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Der rätselhafte Turm, der Simon magisch anzieht, zwei Augen, die ihn in der Dunkelheit verfolgen: Seit Simon in das Haus seines Großvaters umgezogen ist, häufen sich die merkwürdigen Ereignisse. Wohin ist sein Großvater so plötzlich verschwunden? Was hat es mit dem geheimnisvollen Buch auf sich, das er für Simon dagelassen hat? Zusammen mit Ira, einem Mädchen aus dem nahen Dorf, will Simon herausfinden, was hinter allem steckt, und stößt dabei auf das geheimnisvolle Erbe der Torwächter – ein Erbe, dem er selbst nicht entgehen kann ... "Der Torwächter" ist der spannende erste Teil der Torwächter-Reihe und Teil des Internet-Lese-Projektes "Kopf-Kick".
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Seitenzahl: 315
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Kopf-Kick
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Den Kopf auf seine Hände gestützt, saß Simon am Lagerfeuer und starrte in die Flammen. Er konnte nicht schlafen, der Tag war aufregend gewesen und in seinem Kopf kreisten die Gedanken. Hatte er wirklich erst vor zwei Nächten das Haus seiner Eltern verlassen? Waren sie wirklich erst zwei Tage lang unterwegs, auf Wegen, von denen er nicht geahnt hatte, dass es sie gab?
Es raschelte neben ihm, dann war ein leises Fauchen zu hören. Ashakida lag bei ihm am Feuer, sie schlief unruhig, den Kopf auf ihren Pfoten. Ihre Hinterläufe zuckten, offenbar träumte sie. Simon streckte seine Hand aus und strich ihr sanft über das silbern schimmernde Fell. Die Leopardin seufzte und rollte sich ein. Ruhig schlief sie weiter.
Eine Wolke schob sich vor den Mond, und die Finsternis kroch zurück in die Straßenschlucht, in der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Mit blinden Augen starrten die Häuser der verlassenen Stadt zu ihnen herab. Ein Windstoß fuhr durch die Ruinen und wirbelte Sand auf, trieb ihn als Schattenwolke durch die Dunkelheit. Leise prasselten die feinen Körner gegen das Gerippe eines ausgebrannten Lastwagens.
Simon zog sich die Kapuze seines Pullovers über den Kopf, dann nahm er ein Holzstück und warf es in das Feuer. Funken stoben, die Flammen flackerten auf. Vor einer Woche, dachte Simon, hatte er um diese Zeit in seinem Bett gelegen und geschlafen, in seinem Zimmer in dem alten Haus, in dem er mit seinen Eltern und seinem Bruder gelebt hatte. Er war ein ganz normaler dreizehnjähriger Junge gewesen, der morgens zur Schule und am Nachmittag wieder nach Hause ging, der Hausaufgaben machte und spielte, der sich mit seinem Bruder stritt und wieder versöhnte.
Warum hatte ihm nie jemand etwas gesagt? Warum hatte ihn niemand darauf vorbereitet, was geschehen würde?
Nachdenklich betrachtete Simon den silbernen Ring an seinem kleinen Finger. Der gelbe Stein in der Fassung sah stumpf und unscheinbar aus. Obwohl er den Ring häufig gesehen hatte, am Finger seines Großvaters und später an dem seines Vaters, war er ihm nie wirklich aufgefallen. Simon dachte an den Augenblick zurück, als ihm der Vater den Ring gegeben hatte. Er hatte aufmunternd gelächelt und Simons Hand fest um den Ring geschlossen. Dann hatten sie ihn fortgebracht. Es war das letzte Mal gewesen, dass er seinen Vater gesehen hatte.
Simon schluckte und er spürte Tränen in seinen Augenwinkeln. Trotzig wischte er sie weg. Er würde stark sein! Denn sie hatten eine Chance, den Kampf zu gewinnen! Das hatte Ashakida gesagt und er glaubte ihr. Denn alles, was er bisher von ihr erfahren hatte, war richtig gewesen, so seltsam und unglaublich es auch geklungen hatte.
Simon wickelte sich in die wärmende Folie und legte sich neben das Feuer. Ashakida rekelte sich im Schlaf und streckte ihre Pfoten von sich. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, rückte er an sie heran, bis er ihr Fell an seinem Körper spürte. Es war gut, nicht alleine zu sein.
Und während er versuchte einzuschlafen, dachte er zurück an jene Nacht, in der alles begonnen hatte …
1
In der Nacht, in der alles begann, lag Simon in seinem Bett und schlief. Es war warm, das Fenster des Zimmers, das er mit seinem Bruder teilte, war weit geöffnet. Der Duft der Nacht drang herein, und die Bäume rauschten leise, ein beruhigendes Flüstern, das ihn umhüllte.
Plötzlich schreckte Simon hoch. Sein Herz klopfte heftig. Hatte er gerade eben seinen Namen gehört? Er setzte sich auf und lauschte in die Dunkelheit. Im Haus war es still, seine Eltern schliefen. Auch im Bett auf der anderen Seite des Zimmers, in dem sein älterer Bruder lag, regte sich nichts.
Simon stand auf und trat ans Fenster. Der Mond stand hoch am Himmel und tauchte den Garten in kühles blaues Licht. Sanft strich der Nachtwind durch die Kronen der Olivenbäume. Ein Käuzchen rief, irgendwo schrie eine Katze, dann war es wieder still, bis auf das leise Rauschen des Meeres, das weit entfernt gegen die Küste brandete.
Langsam beruhigte sich Simons Herzschlag wieder. Ich muss geträumt haben, sagte er sich. Aber für einen Augenblick war er sich sicher gewesen, dass er die Stimme gehört hatte. Nur, wer sollte mitten in der Nacht, wenn alle schliefen, seinen Namen rufen?
Er wollte gerade zurück in sein Bett gehen, als er aus den Augenwinkeln unten im Garten eine Bewegung wahrnahm. Simon fuhr herum. Gespannt blickte er hinaus in die Dunkelheit. Nichts rührte sich, bis auf die Blätter der Bäume, die im Wind zitterten. Doch dann sah er es: Ein Schatten glitt durch das Gebüsch neben der alten Scheune, leise und ohne Eile. Der Schatten wurde langsamer, blieb stehen und verschmolz mit der Finsternis.
Simon beugte sich vor und starrte in die Nacht.
Auf einmal blitzte etwas auf: Zwei Augen sahen zu ihm hinauf, nur einen kurzen Moment lang, dann waren sie wieder verschwunden. Erschrocken wich Simon zurück. Was war das da draußen? Die Augen hatten geleuchtet, als ob in ihnen ein Licht brennen würde! Vorsichtig, den Atem angehalten, trat er wieder an das Fenster und sah hinaus.
Der Schatten war fort, auch die Augen waren nirgendwo zu sehen. Nur eine einsame Fledermaus flatterte um die alte Scheune.
Ein Seufzen ließ Simon zusammenfahren. Sein Bruder bewegte sich im Schlaf, er schmatze leise, sein Bett knarrte, wenig später tönte ein Schnarchen durch den Raum. Kurz überlegte Simon, den Bruder zu wecken und ihm alles zu erzählen, doch dann ließ er es lieber: Tim würde ihm nicht glauben. Er würde ihn stattdessen auslachen, so wie er es immer tat, und ihn danach tagelang verspotten.
Nach einem letzten Blick aus dem Fenster lief Simon zurück zu seinem Bett. Eilig kletterte er hinein. Vielleicht träume ich das alles tatsächlich nur, sagte er sich, während er die Decke über sich zog. Erst jetzt, in der Wärme seines Bettes, merkte Simon, dass er fror. Ob man im Traum auch frieren konnte? Simon wusste es nicht. Müdigkeit ergriff ihn. Er zog das Kopfkissen zu sich heran und kuschelte sich in seine Bettdecke. Sekunden später war er eingeschlafen.
2
Die Sonne schien ins Zimmer, als Simon am nächsten Morgen erwachte. Aus der Küche war das Klappern von Geschirr zu hören, dazu die Stimmen seiner Eltern, sie unterhielten sich leise. Das Bett seines Bruders war leer. Simon erschrak, weil er dachte, er hätte verschlafen, doch dann erinnerte er sich daran, wo er war und dass er nicht in die Schule musste: Hier hatten die Ferien gerade erst begonnen. Ein wenig traurig sog er die Luft ein, die durch das Fenster hereinkam und die so anders roch als zu Hause: Der Oleander blühte vor dem Haus, der Morgen war gesättigt von seinem Duft.
Simon kletterte aus dem Bett und ging zum Fenster. Die Oleanderblüten hatten sich geöffnet, die Büsche neben dem Gartentor waren voller roter Sterne. Bienen umschwirrten die Blütenkelche und unter den Zweigen hüpfte ein Rotkehlchen umher.
Im Licht der Sonne sah der Garten freundlich aus, ganz anders als in der Nacht zuvor. Auch die alte Scheune, die im Mondlicht unheimlich gewesen war, wirkte nun lauschig und einladend. Jetzt, am Tag, kamen ihm seine Erlebnisse der Nacht unwirklich vor.
Simon ging ins Bad und spritzte sich über dem Waschbecken ein paar Hände voll Wasser ins Gesicht. Prustend richtete er sich auf. Während er sich abtrocknete, betrachtete er sich im Spiegel. Sein Oberkörper war blass, nur die Arme, der Hals und das Gesicht waren von der Sonne gebräunt. Simon mochte es nicht, draußen vor den Augen anderer sein T-Shirt auszuziehen, sein Körper kam ihm in letzter Zeit viel zu schmal und zu dünn vor. Die meisten Jungs an seiner Schule hatten älter als er ausgesehen, und irgendwie waren sie auch cooler gewesen, zumindest emfand er das so. Nur seine beiden besten Freunde waren anders, mit ihnen hatte er über alles geredet. Sogar über seine Träume, und von denen erzählte er sonst niemandem etwas.
Seine Mutter sah ihn ernst an, als er hinab in die Küche kam. »Guten Morgen.« Sie strich ihm über die blond gelockten Haare und schob ihn zu seinem Platz am Küchentisch, auf dem schon ein geschmiertes Brot und ein Becher mit Milch auf ihn warteten. Simon erwiderte den Gruß, griff nach dem Brot und biss hinein. Erst jetzt bemerkte er, dass auch sein Vater in der Küche war, er stand an den Schrank gelehnt und beobachtete ihn. Er wirkte ernst, so wie seine Mutter.
Simon durchlief es siedend heiß. Sie wussten es! Sie wussten, dass er in der Scheune gewesen war, obwohl der Vater es ihm streng verboten hatte. Seit sie hier vor zwei Wochen angekommen und in das Haus des Großvaters eingezogen waren, hatte ihn die Scheune magisch angezogen. Das alte Gemäuer mit seinen staubblinden Fenstern stand im Garten hinter dem Haus, mit fest verschlossenen Türen, dafür hatte sein Vater gesorgt. Doch das Verbot hatte Simons Neugier nur noch weiter angestachelt, und immer wieder hatte er darüber nachgedacht, was sich wohl im Inneren der Scheune verbarg.
Die Stimme seines Vaters riss ihn aus seinen Gedanken.
»Alles klar bei dir?«
Erstaunt blickte Simon seinen Vater an: Das war nicht der Satz, den er erwartet hatte. Sie ahnten nichts, begriff er erleichtert. Möglichst beiläufig zuckte er mit den Schultern. »Ist alles okay.« Er hoffte, sie würden nicht merken, dass er ein schlechtes Gewissen hatte.
Sein Vater antwortete nicht. Simon sah, dass ihn etwas beunruhigte: Nervös drehte er den silbernen Ring an seinem kleinen Finger zwischen den Fingerspitzen der anderen Hand hin und her. Der gelbe Stein, der in einer schlichten Fassung am Ring festgemacht war, glänzte stumpf. Sein Vater suchte nach Worten. »Simon«, sagte er schließlich, »ich muss mit dir reden …«
Die Stimme der Mutter unterbrach ihn. »Nein, das musst du nicht.« Sie trat hinter Simon und legte die Hand auf seine Schulter. »Es ist zu früh.«
»Was ist zu früh?« Erstaunt blickte Simon zwischen seinen Eltern hin und her.
Seine Mutter versuchte ein Lächeln. »Es ist zu früh am Tag. Außerdem sind Ferien und die Sonne scheint. Los, iss auf, und dann raus aus dem Haus. Lern ein paar Freunde kennen. Die sind garantiert nett hier.«
Simon starrte sie verwundert an. Meinte sie das ernst? Rausgehen und Freunde kennenlernen? Er gehörte nicht hierher und solche Freunde wie zu Hause würde er hier garantiert nicht finden.
Seine Mutter lächelte aufmunternd. Erst jetzt sah Simon, dass ihre Augen ernst blieben. Stumm aß er auf und trank den Becher mit Milch leer, dann schob er seinen Stuhl zurück und ging hinaus. In der Tür drehte er sich noch einmal um: Seine Eltern sahen ihm schweigend nach.
Sein Bruder war im Hof vor der Werkstatt und schraubte an seinem Motorroller herum, als Simon das Haus verließ. »Na, Penner, aufgewacht?« Tim grinste. Er fand alles, was er sagte, besonders lässig, vor allem, wenn er es zu Simon sagte. Simon wusste, dass für Tim jüngere Brüder dazu da waren, große Brüder zu bewundern und ansonsten alles zu tun, was man ihnen sagte. »Du kannst mir mal was zu trinken holen.«
»Hol’s dir doch selber.« Ohne Tim weiter zu beachten, überquerte Simon den Hof und verschwand Richtung Garten. Solange sein Bruder an seinem Schrotthaufen herumfummelte, brauchte er nicht zu befürchten, dass Tim ihn nervte. Seit sein Bruder von den Eltern den alten Roller des Großvaters geschenkt bekommen hatte, war es für ihn das Größte, das rostige Gefährt auseinanderzubauen und wieder zusammenzusetzen, nur um festzustellen, dass es immer noch nicht funktionierte. Simon war fest davon überzeugt, die Sache mit dem Motorroller war ein Trick gewesen, um seinen Bruder ruhig zu stellen: Seit ihrer Ankunft hatte Tim kein Wort mehr über ihre ehemalige Heimat verloren.
Simon erreichte den Garten und öffnete das Tor. Sonnenlicht funkelte durch die Blätter der Olivenbäume, das Blumenbeet leuchtete, Bienen umschwärmten die üppigen Blütenkelche. Das frisch gemähte Gras roch nach Sommer. Es war ein wunderbarer Tag. Und doch merkte Simon, dass ihn etwas beunruhigte. Scheu sah er hinüber zur Scheune. Dort im Gebüsch hatte er den Schatten und die leuchtenden Augen gesehen. Falls er es doch nicht geträumt hatte: Wer oder was war in der Nacht in ihrem Garten gewesen?
Er wollte gerade die Äste eines Busches zur Seite biegen, um nachzusehen, ob der nächtliche Besucher Spuren hinterlassen hatte, als er stutzte: Die Scheunentür war nur angelehnt! Verblüfft sah sich er sich um. Niemand war zu sehen, auch aus dem Inneren der Scheune drang kein Laut. Zögernd ging Simon zu der Tür und stieß mit den Fingerspitzen gegen das alte, rissige Holz. Die Tür schwang leise knarrend einen Spalt weit auf.
Simon runzelte die Stirn. Er war sich sicher, dass er die Tür gestern abgeschlossen hatte. Heimlich hatte er den Schlüssel aus dem verborgenen Fach im Arbeitszimmer genommen und ihn nach seinem verbotenen Besuch in der Scheune auch dorthin wieder zurückgebracht. Jemand war nach ihm hier gewesen und hatte die Tür offen stehen gelassen. Nur wer? Sein Vater? Das war unmöglich. Sein Vater drehte jedes Mal, wenn er die Scheune verließ, den Schlüssel sorgfältig im Schloss. War es seine Mutter gewesen? Simon glaubte es nicht, er hatte sie noch nie in der Scheune gesehen.
Dann blieb nur noch Tim.
Simon sah hinüber zu seinem Bruder, der gerade mit einem Lappen ein angerostetes Metallteil aufpolierte. Tim war es genauso wie ihm verboten, in die Scheune zu gehen. Doch anders als ihn schien Tim dies überhaupt nicht zu stören. Tim interessierte sein Motorroller, sein Handy, sein Computer. Die Scheune war ihm völlig egal.
Hatte der nächtliche Besucher mit der offenen Scheunentür zu tun?
Simon sah zurück zum Haus. Seine Eltern waren nirgendwo zu sehen, wahrscheinlich waren sie noch in der Küche oder schon in ihrem Arbeitszimmer, das sie sich teilten. Vielleicht, überlegte Simon, fand er in der Scheune die Antwort darauf, wer in der Nacht in ihrem Garten gewesen war.
Vorsichtig drückte er die Tür auf und trat über die Schwelle.
3
Im Inneren der Scheune war es still, bis auf das Geräusch des Windes, der um das Gebäude strich. Matt schien die Sonne durch schmutzige Scheiben. Auch durch das Dach sickerte Licht, es tropfte durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln und kleckste Lichtpunkte auf den Boden. Die Luft roch muffig und abgestanden.
Als er am Tag zuvor das erste Mal die Scheune betreten hatte, war Simon enttäuscht gewesen: Gartengeräte, verrotte Möbel, ein Bretterstapel, vier verstaubte Autoreifen – nichts war wirklich aufregend, nichts rechtfertigte die Geheimnistuerei seines Vaters. Selbst der alte Trecker, der neben einem leeren, an die Wand gelehnten Türrahmen vor sich hin rostete, war nicht wirklich interessant. Heute jedoch kam Simon der Raum unter dem mächtigen Eichengebälk viel unheimlicher vor. Bedrohlich türmte sich das Gerümpel, und die Schatten in den Ecken waren so düster, dass Simon fürchtete, es könnten sich darin Nachtwesen verstecken, die die Helligkeit scheuten.
Könnte es sein, dass sich der nächtliche Besucher hier verbarg? Für einen Moment stellte Simon sich vor, wie sich das Wesen mit den leuchtenden Augen aus seinem Versteck löste und sich auf ihn stürzte. Vielleicht ist es besser, die Scheune wieder zu verlassen, dachte er und sah unruhig zurück zur Tür. Doch dann straffte er entschlossen seinen Körper: Wenn er herausfinden wollte, wer oder was sich hier verbarg, durfte er keine Angst haben.
Schritt für Schritt ging er weiter. Knarrend beugten sich die Dielen unter seinem Gewicht. Staubflusen wirbelten auf. Ein Windstoß fuhr um das Gebäude und ließ die Äste zittern, nervös tanzten die Sonnenstrahlen an der Wand.
Simons Herz klopfte. Je weiter er ging, desto glaubhafter kam ihm sein Erlebnis der vergangenen Nacht vor. Er hatte den Schatten im Gebüsch gesehen, war er sich nun sicher, und auch die leuchtenden Augen waren wirklich dort gewesen. Vielleicht hatte sich das unbekannte Wesen hierher in die Scheune zurückgezogen.
Plötzlich sah Simon aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Erschrocken wich er zurück: Der Bretterstapel neben ihm schwankte, dann donnerte krachend ein großes Holzstück herab und prallte auf die Stelle, an der Simon gerade eben noch gestanden hatte. Offenbar war er, ohne es zu bemerken, an den Stapel gestoßen, und ein Holzblock, der oben auf der Kante gelegen hatte, war heruntergefallen.
Simon wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Ihm wurde flau im Magen. Sein Blick verschwamm, und er tastete sich zu einer umgestürzten Obstkiste, um sich zu setzen. Das war knapp, dachte er. Simon holte tief Luft und wartete, dass sich sein Magen wieder beruhigte und das Schwindelgefühl nachließ.
Sein Blick fiel auf den leeren Türrahmen, der an der Wand lehnte. Ein Metalldorn steckte im Holz des Rahmens, auf der einen Seite war er spitz wie ein Nagel, auf der anderen breit und flach wie eine große Münze. Simon war der Dorn schon bei seinem ersten Besuch in der Scheune aufgefallen. Er hatte versucht, das Metall aus dem Holz zu ziehen, doch er hatte es nur etwas lockern können.
Simon stand auf und trat näher. Erst jetzt sah er, dass feine Spinnweben den Türrahmen umhüllten, kaum zu erkennen im Dämmerlicht. Eine winzige Spinne kroch gerade aus einer Ritze und zog einen Faden hinter sich her. Simon blies die Spinne zur Seite und betrachtete den Dorn. Ein Bild war auf der flachen Seite eingraviert, eine prachtvolle Rose, die vor einem Tor emporrankte und die den Durchgang mit ihren Blüten, Dornen und Blättern versperrte. Behutsam strich Simon über die Gravur. Noch nie hatte er so etwas Schönes gesehen.
Er wollte gerade noch einmal versuchen, den Dorn aus dem Holz zu ziehen, als er stutzte: Die eingravierte Rose ließ ihre Blüten etwas hängen. Simon sah sich das Bild genauer an. Auch die Blätter wirkten trocken, so als bräuchten sie Wasser. Gestern noch hatte die Rose prachtvoll geblüht! Ob er sich täuschte? Je länger er die Gravur betrachtete, desto unsicherer wurde er.
Aus einer der Ritzen im Holz krabbelte eine zweite Spinne, sie zog einen Faden hinter sich her und huschte den Türrahmen hinab. Den Metalldorn umging die Spinne in einem Bogen. Simon folgte ihr mit seinem Blick. Er mochte keine Spinnen, auch keine kleinen, aber wenn sie winzig waren wie die hier, waren sie nicht ganz so schlimm.
Plötzlich stutzte er. Vor ihm auf dem Boden waren Spuren zu sehen, die Abdrücke von Pfoten im Staub. Simon betrachtete sie genauer, sein Großvater hatte ihm bei ihrem letzten Besuch im vergangenen Sommer das Spurenlesen beigebracht: Die Abdrücke hier mussten von einer Katze stammen, vermutete er, allerdings von einer ziemlich großen Katze, größer als jede, die er bisher gesehen hatte. Gespannt folgte er der Spur, sie führte an der Wand entlang bis zur Scheunentür. Eine zweite Spur führte von der Tür zurück in das Scheuneninnere, diesmal am Holzstapel entlang. Die Tatzenabdrücke endeten direkt vor dem leeren Türrahmen.
Die Stirn gerunzelt, sah Simon sich um: Ringsherum gab es kein Versteck, auch war da kein Mauervorsprung oder Fenstersims, auf den sich die Katze hätte zurückziehen können. Wohin war das Tier verschwunden?
Noch während er nachdachte, krabbelte eine weitere Spinne aus einer Ritze und zog einen Faden über das Holz des Türrahmens.
Eine leise Stimme war zu hören, es war seine Mutter, die ihn suchte. Simon zögerte. Noch einmal sah er zurück zu den Spuren. Dann drehte er sich um und verließ die Scheune.
4
Simon hörte seine Mutter in der Küche leise singen, als er über den Hof ging. Das war ein gutes Zeichen: Hätte sie von seinem heimlichen Besuch in der Scheune gewusst, dann würde sie ihn in der Tür erwarten, schweigend und mit strengem Blick. Auch sein Vater konnte nichts bemerkt haben, sein Wagen war fort, er war aus dem Haus. Tim war ebenfalls nirgendwo zu sehen.
Erleichtert sprang Simon die Stufen hinauf, die zur Küche führten.
Als er den großen Raum betrat und seine Mutter sah, stöhnte er leise auf: Sie hatte ihre Haare mit einem Tuch hochgebunden und ihre Ärmel hochgekrempelt, und das bedeutete, dass sie voller Energie steckte und Großes vorhatte. Einen Hausputz zum Beispiel oder Marmelade einkochen, auf jeden Fall würde sie wie immer alle in ihrer Familie mit einplanen. Kein Wunder, dass sich Tim und der Vater verdrückt hatten.
»Heute räum ich alle Schränke aus und wir waschen das ganze Geschirr ab. Und danach koch ich uns für den Abend was Leckeres. Was hältst du davon?«
Es war vollkommen egal, was er davon hielt: Wenn seine Mutter sich etwas vorgenommen hatte, dann zog sie es durch. Also sparte Simon sich die Antwort und verzog nur genervt das Gesicht.
»Du gehst einkaufen«, fuhr sie fort. »Die Liste liegt auf dem Tisch.«
»Muss das sein?« Simon hasste es, wenn sie über ihn bestimmte.
Seine Mutter lächelte. »Du kannst auch abwaschen, wenn dir das lieber ist.«
Simon fand, dass das keine wirkliche Alternative war, und so nahm er sich die Einkaufsliste und die Geldbörse, stopfte beides in einen Rucksack und verzog sich eilig, bevor er noch weitere Aufgaben aufgedrückt bekam.
Schlecht gelaunt ging er die Auffahrt hinab. Lieber wäre er hiergeblieben, um im Garten nach weiteren Spuren zu suchen. Doch zum einen konnte er das seiner Mutter nicht sagen, und zum anderen hatte es keinen Sinn, in diesen Momenten mit ihr zu diskutieren. Er hatte es oft genug erlebt: Am Ende passierte genau das, was sie wollte. Selbst sein Vater kam nicht dagegen an.
Simon erreichte das Ende der Auffahrt und trat durch das alte, schmiedeeiserne Tor. Es stand offen, so wie immer, die Scharniere waren festgerostet. Ein Eichhörnchen huschte über die bröckelnde Mauer.
Der Schritt hinaus auf die Straße war wie der Schritt in eine andere Welt, Simon spürte es fast körperlich. Das Haus des Großvaters war ihm vertraut, ebenso der Garten mit seinen Olivenbäumen und den duftenden Oleanderbüschen. Selbst die alte Scheune gehörte irgendwie dazu. Doch auf der anderen Seite des Tores fühlte er sich fremd. Zwar kannte er die Umgebung: Früher, wenn sie den Großvater besucht hatten, war Simon häufig mit Tim über die Wiesen und durch die Olivenhaine gestrichen, oder sie hatten die Baustellen erkundet, die in den letzten Jahren ringsherum entstanden waren und die nun wie Wunden in der Landschaft klafften. Aber das war in den Ferien gewesen, ein Abenteuer in einem fremden Land. Jetzt sollte dies hier ihre neue Heimat sein! Simon fand die Vorstellung immer noch unglaublich.
Seufzend machte er sich auf den Weg.
Die Sonne brannte heiß, kaum dass er den Schatten der Bäume verlassen hatte. Simon blinzelte in das Licht. Hell glitzerte das Meer zu ihm herauf, die Sonne spiegelte sich in tausenden winzigen Wellen. Warmer Wind strich über den Hügel, er trug den Sandstaub fort, den Simon mit jedem Schritt aufwirbelte.
Vor ein paar Jahren, hatte sein Vater erzählt, war das Haus des Großvaters noch das einzige auf dem Hügel gewesen, nur umgeben von Feldern, Wiesen und knorrigen Olivenbäumen. Doch die nahe Stadt, deren Hochhäuser am Horizont in der Hitze flimmerten, wuchs ständig: Die Ferienhäuser, die überall gebaut wurden, waren die ersten Vorboten, bald würden die Lücken mit weiteren Häusern gefüllt werden, bis irgendwann ein neuer Stadtteil entstanden sein würde. Simon kam die Stadt wie ein lebendiges Wesen vor, das immer größer wurde und alles fraß, was sich ihm in den Weg stellte. Auch das Dorf unten am Ende der Straße würde bald gefressen werden. Schon kamen die ersten Makler und Bauunternehmer aus der Stadt und fuhren durch die Gassen, um ihre Claims abzustecken.
Endlich erreichte Simon das Dorf. Eine Tankstelle markierte den Ortsrand, der Besitzer hatte die Gebäude einer aufgegebenen Gemüseplantage gepachtet. Wie verdorrte Äste lagen die alten Bewässerungsrohre in der Sonne. Ein Stück weiter standen die ersten Häuser.
Simon wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seufzend sah er sich um. Seine Mutter hatte hier seinen Vater kennengelernt, während der Ferien, die sie in dem Ort verbracht hatte. Sie hatte oft von jenem Sommer erzählt, von den warmen Farben und den aromatischen Düften, von den freundlichen Menschen und den heimeligen Gassen. Simon verstand es nicht. Für ihn war das Dorf nichts weiter als eine Ansammlung trostloser Häuser, die sich entlang staubiger Straßen drängten.
Die Gasse, die zum Supermarkt führte, war lang und schmal, Simon kürzte den Weg über eine Treppe ab, die zwischen zwei Häusern hinabführte. Kaum jemand war um diese Uhrzeit unterwegs. Nur ein paar alte Frauen schlurften mit gebeugten Rücken und Plastiktüten in den Händen nach Hause. Missmutig kickte Simon einen Stein fort. Wie sollte er hier jemanden kennenlernen? Seine Mutter hatte gut reden! Ständig lag sie ihm in den Ohren, er solle endlich mal die Gegend erkunden, um neue Freunde zu finden.
Doch vielleicht ging es darum gar nicht. Ihm kam es vor, als wollte seine Mutter ihn weglocken, weg vom Haus des Großvaters, weg von der alten Scheune. Auch heute hatte sie ihn zum Einkaufen fortgeschickt, obwohl er sich sicher war, dass in der Speisekammer genug Vorräte lagerten. Je eher er zurückkehren und seine Spurensuche fortsetzen konnte, desto besser.
Die dicke Kassiererin hockte hinter ihrer Kasse und betrachtete ihn wohlwollend, als er den kleinen Laden betrat. Wie jedes Mal überschüttete sie ihn mit einem Schwall überfreundlicher Worte. Simon mühte sich ein Lächeln ab. Er verstand zwar, was sie sagte, sein Vater hatte ihm und Tim, als sie noch klein gewesen waren, die Sprache seines Heimatlandes beigebracht. Doch Simon schwieg. Was sollte er der dicken Kassiererin auch antworten? Dass er sich ebenfalls ganz entzückend fände? Dass auch er der Meinung sei, wunderbare blaue Augen zu haben? Geschickt wich er ihrer Hand aus, als sie ihm durch die Haare wuscheln wollte, und verschwand zwischen den Regalen. Kurze Zeit später hatte er seinen Einkaufskorb vollgepackt und steuerte die Kasse an. Noch einmal musste er die Wortflut der Kassiererin über sich ergehen lassen, dann konnte er den Laden endlich verlassen, seinen Rucksack auf dem Rücken.
Als er auf der Straße stand, zögerte er. Kurz entschlossen ging Simon nicht zurück den Hügel hinauf, sondern folgte der Straße hinab Richtung Hafen. Zwar wusste er den Weg nicht genau, doch er roch das Meer, es konnte nicht mehr weit sein.
Die Gasse, der er folgte, schlängelte sich zwischen sandfarbenen Häusern hindurch, und es ging steil bergab, der Ort war an einen Hang gebaut. Die Fensterläden der meisten Gebäude waren verschlossen, als Schutz vor der Hitze. Manche der Häuser standen leer.
Plötzlich bemerkte er hinter sich eine Bewegung. Simon fuhr herum. Dort rechts, an der morschen Mauer, dort hatte sich etwas bewegt! Aber die Straße hinter ihm war verlassen. Zögernd ging er weiter, auf den Klang seiner Schritte lauschend. Hohl schallten sie von den Häuserwänden zurück. Da, diesmal auf der anderen Seite! Erneut fuhr Simon herum. Wieder war niemand hinter ihm, obwohl er hätte schwören können, etwas gesehen zu haben. Eilig lief er weiter. Endlich, er dachte schon, er hätte sich verlaufen, sah er das Meer durch eine Häuserlücke aufblitzen. Er hatte sein Ziel erreicht.
Wie das ganze Dorf, war auch der Hafen alt und heruntergekommen. Er bestand aus einer schlichten Kaimauer, die früher ein paar Fischerkähnen Platz geboten hatte und die von zwei Molen zum Meer hin geschützt wurde. Eine Reihe baufälliger Häuser stand an der Kaistraße, daneben entdeckte Simon die Reste einer Markthalle. Längst legten hier keine Fischerboote mehr an, die Küste sei leer gefischt, hatte sein Vater erzählt. Eine verlassene Fischfabrik verfiel am Rand des Hafens.
Simon schlenderte den Kai hinunter. Eidechsen huschten über den sonnengewärmten Stein. Eine große Motorjacht hatte sich in das Hafenbecken verirrt, sie näherte sich gerade der Kaimauer. Der Skipper, ein dicker Mann mit nacktem Oberkörper, kurbelte aufgeregt am Steuerrad. »Hey, du da, hilf mir mal.«
Simon drehte sich erstaunt um. War er gemeint?
»Hast du Tomaten auf den Ohren? Hier, fang das Seil.« Der Dicke wuchtete seinen Körper eine Treppe hinunter und rannte zur Spitze der Jacht, wo eine Frau auf einer Sonnenliege saß und ihm unendlich gelangweilt zuschaute. Fluchend griff sich der Mann ein Tau und warf es hinüber ans Ufer. Simon erwischte das Seilende, bevor es zurück ins Wasser fiel. So gut er konnte, wickelte er es um einen Poller. Auch das zweite Seil, das ihm der Skipper zuwarf, machte er an einem der rostigen Metallpfosten fest.
Die Frau hatte der Aktion ohne eine Regung zugesehen. Jetzt, da das Schiff festgemacht war, ließ sie sich auf die Liege zurücksinken, um sich weiter zu sonnen. Simon betrachtete sie unauffällig: Sie war schlank und hatte lange schwarze Haare, und ihre Augen hatte sie hinter einer dunklen Brille versteckt. Ihre Nägel waren leuchtend rot lackiert, passend zur Farbe ihres knappen Bikinis. Simon fand das affig. Hinsehen musste er aber trotzdem.
Da hörte er hinter sich eine spöttische Stimme: »Gaffer!« Etwas zischte an seinem Kopf vorbei, Sekunden später klirrte Glas. Erschrocken fuhr Simon herum.
5
In der Fensterhöhle des verlassenen Hauses saß eine Gestalt, ein Junge auf den ersten Blick. Doch dann erkannte Simon, dass es ein Mädchen sein musste, kaum älter als er. Ihre dunklen kurzen Haare waren zerzaust und ihre Augen blitzten frech. »Hab ich dich gestört?« Sie grinste. Ihre Finger spielten mit einer Zwille in ihrer Hand.
Simon hatte keine Chance, zu antworten, denn im gleichen Augenblick dröhnte die wütende Stimme des Dicken über die Straße. »Was soll denn das? Spinnt ihr?« Ärgerlich starrte er auf ein zersplittertes Fenster im Cockpit seines Schiffes. Was auch immer das Mädchen mit seiner Zwille geschossen hatte, es hatte das Glas des Fensters getroffen.
»Bleibt, wo ihr seid!« Flinker, als Simon es erwartet hätte, drehte sich der Dicke um und eilte zur Reling, um an Land zu kommen. Das Mädchen machte keinerlei Anstalten, der Aufforderung nachzukommen: Sie schwang ihre Beine über die Fensterbrüstung und verschwand in dem leer stehenden Haus. Simon zögerte, doch nur kurz, denn er hörte, wie der Dicke die Gangway herabfallen ließ und an Land trampelte. Eilig kletterte Simon dem Mädchen hinterher.
Im Inneren des Hauses war es dunkler als draußen, Simons Augen brauchten etwas, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Schnell sah er sich um. Das Erdgeschoss bestand aus einem einzigen großen Raum, auf dem Boden lagen Müll und zerbrochenes Mauerwerk. Eine wackelige Treppe führte in das nächste Stockwerk. Simon hörte Schritte von oben, das Mädchen musste hinaufgelaufen sein. Er folgte ihr ohne nachzudenken, denn dazu blieb ihm keine Zeit: Der Dicke hatte bereits das Haus erreicht und sah durch das Fenster zu ihm herein, wobei er schon wieder brüllte, dass Simon stehen bleiben solle, um für den Schaden, den sie angerichtet hätten, zu büßen.
Die Treppe führte über mehrere Stockwerke nach oben. Jede Ebene ähnelte der vorangegangenen, alle waren mit Gerümpel vollgestopft und verdreckt. Ächzend knackten die Dielenbretter unter Simons Schritten. Ohne es zu wollen, stieß er eine der leeren Flaschen um, die auf den Stufen standen, polternd rollte sie hinab und riss andere Flaschen mit sich. Schließlich erreichte Simon die Treppe zum Dachboden. Das Holz der Stufen war hier noch morscher, und auch die Dielenbretter unter dem löcherigen Dach waren verfault und zum Teil zerbrochen. Das Mädchen war nirgendwo zu sehen.
Simon sah sich suchend um. Er glaubte nicht, dass sie sich hier oben versteckte: Weder sah er einen Ort, der dafür geeignet war, noch glaubte er, dass sie einfach hier warten würde, bis die Polizei kam. Denn dass der Dicke die Polizei holen würde, da war sich Simon sicher.
Sein Blick fiel auf eines der Dachfenster. Es war verschlossen, aber direkt daneben waren mehrere Ziegel verrutscht. Sonnenlicht fiel durch die Öffnung. Vorsichtig ging Simon zu dem Loch im Dach, angespannt auf die morschen Dielen starrend. Die Bretter bogen sich, doch sie trugen sein Gewicht. Er hielt sich an einem Dachsparren fest, setzte seinen Rucksack ab und zwängte seinen Oberkörper durch die Öffnung. Geblendet kniff er die Augen zusammen.
Der Ausblick von hier oben war atemberaubend: Rechts von ihm funkelte der blaue Ozean, auf der linken Seite breitete sich ein Meer von Dächern aus. Das Haus, in dem er sich befand, war höher als die umliegenden Gebäude, der Blick ging weit. Selbst das Anwesen des Großvaters war von hier aus zu sehen. Dahinter funkelte die Stadt in der Sonne, mit ihren Hochhaustürmen im Zentrum. Das höchste Gebäude der Stadt, der Tower, blinkte golden zu ihm herüber.
Suchend schaute Simon sich um. Einen Moment lang glaubte er, sich geirrt zu haben, doch dann hörte er ein spöttisches Lachen. Das Mädchen saß auf dem Dach des Nachbarhauses und blickte grinsend zu ihm herüber. Sie winkte ihm zu, dann sprang sie auf, balancierte ein kleines Stück auf dem First entlang, rutschte eine Dachschräge hinab und landete auf einer Terrasse darunter. Herausfordernd drehte sie sich um. »Viel Spaß mit dem Dicken, Schisser!« Abwartend blickte sie zu ihm, um zu sehen, was er tun würde.
Simon zögerte. Tatsächlich hörte er die Schritte des Dicken unten im Haus, ihr Verfolger machte sich gerade leise fluchend daran, die Treppe hinaufzusteigen. Zwar war Simon davon überzeugt, dass die Treppendielen das Gewicht des Dicken niemals aushalten würden – für den Moment war er hier oben sicher. Doch die Worte und mehr noch der Blick des Mädchens hatten ihn herausgefordert. Sie sollte bloß nicht glauben, dass er Angst hätte, ihr nachzuklettern!
Natürlich hatte er Angst, doch das würde er niemals zugeben.
»Was ist? Traust du dich nicht?«
Simon biss die Zähne zusammen. Er drückte sich hoch und stemmte seine Beine durch die Öffnung, bis er rittlings auf dem Dachfirst saß. Der Wind vom Meer pfiff ihm um die Ohren und blies ihm die Haare ins Gesicht. Simon merkte, wie es in seinem Magen kribbelte. Er angelte seinen Rucksack aus der Öffnung und setzte ihn auf, dann holte er tief Luft und schob sich langsam vorwärts bis zum Ende des Firsts, um von dort auf das etwas tiefer gelegene Nachbardach zu klettern. Das Mädchen schaute ihm interessiert zu. Vorsichtig robbte er weiter bis zu der Dachschräge oberhalb der Terrasse, dann ließ er sich herabrutschen. Er landete direkt vor ihr.
Für einen Augenblick standen sie sich gegenüber. Simon sah in ihre Augen: Sie waren dunkelbraun, ein kleiner goldgelber Schimmer umgab die Iris. Ihre Wimpern waren lang und an den Spitzen hell.
Das Mädchen grinste. Bevor er etwas sagen konnte, hatte sie sich umgedreht und war über das Geländer der Dachterrasse geklettert. Mit einem Sprung landete sie auf einem tiefer gelegenen Flachdach. Kurz blickte sie zu ihm zurück, dann lief sie weiter. Simon folgte ihr.
Ihre Flucht führte sie über eine Reihe von flachen oder mäßig schrägen Dächern und über verschiedene Dachterrassen. Simon war froh, dass er nicht erneut über einen Dachfirst robben musste, um ihr zu folgen. Mit der Zeit wurde er geschickter und traute sich mehr zu. Einmal glaubte er, einen anerkennenden Blick von ihr zu erhaschen. Doch es gelang ihm nicht, sie einzuholen, der Rucksack auf seinem Rücken behinderte ihn, außerdem war sie einfach schneller als er.
Auf einmal stoppte sie ihren Lauf. Vor ihr, am Ende des Daches, öffnete sich eine Lücke im Dächermeer, wie eine Felsspalte in einem Berg. Die Häuserreihe war hier zu Ende, eine schmale Gasse führte unten entlang. Das Mädchen sah zurück zu Simon und schien kurz zu überlegen, aber ehe er ihr zurufen konnte, sie solle stehen bleiben, war sie schon wieder losgelaufen. Mit angehaltenem Atem sah Simon, wie sie Anlauf nahm, um hinüber auf die andere Seite des Abgrunds zu springen.
Doch kurz bevor sie das Ende des Daches erreicht hatte, strauchelte sie, ein Dachziegel war unter ihrem Schritt verrutscht. Sie verlor das Gleichgewicht, stürzte und rollte auf den Abgrund zu. Verzweifelt suchte sie nach Halt, aber ihre Hände fanden nichts, um sich festzuklammern. Simon sah die Angst in ihrem Gesicht, er hörte ihren Schrei. Dann war das Mädchen verschwunden.
6
Für einen Augenblick wusste Simon nicht, was er tun sollte. Hilfe holen, das war sein erster Gedanke, einen Erwachsenen, zur Not sogar den Dicken. Dann kam ihm der Gedanke, dass er zuerst nach dem Mädchen sehen sollte. Vielleicht war ja schon jemand auf den Sturz aufmerksam geworden.
Simon mochte sich nicht ausmalen, was ihr passiert war.
Er warf seinen Rucksack ab, ging auf die Knie und kroch vorsichtig auf das Ende des Daches zu. Die letzten Meter robbte er auf dem Bauch. Langsam schob er seinen Kopf über die Kante. Er erwartete, unten in der Gasse einen verrenkten Körper liegen zu sehen, vielleicht ein paar Menschen, die sich aufgeregt über ihn beugten.
Die Gasse war leer.
»Hier bin ich!«
Simon stutzte.
Dann entdeckte er sie: Das Mädchen lag auf einem Vordach aus Wellblech, das jemand als Sonnenschutz über einem Fenster montiert hatte. Ihre Beine waren blutig, sie musste auf die Kante des Blechdaches geprallt sein und sich geistesgegenwärtig an der Halterung einer Klimaanlage festgehalten haben, bevor sie ganz herabgestürzt war. Noch immer hielt sie den dünnen Stahlträger mit einem Arm fest umklammert.
»Verdammter Mist. Jetzt mach schon, hilf mir! Ich weiß nicht, wie lange das Ding hier hält.«
Simon nickte nur und kroch zurück. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Ratlos blickte er um sich. Dann kam ihm ein Gedanke: Er lief zu der Reihe von Dachterrassen, die sie zuvor überquert hatten. Auf einer von ihnen fand er, was er jetzt brauchte: eine Wäscheleine aus Hanf, sie wirkte neu und schien stabil zu sein. Simon nahm die Schnur ab und balancierte wieder zu dem Dach, von dem das Mädchen abgestürzt war. Eilig schlang er die Leine um ein Metallrohr, Simon rüttelte kräftig daran, um zu prüfen, ob es hielt. Er verknotete die Schnur, dann kroch er zurück zur Dachkante und warf dem Mädchen das andere Ende zu. »Halt dich an dem Seil fest. Und dann zieh dich hoch. Ich helf dir.«
Misstrauisch beäugte das Mädchen die Wäscheleine, bevor sie zugriff und die Schnur mehrfach um ihren Arm wickelte. Zögernd ließ sie die Halterung der Klimaanlage los und stand auf, mit zitternden Knien. Das Wellblechdach ächzte unter ihrem Gewicht. Das Mädchen presste seinen Körper dicht an die Hauswand, dann kletterte sie auf die Klimaanlage und reckte sich, bis ihre Hand den Rand des Daches erreichte. Simon, der flach auf dem Dachfirst lag, hielt den Atem an. Er reichte dem Mädchen seine Hand, sie ergriff sie, und mit Simons Hilfe kletterte sie zurück auf das Dach. Gemeinsam krochen sie ein Stück von der Kante weg und ließen sich erschöpft auf den Dachziegeln nieder.