diesmal erhellten Fackeln die Halle und zwischen den herabgestürzten Dachbalken standen Männer und Frauen mit ausgezehrten Gesichtern und betrachteten ihn neugierig. Das Flackern der Flammen ließ die Schatten in den Ecken tanzen.

Der Hüne bahnte ihnen einen Weg durch die Menge, bis sie die Mitte der Halle erreicht hatten. Eine schwarzhaarige Frau und der alte Mann mit den schneeweißen Haaren, den Simon schon häufiger gesehen hatte, erwarteten sie dort. Sie musterten Simon aufmerksam. Der Hüne löste seine Handfessel und stieß ihn auf eine von Trümmern befreite Fläche. Niemand sagte ein Wort.

Die Frau, sie war schmal und hochgewachsen, trat vor. Sie schien noch nicht alt zu sein, ihr Gesicht war ohne Falten, doch ihre schwarzen Haare waren von weißen Strähnen durchsetzt. Sie trug zerschlissene, aber sorgfältig geflickte Kleidung, eine goldfarbene Brosche hielt einen grob gewebten Umhang, mit dem sie sich vor der Nachtkälte schützte. Sie war die Anführerin der Dorfbewohner. Neben ihr stand der weißhaarige alte Mann.

»Wie heißt du?« Die Frau musterte Simon aufmerksam.

Er räusperte sich und sagte seinen Namen.

»Und woher kommst du?«

Wie sollte er ihnen das erklären? Sie würden ihm niemals glauben, dass er aus einer Parallelwelt stammte, die dieser glich, nur dass die Häuser unzerstört waren. Simon fiel die Feuerwand ein, die sein Dorf umgeben hatte, als er vor Drhan durch das Weltentor hierher geflohen war. Vermutlich sah seine Welt inzwischen genauso zerstört aus wie die, in der er sich jetzt befand.

»Also?« Die Anführerin sah ihn ungeduldig an.

Simon räusperte sich noch einmal. »Ich komme …«, begann er zögernd, »aus einem Dorf ein Stück weiter die Küste hinauf. Ich bin auf der Suche nach meinem Großvater.« Zumindest das Letzte war nicht gelogen.

»Was für ein Dorf?«

»Ich weiß nicht, wie es heißt.«

Das Misstrauen in den Gesichtern der Dorfbewohner blieb. Simon merkte selbst, wie unglaubwürdig er sich anhörte.

Der Alte mit den schneeweißen Haaren mischte sich ein. »Die Dörfer entlang der Küste sind alle verlassen. Wir sind die Einzigen, die hier draußen noch leben.« Argwöhnisch kam er näher. »Wer hat dich geschickt? Kommst du aus der Stadt?«

Simon beschloss, es mit der Wahrheit zu versuchen. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin auf der Flucht vor Drhan.«

Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge.

»Er hat«, fuhr Simon fort, »das Dorf meiner Familie zerstört. Nur ich konnte fliehen. Und jetzt ist er hinter mir her.«

Der Weißhaarige warf einen Blick zurück zur Anführerin, bevor er Simon weiter fragte: »Warum sollte Drhan dich verfolgen? Du bist nur ein Junge.«

»Ich habe mich gegen ihn gestellt und ihn aufgehalten, als er mein Dorf bedroht hat.«

»Du?« Die Stimme des Alten überschlug sich. Dann lachte er, während seine Augen misstrauisch funkelten. »Niemand stellt sich gegen Drhan und hält ihn auf. Zumindest hat keiner, der es je versucht hat, das überlebt.«

Simon holte tief Luft. Dann erzählte er die ganze Geschichte, begonnen bei ihrem Umzug in das Dorf seines Vaters bis hin zu seiner Flucht durch das Weltentor. Die Menge wurde unruhig.

Als er mit seinem Bericht fertig war, verstummte das Wispern, niemand sagte ein Wort. Nur das Flüstern des Windes, der über die Mauerreste der Markthalle strich, füllte die Stille.

»So ein Blödsinn!« Der Alte mit den schneeweißen Haaren spuckte aus. »Familie der Torwächter, sieben Welten, zersplitterte Zeit – das sind doch alles Märchen!« Er blickte Simon herausfordernd an. »Wo ist denn dieses Weltentor? Zeig es uns! Dann glaub ich dir.« Er lachte keckernd, während er Simon lauernd beobachtete.

Hilflos hob Simon seine Schultern. »Es ist verschlossen. Von dieser Seite aus kann ich das Tor nicht öffnen.«

»So ein Pech aber auch …« Der Alte lachte hämisch. »Jetzt kannst du uns deine schöne Geschichte leider nicht beweisen.«

»Aber sie ist wahr!« Simon war ärgerlich, dass der Alte ihn verspottete.

»Und wie willst du das geschafft haben, alleine?«

Simon zögerte. Von Ashakida hatte er nichts erzählt – er hatte das Gefühl, sie würden ihn endgültig für verrückt erklären, wenn er behauptete, dass eine sprechende Leopardin ihn begleitete.

Sein Schweigen war den Dorfbewohnern Antwort genug.

Der Weißhaarige zog die Anführerin zur Seite. Die beiden flüsterten leise, sie schienen zu streiten. Der Alte setzte sich durch. Zufrieden wandte er sich Simon zu. »Tut mir leid, aber wir glauben dir nicht. Du bleibst bei uns, bis wir wissen, was du hier willst.« Er gab dem Mann, der Simon hergeführt hatte, ein Zeichen. »Bring ihn ins Amt.«

Ohne die Miene zu verziehen, trat der Hüne zu Simon, packte ihn und zerrte ihn mit sich.

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4

Der Wind hatte zugenommen, als sie die Markthalle verließen. Sand trieb durch die Luft. Am Himmel waren Wolken aufgezogen, schwarze, an den Rändern gezackte Fetzen, die sich immer wieder vor den Mond schoben. Der Wechsel aus Licht und Schatten ließ die Überreste des Dorfes noch düsterer erscheinen.

Hilflos stolperte Simon die Straße hinauf. Die Hand des Hünen umklammerte ihn fest. Simon hatte das Gefühl, sein Begleiter war seit dem Urteil des Alten noch gröber geworden.

»Wohin bringst du mich?«

Der Hüne antwortete nicht.

Simon fragte nicht weiter, er hatte eine Ahnung, welches das Ziel ihrer nächtlichen Wanderung sein würde. Und tatsächlich, bald öffnete sich vor ihnen der Marktplatz des Ortes. Die Piazza oberhalb des Hafens war das Dorfzentrum, mit der Kirche, der Kneipe, ein paar Geschäften und dem Gemeindeamt. Zumindest war das so in seinem Dorf gewesen.

Doch auch wenn er den Marktplatz erkannte, die Gebäude ringsherum erkannte er nicht. In dieser Welt waren die Häuser am Rand der Piazza verfallen. Nur der Turm der Kirche ragte düster in den Himmel, rußgeschwärzt und ohne Dach. Eine von der Hitze des Feuers verformte Glocke lag unterhalb des Turmes in den Trümmern.

Simon sah sich um. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, entdeckte aber niemanden. Der Marktplatz schien verlassen zu sein, genau wie die Straßen, durch die sie hergekommen waren.

Wortlos zerrte der Hüne Simon die Treppe hinauf, die einst zum Eingang des Gemeindeamtes geführt hatte und die nun auf halber Strecke in den Trümmern endete. Dann ließ er Simons Arm los. »Bücken.« Es war das erste Wort seines Begleiters, seit sie von der Markthalle aufgebrochen waren.

Simon beugte seinen Rücken und kletterte durch das Loch, das in die Außenmauer der Ruine gebrochen worden war. Der Hüne folgte ihm.

Es dauerte etwas, bis sich Simons Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nach einer Weile erkannte er Umrisse. Sie befanden sich in einem fensterlosen Raum, in dem ein paar alte Büromöbel standen, ein zerschlissener Cocktailsessel, ein nierenförmiger Tisch. Sterne funkelten durch die brüchige Decke zu ihnen herab.

Der Hüne hatte eine Fackel aus seiner Tasche geholt, die er nun anzündete. Im flackernden Schein der Flamme sah Simon eine Treppe, die hinab in die Tiefe führte.

Der Hüne stieß ihn zu der Öffnung. »Dort hinunter.«

Simon schluckte. Dort unten war kein Licht, die Stufen verschwanden in der Dunkelheit. Muffiger Geruch drang aus der Öffnung. Um nichts in der Welt wollte er dort hinuntergehen! Doch es gab keine Möglichkeit zu fliehen: Der Hüne versperrte mit seinem Körper den einzigen Ausgang, und die Decke des Raumes, in der einige größere Löcher klafften, war zu hoch, als dass er hätte hinaufklettern können.

»Worauf wartest du? Los!«

Simon spürte die Hand des Hünen in seinem Rücken, unerbittlich schob sie ihn auf die Öffnung zu. Er wehrte sich, doch es war sinnlos. Seine Füße ertasteten die erste Stufe, dann die zweite, er musste weitergehen, wenn er nicht stürzen wollte. Schritt für Schritt stiegen sie hinab in die Tiefe. Der Hüne blieb dicht hinter ihm, das Feuer seiner Fackel drängte die Dunkelheit in den Kellerraum zurück.

Der Boden des Kellers bestand aus hart getretener Erde, eine Wolke aus feinem Staub wirbelte auf, als sie ihn betraten. Simon sah sich um, soweit es der Feuerschein zuließ: Der Raum im Fundament des Gebäudes schien unzerstört, er war schmal und lang mit einer gewölbten Decke und Mauern aus grob gefügten Feldsteinen. Eine Ratte huschte davon, als das Licht auf sie fiel.

»Können wir nicht wieder hochgehen?« Bittend sah Simon seinen Begleiter an. »Ich lauf auch nicht weg, versprochen!«

Der Hüne lachte nur, dann traf Simon erneut ein Stoß in den Rücken und trieb ihn in die Tiefe des Kellers. Bald sah Simon ein Gitter in der Dunkelheit aufblinken, es trennte den Raum in zwei Hälften. Eine Tür war in die Stäbe eingelassen, sie stand offen, ein Schlüssel steckte im Schloss.

»Dort hinein.«

Simon rechnete damit, dass der Hüne ihn erneut voranstoßen würde, doch sein Begleiter wartete, bis er von selbst durch die Öffnung getreten war. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Der Hüne zog den Schlüssel ab und ging zurück zur Treppe. Simon war entsetzt. »Du kannst mich doch nicht im Dunkeln zurücklassen!«

Wortlos ging der Hüne weiter.

»Lass mir wenigstens die Fackel da!«

Der Hüne reagierte nicht auf Simons Worte. Ohne zurückzuschauen, stieg er die Treppe hinauf und nahm das Licht mit sich. Die Dunkelheit legte sich wie ein schwerer Vorhang über den Raum.

Simons Sinne waren bis zum Äußersten gespannt. Er stand in der Finsternis und horchte. Die Schritte des Hünen waren verklungen, offenbar hatte er den Raum oberhalb des Kellers verlassen. Vermutlich war sein Begleiter auf dem Weg zurück zur Versammlung der Dorfbewohner, die dort gerade berieten, was sie mit dem fremden Jungen tun sollten.

Doch still war es nicht. Von überall her waren Geräusche zu hören: hier ein Schaben, dort ein Trippeln, so als ob das Dunkel gefüllt wäre mit vielen Tieren, die vorsichtig näher kamen. Simon wollte sich lieber nicht vorstellen, wer oder was dort alles lauerte. Allein der Gedanke an die Ratte, die er gesehen hatte, genügte ihm. »Haut ab!«, brüllte er und trampelte mit den Füßen auf, so fest er konnte. Mit hastigen Trippelschritten huschten die Wesen davon. Staub wirbelte auf, Simon spürte es, als er Luft holte. Hustend trat er zur Seite, bis er gegen das Gitter stieß und sich dort festhielt.

Er horchte. Nun war es still, absolut still.

Simon lehnte den Rücken an das Gitter und ließ sich langsam auf den Boden hinabgleiten, bis seine Hände die festgestampfte Erde ertasteten. Er setzte sich. Verzweifelt legte er das Gesicht in seine Hände. Er sollte der Torwächter sein? Der Nachfolger seines Großvaters und seines Vaters? Simon musste lachen, obwohl ihm nicht danach zumute war. Er war nur ein Junge, gefangen in einem Keller, in einer Welt weit weg von der seinen. Sein Großvater war irgendwo in dieser Welt verschwunden. Und seine Familie war vielleicht schon tot. Und alles war seine Schuld! Simon dachte an seinen Vater, der ins Krankenhaus gebracht worden war, bevor das Eis kam, er dachte an seine Mutter und seinen Bruder, die im brennenden Dorf zurückgeblieben waren. Er spürte einen Kloß im Hals. Simon schluckte ihn herunter und zog die Nase hoch.

Plötzlich hörte er hinter sich ein Fauchen.

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