Der Tote am Hindenburgdamm / Mord in der Vogelkoje - Kari Köster-Lösche - E-Book
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Der Tote am Hindenburgdamm / Mord in der Vogelkoje E-Book

Kari Köster-Lösche

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Beschreibung

Zwei Sylt-Krimis der 1920er Jahre in einem E-Book!

Der Tote am Hindeburgdamm.

Mörderisches Sylt. Sylt 1923. Kriminalinspektor Niklas Asmus wird auf die Insel versetzt. Dort empfängt man ihn nicht gerade mit offenen Armen. Und ein Hort des Friedens scheint Sylt auch nicht zu sein. An dem Tod eines Landstreichers zeigt sich die örtliche Polizei allerdings wenig interessiert, und als auf einer Werft ein Anschlag verübt wird, beginnt lediglich Asmus Nachforschungen anzustellen. Dann jedoch findet man einen Toten an Sylts wichtigstem Bauwerk – an dem umstrittenen Damm, der die Insel mit dem Festland verbinden soll ...

Mord in der Vogelkoje.

Der Tote von Sylt. Vogelkojen zum Zweck des Entenfangs zu betreiben lohnt sich im Jahr 1924 nicht mehr: Die Zahl der einfliegenden Enten hat rapide abgenommen. Niklas Asmus, zum Schutzmann auf Sylt degradiert, und seine Verlobte Ose kämpfen im Stillen um ihren Erhalt. Als sie einen Toten in einem Abendanzug in einer der Fallen entdecken, begreifen sie, dass selbst die Vogelkojen das Interesse von skrupellosen Investoren gefunden haben. Am Ufer liegt versteckt im Schilf eine Lockente, die auf Sylt unüblich ist. Hat der Tote sie mitgebracht?

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Informationen zum Buch

Der Tote am Hindeburgdamm

Mörderisches Sylt

Sylt 1923. Kriminalinspektor Niklas Asmus wird auf die Insel versetzt. Dort empfängt man ihn nicht gerade mit offenen Armen. Und ein Hort des Friedens scheint Sylt auch nicht zu sein. An dem Tod eines Landstreichers zeigt sich die örtliche Polizei allerdings wenig interessiert, und als auf einer Werft ein Anschlag verübt wird, beginnt lediglich Asmus Nachforschungen anzustellen. Dann jedoch findet man einen Toten an Sylts wichtigstem Bauwerk – an dem umstrittenen Damm, der die Insel mit dem Festland verbinden soll.

Mord in der Vogelkoje

Der Tote von Sylt

Vogelkojen zum Zweck des Entenfangs zu betreiben lohnt sich im Jahr 1924 nicht mehr: Die Zahl der einfliegenden Enten hat rapide abgenommen. Niklas Asmus, zum Schutzmann auf Sylt degradiert, und seine Verlobte Ose kämpfen im Stillen um ihren Erhalt. Als sie einen Toten in einem Abendanzug in einer der Fallen entdecken, begreifen sie, dass selbst die Vogelkojen das Interesse von skrupellosen Investoren gefunden haben. Am Ufer liegt versteckt im Schilf eine Lockente, die auf Sylt unüblich ist. Hat der Tote sie mitgebracht?

Kari Köster-Lösche

DER TOTE AMHINDENBURGDAMM MORD INDER VOGELKOJE

Zwei Sylt-Krimis

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Der Tote am Hindenburgdamm

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Anmerkungen

Eine kleine Geschichte von Sylt

Mord in der Vogelkoje

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kleines Wortverzeichnis

Über Kari Köster-Lösche

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Kapitel 1

Ein kurzes Rucken seines Bootes alarmierte Niklas Asmus, den in Rostock degradierten und ab Frühjahr 1923 mit sofortiger Wirkung nach Sylt strafversetzten Kriminaloberinspektor. Seinen neuen Dienst trat er auf eigenem Kiel an: Statt mit der Eisenbahn ins dänische Hoyer zu fahren, um dort auf das deutsche Fährboot umzusteigen, segelte er nach Munkmarsch auf Sylt. Die Tiden hatte er selbstverständlich sorgfältig berechnet. Und erstmals schien er hier an der Ostküste von Sylt in Schwierigkeiten zu geraten.

Sollte er sich so bei den Tidenangaben verrechnet haben, und der Wasserstand bei ablaufendem Wasser bereits zu niedrig sein? Tidengewässer waren ihm fremd, er war bisher nur auf der Ostsee unterwegs gewesen.

Die Wasserstraße von der Sylter Südspitze bis zur Ostspitze war der gefährlichste Abschnitt seiner Reise von Rostock nach Munkmarsch. Ausgerechnet die Rinne, in der sich just die flachste Stelle befand, war nicht betonnt.

Schweiß trat ihm auf die Stirn, als der Kiel seines Kosterbootes Franziska nochmals deutlich auf Grund stieß. Es hatte zu viel Tiefgang für die Nordsee.

An Backbord voraus sah er die Halbinsel Nösse von Sylt, die Bake auf Horsbüll Steert lag gewiss schon zweieinhalb Seemeilen hinter ihm. Das Wetter war gut – sofern er nicht vom Kurs abgekommen war, mussten die Pricken, die ihn nördlich von Nösse zwischen den Sandbänken Mittel-Sand und Hesten-Dragt durchleiten würden, bald in Sicht kommen. Immer wieder suchte er mit dem Fernglas den Horizont ab – die verflixte Ansteuerungstonne, die den Anfang der Rinne bildete, konnte doch nicht vertrieben sein!

Nichts. Weder eine Tonne noch Besen.

Aber das Unterwasserschiff schrappte immer mal wie zur Warnung am Untergrund. In immer kürzeren Abständen.

Um Fahrt aus dem Boot zu nehmen, ließ er das Großsegel ein wenig heraus. Gehorsam wurde die Franziska langsamer, aber im Übrigen nutzte sein Manöver herzlich wenig. Die Wellen, obwohl träge mitlaufend, ließen keinen Blick auf den Grund zu – das Wasser war grau und unsichtig. Ganz anders als zwischen den dänischen Inseln, wo man bei solch leichtem Wind den steinigen Boden und einzelne Tangpflanzen gut erkennen konnte und manchmal sogar huschende Krabben auf Jagd.

Asmus holte tief Luft. Das war vorbei. Der Rostocker Teil seines Lebens war ein Opfer der turbulenten Politik geworden, zu der seit dem Ende des Weltkriegs Putsche, Inflation und Verarmung großer Bevölkerungskreise gehörten. Ebenso die Entlassung oder Strafversetzung von Beamten; nicht selten waren sie Rachemaßnahmen der politischen Gewinner, der ehemaligen Gegner, die in höhere Ämter aufgestiegen waren.

So gesehen hätte es ihn noch schlimmer treffen können. Er war jetzt ein einfacher Schutzmann, der Streife gehen würde und sich um Verkehrsunfälle zu kümmern hatte. Dabei wusste er nicht einmal, ob es auf Sylt auch schon Autos gab oder er nur Streitigkeiten zwischen überalterten Hochradfahrern und Kutschern zu schlichten haben würde.

Da, endlich! Er sah die grüne Tonne, die er suchte, weiter an Backbord, als er vermutet hatte. Umgehend fiel er ab, er war zu hoch am Wind gesegelt, um nicht zu nahe an die Ausläufer von Nösse zu geraten.

Die Geräusche am Kiel verstummten. Asmus atmete auf. Er hatte sich nicht verrechnet, und er war auch nicht zu spät, sondern war um wenige Schiffslängen aus dem tiefen Teil der Rinne abgekommen und an deren Rand geraten, wo der Schlick offenbar eine steil emporragende Wand bildete.

Hinter der Ansteuerungstonne begann die ausgeprickte Rinne, ein Besen hinter dem anderen. Und da der Wind handig war und aus der richtigen Richtung blies, hatte er kein Problem, mit halbem Wind hindurchzurauschen und dann durch das Pander Tief entlang der beiden Leitfeuer den kleinen Hafen Munkmarsch anzulaufen.

Aber das Gewässer war eindeutig schwieriger als die Ostsee zwischen den dänischen Inseln. Schiffsführer, die hier tätig waren, hatten seine Hochachtung.

Das Hafenbecken öffnete sich nach Süden, nördlich von ihm lag eine Landzunge, an der entlang er durch Baken geleitet wurde. Kurz vor dem Molenkopf an einer langen Brücke ließ er das Großsegel herab. Mit der letzten Fahrt im Schiff manövrierte er die Franziska längsseits an die Spundwand und legte hinter zwei dort vertäuten Fischerbooten an.

Während er seine Festmacher an Land warf und an den Pollern auf Slip belegte, kam bereits ein kurzbeiniger Sylter auf Holzschuhen herangeklappert, wobei ihm die Stummelpfeife zwischen den Lippen wippte.

Er war aus dem Fährhaus gekommen, also wohl eine Art Hafenverantwortlicher. Asmus sah schweigend zu, wie der ältliche Mann mit knittrigem und von der Sonne gebräuntem Gesicht sein Boot von Bug bis Heck abschritt und dann plötzlich ausstieß: »Ahoi Franziska, moin, moin. Wenn das Wasser wieder aufläuft, musst du dich nach binnen zu den kleinen Booten verlegen. Hier an der Legatsbrücke legt die Fähre an.«

»Moin, moin.« Ahoi? Asmus schmunzelte in sich hinein. Seine Franziska gehörte ja nicht zur Großschifffahrt. »Mache ich«, versicherte er.

»Woher kommst du? Habe dich hier noch nie gesehen«, forschte der andere. »Du bist wohl nicht von der Westküste.«

»Von der Ostsee«, antwortete Asmus belustigt und strich sich über seine Locken, mit denen er wie viele Dänen aussah: blond, großgewachsen, kantiges, energisches Gesicht. Im Gegensatz zu ihm war Mart, so nannte er sich, klein und dunkelhaarig, eher das Gegenteil eines Friesen, wie er ihn sich vorstellte.

»Darum auch der ungewöhnliche Schiffstyp. So einen habe ich noch nie gesehen.«

»Spitzgatter, Langkieler. Das Spitzgatt ist sehr gut für raue See. Im Kattegat segeln sie solche Boote als Lotsenkutter, dann sind sie allerdings doppelt so lang wie meine Franziska oder noch länger. Da oben ist es häufig stürmisch.«

»Tiefgang?«

Mart hatte sich an dem Thema festgebissen, das ihn brennend interessierte. Obendrein runzelte er vorwurfsvoll die Stirn. Asmus holte genervt Luft. »Einsfünfundzwanzig.«

»Zu viel für das Wattenmeer. Zu deinem Glück ist der Grund im Hafen überall fest. Dein Langkieler wird aufrecht stehen können, wenn du ihn vernünftig abspannst.«

»Ich habe Wattstützen. Und wer bist du?«, erkundigte sich Asmus, um von dem peinlichen Umstand abzulenken, dass er mit einem für das Gewässer unpassenden Boot segelte und anscheinend der Verdacht bestand, dass er demnächst die Seenotretter um Hilfe anpreien würde. So etwas war ihm noch nie passiert.

»Mart.« Er drehte sich um und zeigte mit der Pfeife auf das einzige Haus, das in Frage kam. »Ich betreibe den Gasthof am Hafen. Beherbergt Quartier für an- und abreisende Badegäste, wenn die Fähre wegen des Wasserstands nicht fahren kann, außerdem Posthalterei, Aufenthaltsraum und kleinen Ausschank. Du bist auch willkommen.«

»Danke. Ich komme bestimmt kurz mal vorbei. Ich schlafe auf meinem Boot.«

Mart rümpfte die Nase. »Nicht sehr bequem, oder? Für eine Reise rund um Dänemark mag es angehen, wenn es einem nichts ausmacht, nass zu schlafen. Aber in meinem Haus wäre es bequemer, so für eine oder zwei Nächte. Und was hast du danach vor? Weiter nach Norden, an Röm vorbei, durch das Skagerrak bis ins Kattegat? Du, die Kante da oben ist gefährlich! Fahr lieber durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal zurück. Welches ist denn dein Heimathafen?«

Welche Wortflut! »In der Ostsee keiner mehr.« Asmus schüttelte, plötzlich voller Wehmut, den Kopf. »Munkmarsch ab jetzt. Ich bleibe hier.«

»Hier? Als Gast für den Sommer? Dann musst du ja gut betucht sein … Heutzutage. Wir haben sehr gute Hotels und Logierhäuser auf Sylt. Ich kann dir die besten empfehlen.«

»Du hast mich nicht richtig verstanden, Mart«, erklärte Asmus ernst. »Ich wohne ab heute in Munkmarsch, und zwar auf meinem Boot.« Ein Hotel hätte er sich auch in Normalzeiten in Westerland, das als überteuert galt, von seinem Gehalt nicht leisten können. Und die Zeit war alles andere als normal, wahrscheinlich hatten sich die Preise seit seiner Abreise aus Rostock verzehnfacht. Sein Gehalt nicht.

Mart riss sich die Pfeife aus dem Mund. In seinem Gesicht mit grauen Bartstoppeln malte sich Empörung. »Bist du … Nein, du bist doch nicht etwa der neue Schupo, der Niklas Asmus?« Mit offenem Mund erforschte er Asmus’ Äußeres von der Schirmmütze bis zu den gummibesohlten Schuhen. »Warum haben Sie sich nicht gleich zu erkennen gegeben?«

Asmus runzelte verständnislos die Stirn. »Was heißt denn zu erkennen gegeben?«

»Na ja, Sie hätten ja wie jeder Schupo in Uniform sein können …«, murmelte Mart ein wenig verlegen. »Auf jeden Fall werden wir dann wohl öfter noch das Vergnügen miteinander haben.« Abrupt drehte er sich um und stakte eilends zum Fährhaus zurück.

»Das werden wir wohl.« Asmus sah ihm verblüfft nach.

Aus dem Haus war inzwischen ein weiterer Mann getreten, dem eine Schirmmütze einen offiziellen Anstrich verlieh. Beide steckten die Köpfe zusammen und besprachen sich.

Asmus merkte, dass er Gegenstand ihrer getuschelten Konferenz war. Womit hatte er sich denn Abfuhr und Aufmerksamkeit von Syltern verdient, kaum dass er die Insel betreten hatte?

Diese Frage würde er später klären. Jetzt hatte er gehörigen Hunger.

Erst einmal schlug er sich drei Eier in die Pfanne, die er beidseitig briet, dann setzte er sich ins Cockpit und betrachtete während des Essens die Umgebung, die für eine Weile seine neue Heimat sein würde.

Außer dem Fährhaus, drei Bauernhöfen und zwei kleineren Häusern gab es einen markanten Hügel. Auf ihm hätte laut Segel-Handbuch eine Mühle stehen sollen, ein Ansteuerungsmerkmal für einsegelnde Fahrzeuge. Schon in der Rinne hatte er sie vermisst. Offensichtlich war die Mühle inzwischen abgerissen worden. Um den Fuß des Hügels führten die Schienen einer Schmalspurbahn herum, die am Fährhaus vor zwei Puffern endete.

Der größte Gebäudekomplex war eine Werft neben dem Hafenbecken, in der, den Geräuschen nach zu urteilen, lebhaft gearbeitet wurde. Zwei Kutter waren auf der Helling aufgepallt, und davor lagen im Wasser mehrere ähnlich aussehende Arbeitsboote im Päckchen. Möglicherweise Austernfischer, denn die Fangsaison war gerade zu Ende gegangen.

Mehr gab es anscheinend nicht zu sehen, nur Sand und Gras.

Ein Lüttfischer verließ den Hafen, um Netze oder Reusen auszulegen, und danach war nur das Ping-Ping von Hammerschlag auf Eisen zu hören. Die sanfte Brise hatte sich gelegt, und insgesamt machte die Welt hier einen friedlichen Eindruck.

Es war früher Nachmittag, als Asmus angelegt hatte. Da der Hafen inzwischen teilweise trockengefallen war, war ihm klar, dass heute keine Fähre mehr erwartet würde.

Verkehrte der Zug nach Westerland möglicherweise trotzdem? Vielleicht für Badegäste, die sich für den Hafen oder die Werft interessierten? Nicht allzu beflissen, an diesem sonnigen Maitag in seine neue Dienststelle zu gelangen, schlenderte Asmus zum Fährhaus hinüber, wo er nach Anschlägen für die Fährzeiten und die Zugverbindung nach Westerland suchte. Immerhin gab es sie.

»Die Fähre verkehrt tidenabhängig und nach Bedarf (im Winter unregelmäßig), die Fahrzeiten der Dampfspurbahn richten sich in der Regel nach den Fährzeiten«, las er und war damit so schlau wie zuvor.

Der Mann, mit dem Mart konferiert hatte, trat aus der nächsten Tür, worauf er mit der Hand die Augen beschattete und gewissenhaft über den Hafen spähte, als ob er die vielen Neuankömmlinge zu zählen hätte.

Asmus grinste. »Kein neues Boot außer meinem«, bemerkte er launig. »Franziska aus Rostock. Kannst du mir sagen, ob heute noch ein Zug nach Westerland geht?«

Der Kerl zählte und zählte. Als er endlich sicher zu sein schien, dass es sich nur um drei Fischerboote am Anleger handelte, wandte er sich ab und verschwand wieder im Haus.

Er musste taub sein.

Dann fiel Asmus aber ein, wie er die beiden Männer im Gespräch gesehen hatte. Beide schienen eine unüberwindliche Abneigung gegen Schupos zu besitzen.

Er fragte sich, ob Sylt ihm wirklich gefallen würde.

Eine neue Suche in den Anschlägen an der Wand bescherte ihm wider Erwarten endlich eine handfeste Information. »Für unsere mit dem Rad fahrenden Gäste«, stand da. »Die Entfernung nach Westerland beträgt 4,2 km, bei West- und Südwestwind das Doppelte.«

Die Uhr sagte Asmus, dass die Wanderung nach Westerland am Spätnachmittag sich erübrigte, denn er würde erst nach Feierabend der Polizei ankommen. Zwar sollte die Wache besetzt sein, aber sicherlich nicht mit seinem neuen Vorgesetzten.

Asmus war nicht böse darüber. Er beschloss, selber Feierabend zu machen.

Am nächsten Vormittag schaukelte ihn die Kleinbahn durch welliges Dünengelände nach Westerland. Neben den Gleisen verlief ein Weg, in Hafennähe bestand er größtenteils noch aus Dünensand, später führte er als Karrenspur auf festerem Untergrund weiter. Vermutlich war dies der alte Kutschenweg, auf dem die Badegäste vor dem Bau der Eisenbahn geholt und gebracht worden waren.

Asmus beschloss spontan, sich für seinen Weg zum Dienst ein Motorrad zuzulegen. Seine ehemals reiche Familie in Rostock, die unter seinen zwei Brüdern zwei ebenfalls ehemals große Reedereien betrieb, würde ihm unter die Arme greifen müssen. Leider waren viele ihrer Schiffe im Krieg Opfer der feindlichen U-Boote geworden, oder sie waren als Kriegsbeute konfisziert worden. Trotzdem würden die älteren Brüder ihre Dankbarkeit, dass Niklas mit seinem losen Mundwerk ihre behutsame Geschäftspolitik nicht mehr gefährden konnte, handfest unter Beweis stellen müssen.

Wie bei vielen gutgestellten Bürgern galt die Loyalität der Reederfamilie Asmus dem Freistaat Mecklenburg-Schwerin. Seltsamerweise war Niklas Asmus ohne Angaben von Gründen in den Freistaat Preußen versetzt worden, wozu Sylt gehörte. In diesen turbulenten Zeiten war es nicht klug, auf der Rechtfertigung oberer Chargen zu bestehen, denn eine aufmüpfige oder gar kritische Haltung war in der Weimarer Republik demokratiefeindlich, und deshalb hatte Asmus – auch auf Anraten seiner Brüder – darauf verzichtet.

Stattdessen hatte er sich über das preußische Polizeiwesen erkundigt, so gut er es zu durchdringen vermochte. Das war noch komplizierter und politischer ausgerichtet als das von Mecklenburg. Die preußische Polizei war ebenso wie die von Mecklenburg mit Beginn der Weimarer Republik gründlich umstrukturiert worden. Ausschließlich Republikaner stiegen dort in führende Positionen auf, und das verhieß für Asmus nichts Gutes.

Wahrscheinlich vor allem Flaschen, dachte Asmus und ballte erbittert die Fäuste wegen der Flasche, die es in seiner Rostocker Dienststelle vom Untergebenen zu seinem Vorgesetzten gebracht und sich seiner schleunigst entledigt hatte.

Unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft verdrängte er seinen Zorn, betrachtete die flachen Sandhügel neben der Bahnlinie und sah im Hintergrund die Umrisse des Städtchens Westerland, seinem neuen Arbeitsort, wachsen.

Nicht weit vom künftigen Reichsbahnhof, dessen Baulärm in alle benachbarten Straßen drang, befand sich in der Feldstraße die Polizeidienststelle in einem einstöckigen roten Backsteinhaus. Hinter der Flügeltür roch es feucht und schimmelig. Ein Schild wies zur Wache, und dorthin wandte Asmus sich.

»Ich möchte Herrn Sinkwitz sprechen«, verlangte er von dem Uniformierten, der jenseits des hohen Tresens saß und von dem nur der Kopf unter einer Uniformmütze zu sehen war.

Nach einer Weile blickte dieser auf. »Moin erstmal. Und warum möchten Sie mit Hauptwachtmeister Sinkwitz sprechen?«

»Ich soll mich bei ihm melden«, antwortete Asmus steif. »Ich trete heute meinen Dienst hier an.«

»Sie?«

»Ich.«

»Ich, Herr Oberwachtmeister«, korrigierte der Diensthabende. »Oder: ich, Oberwachtmeister Jung.«

»Meinetwegen«, knurrte Asmus. Es ging bereits so los, wie er es sich gedacht hatte.

Kapitel 2

Niklas Asmus hatte eine geraume Zeit zu warten, danach wurde er in das Arbeitszimmer des Dienststellenchefs geführt. Hauptwachtmeister Sinkwitz war äußerlich das Gegenteil seines Oberwachtmeisters, mittelgroß, braunhaarig und stämmig. Mit missbilligend gerümpfter, auffällig großer Nase betrachtete er Asmus lange, bevor er das Wort an ihn richtete.

»Wachtmeister Asmus, nehmen Sie bitte Haltung an, wenn Sie mir Meldung erstatten«, verlangte er schließlich.

Asmus tat es. Er hatte es schlicht vergessen, da es bei ihnen in Rostock nicht üblich gewesen war. Das war einer der Unterschiede zwischen Schutzpolizei und Kriminalpolizei.

»Ich nehme an, dass Sie eine entspannte Herfahrt hatten, auf eigener Yacht … So reich zu sein muss schön sein, ist aber nicht jedem gegeben. Es gibt ja auch Menschen, die für ihren Unterhalt arbeiten müssen. Nun gut, die Verhältnisse haben sich zum Glück für uns kleine Leute wenigstens etwas geändert. Deswegen sind Sie wohl auch nicht im Gesellschaftsanzug angetreten.«

Asmus verschlug es zunächst die Sprache. Was war das für ein Kerl, der erst einmal sein persönliches Gift über einen neuen Mitarbeiter ausschütten musste? Aber, nun gut. Diese Sorte kannte er aus Rostock. »Der Gesellschaftsanzug, den Sie meinen, war bei Gästen auf der kaiserlichen Yacht gefordert, als wir noch einen Kaiser hatten«, bemerkte er sachlich. »Heutzutage ist ein Gesellschaftsanzug ein Smoking. Und ich habe keine Yacht, sondern ein für meine Bedürfnisse umgebautes Fischerboot. Gebraucht gekauft und zusammen mit einem Freund in schwimmfähigen Zustand gebracht.«

»Ach, wie nett. Dann haben wir ja ab jetzt jemanden, der sich auf Reparaturarbeiten in unserer Wache versteht. Ich habe ohnehin keine sonderliche Verwendung für Sie. Angefordert habe ich Sie bestimmt nicht.«

Asmus nickte knapp. Herausfordern ließ er sich nicht. Er beabsichtigte nicht, gleich am ersten Tag in den Arrest zu gehen.

»Lassen Sie sich von Oberwachtmeister Jung die Kleiderkammer zeigen und suchen Sie heraus, was Sie brauchen. Anschließend legen Sie Jung die Sachen vor und lassen sie billigen. Einen Degen kriegen Sie erst, wenn Sie sich bewährt haben.«

Wieder nickte Asmus, dann fiel ihm zum Glück noch ein, dass er zu bestätigen hatte. »Jawohl, Hauptwachtmeister Sinkwitz.«

Inzwischen war ein junger Mann eingetroffen, der mit den Ellenbogen auf dem Tresen, das Kinn in die Hände gestützt, herumlümmelte, ohne von Jung zurechtgewiesen zu werden. Seine braune Schulterklappe mit silbernem Riegel wies ihn als Wachtmeister aus, der schon mehr als vier Jahre Dienst schob.

»Unser neuer Kamerad, moin, moin«, sagte er freundlich und kam mit ausgestreckter Hand auf Asmus zu. »Ich bin Lorns Matthiesen.«

Ein unerwarteter Lichtblick. Außerdem der Sprache nach endlich ein Einheimischer, genauso groß wie Asmus. Er lächelte zurückhaltend und stellte sich selbst vor. »Ich soll von Ihnen, Herr Oberwachtmeister Jung, zur Kleiderkammer gebracht werden«, meinte er dann.

»Oh, das kann Lorns machen. Aber gib ihm keinen Degen!« Der Befehl galt Matthiesen.

»Keinen Degen?«, fragte der Wachtmeister verblüfft. »Wieso das denn nicht? Unsere Ladendiebe lachen ihn doch aus, wenn er unbewaffnet ist.«

»Befehl von Sinkwitz.«

»Aha«, grummelte Matthiesen, und Asmus konnte ihm ansehen, dass es ihm nicht recht war. Dann winkte er ihn schon mit sich.

Die Kleiderkammer war ein kleines Gelass. Auf Regalen befanden sich grüne, zum Teil blass gewaschene Uniformen und eine Reihe schwarzer Tschakos. Als Asmus sich umgezogen hatte, raunte Matthiesen ihm zu: »Wir gehen jetzt gemeinsam auf Streife. Bestehen Sie darauf! Gemeinsam!«

Was mochte das wohl heißen, überlegte Asmus, aber zum Nachfragen blieb keine Zeit.

Als sie wieder in der Wache ankamen, sah Jung nur kurz von dem Journal auf, in dem er schrieb. »Du kannst mich beim Eintragen der Vorfälle ablösen, Lorns, und Asmus sieht sich draußen um.«

Asmus begriff schnell. Jung wollte ihn allein durch die Stadt schicken. »Könnte ich einen Stadtplan bekommen, damit ich mich in Westerland orientieren kann?«

»Stadtplan?« Jung wirkte ratlos.

»Ja, jede aufstrebende Stadt hat einen.« Asmus breitete die Arme aus, als ob er jemanden umarmen wollte, um die Größe anzugeben.

»Oberwachtmeister, wie würde das denn aussehen«, griff Matthiesen gepeinigt ein, »wenn ein Polizist auf dem Stadtplan nachsehen muss, wo sich die Wache befindet? Oder gar Passanten fragt, wie er zu ihr zurückkommt. Der macht sich doch sofort bei unserer langfingerigen Kundschaft lächerlich. Ein Schupo ohne Degen, aber mit Stadtplan! Das würde nicht einmal HWM Sinkwitz gutheißen.«

»Sag gefälligst nicht immer HWM«, schnauzte Jung und verfiel in Nachdenken. »Ja, gut«, gab er dann widerstrebend zu, »an diesem ersten Tag zeigst du ihm das Revier, aber das muss reichen. Ich hoffe, er begreift schnell genug. Und beeilt euch. Ich und Jep müssen nachher los, um den Fall ›ohne Namen‹ zu klären.«

Matthiesen blinzelte Asmus zu, salutierte und wandte sich Richtung Ausgang. Asmus folgte ihm auf den Fersen.

Draußen auf der Straße stieß Matthiesen einen Stoßseufzer aus. »Ich habe überhaupt keine Angst, dass Sie das Revier nicht schnell genug in den Kopf kriegen, so schlau, wie Sie den Jung in die Enge getrieben haben.«

Asmus nickte schweigend. Die Zusammensetzung der Polizisten dieser Wache schien schon auf den ersten Blick kompliziert, jetzt noch viel mehr. Er hatte seine Leute in Rostock zu einer Gruppe zusammengeschmiedet, in der es Grabenkämpfe nicht gab. Nichts war schädlicher für die Arbeit. Aber er hütete sich, sich zu offen mit jemandem zu solidarisieren, das wäre sehr unklug gewesen. Dabei schien Matthiesen ein argloser, williger Kollege zu sein.

Matthiesen erwartete keine Antwort. »Vor dem Jung muss man sich in Acht nehmen. Er ist brandehrgeizig und will Karriere um jeden Preis machen, allerdings nicht, indem er erfolgreiche Arbeit leistet. Er schreibt nicht gerne. Wenn ich auf seinen Befehl eingegangen wäre, wäre er in der gleichen Minute bei Sinkwitz gewesen, um ihm wieder einmal in den Arsch zu kriechen. Er findet immer Möglichkeiten, andere herabzusetzen. Er ist ein geborener Denunziant, verstehst du?«

Asmus lächelte unwillkürlich.

»Verzeihung. Verstehen Sie, wollte ich sagen. Sie sollen Kriminaloberinspektor mit vielen Erfolgen gewesen sein.«

»Lass mal«, erklärte Asmus, der sich bereits großherzig umentschieden hatte. Seinem neuen jungen Kollegen war anscheinend vor allem darum zu tun, Asmus nicht in diverse ausgestreckte Messer laufen zu lassen. »Niklas für dich. Kriminaloberinspektor stimmt.«

»Danke, Niklas.« Matthiesen sah ihn mit einer Spur Bewunderung an. »Der HWM Sinkwitz ist Kommunist bis in die Knochen. Mindestens genauso gefährlich wie Jung, aber aus politischen Gründen. Dabei lebt die Familie trotz des Namens schon Jahrzehnte auf Sylt. Unterschätz ihn nicht. In dieser Wache den Mund zum Widerspruch aufzumachen ist jedenfalls nicht ratsam.«

»Genau der richtige Ort für mich«, spöttelte Asmus. »Über lose Sprüche bin ich in Rostock schon gestolpert. Ist der Sinkwitz Sozialist und Kommunist, wie die Sorte, die Hitler anhängt? Ein Faszist?«

»Ich weiß es nicht. Er gehört zur sozialistischen Arbeiterpartei, er spricht öfter über die Räterepublik, die sie einrichten wollen. Deswegen sieht man ihn gelegentlich auf der Nössehalbinsel, wo er mit den vom Festland angeheuerten Arbeitern quatscht. Ich habe einmal in einem seiner Bücher geblättert, das auf dem Schreibtisch lag. Das war von einem gewissen Bebel geschrieben.«

»Dann weiß ich Bescheid«, antwortete Asmus nachdenklich. Soweit er gehört hatte, hatten diese beiden Gruppen in vielem unterschiedliche Auffassungen. Und alle waren sie links und ungeheuer gefährlich. Agitation nannten sie dieses Bequatschen anderer.

»Nimm dich bloß in Acht«, warnte Matthiesen besorgt. »Ich würde dich nicht gerne verlieren, jetzt, wo ich weiß, dass du kein Duckmäuser bist und ein loses Maul hast.«

»Ist zuweilen schwierig«, grummelte Asmus.

»Glaube ich ja. Wir haben dann noch einen weiteren Kollegen, den Wachtmeister Jep Thamsen, der nicht unrecht ist, aber uninteressiert an allem. Mit Schmeichelei schafft er, dass du eine seiner Pflichten übernommen hast und gar nicht weißt, wie du dazu gekommen bist.«

»Manchmal klappt es mit Erziehung«, warf Asmus ein.

»Einen Älteren im höheren Rang zu erziehen ist schwierig.«

Da hatte er natürlich recht. Asmus war in einer anderen Position gewesen. »Was ist das für ein Fall ohne Namen, den Jep und Jung klären sollen?«

»Anscheinend ein Landstreicher, jedenfalls kein Sylter, der tot am Strand gefunden wurde. Herzattacke vielleicht oder Hunger. Soll ein schmales Hemd sein.«

»Kann Jung solche Fälle klären? Hat er darin Erfahrung? Und vor allem: Geht er ihnen mit allem Nachdruck nach?«

Matthiesen zuckte die Schultern. »Nur, wenn er ihm irgendetwas für sein Fortkommen einträgt, schätze ich. Aber ›Landstreicher‹ hört sich nicht danach an. Und Jep dackelt sowieso nur hinterher.«

Zwei Stunden später hatte Asmus schon eine ganze Menge von Westerland zu sehen bekommen und erfahren, dass die Diebstähle beachtlich zugenommen hatten, seitdem nach dem Krieg die Armut der Bevölkerung in rasender Geschwindigkeit wuchs. Auch auf Sylt war die Inflation angekommen, wie überall.

»Wir haben auch Streitereien in Hotels zu schlichten«, erzählte Matthiesen bedrückt. »Das ist früher nie vorgekommen, wir waren doch so stolz darauf, dass wir Wyk auf Föhr mit unseren illustren Gästen überholt hatten. Aber mittlerweile glauben auch reiche Badegäste, dass sie einem Betrug aufgesessen sind, wenn sie bei der Abfahrt bezahlen wollen und die Kosten innerhalb von vier Wochen um das Dreifache gestiegen sind. Stell dir vor, jetzt werden wir gerufen, um Hoteldirektoren vor gewalttätigen Baronen zu retten. Bis wir ankommen, sind häufig Vitrinen zerschlagen, Teegeschirr liegt auf dem Boden, und mittendrin schwimmt der gute Kognak.«

»Du liebe Zeit!«

»Ja. Dabei geht es in den Unterkünften ehrlich zu. Es gibt einen Hotelindex, den der Reichsverband der Hotels und der Bäderverband gemeinsam festsetzen. Daraus wird ein Multiplikator festgesetzt, der mit den Friedenspreisen multipliziert wird, und daraus ergibt sich jede Woche der neue Preis für Logis und Essen.«

»Dann werdet ihr wohl bald keine Gäste mehr haben«, mutmaßte Asmus nüchtern.

»Ja, genau. Und das schürt Unruhe. Sylt war einmal eine friedliche Insel von Bauern und Fischern, aber seitdem man in der Stadt Westerland und in Dörfern wie Kampen erkannt hat, dass sich Unmengen von Geld aus den Sommerfrischlern herausholen lässt, sind zahllose Fremde eingewandert, die einen Kampf um die Gäste entfesselt haben. Die Ursylter machen mit. Und jetzt sollen diese schönen Aussichten auf Reichtum plötzlich wegen der Inflation dahin sein? Weder die Hoteliers noch die Kaufleute lassen sich das gefallen. Ich sage dir, Niklas, uns stehen düstere Zeiten bevor.«

»Da könntest du recht haben. Das ist wie überall.«

Als sie auf der Kurpromenade vom Burgenstrand bis zum Musikpavillon und wieder zurück zur Höhe der Friedrichstrasse gekommen waren, entdeckte Asmus eine Buchhandlung, in der er einen Stadtplan kaufte. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Sag mal, Lorns, kannst du mir einen ehrlichen Händler von Motorrädern empfehlen? Ich weigere mich, die Strecke von Munkmarsch nach Westerland mit dem Fahrrad zurückzulegen. Bei Sturm, bei Gewitter und Regen … Und ein Motorrad zum Preis von heute wird preiswerter sein als eine Unterkunft in Westerland, deren Kosten jede Woche steigen.«

»Du willst wirklich auf deinem Boot wohnen?«

»Ich habe es vor. Was im Winter ist, muss ich sehen. Vielleicht hat die Regierung bis dahin die Inflation im Griff.«

Lorns nickte bedächtig. »Ich bin dankbar, dass meine Schwiegereltern einen Hof haben. Meine Frau und ich wohnen in der Abnahme. Der Altenteilerwohnung. Der Gemüsegarten gibt genug her für uns vier. Hühner und drei Schweine sind auch da. Wir müssen nicht hungern. Aber hier in der Stadt sieht es bei manchen Leuten düster aus …«

»Und Fischer? Wird gefischt?«

»Fische kosten auch Geld. Überdies fürchten die Fischer, dass der neue Festlandsdamm die Fischerei erschweren wird. Die Fische müssen sich auf andere Strömungen einstellen, vielleicht bleiben sie ganz weg. Und was mit den Austernbänken wird, steht auch in den Sternen. Ich kann es nicht beurteilen.«

»Ja, ich kann ihre Ängste verstehen.« Asmus wusste aus seiner Erfahrung als Segler, wie berechtigt diese Befürchtungen waren. Fische, die sich ins tiefere Wasser zurückzogen, und sei es nur vorübergehend, mochten für die Fischer mit kleinen Booten gar nicht mehr erreichbar sein. »Wer hat euch denn den Damm aufgezwungen?«

»Oh, von Aufzwingen kann gar nicht die Rede sein«, widersprach Lorns. »Westerland ist ein Seebad, wie es sie in England geben soll, ein richtiges Weltbad sogar. Hier kuren die Reichen, meist mehrere Wochen lang. Die Älteren erzählen noch vom Besuch der Königin von Rumänien, aber außer ihr kamen Prinzen, Herzöge, Präsidenten und Minister, alle mit Kindern und Dienstboten. Vor dem Weltkrieg soll hier enorm viel los gewesen sein. Das brachte Geld.«

»Und jetzt?«

»Ja, so richtig hat Sylt sich nach dem Krieg noch nicht erholt.«

»Du wolltest mir vom Damm erzählen.«

»Ja, richtig. Was meinst du wohl, wer alles an einer schnellen Verbindung vom Festland nach Sylt interessiert ist: Hoteliers, Inhaber von Pensionen, Kaufleute, Restaurantbesitzer, Strandkorbvermieter, Fuhrleute, Reitstallbesitzer, Badefrauen, Holzhändler, die Gemeinden wegen der Kurtaxe und, und, und.«

»Aha.«

»Auch die Dörfer haben schon seit längerem angefangen, ihren eigenen Nutzen aus der künftigen schnellen Verbindung nach Berlin zu ziehen. In Kampen, beispielsweise, sammeln sich die bekanntesten Künstler, und die ziehen wiederum anderes Volk an, das mit der Bekanntschaft von solchen Leuten angeben möchte. Am Strand pflegen die Künstler FKK, und das ist natürlich etwas so Mondänes, da muss man mitmachen.«

»Was ist das?«

»Freikörperkultur. Der erste Nacktbadestrand in Deutschland, auf dem Männlein und Weiblein sich gemeinsam unbekleidet tummeln dürfen. Den gibt es seit zwei Jahren.«

»Wirklich?« Asmus grinste breit.

»Ja, bestimmt. Anfangs gab es Aufstände in der Bevölkerung, jedenfalls in allen Dörfern außer Kampen wegen der erwarteten Zügellosigkeit und der mangelnden Moral der Künstler. Aber dann hat man in Heller und Pfennig ausgerechnet, wie viel die Rückkehr zur sogenannten Moral kosten würde. Die Vernunft siegte – es würde zu teuer werden. Seitdem tragen sich auch andere Orte mit Plänen, FKK-Strände einzurichten, Westerland vorneweg.«

Während ihres Gesprächs waren sie zur Promenade zurückgebummelt, weil Matthiesen diese am unterhaltsamsten fand. Zwar war die Luft warm, aber das Wasser war zu kalt zum Baden. Die Strandkörbe waren besetzt, aber nur einzelne Spaziergänger wanderten über den Sandstrand, manche mit Hunden.

»Für Mai immer noch zu wenig los«, bemerkte Lorns kritisch, »obwohl es gegen Mittag geht.«

Asmus gab ein Grummeln von sich, das man als Zustimmung interpretieren konnte. Möglicherweise war man hier durch die Fremden schon zu verwöhnt gewesen, um zu bemerken, wie schlecht es dem übrigen Deutschland ging. Mit nur zu wenig los war die Gefahr nicht beschrieben, in die Deutschland gerade hineinrutschte. Hoffentlich endete nicht alles im Chaos durch Aufstände aus Not oder Putsche der unterschiedlichsten politischen Richtungen.

Aber seine Sache, einen Sylter aufzuklären, war es nicht. »Die Leute wirken irgendwie abweisend, wo immer wir Polizisten auftauchen«, sagte er stattdessen. »Oder sehe ich das falsch?«

»Das siehst du richtig. Heute vielleicht noch ein bisschen mehr als sonst, weil es ja so aussieht, als hätte die Schutzpolizei Verstärkung gegen die Bevölkerung bekommen.«

In der Tat. Sie beide, groß und breitschultrig, waren nicht zu übersehen, fand Asmus.

»Ich habe dir ja von den Plünderungen erzählt«, fuhr Matthiesen fort. »Es gibt inzwischen Leute, die kein Auskommen mehr haben. Die Kirchengemeinde hat eine Suppenküche für sie eingerichtet, aber das reicht nicht aus. Sie brauchen auch Kleider, besonders für ihre Kinder, und anderes zum Leben. Manche entscheiden sich dann für den Diebstahl, jedenfalls diejenigen, die in den Luxuszeiten als Hilfskräfte zugewandert sind und hier keine Verwandten haben. Das ist die eine Gruppe. Eine andere sind die reichen Kurgäste, die uns unterstellen, dass wir Polizisten gemeinsame Sache mit den einheimischen Plünderern machen. Die dritte Gruppe sind die Geschäftsleute, die der Meinung sind, dass wir auf Weisung der preußischen Obrigkeit zu wenig unternehmen, um sie zu schützen. Schließlich die vierte Gruppe: die einheimischen Bauern. Sie halten es für ihr Recht, wie ihre Vorväter vor dreihundert Jahren alle Vorschriften des Gesetzes zu umgehen. Und wir vertreten das Gesetz.«

»Donnerwetter«, sagte Asmus anerkennend. »Immerhin weiß ich jetzt, was ich zu erwarten habe.«

»Nicht zu vergessen die unterschiedliche politische Einstellung unserer Vorgesetzten, die auch nicht von hier sind. Sinkwitz’ Familie stammt ursprünglich aus Sachsen, wie man manchmal noch hören kann, und Jung aus Hessen.«

»Ja. Sehr kameradschaftlich von dir, dass du mich aufgeklärt hast«, sagte Asmus bedrückt. »Friedlich scheint es hier ja nicht zuzugehen. Ohne Kenntnis von den Umständen würde ich vielleicht im nächsten Monat schon entlassen werden.«

»Genau davor hatte ich Angst. Wir hatten im Januar schon einen Neuzugang. Hierher versetzt mit gutem Ruf, und im März wurde er als republikfeindlich entlassen.«

»Und wer hat das veranlasst?«

»Wer wohl? HWM Sinkwitz.«

Asmus atmete tief durch und sah Lorns in die Augen. »Und deshalb hast du das Risiko auf dich geladen, mich zu warnen, obwohl du mich nicht kennst? Ich hätte dich dafür in die Pfanne hauen können, wie man so sagt. Stell dir vor, ich wäre wie Jung.«

»Aber das bist du nicht. Einer wie du nicht. Ich bin froh, dass ich dich gewarnt habe.«

»Ich kann mir denken, dass es dich Mut gekostet hat. Ich wünschte, ich hätte mehr solche Mitarbeiter wie dich in meiner Gruppe gehabt. Meine Gruppe war gut. Bis auf das eine faule Ei.«

Lorns errötete vor Freude.

Kapitel 3

Lorns Matthiesen war genau der Richtige, um Auskunft über motorisierte Fahrzeuge zu bekommen. Zwei Tage später war Asmus schon Besitzer eines Leichtmotorrads von DKW, mit zweieinhalb PS leistungsschwach, aber vier oder mehr PS hatte er sich nicht leisten können. Das letzte Stück durch die Dünen schob er es ohnehin. Trotzdem war er stolz darauf. Abstellen durfte er es in einem Verschlag der Munkmarscher Werft, der erst mit Tagesanbruch in Anspruch genommen wurde.

Der Werftbesitzer, Hans Christian Bahnsen, war gleich am Abend nach Asmus’ Ankunft mit ihm ins Gespräch gekommen, das ergab sich über den im Wattenmeer ungewöhnlichen Bootstyp eines Kosterbootes von allein. Sie waren einander auf Anhieb sympathisch.

Bahnsen war über sechzig Jahre alt. Sein Sohn, der zum Schiffszimmermann ausgebildet worden war, war im Jahr davor auf See geblieben. Der hätte die Werft übernehmen sollen, nun war der Werftgründer allein zurückgeblieben, und er nahm die selbstauferlegte Pflicht zum Weiterführen des Betriebes auf sich.

Abends saßen sie zusammen auf der Bank am Ufer und blickten auf die Wellen, die im Werftgelände neben dem Hafen mit sanftem Plätschern aufliefen. Austernfischer und andere Watvögel stakten im flachen Wasser und kümmerten sich nicht um die Beobachter. Hans Christian schmökte, und Asmus erzählte. Von der beängstigenden Politik in der Republik, von den Reedereien seiner Brüder, mit denen es unter der sozialistischen Herrschaft zu Ende ging, und seiner eigenen ungerechten Versetzung.

»Mit einer solchen persönlichen Vorgeschichte solltest du auch bei der hiesigen Polizei vorsichtig sein«, warnte Hans Christian ihn unvermutet. »Ich halte Bestechlichkeit oder Unterschleif oder Ähnliches in dieser Dienststelle für möglich. Manche Handlungen bleiben uns einfachen Leuten unerklärlich. Kerle, die wir nicht kennen, aber die ganz eindeutig eines Verbrechens überführt werden könnten, werden laufen gelassen. Arme geborene Sylter Hunde, von denen jeder weiß, dass sie harmlos sind, werden eingebuchtet. Wahrscheinlich hat die Wache ein zahlenmäßiges Soll an Erfolgen zu erfüllen. Zwei Täter im Monat oder so ähnlich. Aber anscheinend immer die falschen.«

Diese Ungereimtheiten wunderten Asmus inzwischen nicht mehr, und er fragte sich, ob auch der angebliche Landstreicher zu dieser Art Aufklärung zu zählen war. »Als ich vor einigen Tagen auf Sylt ankam, wurde ich ganz freundlich in Empfang genommen. Doch als dieser Mart vom Fährhaus erfuhr, dass ich der neue Polizist bin, kannte er plötzlich meinen Namen, und auf einmal war ich der Feind. Ich verstand zuerst nicht, was los war. Aber dann schnitt mich einer seiner Kollegen im Hafen auf die gleiche Art. Jemand muss über mich Gerüchte verbreitet haben.«

»Die Polizei ist eigentlich selten hier. Wir Munkmarscher sind harmlos, aus uns lässt sich nicht genug Honig saugen.«

»Aber?«, fragte Asmus mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ja, in den letzten Tagen ist dieser Oberwachtmeister Jung mehrmals hier im Hafen umhergeschlendert. Er war auch bei Mart und Gustav.«

»Und das bedeutet?«

»Ich schätze, der Postmeister Gustav von Westerland und der Hafenmeister Mart müssen Anweisungen erhalten haben. Über Jung von Sinkwitz.«

»Zu welchem Zweck?«

Der Werftbesitzer zog die Schultern hoch. »Das weiß ich wirklich nicht, Asmus. Es scheint, dass du angekündigt wurdest und sie dir Sylt madig machen sollen. Kannst du dir darauf einen Reim machen? Oder willst du dich gleich versetzen lassen?«

»Nein, heutzutage geht das nicht mehr. Jeder, der eine Stelle hat, ist dafür dankbar und seinen Vorgesetzten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dass ich störe, ist ja eine bemerkenswerte Information. Jedenfalls Grund genug zu bleiben. Vielleicht ist es die Angst vor Konkurrenz.«

»Wenn es nur das ist … Dieser Jung ist eine zwielichtige Gestalt, hört man. Ich selber hatte mit ihm noch keine Händel.«

»Ich danke dir für deine Offenheit«, sagte Asmus und erhob sich sorgenvoll von der Bank. Die Notsituation veränderte die Menschen. Es war überall das Gleiche. Und was ihn selber betraf, war er kaum den neuen politischen Kräften in Rostock entflohen, um es womöglich mit noch schwierigeren Umständen zu tun zu bekommen.

Als er wenig später von der Mole aus angelte, im Versuch, einen Hornhecht zu erwischen, dachte er darüber nach, was der Werftbesitzer ihm zu verstehen gegeben hatte. Die ganze Wahrheit war es nicht, da steckte noch mehr dahinter. Während er seinen ersten Fisch hochzog, beschloss er, äußerst vorsichtig zu sein. Hier liefen Dinge ab, die sich als Falle erweisen konnten. Und dass man ihn in der Sylter Wache nicht haben wollte, war ihm schon klar.

Da der gesamten Wache nur ein Dienstmotorrad zur Verfügung stand, wurde das neue von Asmus in den Dienst einbezogen. OWM Jung sorgte umgehend dafür, und Asmus konnte kaum nein sagen, bedang sich aber aus, es allein zu fahren.

Versammelt waren im Hof Jung, Matthiesen und Thamsen, die das Fahrzeug aufrichtig oder mit falschem Lächeln bewunderten. Es ließ Asmus gleichgültig, denn damit hatte er gerechnet. Aber nicht damit, dass plötzlich ganz andere Animositäten zu Tage traten, als Thamsen eine Bemerkung zu Matthiesen in einer Sprache machte, die Asmus nicht verstand.

Jung auch nicht, daher wandte er sich erbost an die beiden Untergebenen. »Ihr sollt doch nicht Friesisch im Dienst sprechen!«, schnauzte er. »Amtliche Sprache ist Deutsch!«

»War doch rein privat, Oberwachtmeister«, verteidigte sich Jep Thamsen träge.

»Innerhalb der Polizeiwache seid ihr nicht privat!«

»Was ist eigentlich bei dem Fall ohne Namen herausgekommen?«, warf Asmus ein, um mit einem neuen Thema der beginnenden Schärfe in der Diskussion entgegenzuwirken, wiewohl er gar nicht wusste, warum Jung sich aufregte.

Jung schwieg verdrossen, und Asmus ahnte, dass der Aufklärungsversuch kein Erfolg gewesen war. Immerhin ließ sich Jep zu einer Antwort herab. »Nichts Besonderes. Der Kerl war ein ausgehungerter Landstreicher mit geklauten Schuhen. Er starb einfach, wie so viele sterben. Keine Gewalteinwirkung. Der Fall ist abgeschlossen.«

»Da muss man dann auch nicht mehr draus machen, als dran ist«, fügte Jung hinzu.

Ungeachtet seiner deutlichen Warnung blieb Asmus beim Thema. »Was meinst du mit geklauten Schuhen, Jep?«

»Eine gerade noch lesbare Metallplakette auf dem einen Schuh wies auf eine dänische Schuhfabrik hin. Vielleicht hat er sie ja auch geschenkt bekommen, jedenfalls waren es keine Landstreicherschuhe.«

»Interessant. Woher weiß man denn, dass er ein Landstreicher war?«

»OWM Jung ist der Meinung«, antwortete Jep lakonisch.

Asmus runzelte die Stirn und forschte in Jeps schmalem Gesicht, dessen Rasur ein wenig schlampig ausgefallen war, ob er seine Antwort zynisch gemeint haben könnte. Aber davon war nichts zu erkennen. »Und ihr habt nicht durch den Pathologen untersuchen lassen, woran er gestorben ist? Und festgestellt, ob jemand vermisst wird? Die Sorgfaltspflicht hätte das erfordert.«

»Es gibt hier keinen Pathologen, Asmus«, warf Matthiesen ein.

»Versuchen Sie bloß nicht, uns zu belehren, Asmus«, knurrte Jung übellaunig. »Wir sind erfahrene Polizisten, und Sie fangen ganz unten an!«

Eine halbe Stunde später sah Asmus HWM Sinkwitz im Hof. Bedächtig schritt er um das neue Fahrzeug herum. Wenig später betrat Sinkwitz den Wachraum, wo er Asmus allein vorfand.

»Bourgeoisie bleibt Bourgeoisie, ganz gleich, unter welchen Umständen wir leben, nicht wahr?«, spottete er. »Das Ausbeutereigentum bleibt immer in den gleichen Händen, und wenn es uns schlecht geht, geht es euch immer noch besser als uns.«

Der starke Akzent verriet Asmus, dass Sinkwitz wütend war. »Von wem sprechen Sie? Ich bin Wachtmeister«, entgegnete Asmus gleichmütig. »Ich hatte ein paar Ersparnisse auf der hohen Kante. Und ich hatte außerdem nicht vor, das Geld zu horten, bis ich dafür nur noch ein Brot bekomme.«

»An der Inflation sind ganz allein Ihre Leute schuld, die Kapitalistenklasse«, rief Sinkwitz erregt. »Von wegen Dolchstoßlegende und Kriegsschuldlüge! Die Linken sind weder schuld, dass Deutschland den Krieg verloren hat, noch ist es eine Lüge, unser Land als allein schuldig am Krieg zu verurteilen!«

»Sie kennen meine Meinung doch gar nicht«, meinte Asmus friedfertig. »Hören Sie also auf, mir willkürlich Vorwürfe zu unterstellen. Was die Kriegsschuld betrifft, so ist allgemein bekannt, dass 1914 alle Staaten bis an die Zähne bewaffnet waren und dem Startschuss nur so entgegengierten. Das Attentat in Sarajewo war für Österreich der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Und Deutschland war bedauerlicherweise Bündnispartner und musste eingreifen. Der Attentäter war übrigens Serbe und gehörte der Schwarzen Hand an, einer Geheimorganisation, die ein Großserbien anstrebte. Wenn Sie also einen Schuldigen am Krieg suchen, dann in Serbien.«

Sinkwitz knirschte mit den Zähnen. Augenscheinlich war ihm nicht bekannt, was Asmus aus seinem Blickwinkel berichtete. Sein Blick glitt von seinem Untergebenen ab. »Ich kenne sehr wohl Ihre Meinung. Wären Sie Sozialist, wären Sie nicht strafversetzt worden! Man hatte wohl die Hoffnung, Sie hier in Preußen umerziehen zu können. Preußen ist wenigstens etwas fortschrittlicher als andere deutsche Länder, wie der Matrosenaufstand in Kiel gezeigt hat.«

»So, so.«

»Ich wünschte, wir hätten die Räterepublik durchsetzen können«, knurrte Sinkwitz. »Es wird Zeit, das Grundeigentum der herrschenden Klasse zu enteignen und Kinderarbeit in ganz Deutschland auszurotten!«

Er sprang vom einen zum anderen Thema. Wo war der Zusammenhang zwischen Motorrad und Kinderarbeit? »Kinderarbeit«, wiederholte Asmus ratlos.

»Jawohl«, blaffte Sinkwitz, der schon auf dem Weg in sein Zimmer war, und drehte sich um. »Wissen Sie nicht, dass im Kaiserreich die Fabrikarbeit von Kindern unter dreizehn Jahren fünfzig Jahre später als in Preußen verboten wurde? Fünfzig Jahre! Aber Missstände gibt es noch überall zuhauf!«

Er verstand es, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen. Asmus hatte sich darüber noch nicht viele Gedanken gemacht.

Am nächsten Tag schon erhielt Asmus den Befehl, sich in List an der Nordspitze der Insel nach Schmuggelware umzusehen. Wie das denn vor sich ginge, fragte er.

Auf die Schiffe rudern lassen, die im Königshafen auf Reede lägen, und kontrollieren, lautete die Antwort.

Ein solches Verfahren kannte Asmus nicht. Matthiesen war im Außendienst irgendwo in Westerland, bei ihm konnte er sich keinen Rat holen, und alle anderen würden ihn auflaufen lassen.

Also ratterte er mit seinem Motorrad los, jedoch keineswegs nach List, sondern zuerst nach Munkmarsch. Zum Glück traf er Hans Christian an, der sofort bereit war, ihm Ratschläge zu geben. Offensichtlich war er auch nicht ungehalten über die Unterbrechung seiner Arbeit. Sie setzten sich auf die Bank wie üblich, während um sie herum wie gewohnt die Arbeitsgeräusche der Werft ertönten, wenn auch vielleicht etwas dünner als bisher.

»Jemand krank?«, fragte Asmus und sah sich genauer um. »Oder haben die Männer frei?«

Der Werftbesitzer stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein graublondes Haar schien grauer als vor ein paar Tagen. »Ich habe zwei meiner Leute Bescheid geben müssen, dass ich sie nur noch einen Monat beschäftigen kann, und auf den Schrecken für heute frei gegeben. Den beiden Jüngsten. Wenn überhaupt jemand, dann sind sie es, die neue Arbeit finden, außerdem sind sie nicht verheiratet und haben keine Familie zu ernähren. Anders käme ich mit dem Geld nicht mehr rum. Du weißt selbst, wie das ist.«

Ja, Asmus wusste es. In den vierzehn Tagen, die er hier auf Sylt war, hatten sich die Preise für Lebensmittel verdoppelt. Er selber fischte und sammelte Miesmuscheln und Austern, um Geld zu sparen. Dabei sehnte er sich nach Kartoffeln und Eiern, aber die waren unerschwinglich. Zum Glück waren die Nächte hell genug, um ihm zu erlauben, nach Dienstschluss zu der kleinen Muschelbank, die er entdeckt hatte, zu rudern. »Es wird schlimmer.«

»Ja, es wird täglich schlimmer. Und wenn der Dammbau beendet ist, wird es mit der Werft ohnehin zu Ende gehen.«

»Tatsächlich?« Asmus hörte es betroffen.

»Ja. Meine Einnahmen beziehe ich vor allem durch die kleinen Reparaturen an der Fähre. Die großen in Husum, die kleinen bei mir. Diese Fährlinie werden sie sofort schließen. Deutsche Gäste, die in verplombten Waggons ein paar Kilometer durch Dänemark fahren müssen, um nicht durch die Pass- und Zollkontrolle über Gebühr aufgehalten zu werden – lächerlich. Die Badegäste der Zukunft kommen über den Wattenmeer-Damm.«

»Und die Fischer?«

»Vielen werden die Zugänge zu ihren gewohnten Fanggründen versperrt. Sie werden ihre Boote nach Hörnum verlegen oder aufgeben.«

»Für alle, die mit und vom Wasser leben, ist der Damm also fatal.«

»Ja. Warum hast du so früh Dienstschluss?«

»Habe ich gar nicht. Ich soll die Schiffe im Königshafen auf Schmuggelware überprüfen, wollte mir aber erst bei dir Rat holen.«

»Hat Jung dich jetzt losgeschickt?«

»Nein, Sinkwitz.«

»Ich dachte mehr an den Zeitpunkt. Wenn du jetzt bei Flut mit der Kontrolle anfängst, kannst du sicher sein, dass alle Schmuggler, die noch Wasser unter dem Kiel haben, Ankerauf gehen. Die erkennen doch von weitem deinen Tschako. Heute am Nachmittag ist das vollkommener Blödsinn.«

»Ah, so.« Daran hatte Asmus nicht gedacht. Warum aber Sinkwitz nicht? Die Antwort konnte nur sein, dass er ihm einen Misserfolg bescheren wollte. »Eine Falle?«

»Möglicherweise.«

Was könnte wohl noch mehr dahinterstecken? Während Asmus nachdachte, merkte er, dass Hans Christian mit etwas anderem beschäftigt war. Ganz vorsichtig spähte er über den Hafen. Asmus drehte sich um.

»Nein, lass dir nichts anmerken«, warnte der Werftbesitzer. »Beuge dich vor und rede auf mich ein. Stütz dein Gesicht in deine Hand.«

»Warum? Was beschäftigt dich denn?«

»Dort drüben ist dein Vorgesetzter Sinkwitz. Ist gerade mit dem Motorrad eingetroffen.«

»Nanu.«

»Eben. Wenn es dienstlich wäre, hätte er dich bitten können. Stattdessen schickt er dich bei Flut nach List. Das gibt zu denken.«

»Was macht er jetzt?«

»Er betritt die Fahrkartenausgabe. Ganz sicher hat er nicht vor zu verreisen.«

»Nein, er hat morgen Frühdienst.«

»Los, hau ab!«, zischte der Werftbesitzer. »Nimm den Tschako ab und misch dich unter meine Leute.«

Wenige Augenblicke vergingen, in der sich Asmus die Kopfbedeckung unter den Arm klemmte. Dann fühlte er Hans Christians Hand, die ihn wieder auf die Bank herunterdrückte.

»Zu spät. Mart scheint nicht im Dienstzimmer zu sein. Sinkwitz kommt schon wieder heraus.«

»Du willst sagen, dass er mich nicht nur auflaufen lassen, sondern mich aus dem Weg haben wollte. Und jetzt darf er mich nicht sehen.«

Bahnsen kicherte ein helles Altmännerlachen. »Um dich hier gut zurechtzufinden, musst du noch einiges lernen. Aber es geht schnell, wie ich merke.«

»Danke. Ich höre das gelegentlich. So richtig nützt es mir nichts. Ich habe das Gefühl, hier in einer fremden Welt zu sein.«

»Stimmt. Sylt ist anders als die anderen Inseln und erst recht als das Festland. Die Sprache und die Sitten unterscheiden uns von anderen. Manche Friesen sind darauf stolz. Ich fürchte, es könnte uns eines Tages schaden, vor allem, wenn immer mehr Fremde einwandern. Vielleicht verjagen sie uns Friesen dann, eben weil wir anders sind.«

»Meinst du das?« Asmus bekam allmählich hohe Achtung vor seinem neuen Freund und zweifelte nicht an dem, was er sagte.

»Ja. Die Zugewanderten sind in allen Geschäften erfahrener als wir. Plötzlich erlassen Gemeinden neue Bestimmungen, an die wir nie dachten, dann wird eine Musikhalle errichtet, oder es entsteht ein neues Haus oder ein Restaurant auf einem Kliff, in den Dünen oder auf der Heide, wo unsereiner nie bauen würde. Viele Landbesitzer und die meisten Gemeinden högen sich über die dämlichen Fremden, die großzügige Angebote zum Landerwerb abgeben, und halten die Hand auf. Wir Übrigen gucken verblüfft zu. Die Schäden, die mit dem erschlichenen Bauland angerichtet werden, werden erst Jahre später für alle zu sehen sein. Von wegen dumme Fremde! Schlau sind sie, manchmal richtige Gauner. Diese Entwicklung ist nicht gut, gar nicht.«

Dem konnte Asmus aus vollem Herzen zustimmen. Jeder Anwohner hatte gesehen, wie in Mecklenburg aus ärmlichen Stranddörfern Badeorte geworden waren mit Promenaden, Kurhallen und Brücken, die sich weit in die See zogen. Der Berliner Dialekt überwog zuweilen das Platt der Einheimischen. Dazu waren die Fremden häufig frech und setzten sich mit ihrer schnodderigen Sprache gegen die etwas trägen Mecklenburger durch.

»Mart biegt um die Ecke. Dumm. Denn er hat dich natürlich längst gesehen.« Hans Christian schwieg einen Augenblick, bevor er weiter berichtete. »Pech auf der ganzen Linie. Sinkwitz ist schon informiert. Er dreht sich um und späht her, vergewissert sich wohl, dass du es bist.«

»Dann bin ich jetzt sofort wieder im Dienst«, stellte Asmus fest, setzte den Tschako auf und verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung vom Werftbesitzer. Kurze Zeit später saß er schon auf seinem Motorrad und knatterte davon. Zurück zur Dienststelle.

Als kurz nach Asmus auch Sinkwitz eintraf, saß Asmus vor einer Seekarte und einem Tidenkalender, die er studierte. »Ich muss Sie falsch verstanden haben, Hauptwachtmeister«, bemerkte er. »Ich wäre ja bei Hochwasser in List gewesen. Ich habe mich jetzt erst einmal von einem Kenner der Gewässer beraten lassen. Morgen Vormittag wäre die beste Zeit.«

Sinkwitz drückte die Zigarette, die er wie üblich so weit geraucht hatte, dass er sie kaum noch halten konnte, auf dem Aschenbecher neben Asmus aus. »Ja, da haben Sie natürlich recht. Und ich erachte es als selbstverständlich, dass Sie selbst ausrechnen, wann es mit dem Wasser am besten passt. Jeder verantwortet, was er tut.«

»Natürlich, Herr Hauptwachtmeister«, stimmte Asmus höflich zu.

»Bahnsen ist ein erfahrener Mann. Aber er hat seine Grenzen. Friesen kennen nur Sylt. Nehmen Sie nicht alles, was er daherplaudert, für bare Münze.«

»Natürlich nicht, Herr Hauptwachtmeister.«

Als Sinkwitz davongeschlendert war, atmete Asmus durch und ließ sich die Sache nochmals durch den Kopf gehen. Sinkwitz hatte derart selbstverständlich geklungen, dass er ihm gar nichts Konkretes vorwerfen konnte. Höchstens Gedankenlosigkeit. Er selber war unter dem Sturm neuartiger Erfahrungen durch die Kehrtwende der Politik offensichtlich zu misstrauisch geworden.

Im Kaiserreich aufgewachsen, die Schulbildung in einem Herzogtum durchlaufen, einen Krieg erlitten, nach dem die Reparationszahlungen das Land in den Abgrund trieben, die jungen Erfahrungen mit einer Republik, in der sich Deutschnationale und Sozialisten mit Kommunisten Wortgefechte lieferten, Putsche, galoppierende Inflation und persönliche Degradierung – das alles musste jeden verwirren, ihn genau wie andere.

Asmus beschloss, zukünftig geduldiger und nachsichtiger zu sein. Und öfter das Maul zu halten, wenn es mit ihm durchgehen wollte. Er hätte es sich als Leiter einer Dienststelle auch nicht gefallen lassen, von einem neuen Mitarbeiter des untersten Dienstgrades belehrt zu werden.

Kapitel 4

Der Königshafen am Lister Ellenbogen war eine riesige Bucht nördlich des Ortes List, vor den gefährlichen Winden aus Südwest bis Nord geschützt und darum in früheren Jahrhunderten ein guter Ankerplatz für große Schiffe. Das wusste Matthiesen zu erzählen, während er und Asmus sich einen Überblick über die Örtlichkeiten verschafften. Sie standen an einem Priel, der seinen Anfang im Dorf an einem Gasthof nahm und an der Insel Uthörn in den Königshafen mündete. Dort ankerten gegenwärtig mehrere kleinere Küstenfischer.

»Dies ist der sogenannte Schlechte Hafen«, erklärte Lorns und zeigte auf ein Boot im Priel, das Moos und Grünspan angesetzt hatte und dessen Ankerkette voller vertrockneter Algen hing. »Der alte Zollkutter, außer Dienst gestellt. Hier würden die Schmuggler natürlich nie anlegen.«

»Jahrelang nicht mehr bewegt«, stellte Asmus fest. »Es wird jetzt übrigens Zeit, die Schmuggler hopszunehmen. Welches ist das Ruderboot, das wir nehmen sollen?«

Wieder deutete Lorns auf ein Boot, ziemlich groß, flachbödig und schwarz geteert.

Drei Küstenschiffe lagen auf der Lister Seite im Königshafen so weit unter Land, wie es ging, damit der Transport der Flaschen mit dem Beiboot oder auf Schlickschlitten vom oder zum Ufer nicht so beschwerlich war. Bei höchstem Flutstand schwammen sie auf, beim jetzigen Wasserstand konnten sie nicht fliehen.

Zwischen dem Wasser und dem erhöht liegenden Karrenweg weideten auf dem Grasland Schafe. Hier war alles ruhig, während man auf den Schiffen die heranrudernden Polizisten bereits bemerkt hatte. Hektik brach bei den Besatzungen aus.

Jedoch war sie vollkommen nutzlos, denn die Schiffe lagen auf Schiet.

Auf allen drei Küstenschiffen entdeckten Asmus und Matthiesen schon gestaute Flaschen mit Schnaps, die sie beschlagnahmten. Gegen die Besatzungen konnten sie nichts ausrichten. Angeblich sprach oder verstand keiner der Männer Deutsch, und Asmus bemühte sich vergeblich um ihre Namen. Schließlich gab er auf, Verhaftungen waren ohnehin ausgeschlossen. Vorsorglich gab es an den Rümpfen keine Kennungen.

Sie mussten mehrere Fahrten zwischen den Kuttern und dem Zollhäuschen am Schlechten Hafen machen, bis alle Kisten mit Flaschen gesichert waren.

Nach einigen Stunden Arbeit waren sie fertig. Asmus rüttelte zum Abschluss am Hängeschloss des Zollhäuschens, um sich zu überzeugen, dass es wirklich hielt. »Eines verstehe ich nicht, Lorns«, meinte er. »Was wir gemacht haben, sind keine polizeilichen Aufgaben. Darf man das in Preußen, rechtlich gesehen?«

»Das weiß ich auch nicht. Aber nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages wurden doch so viele Militärs und Uniformträger eingespart, wie es irgend ging. Diese Zollstelle entfiel. Es hieß, sie hätte sowieso nie viel Erfolg gehabt. Seitdem machen wir Schupos das vertretungsweise.«

»Aha. Und woher kommt der Schnaps?«

»Keine Ahnung«, sagte Lorns unsicher. »Vielleicht von Holland über Helgoland … Irgendwie nicht unser Bier – gewissermaßen. Wir sprechen darüber nie. Wir haben auch noch nie jemanden erwischt.«

»Was?« Asmus sah seinen Kollegen entgeistert an.

»Nein.«

»Seid ihr etwa immer zur falschen Zeit hier gewesen?«

»Könnte sein«, gab Matthiesen unglücklich zu. »Keiner von uns hat es so mit der Seefahrt. Ich kann dir sagen, wann der Weizen für die Schnapsdestillation eingesät werden muss …«

Asmus grinste. »Wenn es im Land so weitergeht, bin ich wahrscheinlich mehr an der Ernte interessiert. Wer hat denn bisher angeordnet, wann die Überprüfung stattfinden soll?«

»Sinkwitz oder Jung.«

Asmus schüttelte den Kopf. In Rostock war die Zollstelle nach dem Krieg nicht eingespart worden. Aber wäre das der Fall gewesen, hätte sich die Schupo oder gegebenenfalls sogar die Kriminalpolizei verantwortlich um die neue Klientel gekümmert. Hier auf Sylt war das wohl nie der Fall gewesen. »Weißt du was, Lorns. Fahr du direkt zur Dienststelle. Ich überlasse dir, von unserem Erfolg zu berichten. Ich mache einen kleinen Umweg nach Munkmarsch. Will mich für den Ratschlag bei Bahnsen bedanken.«

»Aber das wäre nicht recht«, widersprach Lorns unglücklich. »Es sind deine Lorbeeren, und du sollst sie einheimsen.«

»Ich hatte in meinem Leben schon genug Lorbeeren. Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte Asmus fröhlich. »Meine Genugtuung ist, dass wir beide ein gutes Gespann bilden. Das hätte ja ganz anders kommen können.«

»Weiß Gott«, stimmte Lorns aus vollem Herzen zu. »Du und Jung – das wäre ja ein Albtraum.« Er fuhr an, dass der Sand unter dem Hinterreifen spritzte.

In Munkmarsch war nichts wie sonst. Bereits unterhalb des Mühlenhügels konnte Asmus erkennen, dass sich um das große Fischerboot, das auf der Helling aufgepallt war, Leute drängten. Als er heran war, erkannte er, dass ein Mann auf dem harten ölgetränkten Boden neben dem Schiffsrumpf lag.

»Hole jemand um Himmels willen einen Arzt aus Westerland!«, rief Bahnsen. »Du kommst wie gerufen, Niklas. Bitte, fahr du! Ich bekomme am Telefon keine Verbindung mit der Westerländer Klinik!«

»Einen Augenblick! Wer kann ein Motorrad bedienen?« Asmus’ Stimme war scharf und befehlsgewohnt.

Ein junger Mann meldete sich diensteifrig. »Habe diese Dinger ein paar Jahre gewartet.«

»Dann schnell! Am besten zu Dr. Lorenzen«, befahl Bahnsen. »Er muss sich beeilen. Es sieht böse aus! Bring den Doktor gleich mit!«

Der Jüngling warf sich auf das Leichtmotorrad, gab aufheulend Gas und schlitterte davon, während Asmus zu dem Verunglückten trat. Sein Gefühl sagte ihm, dass es besser wäre, hierzubleiben, und auf seinen Instinkt hatte er sich immer verlassen können.

Aus der Nase und einem Ohr des Unglücklichen lief Blut. Er war ohne Bewusstsein. Eine neben ihm kniende Frau in altmodischer, dunkler Haube bemühte sich, es abzuwischen, aber es sickerte immer wieder nach.

»Lass mal, Petrine«, sagte Bahnsen verzweifelt, »das nützt nichts, und die Bewegung richtet wahrscheinlich noch mehr Schaden an. Nur der Arzt kann ihm helfen.«

Wenn überhaupt jemand, dachte Asmus, denn Verletzungen dieser Art waren meistens tödlich. Sie traten ein, wenn der Hinterkopf infolge Gewalteinwirkung zerschmettert worden war. Das konnte ein Stein eines Mörders gewesen sein oder ein steinharter Boden nach einem Aufprall. »Was ist passiert?«, fragte er Bahnsen leise.

»Jochim ist von der Leiter gestürzt, als er an Deck wollte«, antwortete Bahnsen bedrückt. »Wir hatten noch nie einen Unfall in der Werft, ich war so stolz darauf. Ich kontrolliere mögliche Gefahrenstellen immer selbst. Ich kann mir nur vorstellen, dass ihm plötzlich schwindelig wurde …«

Asmus betrachtete das leichenblasse Gesicht des Arbeiters. Sein welliges blondes Haar war dicht, und der Bartwuchs noch spärlich. »Wie alt ist er?«

»Siebzehn.«

Warum sollte einem gesunden jungen Mann schwindlig werden? Selbsttötung? Diese Möglichkeit schwirrte plötzlich durch Asmus’ Kopf. Er beugte sich zum Werftbesitzer hinüber und flüsterte: »Hattest du ihn entlassen?«

»Nein, im Gegenteil«, flüsterte Bahnsen tieftraurig zurück. »Er war mir wie mein Ersatzsohn. Er hatte beste Anlagen. Handwerklich geschickt wie keiner, und er hatte Ideen. Ideen, die Hoffnung auf eine Fortsetzung der Werftarbeiten machten.«

»Bitte geht nach Hause«, äußerte Asmus in die Runde. »Niemand kann hier helfen außer dem Arzt.«

Seine ruhige Autorität und die Uniform wirkten. Die wenigen Leute der Ansiedlung zerstreuten sich, die Werftarbeiter gingen an ihre Arbeit. Nur Petrine blieb, hielt die Hand des Verletzten und sprach ihm leise murmelnd zu.

Asmus wandte sich der Trittleiter zu, die neben dem Schiffsrumpf lag. Eigentlich hatte er erwartet, am oberen Ende bogenförmige Haken vorzufinden, die einfach über das Waschbord gehängt wurden. Damit war eine Leiter an einem auf Land hochgezogenen Boot normalerweise ausreichend befestigt, aber die Konstruktion war hier eine andere.

Dieses hier war eine einfache Haushaltsleiter, deren gerade Enden augenscheinlich mit Zwingen am Waschbord befestigt wurden. Vermutlich mit dem Vorteil, dass sie an der ganzen gebogenen Längsseite des Schiffes aufgestellt werden konnte, auch, wo die Planken sich zum Bug oder Heck zuspitzten. Und war sie erst einmal befestigt, konnte sie keinen Millimeter verrutschen.

Asmus stellte sie am Bug an, kletterte vorsichtig hoch und kroch dann auf allen Vieren dorthin, wo eine Leiter meistens angestellt wurde: etwa in der Mitte des Decks, am tiefsten Punkt.

Auf ihn wartete eine Überraschung. Die Reste der Zwingen hingen noch an ihrem Platz. Sie waren angesägt. Weitere Teile lagen unterhalb des Bootsrumpfes.

Als er wieder auf dem Boden angelangt war, zog er einen der für List bestimmten roten Beschlagnahme-Zettel aus der Tasche und klebte ihn mit Spucke an den Bootsrumpf. Dann sicherte er die Reste der Zwingen.

Nach einer Weile entdeckte Bahnsen die Banderole. »Was bedeutet das denn?«, fragte er entgeistert.

»Dein Bootsbauer ist Opfer eines Anschlags geworden«, erklärte Asmus bedrückt.

»Auf Jochim? Der hat doch keiner Fliege etwas zu Leide getan.«

»Ja, das glaube ich dir.« Asmus wälzte längst eine andere Idee. Was war, wenn Jochim nur das zufällige Opfer war? Und es auch jemand anders hätte sein können?

Hans Christian ergriff hart Asmus’ Oberarm und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. »Was hat das zu bedeuten, Niklas?«

»Ich halte es für Sabotage. Jemand hat die Zwingen an Deck so angesägt, dass der Nächste auf der Leiter herunterstürzen musste. Es ging höchstwahrscheinlich nicht gegen Jochim, es ging gegen dich.«

Bahnsen breitete die vom Alter schrundigen Hände aus. »Warum?«

»Das werden wir herauskriegen.« Asmus war fest dazu entschlossen, auch wenn dies nicht die Aufgabe eines Schutzmanns war. Aber wo Polizisten es nicht einmal mit Alkoholschmugglern aufnehmen konnten, würde ein solcher Fall erst recht nicht geklärt werden.

»Ich habe nie mit meiner Meinung wegen des Dammbaus hinter dem Berg gehalten, habe mein Maul immer am weitesten von allen aufgerissen und dabei viele Feiglinge kennengelernt und mir Feinde gemacht. Könnte das der Grund sein?«

»Denkbar wäre es«, gab Asmus vorsichtig zu. »Aber da auch viele andere Gründe in Frage kommen, sollte man sich nicht einseitig auf etwas festlegen.«

»Ich höre ein Pferd«, bemerkte Bahnsen abgelenkt. Im nächsten Augenblick bog ein Reiter im Galopp um den Mühlenhügel. »Einer der Kurärzte.«

Die Erleichterung war Bahnsen anzumerken, obwohl der Reiter offenbar nicht der angeforderte Arzt war. Jedoch war er schneller als ein Hausarzt mit Ponywagen oder als das Leichtmotorrad, wie Asmus klar war. »Moin, Dr. Katzenstein«, murmelte Bahnsen.

Der Arzt, ein dunkelhaariger drahtiger Mann, hielt sich nicht mit langer Begrüßung auf, sondern widmete sich gleich dem Verunglückten. Als er dessen Kopf behutsam gedreht hatte, sah Asmus das Blut, das sich inzwischen zu einer Lache gesammelt hatte.

Die tastende Untersuchung ergab kurz und bündig: »Schädelbruch. Tut mir leid, aber ich bin nicht sicher, ob er überhaupt die Fahrt in die Klinik überlebt. Sind seine Angehörigen verständigt?«