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Berlin wird von einem Terroranschlag erschüttert: Eine Explosion auf dem S-Bahnhof Savignyplatz zerfetzt sieben Menschen, darunter die Tochter eines prominenten Regierungsberaters. Kommissar Paul Selig wird mit den Ermittlungen beauftragt – zu seinem großen Erstaunen, denn eigentlich ist er alles andere als ein Erfolgsmensch: melancholisch, zögerlich, introvertiert. Daran ist seine Zwillingsschwester Lisa nicht ganz unschuldig, die von Kindesbeinen an kaum eine Gelegenheit ausgelassen hat, ihren Bruder zum Verlierer zu stempeln. Bei seinen Ermittlungen stößt Selig auf zahlreiche Ungereimtheiten. Sollte er den Fall etwa bekommen haben, weil man ihm die Aufklärung nicht zutraut? Aber wer könnte ein Interesse daran haben, die Wahrheit unter Verschluss zu halten? Zwillingsspiel von Markus Stromiedel: Spannung pur im eBook!
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Seitenzahl: 514
Markus Stromiedel
Zwillingsspiel
Kriminalroman
Knaur e-books
Er ließ sich fallen. Sein Körper durchstieß die schimmernde Oberfläche, dann griff das Wasser nach ihm und zog ihn hinab, kroch in seine Ohren, seine Nase, drängte sich zwischen seine Lippen, die er so fest aufeinanderpresste, wie er nur konnte. Diesmal würde er es schaffen! Sein Körper wurde leicht, er sank tiefer, ließ das Dröhnen des Aufpralls hinter sich. Dann spürte er den Grund unter seinen nackten Füßen. Paul öffnete die Augen.
Das trübe Wasser des Sees dämpfte das einfallende Licht. Leise, wie aus weiter Ferne, hörte er die Stimmen der anderen Kinder oben auf dem Steg. Sie zählten die Sekunden, wusste er. Luftblasen perlten an seinem Körper entlang, suchten ihren Weg hinauf an die Oberfläche. Wo war sie? Paul sah sich suchend um. Dichter Algenschleier durchzog das Wasser wie schwerer Nebel. Dort, eine Bewegung! Das musste sie sein! Paul ballte die Fäuste, sein Körper spannte sich an: Diesmal, war er sich sicher, würde er gewinnen.
Sie hatte ihn spöttisch angegrinst wie schon so oft, davon überzeugt, er würde ihre Herausforderung nicht annehmen. Doch heute war etwas anders: Er wusste, er hatte eine Chance, Lisa zu schlagen und ihre ständigen Demütigungen endlich zurückzuweisen. Seit er denken konnte, war Lisa besser gewesen als er, schneller, geschickter, klüger, der Liebling der Erwachsenen, die fasziniert waren von ihr und ihrer unfassbaren Energie. Alle mochten sie, alle bis auf den Vater, der kaum mit seinen Zwillingen sprach, auch wenn er sich mühte, ihnen ein guter Vater zu sein, wie Tante Marga immer behauptete. Paul wusste es besser: Ihr Vater war weit weg, unerreichbar für zwei elfjährige Kinder, er funktionierte, aber er lebte nicht mehr. Lisa schien mehr als Paul darunter zu leiden, und sie ließ ihren Schmerz an ihm aus, dem Zweitgeborenen, demjenigen, der in ihren Augen schuld daran war, dass ihre Mutter im Kreißsaal gestorben war.
Paul schob einen Algenklumpen zur Seite und starrte angestrengt in das dämmerige Grün. Wo war sie? War sie schon aufgetaucht? Sein Herz schlug schneller, das Blut in seinem Kopf begann zu pochen, sein Brustkorb spannte sich in dem Verlangen, sich zu öffnen und Atemluft in die Lunge fließen zu lassen. Jetzt bloß nicht aufgeben! Das pulsierende Dröhnen seines Herzschlages füllte seinen Kopf, stieß vor in seinen Magen, breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Mit aller Kraft presste Paul die geballten Fäuste auf seine Brust, er öffnete den Mund, ohne zu atmen, das Wasser schoss in seinen Rachen, bereit, seine Lunge zu füllen. Nur noch dieser Moment, nur noch diese Sekunde … Sein Körper krümmte sich, die Welt trat zurück, er war nur noch Herzschlag, nur noch Verlangen. Dann wurde sein Wunsch größer, zu atmen denn zu siegen.
Mit letzter Kraft stieß er sich vom Grund ab, er schoss nach oben, sein Kopf durchteilte die Wasseroberfläche. Paul riss den Mund auf, quälte die Luft in sich hinein, ein furchtbares Stöhnen, das die Kinder auf dem Steg entsetzt verstummen ließ. Um Atem ringend, blickte Paul in die erschrockenen Gesichter. Er hatte es geschafft!
Doch dann begann eines der Mädchen zu kichern: erst leise, dann immer lauter, das Kichern breitete sich aus, wurde zu einem spöttischen Lachen, das nach und nach alle Kinder erfasste und herabschwappte zu Paul, der sich so entsetzt wie verblüfft umschaute: Lisa war nirgendwo zu sehen. Sein Körper erschlaffte, Enttäuschung breitete sich in ihm aus. Er schwamm zum Steg, zog sich mit Mühe die Leiter hinauf, ließ sich auf das nasse Holz fallen. Die Wasseroberfläche beruhigte sich, wurde still, lag bald wieder da wie ein schwarzer Spiegel.
Gespannt starrten die Kinder hinab in das dunkle Wasser. Lisa tauchte immer noch.
Paul merkte auf: Das konnte nicht sein. Niemand konnte das, auch nicht Lisa.
Er sprang auf, lief an den Rand des Holzsteges, legte sich bäuchlings auf die Planken und blickte in den Raum zwischen Wasseroberfläche und Steg. Nein, dort hatte sie sich nicht versteckt, auch nicht in dem flachen, von dünnem Schilf umstellten Uferwasser. Paul lief zurück zu den anderen, starrte wie sie hinab in das Wasser. Keiner sagte etwas. Jeder dachte das Gleiche.
Dann sprang er. Sein massiger Körper tauchte ein in das Wasser, das über ihm zuschnappte, wie um auch ihn zu verschlingen. Paul riss die Augen auf, ließ sich hinabsinken, begann zu schwimmen. Hektisch sah er sich um. Doch außer Algen und Dreck war nichts zu sehen. Paul tauchte, bis der Sauerstoff in seiner Lunge verbraucht war, dann schwamm er hinauf zur Oberfläche, holte Luft, tauchte erneut, suchte verzweifelt. Nichts. Die Angst begann seine Brust zu umklammern: die Angst, Lisa nicht zu finden, die Angst vor dem Vater, die Angst davor, ganz alleine zu sein, wenn er wieder auftauchte. In seine Augen schossen Tränen, doch das Wasser spülte sie fort, so wie es sein Schluchzen erstickte.
Dann sah er sie.
Lisa trieb mit geschlossenen Augen dicht über dem von einer wogenden Algenschicht bedeckten Seegrund. Pauls hektische Schwimmbewegungen hatten das Wasser in Bewegung gesetzt und ihren schmalen Körper auftreiben lassen. Mit der letzten Energie, die ihm der schwindende Sauerstoff in seiner Lunge gab, stieß er zu ihr hinab, griff nach ihrem schwerelos treibenden Arm und zerrte ihren blassen Körper mit sich hinauf zur Wasseroberfläche. Sekunden später hatte er das Ufer erreicht, Lisas leblosen Körper hinter sich herschleppend. Paul stolperte an Land, zog sie mit letzter Kraft die Böschung hinauf und ließ sich neben sie auf den Boden fallen, hustend, Wasser spuckend, um Atem ringend.
Lisa rührte sich nicht. Die Augen geschlossen, lag sie regungslos auf dem Schotter der Uferbefestigung, die der Vater hatte anlegen lassen. Ihr dunkles Haar betonte die Blässe ihrer feingezeichneten Lippen.
»Lisa!« Paul rüttelte ihren schmächtigen Körper. »Lisa, wach auf! Bitte!«
Er begann zu weinen, Tränen liefen über sein Gesicht. Er bemerkte nicht die Bewegung oben am Haus, es war sein Vater, er lief den Hügel hinunter zum See, alarmiert von den Nachbarskindern, die trotz des strengen Verbots in das Arbeitszimmer gestürmt waren. Momente später war der Vater da. Er riss Paul hoch, schlug ihn, stieß ihn zur Seite, dann beugte er sich über Lisa, prüfte ihre Atmung, ihren Puls, begann ohne zu Zögern mit der Wiederbelebung. Wimmernd hockte Paul am Boden, zerrissen zwischen seiner Angst, seinem Schmerz, seiner Hoffnung. Wieder und wieder legte der Vater seinen Mund über Lisas Nase, er füllte ihre Lunge mit Luft, massierte ihr Herz, um es zum Schlagen zu bringen. Dann, plötzlich, ging ein Zucken durch Lisas Körper, ihre Brust dehnte sich, und mit einem Husten kehrte das Leben in sie zurück. Erschöpft stand sein Vater auf, er blickte hinab auf seine Tochter, die, Wasser spuckend, am Boden lag und hustete. Dann ging er ins Haus zurück, um Marga zu holen.
Paul war zu Lisa gekrochen, er kniete neben ihr, hielt ihre Hand und weinte, nun vor Erleichterung.
Lisa öffnete hustend die Augen. Sie sah Paul, er begegnete ihrem Blick, wischte sich seine Tränen ab. Lisa hustete noch einmal, dann lächelte sie erschöpft und triumphierend: »Gewonnen.«
30 Jahre später, am 24. Juni,fünfzehn Tage nach dem ersten Anschlag
Als es das Gleisbett noch gab und der Schienenstrang noch nicht bizarr auseinandergerissen in die Höhe ragte, dauerte es genau zwölf Sekunden, bis die S-Bahn von Charlottenburg nach der Fahrt unter der letzten Signalbrücke hindurch den Bahnhof Savignyplatz erreichte. Zwölf Sekunden für sieben Leben. Der Westwind trug das Geräusch der sich nähernden S-Bahn herüber, dann tauchte der Triebwagen hinter der Häuserzeile auf, durchfuhr die sanft geschwungene Kurve, passierte die Signalbrücke und näherte sich dem Bahnhof. Die sieben Wartenden auf dem Bahnsteig schauten auf, der S-Bahn entgegen. Keiner von ihnen ahnte, was sie alle in diesem Moment verband: die Gewissheit, in elf, zehn, neun Sekunden zu sterben.
Acht. Ganz links der Fotograf, in der Hand seine neue Großformatkamera, mit der er die Hoffnung verband, seinem einsam gewordenen Leben neuen Auftrieb zu geben. Sieben. Etwas vor ihm die Mutter mit den Zwillingen, die erschöpft ihre streitenden Jungen zu bändigen suchte und sich fragte, wie sie die beiden bis zum Abend beschäftigen sollte. Sechs. Auf der rechten Seite im Schatten des Fahrkartenautomaten der blasse Mann, der darüber nachdachte, ob er seine Frau oder sich selbst umbringen sollte. Fünf. Und in der Mitte vor ihnen allen das Liebespärchen, das sich zum Abschied eng umschlungen küsste und schon drei S-Bahnen hatte fahren lassen.
Vier. Die sieben Menschen lösten sich von ihren Plätzen, kniffen die Augen zusammen ob des Staubs, den die einfahrende Bahn aufwirbelte: ein Kurzzug, Linie S 7 Richtung Ahrensfelde. Drei. Ohne zu stoppen, überfuhr der Zug die vorgesehene Haltemarkierung, bremste beim hinteren Halteschild am Rande der Überdachung. Zwei. Unmut, eilige Bewegungen der Bahn hinterher. Eins. Die letzten Schritte, siebenmal.
Null.
Die Explosion des unterhalb der Bahnsteigkante angebrachten Sprengsatzes riss die sieben Menschen schlagartig auseinander. Das Gleisbett zerbarst, die Schienen bogen auf, schleuderten zur Seite wie wildgewordene Schlangen, die den davontaumelnden Körpern der Sieben hinterherschnappten.
Für Bruchteile von Sekunden blieb das grellorange Licht der Explosion auf den Netzhäuten der sieben haften, dann zerfetzten die in den Sprengsatz eingelassenen Metallsplitter ihre verletzlichen Körper, zerrissen Nerven, Sehnen, Muskeln, Knochen, Gehirne.
In den Nachrichten hieß es an diesem Abend: Hätte der S-Bahn-Fahrer seinen vollbesetzten Zug ordnungsgemäß am ersten Halteschild gestoppt, hätte es eine Katastrophe gegeben. So gab es nur sieben Tote.
Paul Selig saß in seinem Wagen, starrte stumm durch die Windschutzscheibe. Die Kollegen von der Schutzpolizei hatten die Aufgänge zum S-Bahnsteig abgesperrt, eine blonde Polizistin stand vor dem rot-weiß gestreiften Plastikband, ertrug mit blassem Gesicht die Proteste der Fahrgäste, während sie für die gerade eingetroffenen Mitarbeiter der Spurensicherung das Absperrband anhob.
Der Wind trieb eine Staubwolke vor sich her, umhüllte für einen Moment Seligs Wagen. Feiner Sand prasselte auf den stumpfen Lack. Selig rührte sich nicht. Eigentlich hätte er aussteigen müssen, seinen Ausweis zeigen, hinauf zum Tatort gehen. Doch er zögerte. Wie oft schon hatte er sich genau diese Situation ausgemalt: als erster Kommissar am Tatort, entschlossen die Ermittlungen an sich nehmend, souverän in seinem Auftreten, sicher in seinen Entscheidungen. Dies aber war kein Tagtraum. Niemand außer ihm war hier, Becker nicht, auch nicht Wagner oder Zinkowsky. Er war der einzige Kommissar aus ihrer Polizeidirektion, den der aufgeregte Beamte aus der Notrufzentrale erreicht hatte. Und das hatte sich offensichtlich in der vergangenen Viertelstunde nicht geändert.
Jemand klopfte an das Seitenfenster des Wagens, Selig zuckte zusammen: Die blonde Polizistin war an den Wagen getreten, blickte ihn ernst an. Selig ließ die Scheibe herab: »Ja?«
»Kommissar Selig?«
Selig nickte, die junge Frau öffnete die Tür, Selig stieg aus, dankte, ging hinüber zum Treppenaufgang und bückte sich unter dem Absperrband durch, das die Polizistin für ihn anhob. Steinbrocken und Mörtel knirschten unter seinen Füßen, als Selig die Treppe hinaufging, zweiundvierzig Stufen, Selig zählte mit, ohne den Blick zu heben. Dann hatte er den Bahnsteig erreicht.
Das Erste, was er sah, war der grotesk verbogene Schienenstrang. Einer modernen Skulptur gleich, ragten die losen Enden in den Himmel, vier Arme, flehend ausgestreckt, geboren aus der brutalen Gewalt, mit der die Bombe das Gleisbett aufgerissen hatte. Dann fiel ihm die Stille auf. Ärzte und Sanitäter, Polizisten und Feuerwehrleute, sie alle arbeiteten schweigend, im Bewusstsein, nichts mehr retten zu können. Jeder schien zu wissen, was er zu tun hatte.
Selig versuchte das Bild, das sich ihm bot, aufzunehmen, doch die Bewegungen der Menschen verschmolzen zunehmend zu einer pulsierenden Masse, deren Zentrum ein kleiner Gegenstand war, der unter einem Mülleimer lag, fast zerfetzt und kaum zu erkennen: eine abgerissene Hand. Das Rot eines lackierten Fingernagels leuchtete durch die graue Schicht aus Dreck, Staub und Blut, die sich über die schlanken Glieder gelegt hatte.
Paul Selig drehte sich um und übergab sich.
Lisa sah, wie Weyland blass wurde, als er die Notiz las, die sie ihm zugesteckt hatte. Langsam faltete er den kleinen Zettel zusammen, dann stand er auf, entschuldigte sich bei seinen Gesprächspartnern und verließ den Konferenzraum. Lisa folgte ihm. Sie sprachen kein Wort, während sie den kurzen Weg hinüber in sein Ministerbüro gingen. Weyland schloss die Tür hinter ihnen, ging zu der filigranen Sitzgruppe und ließ sich in einen der Sessel fallen. »Das war’s dann wohl.« Er seufzte, dann blickte er Lisa an. »Was wissen Sie?«
Lisa war an der Tür stehen geblieben und hatte den Innenminister stumm beobachtet, jetzt ging sie zu ihm, setzte sich in den Sessel gegenüber, zog mit einer geschickten Bewegung ihren engen Rock zurecht. »Die Bombe ist kurz nach 10 Uhr explodiert, am Gleis Fahrtrichtung Osten.«
»Wie viele Opfer?«
»Das wissen wir noch nicht genau. Nicht mehr als zehn. Die Passagiere, die auf dem Bahnsteig gewartet haben.«
Der Innenminister ächzte. »Die Presse wird uns zerreißen.« Ärgerlich sah er Lisa an. »Wie konnte das passieren? Na los, sagen Sie schon!«
Lisa antwortete nicht, ließ ungerührt den Ärger an sich abprallen. Seit über sechs Jahren arbeitete sie nun schon im Innenministerium und hatte es in dieser Zeit bis zur persönlichen Beraterin des Ministers geschafft. Sie kannte Horst Weyland besser als die meisten hier im Haus: seine Raffinesse, seinen Scharfsinn, sein Gespür für Macht, gepaart mit arrogantem Selbstbewusstsein sowie einem im Alter zunehmenden Starrsinn, der ihn unberechenbar machte, für seine Gegner wie für seine Freunde. Lisa verbrachte mit ihm mehr Zeit als seine Frau. Seine Frau war darüber nicht böse, und Lisa verstand sie.
Weyland hatte sich aufgerichtet, jetzt sank er wieder in sich zusammen. Erschöpft strich er sich durchs graue Haar. Die vergangenen Wochen hatten ihre Spuren hinterlassen, er wirkte müde und alt, zeigte nichts von der vitalen Kraft, mit der er in Pressekonferenzen und TV-Diskussionen seine Zuhörer für sich einnahm.
»Ich schätze«, sagte er mit ehrlichem Bedauern, »wir werden nach der Wahl unsere Schreibtische räumen müssen.«
Lisa blickte ihn stumm an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Nein.«
Weyland schaute verblüfft auf.
»Nein, das denke ich nicht«, wiederholte sie.
Weyland lachte bitter. »Frau Westphal, Ihr Optimismus in allen Ehren, aber ich denke nicht, dass uns blauäugiges Wunschdenken jetzt weiterhilft. Selbst wenn es …« – der Innenminister warf einen wohlgefälligen Blick auf Lisas Beine – »… so attraktiv daherkommt wie Sie.«
Lisa ignorierte die Bemerkung, zog einen Zettel aus der Tasche. »Sie verkennen die Lage. Ich glaube, uns eröffnet sich gerade eine sehr große Chance, die Wahl zu gewinnen.« Sie reichte Weyland den Zettel. »Das sind die Namen der ersten Opfer, die identifiziert werden konnten.«
Der Innenminister nahm seine Lesebrille hervor, las den Zettel und stutzte. Er schaute Lisa verblüfft an, ließ die Hand sinken. »Und Sie sind sich sicher?«
Lisa nickte.
Weyland stand auf, ging nachdenklich zum Fenster, blickte hinaus. Dann drehte er sich zu Lisa um. »Was haben Sie vor?«
Der dritte Bombenanschlag im Zentrum Berlins innerhalb von nur zwei Wochen beherrschte die Titelseite der Gratiszeitung, die die junge, in den Farben ihres Verlages gekleidete Frau den vorbeihastenden Passanten entgegenstreckte. Alexander Kaskan mochte die aufdringliche Aufmachung der Zeitung nicht, doch er nahm sie trotzdem jeden Abend, wenn er den U-Bahnhof betrat, bot sie doch eine willkommene Ablenkung während der immer gleichen Fahrt durch die grauen U-Bahn-Tunnel der Stadt. Diesmal jedoch widmete er den reißerischen Überschriften keine Aufmerksamkeit. Obwohl er seit der Haftentlassung seine Tage in einem muffigen Bürogebäude in Neukölln verbrachte, hatten ihn seine alten Instinkte noch nicht verlassen: Kaskan spürte, er wurde verfolgt.
Die U-Bahn fuhr ein, Kaskan stieg in einen der Wagen, ging den Mittelgang entlang und verließ die U-Bahn sofort wieder. Sein Verfolger, ein kräftiger, elegant gekleideter Mann um die vierzig, tat es ihm gleich. Kaskan eilte die Treppe hinauf zum Bahnsteig der S 46 und stieg in den ersten Zug, der einfuhr. Der Fremde betrat den Waggon kurze Zeit später, gerade als sich die Türen schlossen.
Kaskan setzte sich, schlug seine Zeitung auf, musterte über den Rand hinweg den Mann, der ihn verfolgte: 1,80 Meter groß, gepflegt, glatt rasiert, perfekter Haarschnitt, in einem unauffälligen Anzug mit einer leichten Ausbuchtung unterhalb der linken Achsel, die man nur bemerkte, wenn man bewusst darauf achtete. Kaskan kannte diese Ausbuchtung, und er wusste, wer sie benötigte: In seinem vorherigen Leben waren er und der Mann, für den er gearbeitet hatte, ständig von Leibwächtern umgeben gewesen.
Kaskan entschied, sein Verfolger war ungefährlich, und im gleichen Moment verlor er das Interesse an ihm. Er stand auf, ließ seine Zeitung ungelesen auf dem Sitz liegen und stieg an der nächsten Station aus, ging hinunter zum Taxistand, ließ sich von einem der wartenden Fahrer in das Viertel fahren, in dem er wohnte.
Wie jeden Freitag steuerte Kaskan die triste Eckkneipe gegenüber seiner Wohnung an. Er hatte vor, sich zu betrinken wie so häufig am letzten Abend der Arbeitswoche, der für ihn der Beginn eines langen, einsamen Wochenendes war. Wie jeden Freitag saßen dieselben traurigen Gestalten an den abgewetzten Tischen und vor dem wuchtigen, mit gedrechselten Mahagonisäulen verzierten Tresen. Kaskan setzte sich, der Wirt kam eilig herbei, stellte ihm unaufgefordert ein Glas Rotwein hin. Kaskan mochte den Wirt nicht, seine joviale Art, seinen fetten, Schweiß ausdünstenden Körper. Doch der Wein, den er ausschenkte, war akzeptabel, und der Weg hinüber zur Wohnung kurz, wenngleich nach manchen Freitagabenden immer noch zu lang. Kaskan nahm das Glas, leerte es in einem Zug, orderte das nächste. Der Wirt, der unbemerkt hinter Kaskan stehen geblieben war, grinste und schenkte nach.
Als der Fremde die Kneipe betrat, verstummten für einen kurzen Moment die Gespräche: Hier, in dieser schäbigen Umgebung, zog der Unbekannte sofort alle Blicke auf sich. Den Mann schien das nicht zu stören. Suchend schaute er sich um. Kaskan lehnte sich abwartend zurück. Er hatte durchs Fenster beobachtet, wie der Fremde draußen vor dem Eingang der Kneipe telefoniert hatte. Jetzt trat der Mann an Kaskans Tisch, offensichtlich hatte er den Auftrag bekommen, mit Kaskan Kontakt aufzunehmen.
Kaskan deutete auf den Stuhl, der Fremde knöpfte sein Jackett auf und setzte sich. Für einen kurzen Moment war die kleine kompakte Waffe in dem Holster unter der linken Achsel zu sehen. Der Fremde war nervös, es schien ihm nicht zu behagen, was vor ihm lag.
Kaskan sprach als Erster. »Für wen arbeiten Sie? Für den Sicherheitsdienst des Kanzleramtes? Oder für den Chef höchstpersönlich?«
Der Fremde schüttelte den Kopf. »Frau Westphal schickt mich. Sie sagte, Sie kennen sie. Ich soll Sie zu ihr bringen.«
Kaskan war perplex, damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte Lisa seit dem Prozess nicht mehr gesehen, bis auf jene Nacht in seiner Wohnung, als sie ihm sein Adressbuch und andere Unterlagen aus seinem alten Büro geschmuggelt und zu ihm gebracht hatte.
»Warum?«, frage Kaskan.
»Das«, entgegnete der Fremde, »sagt Ihnen Frau Westphal lieber selber.«
Kaskan wandte sich ab, griff nach seinem Weinglas, beachtete den Fremden nicht mehr. Der Mann zögerte.
»Es geht um Ihre Tochter«, sagte er.
Kaskan drehte sich um. »Was ist mir ihr?«, fragte er.
Der Fremde zögerte erneut. »Sie wissen von dem Bombenattentat?«
Kaskan wurde blass, suchte im Gesicht des Mannes eine Antwort auf seine unausgesprochene Frage. Der Fremde schlug die Augen nieder. Kaskan spürte, wie sein Mund austrocknete. Er stand auf und legte einen Geldschein auf den Tisch, der Fremde erhob sich ebenfalls, ging ohne ein weiteres Wort zur Tür. Kaskan folgte ihm. Es gab nichts mehr zu sagen.
Lisa erwartete sie vor dem Haupteingang des Instituts für Pathologie auf dem Gelände der Charité. Kaskan schaute sie an in der irrationalen Hoffnung, alles würde nur ein Irrtum sein und sich nun auflösen. Lisa umarmte ihn, Kaskan ließ es zu, ohne die Berührung zu spüren. Sie löste die Umarmung, ließ ihre Hände auf den seinen liegen. »Bitte verzeih mir«, sagte sie, »dass ich dich beobachten ließ. Ich wollte erst ganz sicher sein, bevor ich …«
»Wo ist sie?«, unterbrach Kaskan sie.
Lisa zögerte, dann bedeutete sie dem Sicherheitsmann, auf sie zu warten. Sie drehte sich um, führte Kaskan in das Institut, unter dem Kreuzgewölbe hindurch, die Treppe hinauf und weiter den Gang entlang, hinüber zum Sektionsgebäude. Hohl hallte das Geräusch ihrer Schritte von den Wänden wider.
»Wir mussten sie hierherbringen. Die Kühlräume im Franklin-Klinikum sind seit dem Anschlag in der letzten Woche übervoll.«
Kaskan antwortete nicht. Schweigend gingen sie die Treppe hinab und betraten den hell ausgeleuchteten Kühlraum, an dessen Längsseite drei übereinandergeschichtete Reihen von Stahltüren Kaskan an den Friedhof von Pájara erinnerten, wie er irritiert bemerkte. Lisa warf ihm einen forschenden Blick zu. Dann, mit einer entschlossenen Bewegung, öffnete sie eine der Türen und zog die Schublade auf.
Der Körper, der sich unter dem grauen Tuch abzeichnete, war eigentümlich unvollständig, wie ein Puzzle, bei dem die wichtigsten Teile fehlten. Die größte Erhebung, unter der der Kopf sein musste, war nun auf Höhe von Kaskan. Lisa nahm die Ecken des Tuches, zog den Stoff behutsam ein Stück zurück, so dass der Kopf bis zum Halsansatz zu sehen war. Kaskan starrte auf das Gesicht, das er so gut kannte. Die Umgebung um ihn herum schien sich nach innen zu stülpen und sein Herzschlag nach außen, ein dunkles Pochen, das den ganzen Raum auszufüllen begann. Kaskan war unfähig, sich zu bewegen. Wie festgesogen haftete sein Blick auf dem nachlässig von Dreck und Blut gereinigten Gesicht, dessen geschlossene Lider den Eindruck vermittelten, das dazugehörige, aus seinen Einzelteilen zusammengepuzzelte junge Mädchen unter dem Tuch würde schlafen.
»Alexander, hörst du mich? Alex!«
Wie aus weiter Ferne hörte Kaskan Lisas Stimme, und ein Teil von ihm begriff, seine Tochter lag dort, Isabel, sein einziges Kind. Sie war alles, was er auf dieser Welt liebte. Kaskan räusperte sich, suchte seine Stimme, bevor er sprach. »Ich will sie sehen. Ganz.«
Lisa schüttelte den Kopf. »Bitte, tu dir das nicht an!«
Kaskan blickte Lisa wortlos an. Lisa zuckte innerlich zusammen, sie kannte diesen Blick und wusste, Kaskan duldete jetzt keinen Widerspruch. Sie zog das Tuch vom Körper.
Regungslos blickte Kaskan auf seine Tochter, vielmehr auf das, was der direkt vor ihr explodierte Sprengkörper zurückgelassen hatte. Der Rumpf war von der Hitze gekrümmt, die orangefarbene Kunstfaser des bauchfreien Tops hatte sich mit der Haut darunter zu einer verschrumpelten schwarzen Schicht verbunden. Das eine der von der Wucht der Explosion abgetrennten Beine lag schwarz verkohlt an der Stelle, wo es hingehörte. Das zweite war in mehrere Teile zerrissen, die Haut von der Hitze aufgeplatzt, das Fleisch darunter von den Metallsplittern zerfetzt. Die Hälfte des Unterschenkels fehlte, genau wie ein Teil des linken Arms. Der rechte Arm hingegen war unversehrt, als sei er geschützt gewesen durch den Körper eines Menschen, um den sie ihren Arm gelegt hatte. Kaskan starrte auf den blauen Armreif, der das Handgelenk umschloss, er kannte ihn, er hatte ihn Isabel zum Abitur geschenkt.
»Sie war mit einem Mann dort, vermutlich ihrem Freund«, sagte Lisa. Sie wies auf die Kühlschublade rechts über ihnen. »Er liegt dort. Kanntest du ihn?«
Kaskan reagierte nicht. Er blickte auf den verstümmelten Körper seiner Tochter, nahm jedes Detail in sich auf, wie um den Anblick für alle Zeiten in seinem Gedächtnis einzufrieren. Dann drehte er sich um, ließ Lisa stehen und verließ den Raum.
Kommissar Paul Selig stand mit geöffnetem Mund im Büro des Innenministers und bewegte hilflos die Lippen wie ein Fisch, der auf dem Trockenen liegt und nach Luft schnappt. Wie so häufig, wenn er unter Stress stand, hing Selig fest, er suchte vergeblich nach der zweiten Silbe des Wortes, das in seinem Kopf war und sich weigerte, seinen Mund zu verlassen. Weyland betrachtete den Kommissar mit zunehmender Unruhe.
Selig hasste sich in diesem Moment: wegen seines Stotterns, wegen seiner verschwitzten Hände, wegen des Blutflecks auf seinem Hemd, der vom Rasieren stammte und den er erst im Büro bemerkt hatte. Er holte tief Luft, um seinen zerstückelten Satz erneut zu beginnen, doch der Innenminister unterbrach seinen hilflosen Versuch, den ersten Eindruck vom Ort des Anschlages zu schildern: »Vielen Dank, Herr Selig. Schicken Sie mir einfach Ihren Bericht! Und viel Glück! Ich bin davon überzeugt, Sie werden Ihr Bestes tun.« Weyland legte seine linke Hand auf die Schulter des Kommissars, reichte ihm gleichzeitig seine rechte und schob ihn mit einer vielfach geübten Bewegung Richtung Tür. Selig nickte unsicher und verließ das Büro, ohne zu bemerken, dass sich eine in die Wandtäfelung eingelassene zweite Tür in seinem Rücken geöffnet hatte: Lisa betrat den Raum. Sie sagte kein Wort, auch nicht, nachdem sie Paul Selig erkannt hatte.
Weyland schloss die Tür hinter dem Kommissar, drehte sich zu Lisa um, blickte sie fragend an. »Wie hat er es aufgenommen?«
»Wer?« Lisa brauchte einen Moment, Weylands Frage zu begreifen.
»Kaskan.«
Lisa zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Schlecht, glaube ich. Sie war sein einziges Kind.«
Der Innenminister schwieg einen Moment. Auch wenn er Kaskan nicht mochte und während dessen Zeit als politischer Berater häufig Fehden mit ihm ausgefochten hatte, tat ihm Kaskan in diesem Moment leid. Weyland wischte den Gedanken beiseite. Er war fest entschlossen, seine Karriere als Politiker nicht in diesem Büro und hinter diesem Schreibtisch zu beenden – Gefühle, dies war seine feste Überzeugung, störten bei der Verwirklichung seiner Ziele nur.
Lisa war an das schmale Glasfenster neben der Tür getreten, sie blickte Selig nach. Er war an den Fahrstuhl getreten, hatte den Rufknopf gedrückt, jetzt stand er im Gang und wartete.
»Soll ich mich darum kümmern, dass ein anderer Ermittler den Fall übernimmt?«, fragte Lisa.
Weyland folgte Lisas Blick, schüttelte den Kopf. »Der Polizeipräsident mag es nicht, wenn wir uns in seine Arbeit einmischen. Und den offiziellen Weg über die Staatsanwaltschaft zu gehen, scheint mir unangemessen. Vor allem jetzt, vor der Wahl.« Lisa wusste, er hatte recht, sie hatte seine Antwort erwartet. »Und außerdem«, ergänzte Weyland, »wird der Generalbundesanwalt in Kürze das Verfahren an sich ziehen und den Fall dem Bundeskriminalamt übergeben. Dann ist dieser Selig nur noch ein Ermittler von vielen.«
Lisa spürte eine Bewegung neben sich, Weyland war, während er sprach, neben sie getreten, ein kleines Stück zu nahe, wie sie fand. Lisa wich keinen Zentimeter zurück. Stattdessen wandte sie sich Weyland zu, begegnete seinem Blick, kühl und distanziert.
Der Innenminister zögerte, dann trat er ein Stück zur Seite, ging hinüber an seinen Schreibtisch.
»Sie kümmern sich um Kaskan«, sagte Weyland und blätterte in einigen Papieren. »Ich will wissen, was er vorhat.«
Lisa nickte und verließ das Büro. Als sich die Tür geschlossen hatte, ließ Weyland die Papiere, die er in der Hand hielt, auf seinen Schreibtisch fallen. Er wusste, er würde Lisa niemals beherrschen, geschweige denn ihren nackten Körper berühren, so wie er es sich oft vorstellte. Der Gedanke ärgerte ihn.
Draußen war es dunkel geworden. Ein leichter Wind kam auf, er vermischte die drückende, abgasgesättigte Luft der Stadt mit dem feinen Sandstaub, der sich seit Beginn der Trockenperiode auf die Straßen gelegt hatte. Kommissar Paul Selig steuerte seinen Wagen durch den dichten Abendverkehr, gefangen in seinen Gedanken, wieder und wieder das Gespräch mit dem Innenminister durchspielend. Ein Desaster! Er war sich sicher, die Abberufung von dem Fall würde schon auf seinem Schreibtisch liegen.
Ein abrupt vor ihm bremsender Fahrer zwang Selig in die Wirklichkeit zurück, und für einen Moment verdrängte das durch seine Adern flutende Adrenalin seine Selbstvorwürfe. Er bog von der Charlottenburger Chaussee ab und lenkte seinen Wagen auf den Parkplatz vor der Polizeidirektion, stoppte kurz vor dem Posten, der neben dem massiven, in den Boden versenkbaren Metallpoller stand und die Hand lässig auf der umgehängten Maschinenpistole ruhen ließ.
Wie alle Ministerien und Regierungsgebäude waren auch die sechs Polizeidirektionen nach Beginn der Anschläge in die Gruppe der besonders zu schützenden Objekte aufgenommen worden. Das Referat Verbrechensbekämpfung II, dem Selig zugeteilt war, lag im obersten Stockwerk des Betonriegels. Die schmucklosen Büros boten Selig und seinen Kollegen einen hervorragenden Ausblick auf das gegenüberliegende Klärwerk und die benachbarte Müllverbrennungsanlage, ein pittoreskes Ensemble, dem die Dampfschwaden der drei angrenzenden Kraftwerke eine weiße Krone aufsetzten.
Selig parkte seinen Wagen und ging zum Eingang der Direktion, um seinen Dienstausweis durch das Lesegerät zu ziehen. Ein grünes Licht leuchtete auf, dann ertönte ein Schnarren. Selig zog die Tür auf, betrat die Halle.
Mit einem Schlag umgab ihn hektische Betriebsamkeit, eine nervöse Unruhe, dem Tanz eines aufgeschreckten Bienenvolkes gleich. Niemand hatte mit einem neuen Anschlag im Zentrum von Berlin gerechnet, jeder war überzeugt gewesen, die verschärften Sicherheitsmaßnahmen, ermöglicht durch die neuen Sicherheitsgesetze, würden die Attentäter abschrecken oder sie wenigstens auf abseitige Ziele verweisen. Dass es den Terroristen gelungen war, einen Sprengsatz auf der Hauptachse der die Stadt durchschneidenden Bahnlinien zu plazieren, stellte das gesamte bisherige Sicherheitskonzept in Frage.
Eine junge Frau eilte auf Selig zu, es war seine Kollegin Maria, Maria Garcia Fernandez, die jüngste Kommissarin in seiner Abteilung. »Was machen Sie denn hier?«
Selig mochte Maria: Sie war eine wache, schlanke und sympathische Frau, deren einzige Schwäche ihre Zuneigung zu Plüsch und Enrique Iglesias zu sein schien. Seit Selig ihr im Frühjahr ohne zu zögern für drei Tage seinen Wagen geliehen hatte, behandelte Maria ihn mit wohlwollender Freundlichkeit. Ihr Verhalten wurde gespeist durch ihr schlechtes Gewissen: Während Selig sie am Sterbebett ihrer Großmutter in Barcelona wähnte, war Maria mit ihrem Freund nach Paris gefahren, wo sie sich zwei Tage und Nächte im Hotelzimmer mit ihm stritt und am dritten Tag von ihm trennte.
Angespannt sah Maria ihn an. »Sie müssen zum Platz der Luftbrücke, zur Sitzung der Ermittlungsgruppe. Die warten schon auf Sie!«
Selig seufzte, drehte sich wortlos um und ging zurück zum Ausgang.
Maria grinste und unterdrückte die spöttische Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Dann eilte sie ihm nach. »Das ist gerade gekommen.« Maria ging neben Selig weiter, reichte ihm eine Klarsichthülle mit einem Thermofax, dessen Ränder aus der Hülle schauten und sich einrollten. »Eine erste Stellungnahme der Kollegen von der Spurensicherung.«
»Und?« Selig blickte fragend auf den enggeschriebenen Text.
»Der gleiche Sprengstoff, die gleiche Bauart. Die Bombe stammt von denselben Attentätern. Die Kollegen vom Landeskriminalamt sind auch dieser Ansicht.«
»Gibt es schon Zeugen?«
Maria schüttelte den Kopf. »Niemand hat etwas beobachtet. Heute nicht und auch nicht die letzten Tage.«
»Was ist mit den Überwachungskameras?«
»Es gibt keine Aufnahmen.«
»Es gibt keine Aufnahmen?« Selig sah Maria ungläubig an. »Werden die Bilder der Kameras nicht zentral gespeichert?«
»Eigentlich ja. Aber die Verbindung vom Zentralrechner zum Bahnhof Savignyplatz war seit einigen Tagen gestört. Ein Reparaturtrupp, den die Kollegen vor zwei Tagen losgeschickt haben, konnte keinen Fehler finden.«
Sie hatten das Gebäude verlassen und waren über den Parkplatz gegangen, jetzt standen sie vor Seligs Wagen. Selig schloss nachdenklich die Tür auf. Maria sah ihn forschend an. »Und? Nervös?«
Selig antwortete nicht. Er war nervös.
»Einfach nichts sagen«, riet ihm Maria, während der Anflug eines Lächelns ihre Mundwinkel umspielte. Selig warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann stieg er ein.
Alle Blicke wandten sich Selig zu, als er den Konferenzraum im obersten Stockwerk des Polizeipräsidiums betrat. Selig schoss das Blut ins Gesicht. Eilig setzte er sich auf einen freien Platz und begann seine Unterlagen zu ordnen. Für einen Moment, der ihm endlos vorkam, war nur das Rauschen der Klimaanlage zu hören, dann wandte sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder dem Mann zu, der am Kopfende des langgestreckten Tisches stand und der gesprochen hatte, als Selig den Raum betrat.
Selig hatte ihn in den letzten Wochen öfter in den Abendnachrichten gesehen: Es war Dirk Rüther, Pressesprecher des Polizeipräsidenten, ein berechnender Karrierebeamter, dessen souveräne Eloquenz Fachkompetenz suggerierte und beruhigend auf all jene wirkte, die ihn nicht kannten. Eine ideale Eigenschaft in diesen Zeiten, fand der Polizeipräsident.
Rüther blickte in die Runde. »Darf ich vorstellen: Kommissar Paul Selig von der Direktion 2. Herr Selig übernimmt für die Kripokollegen des Bezirks den Anschlag am Bahnhof Savignyplatz.« Die anderen nickten Selig kurz zu und warteten ab, während Rüther ihre Namen nannte, um sie Selig der Reihe nach vorzustellen. Die Ermittlungsgruppe bestand aus zwölf Experten der Berliner Polizei sowie des Landes- und des Bundeskriminalamts, sie repräsentierten ein Team von einhundertfünfundzwanzig Männern und Frauen, alles Fachleute auf ihrem Gebiet. Mit am Tisch saßen außerdem neben Dirk Rüther und dem Chef der Ermittlungsgruppe noch zwei Kollegen der Polizeidirektion 3, die als Vertreter der Kripo im Bezirk Mitte die Anschläge am Alexanderplatz und in der Friedrichstraße bearbeiteten.
Selig hörte Rüther kaum zu, seine Gedanken rotierten. Offensichtlich war ihm der Fall nicht abgenommen worden. Oder war das nur ein perfides Spiel, ihn zu demütigen? Nein, niemand in der Runde lachte oder drückte seine Verachtung aus. Er gehörte zum Team. Aber das war unmöglich! Allein dass er vor den Augen der Spurensicherung in den Tatort gekotzt hatte, wäre Grund genug gewesen, ihn in das Dezernat für Verkehrsdelikte zu versetzen. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis die Entscheidung des Polizeipräsidenten, ihn abzulösen, hier eintraf …
»Herr Selig!« Selig zuckte zusammen. Rüther hatte das Wort an einen bärtigen Beamten abgegeben, Matthias Trosche, Abteilungsleiter im Bundeskriminalamt und Chef der Ermittlungsgruppe. Trosche blickte ihn ungeduldig an. »Ihr Bericht, bitte.«
Selig griff reflexartig nach dem Fax und begann kurzerhand, die Stellungnahme der Spurensicherer vorzulesen. Er wusste, er würde in dieser Runde sonst kein Wort herausbekommen. Was er las, war entmutigend: Sie hatten nichts in der Hand, rein gar nichts. Es war unglaublich: Offensichtlich war es den radikal-muslimischen Terroristen gelungen, mitten in der Millionenstadt einen zwanzig Kilogramm schweren Sprengsatz zu plazieren, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt hatte. Waren die Menschen in der Hauptstadt tatsächlich schon so abgestumpft, dass es ihnen vollkommen gleichgültig war, was um sie herum geschah?
Selig legte das Fax auf den Tisch und schwieg. Einen Moment lang sagte keiner ein Wort. Dann regte ein blonder Beamter die Diskussion über eine erneute Rasterfahndung an.
Selig starrte auf das Fax. Wieso saß er hier?
In dem Moment durchzuckte ihn ein Gedanke. Selig erstarrte. In ihm begann es zu arbeiten, und alle Energie, die er sonst auf sich und seine Selbstbeobachtung verwandte, richtete sich auf den bohrenden Verdacht in ihm. Nein, das konnte unmöglich sein!
Selig stand auf, hielt sich am Tisch fest. Alle Augen wandten sich ihm zu. »Ich …« Selig suchte nach Worten. »Mir ist nicht gut.« Den erstaunten Blicken der anderen ausweichend, ging er zur Tür. »Einen Moment noch, Herr Selig!« Selig dreht sich um, sah zu Rüther, der aufgestanden war und ihn anschaute. Jetzt kam der Rauswurf.
Der Pressesprecher lächelte. »Bitte teilen Sie mir heute noch die Namen Ihrer Teamkollegen mit, mit Telefonnummern bitte, damit wir sie jederzeit erreichen können.«
Selig nickte stumm. Dann verließ er den Raum. Draußen vor der Tür blieb er stehen, lehnte sich an die Wand, erschöpft, erschrocken.
Er musste sich irren!
Selig dachte nach, fieberhaft und voller Angst. Was war, wenn sein Verdacht stimmte?
Lisa nickte kurz dem Pförtner zu, als sie das Innenministerium verließ. Er hatte ihr den Nachtausgang geöffnet und sah ihr einen Augenblick nach, bevor er die Tür wieder verriegelte. Ein Windstoß trug die Stimmen der Demonstranten herüber, die auf der Straße des 17. Juni zum Brandenburger Tor zogen und mit hasserfüllten Parolen die Ausweisung aller Muslime aus Deutschland forderten. Lisa ignorierte die Rufe, griff nach ihrem Telefon und wählte. Schmelzer meldete sich sofort.
»Wo ist er?«, fragte Lisa.
Der Sicherheitsmann, der Kaskan erneut beschattet hatte, blickte aus dem Fenster seines Wagens. »Er steht vor Dr. Bachsteins Haus und wartet. Soll ich ihn dort wegholen lassen?«
Lisa überlegte kurz, bevor sie antwortete. »Nein. Das mach ich selber.«
»Meinen Sie nicht, wir sollten den Sicherheitsdienst des Kanzleramts informieren?«
Schmelzer bekam auf seine Frage keine Antwort, Lisa hatte die Verbindung schon unterbrochen. Kurze Zeit später schoss ein kleiner Sportwagen aus der Tiefgarage des Innenministeriums.
Kaskan stand im Schatten der mächtigen Torpfeiler direkt an der Einfahrt zur Villa. Das schmiedeeiserne Torgitter war verschlossen, das große Haus lag im Dunkeln. Nur in der Kellerwohnung des Hausmeisters brannte Licht. Kaskan fror trotz der drückenden Wärme der Sommernacht. Er wusste nicht, was er sagen sollte, wenn er Victor gegenüberstehen würde, er wusste noch nicht einmal, ob Bachstein in Berlin war oder unterwegs in der Welt, zum Wohle seines Landes oder dessen, was Bachstein dafür hielt. Möglicherweise war er gerade im Gespräch mit der amerikanischen Präsidentin, die gute Verbindungen zu Deutschland pflegte und froh war, in dem deutschen Bundeskanzler einen treuen Verbündeten ihrer neocäsarischen Politik zu haben, mit der sie den schwindenden Einfluss ihres Landes auszugleichen versuchte.
Kaskan wunderte sich, wie ruhig er war. Isabel war tot. Hätte er nicht toben müssen oder schreien, weinen? Er dachte an den verstümmelten Körper, der in der Dunkelheit einer geschlossenen Kühlschublade lag. Für einen Moment hatte Kaskan Mühe, sich das lachende Gesicht seiner Tochter vorzustellen. Erst als er sich an einzelne Situationen zu erinnern versuchte, gelang es ihm: die Promotionsfeier an ihrer Universität in England, ihr gemeinsamer Segeltörn vor der griechischen Küste, das erbitterte Streitgespräch in seiner Wohnung in Berlin über ihre berufliche Zukunft. Bevor sie ihre neue Stelle antreten würde, hatte Isabel gesagt, wolle sie fünf Wochen Urlaub machen. Kaskan hätte sie überall vermutet, nur nicht in Berlin. Warum hatte sie ihm verschwiegen, dass sie einen Freund hatte?
Ein Wagen bog in die Straße ein, rollte auf Kaskan zu, die Scheinwerfer erfassten ihn. Geblendet kniff er die Augen zusammen. Der Wagen stoppte, die Lichter erloschen, dann war das Klappen einer Tür zu hören. Als sich Kaskans Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stand Lisa vor ihm.
»Alex, was soll das?«
Kaskan antwortete nicht.
»Was hast du vor?«
Kaskan blickte Lisa an. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«
»Komm, ich fahr dich nach Hause.« Lisa griff nach seinem Arm, doch ein Blick von ihm reichte, um die Bewegung zu stoppen, noch bevor Lisa ihn berührt hatte.
Kaskan wandte sich ab, so wie früher, wenn er ein Gespräch für beendet ansah und keine Widerrede mehr duldete.
»Bachstein ist nicht in Berlin, Alex. Du wartest vergeblich.« Lisa zögerte. »Ich bin mir sicher, es tut ihm leid.«
Kaskan fuhr herum. »Ach ja? Du bist dir sicher? Du weißt, es ist seine Schuld.«
»Alex, mach dich nicht lächerlich! Was kann Bachstein dafür, dass deine Tochter genau auf dem Bahnsteig steht, auf dem eine Bombe explodiert?«
»Er hat die Anschläge provoziert«, antwortete Kaskan, »durch seine Politik.«
»Seit wann interessierst du dich für Politik? Seit sie dich betrifft? Herzlich willkommen in der Wirklichkeit!«
Kaskan betrachtete Lisa einen Moment. Da war er wieder, dieser Hauch von Kälte, der ihm schon vor Jahren an ihr aufgefallen war und der ihn dazu gebracht hatte, die junge Studentin, die sich mit enervierender Beharrlichkeit um ein Praktikum bei ihm bemüht hatte, in sein Team aufzunehmen. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht: Lisa war eine seiner besten Schülerinnen geworden.
»Alex, wach auf! Du warst es, der Bachstein zu dem gemacht hat, was er heute ist. Ohne dich wäre er niemals an der Macht.«
Kaskan blickte Lisa stumm an. Dann wandte er sich ab und ging davon, hinein in die Dunkelheit, immer weiter, nur nicht anhalten, nur nicht denken.
Der Wind wirbelte eine Staubwolke auf, der Sand stach auf Kaskans Haut, setzte sich in seinen Haaren fest. Kaskan spürte es nicht. Tränen liefen über sein Gesicht. Der Schmerz, der in ihm festgehangen hatte, drängte an die Oberfläche. Kaskan gab sich ihm hin. Er war alles, was er noch hatte.
Der Raum war verlassen, als Selig sein Büro betrat, der Kollege, mit dem er sich das Zimmer teilte, war bei einer Fortbildung im Landeskriminalamt. Selig schloss die Tür, ging zu seinem Schreibtisch. In der Hand hielt er die Mappen mit den Obduktionsberichten, Maria hatte sie ihm gegeben, als er den Flur des Referats betreten hatte. Er legte die Papiere ab, dann setzte er sich, unruhig und angespannt.
Der Gedanke, der ihm während der Sitzung der Ermittlungsgruppe gekommen war, ließ ihn nicht los.
Selig begann seinen Schreibtisch aufzuräumen. Er schob die Mappen auf die linke Seite, spitzte seinen Bleistift, legte ihn in die hölzerne Ablageschale, die er an den rechten Rand der Arbeitsfläche rückte, gleich neben den Abroller für Klebefilm. Dann leerte er den Auffangbehälter des Anspitzers und schob den Papierkorb zurück unter den Schreibtisch. Selig lehnte sich zurück und betrachtete sein Werk. Doch es wollte sich kein Gefühl der Zufriedenheit einstellen wie sonst am Abend, wenn er seinen Schreibtisch geordnet hatte und sich anschickte, nach Hause zu gehen.
Selig starrte auf die sieben Mappen mit den sieben Obduktionsberichten. Sie waren der greifbare Beweis für das, was ihn irritierte: Er war es, der in dieser Polizeidirektion die Ermittlungen leitete zum Bombenanschlag am S-Bahnhof Savignyplatz. Er war es, der die Arbeit von zwei Kommissaren und einer Kommissarin koordinierte, der den Kontakt herstellte zu den Kollegen von der Spurensicherung, der Gerichtsmedizin, des psychologischen Dienstes und nicht zuletzt zu der Ermittlungsgruppe, bei der die Fahndung nach den Terroristen in Berlin zusammenlief. Er war der Chef.
Warum er?
Selig verstand es nicht. Er war der Letzte, überlegte er, der für eine solche Aufgabe geeignet war. Er war unsicher, wurde bei Beförderungen übergangen, bekam stets die langweiligsten Fälle zugeschoben, man nahm ihn nicht ernst, spottete heimlich, lächelte über ihn … Selig hielt ärgerlich inne. Er wusste, seine Kollegen würden sich niemals derartige selbstkritische Gedanken erlauben und alle ihre Energien auf die Ermittlungen konzentrieren, und genau deshalb waren sie schneller, effektiver, erfolgreicher als er. Selig schloss die Augen, konzentrierte sich, versuchte, Fakten und Gefühle voneinander zu trennen, so wie es ihm der Polizeipsychologe geraten hatte, den er vor einigen Wochen in einem Anfall von Offenheit um Rat gefragt hatte.
Warum er?
Die Antwort war einfach: Er hatte Bereitschaftsdienst gehabt, war als Erster am Tatort gewesen und hatte sich so nach den Regeln ihres Referats als Leiter der Ermittlungen etabliert. Doch er wusste auch, für den Direktionsleiter war das kein Grund, nicht doch einen anderen, erfolgreicheren Kollegen auf einen Fall anzusetzen, wenn ihm das wichtig schien. Aber nichts war geschehen. Auch sein verpatzter Besuch beim Innenminister hätte zu seiner Ablösung führen müssen, war Selig überzeugt.
Auf der anderen Seite, erwog er, könnte alles schlicht und einfach seinen geordneten Gang gegangen sein: Der Innenminister könnte die Entscheidung, dass er die Ermittlungen führen sollte, akzeptiert haben, so wie es seine Position verlangte. Der Direktionsleiter könnte der Ansicht sein, dass ein Eingriff in die Arbeitsabläufe des Referats überflüssig sei, vielleicht sogar, weil er Selig die Aufgabe, die ihm bevorstand, zutraute. Und war nicht der Umstand, dass gerade er keinen aktuellen Fall zu bearbeiten und an diesem Morgen Bereitschaftsdienst hatte, nichts als ein Zufall?
Selig trat ans Fenster, blickte hinaus auf die nächtliche Stadt. Er wusste, es war kein Zufall. Er hatte es nachgeprüft: Jemand hatte den seit Monaten feststehenden Dienstplan geändert, erst vor wenigen Tagen. Jemand hatte in die Wege geleitet, dass ihm sein aktueller Fall abgenommen und einem anderen Referat übergeben wurde. Jemand hatte dafür gesorgt, dass die besten seiner Kollegen zu einer überraschenden Fortbildung in das LKA abberufen worden waren. Jemand wollte, dass gerade er die Ermittlungen in diesem Fall übernahm. Und er wusste auch, warum: Weil er als träge galt, weil er stotterte, weil er von allen Kollegen in seiner Direktion die niedrigste Aufklärungsquote vorzuweisen hatte. Jemand wollte, dass Selig den Fall nicht löste.
Er blickte auf die Uhr: noch sechs Stunden bis zur morgendlichen Sitzung seines Teams. Selig ging zum Schreibtisch, nahm die sieben Obduktionsberichte. Er zögerte. Die Bilder der sieben gemarterten Körper auf dem Bahnsteig schossen ihm durch den Kopf: der von den Metallsplittern zerfleischte Fotograf, dessen Hände auch im Tode seine Kamera fest umklammert hielten; die beiden Kinder, deren Körper sich durch die Wucht der Explosion und des Feuers zu einem verbunden hatten; die hilflos aufgerissenen Augen der jungen Frau, die verbrannt und ihrer Extremitäten beraubt auf dem blut- und rauchgeschwärzten Bahnsteig lag. Jemand aus ihren eigenen Reihen hatte sieben Menschen brutal niedergemetzelt und wollte, dass man ihn nicht fand. Selig war ganz ruhig, als ihm klar wurde: Er würde diesem Jemand diesen Gefallen nicht tun.
Selig löschte das Licht und verließ das Büro.
Erschöpft und müde betrat Selig am nächsten Morgen den Besprechungsraum, in der Hand einen halb ausgetrunkenen Pappbecher Kaffee und eine Tüte mit Brötchen. Maria legte gerade eine Reihe von Fotos auf dem Besprechungstisch aus. Sie lächelte ihn an. »Guten Morgen.« Wie immer sah sie aus wie aus dem Ei gepellt, eine unglaubliche Leistung um diese Uhrzeit, fand Selig, Maria hatte vermutlich kaum mehr geschlafen als er.
»Wagner ist auch schon da. Er kocht sich noch seinen Tee.«
Selig nickte, zog seine Jacke aus, legte die Mappen mit den Obduktionsberichten auf den Besprechungstisch. Er hatte die Berichte noch in der Nacht zu Hause durchgesehen, alleine in der totenstillen Küche seiner kleinen Wohnung, einen immer kälter werdenden Tee neben sich. Was er lesen musste, hatte sich mit dem Erlebten des vergangenen Tages zu schweren Träumen verdichtet, zu surrealen Visionen, die ihn im Bett zu erdrücken drohten und aus denen er immer wieder schweißnass auffuhr. Morgens um fünf war er schließlich aufgestanden und hatte sich vor den Fernseher gesetzt, um die Fratzen der Nacht aus seinem Kopf zu vertreiben. Die erste Meldung des Frühstücksfernsehens um sechs Uhr war die vom Bombenanschlag auf dem S-Bahnhof Savignyplatz gewesen.
Wagner betrat den Raum, in der Hand einen Becher mit Tee. Er hatte an diesem Morgen Malve gewählt, einem Ritual folgend, das er selbst ersonnen hatte und das seinem Arbeitstag Struktur gab: Dreimal täglich, zum Arbeitsbeginn, kurz nach dem Mittagessen und genau eine Stunde vor Dienstende, öffnete er die Schublade seines Schreibtisches und wählte aus einem flachen Holzkästchen jene Teesorte aus, die ihm für seine jeweilige Seelenlage die passende schien. Den Tee brühte er mit der gleichen Sorgfalt auf, mit der er sich kleidete, seine Freundinnen auswählte oder den englischen Sportwagen pflegte, mit dem er seine distinguierte Wirkung unterstreichen wollte. Sein ausgestellter Hang zum britischen Understatement war im Grunde das genaue Gegenteil von vornehmer Zurückhaltung und faszinierte verblüffenderweise zumeist brünette Frauen, die es genossen, sich an den Wochenenden von ihm zum Picknick an die Mecklenburgische Seenplatte fahren zu lassen, wo ihnen am immer gleichen Seeufer die Mücken die Beine zerstachen.
Wagner nickte Selig zu und setzte sich, einige Zeit später folgte Zinkowsky, wie immer als Letzter, wie immer in Jeans, Hemd und dem unvermeidlichen graumelierten Jackett, dessen an den Ellenbogen aufgesetzte Lederflicken blankgescheuert waren.
Müde hielt Zinkowsky sich an seinem Kaffeebecher fest, während er einen Morgengruß murmelte und sich auf einen Stuhl fallen ließ. Wie Wagner war er wenig begeistert, unter Selig arbeiten zu müssen.
Maria schob jedem von ihnen einen dicken Stapel mit kopierten Blättern zu. »Das ist das Material der Kollegen vom LKA zu den anderen beiden Anschlägen. Obduktionsberichte, Zeugenaussagen, die Berichte der Spurensicherung.« Maria wies auf die ausgelegten Fotos mit einer Reihe von arabischstämmigen Männern. »Und das sind die Bilder der Tatverdächtigen. Faxkopien. Die Akten und Originalfotos sind auf dem Weg zu uns.«
Wagner griff nach einem der Fotos. »Wieso auf dem Weg? Sind die nicht bei uns im System?«
Maria schüttelte den Kopf. »Die Bilder kommen vom Verfassungsschutz. Man vermutet, diese Männer haben in Berlin eine terroristische Zelle gebildet.«
»Und warum nimmt man sie nicht fest?« Zinkowsky hatte sich räuspern müssen, bevor er sprach, und seine Stimme klang belegt.
»Es gibt keine Beweise«, entgegnete Maria, »die müssen wir finden.«
Wagner war erstaunt. »Wenn es keine Beweise gibt, warum sind sie dann tatverdächtig?«
Selig hatte stumm zugehört, jetzt stand er auf, trat ans Fenster. Unter ihnen begann die Stadt zu erwachen, das Tageslicht verdrängte die Schattengestalten der Nacht und machte den Weg frei für die graugesichtigen Menschen, die auf ihrem Weg zur Arbeit wortlos die Straßen, Busse und U-Bahnen füllten.
Nachdenklich starrte Selig hinaus. Wer aus der Polizeidirektion stand auf welcher Seite? Jemand aus ihren Reihen hatte alles getan, die gestrige Explosion als einen weiteren Anschlag islamistischer Terroristen erscheinen zu lassen. Jemand, der genug Einfluss hatte, die Abläufe in der Direktion zu manipulieren und ihn auf diesen Fall anzusetzen. Wenn seine Vermutung richtig war, überlegte Selig, dann durfte er hier im Haus niemandem trauen. Zwar hatte nicht jeder die Macht, den Dienstplan zu ändern, aber jeder stand in einem undurchschaubaren Beziehungsgeflecht, bestimmt von Hierarchien, Freundschaften, Abhängigkeiten. Ein falsches Wort zur falschen Person, und sein unbekannter Gegner war gewarnt.
Selig begriff, seine einzige Trumpfkarte war, sein Gegner wusste nicht, dass er ihn durchschaut hatte.
»Herr Selig?« Er drehte sich um. Maria stand hinter ihm. »Wie wollen wir vorgehen?« Sie nahm einen der Stapel mit den Berichtskopien, blickte ihn fragend an. »Soll ich vielleicht die wichtigsten Punkte zusammenfassen?« Offensichtlich hatte Maria in der Nacht die gesamten Unterlagen durchgelesen.
Bevor Selig antworten konnte, öffnete sich die Tür, und eine Frau betrat den Besprechungsraum. Ihr strenges Businesskostüm strahlte Autorität aus. Zinkowsky, der mit offenen Augen wegzudösen begonnen hatte, fuhr erschrocken zusammen, und auch Wagner richtete sich bei ihrem Anblick intuitiv auf. Selig starrte Lisa verblüfft an.
»Guten Morgen. Mein Name ist Westphal.« Lisa lächelte gewinnend, begegnete kurz Seligs Blick, ging wie selbstverständlich zum freien Kopfende des Besprechungstisches. »Ich bin Referentin im Innenministerium. Meine Aufgabe ist, mit Ihnen Kontakt zu halten. Der Innenminister möchte täglich über den aktuellen Stand Ihrer Ermittlungen informiert werden.« Niemand antwortete. Lisa setzte sich, blickte fragend in die Runde: »Also?« Ihre Augen suchten Selig. »Herr Selig, sind Sie so freundlich und beginnen mit Ihrem Bericht?«
Selig stand wortlos auf, ging zur Tür, öffnete sie, blieb stehen und blickte Lisa auffordernd an. Sie zögerte, dann erhob sie sich, folgte der stummen Aufforderung.
Sie waren hinaus auf das Dach getreten. Die Sonne hatte die mit roten Schindeln verkleidete Betonfassade des Hauses aufgeheizt, drückende Wärme stieg an der Gebäudefront auf. Selig drehte sich um, blickte Lisa ärgerlich an.
»Was soll das? Wieso tauchst du hier einfach so auf?«
»Wieso nicht? Das ist mein Job.« Lisa gab sich entspannt, was Seligs Wut nur noch mehr anstachelte.
»Hättest du nicht anrufen können?«
»Oh, entschuldige, dass ich dich nicht über jeden meiner Schritte informiere!«
»Du weißt genau, was ich meine.«
»Paul, in dieser Stadt sind drei Bomben explodiert. Achtundsiebzig Menschen wurden getötet. Und du beschwerst dich, weil ich dich nicht anrufe?«
Ein Windstoß wehte ihren Geruch zu ihm herüber, diese unverwechselbare Mischung aus Vanille und warmem Heu, die Selig so gut kannte und die ihn an jene Nächte erinnerte, in denen sie wach in ihren Betten lagen und auf die Geräusche lauschten, die aus dem Schlafzimmer des Vaters drangen. Häufig, wenn ihr Vater sich für ein paar Stunden Frauen ins Haus kaufte, war Lisa zu ihrem Zwillingsbruder gekrochen und hatte sich in seinen Armen vergraben. Es waren die einzigen Momente, in denen er Stärke zeigen durfte.
»Paul, ich bin aus dem gleichen Grund hier wie du. Ich will herausbekommen, wer für die Anschläge verantwortlich ist.«
Selig blickte Lisa abschätzig an. »Und deshalb kommst du hierher, zu mir? Das glaube ich nicht.«
Er wandte sich ab, umfasste mit beiden Händen das Geländer der Brüstung, starrte über die Industriebrachen der unter ihnen liegenden Stadt. Lisa trat neben ihn. »Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. War viel los in der letzten Zeit.«
Selig schwieg. Einen Moment lang war nur das Rauschen des Verkehrs zu hören. Dann nahm er sich ein Herz. »Hab ich es dir zu verdanken, dass mich der Innenminister nicht abgelöst hat?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Für mich schon!«
Lisa seufzte. »Du änderst dich nie, Paul.«
»Hast du, oder hast du nicht?«
»Ich brauchte es nicht. Weyland hatte nicht vor, dich abzusetzen.« Lisa wandte sich ihm zu, sah ihn an. »Paul, es tut mir leid, aber ich hab nicht viel Zeit. Was weißt du? Wie ist der Stand eurer Ermittlungen?«
Selig zögerte. Vielleicht war es gut, dass Lisa gekommen war. Sie kannte seine Polizeidirektion, aber sie hatte nichts mit den inneren Abläufen im Haus zu tun. Vielleicht sollte er seinen Verdacht mit ihr besprechen. Er wusste, ihr scharfer Verstand und ihr analytischer Blick würden ihm eine Hilfe sein.
In dem Moment spürte er eine Berührung, Lisa legte ihre Hand auf seinen Arm. »Vergiss nicht, Paul, das ist eine riesige Chance für dich.«
Selig stutzte. »Was willst du damit sagen?«
»Jetzt komm schon, das weißt du so gut wie ich.« Selig blickte sie misstrauisch an. Lisa runzelte ungeduldig die Stirn. »Paul, das ist eine Nummer zu groß für dich.«
Selig erstarrte.
Lisa schien es nicht zu bemerken. »Sei ehrlich, Paul, du weißt, ich habe recht.«
Selig sah Lisa enttäuscht an. Dann wandte er sich zum Gehen. Lisa hielt ihn zurück. »Jetzt komm schon! Ich werde dir helfen. Niemand wird etwas mitbekommen.«
»Ich denke, du hast keine Zeit.«
»Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt! Oder glaubst du wirklich, du schaffst das alleine?«
Selig blickte Lisa stumm an.
Lisa begegnete seinem Blick. »Also?«
»Du hast den Bericht der Spurensicherung? Die sieben Obduktionsberichte?«
Lisa nickte.
»Mehr hab ich auch nicht.«
Und Selig drehte sich um, zog die Tür auf und ging zurück in das Gebäude.
Selig ging über den Parkplatz zu seinem Wagen, als ihn ein Ruf aus einem der Fenster im fünften Stock zurückhielt. Wenig später war Maria bei ihm, noch außer Atem. Sie schaute ihn an, zu verblüfft, um ärgerlich zu sein.
»Was ist los? Wir warten auf Sie!«
Selig erinnerte sich an seine Kollegen im Besprechungsraum. »Ach ja, richtig. Tut mir leid. Mir ist was dazwischengekommen.«
»Was dazwischengekommen?« Maria starrte ihn entgeistert an. »Sind Sie draußen aus dem Fall?«
Selig schüttelte den Kopf. »Nein.« Er überlegte kurz. »Bitte nehmen Sie sich den Bericht der LKA-Tatortgruppe und den Bericht unserer Spurensicherung vor und vergleichen sie alles mit den Berichten über die anderen beiden Anschläge. Ich will wissen, wo es Parallelen gibt und wo nicht.«
Maria sah ihn erstaunt an. »Und was ist mit den Verdächtigen?«
Selig dachte an die fünf Männer, die unter Tatverdacht standen, vermutlich weil ein Abteilungsleiter vom Verfassungsschutz die zweifelhaften Daten der Rasterfahndung ausgewertet hatte.
»Um die soll sich Wagner kümmern. Er soll nachfragen, was bisher unternommen wurde. Und Zinkowsky soll mit den Kollegen von der Wartungsabteilung sprechen. Mich interessiert, wie die Attentäter die Überwachungsanlage auf dem Bahnsteig manipuliert haben.«
»Das ist alles?« Maria war die Skepsis anzusehen. Selig, der seinen Wagen aufgeschlossen hatte, drehte sich um und blickte sie an. »Was sollten wir Ihrer Meinung nach noch tun?«
»Das ist kein normaler Fall, Herr Selig! Das war ein Anschlag. Von Terroristen.«
»Und?«
Maria starrte Selig verblüfft an, Ärger breitete sich in ihr aus. »Die Kollegen in der Ermittlungsgruppe arbeiten an der Sache schon seit über zwei Wochen. Wir wissen, wie die Bombe gebaut war, wir wissen, wie sie gezündet wurde. Wir wissen vermutlich sogar, wer für die Anschläge verantwortlich ist. Mit dem, was sie vorschlagen, verlieren wir nur Zeit.«
»Das war kein Vorschlag, Frau Fernandez.« Selig war selbst erstaunt über die Ruhe, mit der er Maria zurechtwies. »Tun Sie bitte, was ich gesagt habe! Rufen Sie mich an, wenn Sie die Berichte miteinander verglichen haben!«
»Aber …«
Selig unterbrach ihren Protest: »Danach melden Sie sich bitte im Bundeskriminalamt und nehmen Kontakt auf mit Matthias Trosche, er ist der Chef der Ermittlungsgruppe. Sie werden ab sofort für mich zu den Sitzungen gehen.«
Maria war zu überrascht, um noch etwas zu sagen. Selig stieg in seinen Wagen, schloss die Tür, startete den Motor. Er ließ das Fenster herabgleiten.
»Alles so weit klar?«
Maria nickte stumm. Sie zögerte, dann sprach sie aus, was sie ihn von Beginn des Gespräches an fragen wollte. »Eben, im Besprechungsraum, die Frau aus dem Innenministerium … Was ist da abgelaufen zwischen Ihnen beiden?«
Selig antwortete nicht.
»Sie kannten sich, richtig? Was wollte sie von Ihnen?«
Ohne ein weiteres Wort schloss Selig das Fenster.
Zur gleichen Zeit in einer kleinen, aufgeräumten Wohnung elf Kilometer südöstlich der Polizeidirektion: Verblüfft starrte der schlanke, asketisch wirkende Mann auf den Fernseher, den er eingeschaltet hatte, sofort nachdem ihn die Meldung in den Radionachrichten hatte aufmerken lassen. Eine Reporterin stand vor einem der Absperrgitter nahe des zerstörten S-Bahnhofes Savignyplatz und verkündete mit vielfach geübtem ernsten Blick die neuesten Gerüchte und Vermutungen, die sie im Gespräch mit Kollegen und Passanten recherchiert hatte. Die Regie des Nachrichtensenders schaltete das Bild der jungen Frau in ein kleines Fenster und legte Aufnahmen des von der Explosion aufgerissenen Bahnsteiges über ihren Aufsager, der leidlich geschickt zu verschleiern wusste, dass es seit Stunden nichts Neues mehr zu berichten gab.
Als sich die Bilder und Informationen zu wiederholen begannen, stand der Mann auf und schaltete den Fernseher ab. Regungslos blieb er stehen. Das, was dort über die Explosion gesagt wurde, war unmöglich! Es gab keinen dritten Anschlag! Nicht von ihm! Und doch schienen alle überzeugt, dass es so war.
Der Mann zögerte, dachte fieberhaft nach. Dann ging er in den Flur, stellte die Schneekugel, die er in der Hand gehalten hatte, auf das Regal und griff nach seiner Jacke. Diese Explosion war ein Geschenk, von wem auch immer es stammte. Er würde es annehmen.
Weyland blickte auf, als Lisa sein Büro betrat.
»Gut, dass Sie da sind. Das Kanzleramt hat angerufen. Bachstein wird es machen. Er kommt heute Morgen aus Washington zurück. Sein Büro hat ihm gleich nach seiner Ankunft eine Stunde freigeräumt.« Lisa nickte in Gedanken, ging zum Servierwagen und schenkte sich ungefragt einen Kaffee ein. Weyland runzelte die Stirn, dann sprach er weiter. »Ich möchte, dass Sie mit dabei sind.«
Lisa sah zu ihm hinüber. »Wobei?«
»Worüber reden wir hier eigentlich?«, entgegnete der Innenminister ungeduldig, während er aufstand und Lisa den Kaffee aus der Hand nahm. »Niemand kennt Kaskan besser als Sie. Spielen Sie Mäuschen, und dann berichten Sie mir!«
Weyland nahm einen Schluck Kaffee, ging mit der Tasse zurück zu seinem Schreibtisch. Lisa stand im Raum, zögerte.
»Das war’s dann, Frau Westphal. Wenn ich Sie brauche, lasse ich Sie holen.« Weyland setzte sich, widmete sich wieder seinen Papieren, es war der Bericht der Ermittlungsgruppe zum Stand der Untersuchungen.
Lisa zögerte, dann sah sie Weyland an. »Er ist mein Bruder.«
Der Innenminister stutzte. »Bitte?«
»Paul Selig. Der Kommissar, der bei Ihnen war und von dem Anschlag am Bahnhof Savignyplatz berichten wollte. Er ist mein Zwillingsbruder.«
»Der so gestottert hat?« Weyland lehnte sich zurück. »Und?«
»Wenn Sie möchten …«
»Ändert das irgendetwas an dem, was wir vorhaben?«, unterbrach Weyland sie.
»Nein.«
»Dann ist mir das egal.«
Der Innenminister wandte sich wieder den Papieren zu, schaute noch einmal kurz auf. »Wenn er Ihr Bruder ist, warum heißen Sie nicht wie er?«
Lisa zögerte. Sie hatte den verhassten Namen des Vaters abgelegt, kaum dass sie achtzehn Jahre alt geworden war und einen Mann gefunden hatte, der ihrer Liebe glaubte und sie heiratete. Die Ehe hatte keine sechs Monate gedauert. »Ich und mein Bruder sind nicht zusammen aufgewachsen«, log sie. Niemand, fand sie, ging ihre Vergangenheit etwas an.
Weyland schien ihrer Lüge zu glauben. Wortlos bedeutete er ihr, dass sie gehen könne, und schlug eine der vor ihm liegenden Akten auf.
Lisa drehte sich um und verließ das Büro.
Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, ließ Weyland die Mappe sinken. In seinem Kopf arbeitete es.
S