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Fandorin auf Terroristenjagd.
In Moskau und St.Petersburg herrscht politischer Terror. Als General Chaprow einem Attentat zum Opfer fällt, hat Fandorin, inzwischen Staatsrat, schon bald den Mörder ermittelt. Doch all seine Versuche, die Hintermänner dingfest zu machen, kehren sich in eine gnadenlose Jagd auf ihn selbst um ...
Ein politischer Krimi, der die einzigartige Atmosphäre der russischen Revolutionsbewegung in ihren Anfängen schildert.
Gefeiert als »James Bond und Sherlock Holmes, aber mit russischer Seele« (ARD-Kulturreport), trat Erast Fandorin seinen Siegeszug auch in Deutschland an. Der Gentleman-Detektiv brachte seinem Schöpfer Akunin nicht nur phänomenale Erfolge und riesige Auflagen, sondern steht nunmehr für ein einmaliges literarisches Markenzeichen: ein leichter, intelligenter Mix aus bester russischer Tradition und actionreicher Unterhaltungsliteratur.
Boris Akunin: Hinter dem abgewandelten Pseudonym des großen Anarchisten Bakunin verbirgt sich der Moskauer Kritiker, Philologe, Essayist und Übersetzer Grigori Tschchartischwili.
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Seitenzahl: 475
Boris Akunin
Der Tote im Salonwagen
Fandorin ermittelt
Roman
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Die Originalausgabe unter dem Titel
Статский советник
erschien 2000 bei Sacharow-AST, Moskau.
ISBN E-Pub 978-3-8412-0160-7
ISBN PDF 978-3-8412-2160-5
ISBN Printausgabe 978-3-7466-1766-4
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2011
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 bei Aufbau Taschenbuch,
einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
© B. Akunin 2000
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
Umschlaggestaltung Dagmar &Torsten Lemme, Berlin unter Verwendung der Gemälde »Der Student«, 1881, von Nikolai Alexandrowitsch Jaroschenko und »The Railway Station« von William Powell Frith
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
www.aufbau-verlag.de
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Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Impressum
PROLOG
ERSTES KAPITEL,
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL,
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL,
SECHSTES KAPITEL
SIEBTES KAPITEL,
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL,
ZEHNTES KAPITEL
ELFTES KAPITEL,
ZWÖLFTES KAPITEL
DREIZEHNTES KAPITEL,
VIERZEHNTES KAPITEL
FÜNFZEHNTES KAPITEL,
SECHZEHNTES KAPITEL
EPILOG
Die Fenster zur linken Seite waren blind, von Eis und nassem Schnee verklebt. Unentwegt warf der Wind pappige weiche Flocken gegen die kläglich klirrenden Scheiben, rüttelte am schweren Leib des Waggons, ließ nicht ab von dem Versuch, den Zug vom glatten Geleise zu stoßen und wie eine schwarze Schlackwurst über das weite weiße Feld zu rollen, über den zugefrorenen Fluß, die brachen Äcker, geradenwegs bis zum Waldrand, der sich ganz hinten, wo Himmel und Erde zusammenstießen, als vager grauer Streifen abhob.
Diese ganze betrübliche Landschaft konnte man gut durch die rechten Fenster betrachten, welche erstaunlich rein und klar geblieben waren – doch wozu hätte man das tun sollen? Nichts als Schnee, höllisch pfeifender Wind und grauer, tiefhängender Himmel: Trübe, Kälte, Tod.
Um wieviel hübscher war es hier drinnen, im ministerialen Salonwagen: behagliches, von hellblauer Seide getöntes Schummerlicht, das Knacken der brennenden Holzscheite hinter der bronzenen Ofentür, der rhythmisch gegen den Rand des Teeglases klingelnde Löffel. Das Kabinett war nicht groß, doch exquisit eingerichtet: Konferenztisch, Ledersessel, eine Karte des Imperiums an der Wand. So mit fünfzig Werst1 pro Stunde durch den Schneesturm fegend, ließ sich auch einem trüben, kalten Wintermorgen etwas abgewinnen.
In einem der Sessel, bis zum Kinn mit einem schottischen Plaid zugedeckt, schlummerte ein alter Mann mit strengen, herrischen Gesichtszügen. Noch im Schlaf waren seine silbergrauen Brauen gerunzelt, in den Winkeln des unerbittlichen Mundes hatten sich Kummerfalten eingegraben, immer wieder ging ein nervöses Zucken über die furchigen Wangen. Der hin- und herschwingende Lichtkegel der Lampe entriß dem Halbdunkel eine kräftige, auf der Armlehne aus Mahagoni ruhende Hand mit funkelndem Diamantring.
Auf dem Tisch, direkt unter der Lampe, lag ein Stapel Zeitungen. Zuoberst der illegal in Zürich erscheinende Volkes Wille, neueste Ausgabe, von vorgestern. Ein Artikel auf dem nach oben gefalteten Teil war mit wütendem Rotstift markiert:
Urplötzlich heulte die Lokomotive auf, so durchdringend, daß es einem in die Glieder fuhr – erst einmal lang, dann mehrmals kurz: »Uuuh! U! U! U!«
Die Lippen des Schlafenden zuckten nervös, ein dumpfes Stöhnen drang zwischen ihnen hervor. Die Augen klappten auf, ein befremdeter Blick huschte erst nach links, zu den hellen Fenstern hin, dann nach rechts zu den dunklen, ehe er endlich scharf wurde und zu verstehen schien. Der finstere Alte warf den Plaid von sich (kurze Samtjacke, weißes Hemd und schwarze Fliege kamen zum Vorschein) und betätigte, die trockenen Lippen bewegend, ein Glöckchen.
Die Tür, die aus dem Kabinett ins Vorzimmer führte, öffnete sich sogleich. Herein flog ein Oberstleutnant, recht jung noch, in blauer Gendarmenuniform mit weißen Achselschnüren, der sich im Laufen den Leibriemen zurechtrückte. »Einen guten Morgen, Hohe Exzellenz!«
»Sind wir schon durch Twer?« fragte der General mit belegter Stimme, ohne den Gruß zu erwidern.
»Zu Befehl, Herr General. Wir sind kurz vor Klin.«
»Schon vor Klin?« Der General in seinem Sessel schien erbost. »Wieso hast du mich nicht früher geweckt? Hast du verschlafen?«
Der Offizier rieb sich die zerknitterte Wange.
»Nicht doch! Ich sah nur, daß Sie eingenickt waren. Gut, daß der Herr General mal ein Auge zutut, hab ich gedacht. Macht ja nichts, zum Waschen, Ankleiden und Teetrinken bleibt genügend Zeit. Noch eine Stunde bis Moskau.«
Der Zug verlangsamte die Fahrt, schien bremsen zu wollen. Draußen tauchten Lichter auf, vereinzelte Straßenlaternen, eingeschneite Dächer.
Der General gähnte.
»Na schön, dann laß schon mal den Samowar aufstellen. Irgendwie will mir das Aufwachen heute schwerfallen.«
Der Oberstleutnant salutierte und trat ab, schloß lautlos hinter sich die Tür.
Das Vorzimmer war hell erleuchtet, es roch nach Likör und Zigarrenrauch. Neben dem Schreibtisch, den Kopf aufgestützt, saß noch ein Offizier: weißblond, rotgesichtig, mit hellen Brauen und Schweinswimpern. Er räkelte sich, daß die Gelenke knackten.
»Na, was sagt er?« fragte er den Oberstleutnant.
»Er will den Tee. Ich gebe Anweisung.«
»Aha«, sagte der Blonde gedehnt und blickte zum Fenster hinaus. »Ist das Klin? Setz dich, Michele. Ich geh und sag Bescheid wegen des Samowars. Muß sowieso mal raus, die Beine vertreten. Kann ich gleich nachschauen, ob die nicht wieder pennen, die Teufel.«
Er stand auf, zog die Uniform straff und ging mit klirrenden Sporen nach nebenan, ins dritte Gelaß dieses Wunders von einem Waggon. Hier war die Möblierung äußerst schlicht: Eine Stuhlreihe längs der Wand, Kleiderhaken und in der Ecke ein kleiner Tisch, darauf Geschirr und der Samowar. Zwei stämmige Männer in identischen Kamelottanzügen (die Schnurrbärte auf gleiche Art hochgezwirbelt, nur daß der eine strohgelb, der andere rotblond war) saßen reglos einander gegenüber. Zwei andere lagen auf zusammengerückten Stühlen und schliefen.
Beim Eintreten des Weißblonden sprangen die beiden Sitzenden auf, doch der Offizier legte den Finger an die Lippen, zeigte auf den Samowar und sprach im Flüsterton: »Tee für Seine Hohe Exzellenz … Mann, ist das hier stickig. Ich geh Luft schnappen.«
Draußen auf der Plattform standen zwei Gendarmen mit Karabinern in Habtachtstellung. Hier war nicht geheizt, so daß die Wachleute Mäntel, Mützen und Kapuzen trugen.
»Noch lange bis zur Ablösung?« fragte der Offizier. Dabei zog er die weißen Handschuhe glatt und spähte auf den langsam vorüberziehenden Bahnsteig hinaus.
»Eben erst angetreten, Euer Wohlgeboren!« schnarrte der Wachhabende. »Jetzt stehen wir’s durch bis Moskau!«
»Ah ja.«
Der Weißblonde drückte die schwere Tür auf; kalter Wind, Ruß und nasser Schnee wehten herein.
»Schon acht, und kaum ein Lichtstreif«, seufzte der Offizier, ohne damit irgendwen anzusprechen, und stieg hinab auf das Trittbrett.
Der Zug fuhr noch, die Bremsen knirschten und quietschten, da kamen schon zwei Männer den Bahnsteig entlang auf den Salonwagen zugeeilt: voraus ein kleinerer mit Laterne, dahinter ein großer, schlanker in Zylinder und elegantem weitem Macintosh mit Pelerine.
»Das hier ist er, der Sonderwagen!« rief der erste (an seiner Mütze als Stationsvorsteher zu erkennen) und wandte sich nach seinem Begleiter um.
Der blieb stehen und fragte, mit einer Hand den Zylinder festhaltend, den vor ihm in der offenen Waggontür stehenden Offizier:
»S-sie sind Modsalewski? Adjutant S-s-… Seiner Hohen Exzellenz?«
Anders als der Eisenbahner hatte der Stotterer nicht gebrüllt; die Stimme war jedoch so klangvoll und gemessen, daß sie mühelos durch den tosenden Sturmwind drang.
»Nein, ich stehe der Wachmannschaft vor«, erwiderte der Weißblonde, während er überlegte, ob das Gesicht des Stutzers ihm bekannt vorkam.
Es war allerdings bemerkenswert: strenge, doch feine Züge, das schwarze Schnurrbärtchen akkurat gestutzt, eine entschlossene senkrechte Furche auf der Stirn.
»Aha, dann also Stabsrottmeister von S-s-… Seydlitz. Angenehm!« sagte der Fremde mit zufriedenem Nicken und säumte nicht, sich seinerseits vorzustellen: »Fandorin, Staatsbeamter im b-b-… besonderen Auftrag Seiner Erlaucht des M-m-… Moskauer Generalgouverneurs. Ich darf annehmen, daß Sie von mir wissen.«
»Jawohl, Herr Staatsrat, wir erhielten die Geheimdepesche, daß Sie für die Sicherheit des Herrn Generals in Moskau zuständig sind. Ich gedachte Sie allerdings erst auf dem dortigen Bahnhof zu treffen. Steigen Sie ein, steigen Sie ein, die Plattform weht sonst ganz voll Schnee!«
Der Staatsrat verabschiedete sich vom Stationsvorsteher mit einem Nicken, erklomm behende die steilen Stufen und schlug die Tür hinter sich zu. Augenblicklich wurde es still, Fandorins Stimme hallte. »Sie befinden sich bereits auf dem Territorium des G-g-… Gouvernements Moskau«, erläuterte der Beamte, während er den Zylinder abnahm und den Schnee von der Oberseite schüttelte. Dabei konnte man sehen, daß seine Haare pechschwarz, die Schläfen jedoch, seiner Jugend zum Trotz, vollkommen grau waren. »Hier beginnt s-sozusagen meine Jurisdiktion. Wir werden in K-k-… Klin mindestens z-zwei Stunden Aufenthalt haben, vor uns liegt eine Schneewehe auf den Gleisen, die erst beseitigt werden muß. Genug Zeit, sich zu verständigen und die K-kompetenzen zu klären. Zuvörderst aber muß ich Seiner Hohen Exzellenz meine Aufwartung sowie eine d-d-… dringende Mitteilung machen. Wo kann ich ablegen?«
»In der Wachstube, wenn ich bitten darf, dort sind Kleiderhaken.«
Von Seydlitz geleitete den Beamten zunächst in den vorderen Raum, wo die Zivilagenten Dienst taten, und von hier – nachdem Fandorin seinen Macintosh ausgezogen und den durchgeweichten Zylinder auf einen Stuhl geworfen hatte – in den dahinterliegenden.
»Michele, das ist Staatsrat Fandorin«, erklärte der Chef der Wachmannschaft dem Oberstleutnant. »Selbiger. Mit einer dringenden Mitteilung für den Herrn General.«
Der Angesprochene erhob sich.
»Modsalewski, Adjutant Seiner Hohen Exzellenz. Dürfte ich einen Blick auf Ihre Legitimation werfen?«
»Aber g-gewiß doch.« Der Beamte zog ein gefaltetes Papier aus der Tasche und reichte es dem Adjutanten.
»Es ist Fandorin«, beteuerte der Wachoffizier. »In der Depesche war die Beschreibung, ich erinnere mich bestens.«
Modsalewski prüfte gewissenhaft das Siegel und die Photographie, bevor er das Papier seinem Besitzer zurückgab.
»In Ordnung, Herr Staatsrat. Ich erstatte sogleich Meldung.«
Keine Minute später wurde der Beamte in das Refugium aus weichen Teppichen, Mahagoni und bläulichem Lampenschein vorgelassen. Er trat ein und verbeugte sich wortlos.
»Seien Sie gegrüßt, Herr Fandorin«, schnarrte der General leutselig, der nun schon anstelle der Samtjacke einen Uniformrock trug. »Erast Petrowitsch mit Vor- und Vatersnamen, wenn ich nicht irre?«
»Zu Diensten, Hohe Exzellenz.«
»Sie geruhen Ihren Schützling also schon ante portas in Empfang zu nehmen? Ihr Eifer ist zu loben, wenngleich ich diesen ganzen Aufwand als einigermaßen entbehrlich ansehe. Erstens ging meine Abreise aus Sankt Petersburg geheim vonstatten, zweitens lasse ich mich von den Herren Revolutionären nicht ins Bockshorn jagen, und drittens liegt unser Schicksal allein in Gottes Hand. Wenn er einen Chrapow bis jetzt verschont hat, spricht das dafür, daß er den alten Kämpen noch gebrauchen kann.« Und der General – kein anderer als Chrapow natürlich – bekreuzigte sich fromm.
»Ich habe Eurer Hohen Exzellenz eine hochdringliche, äußerst k-k-… konfidentielle Mitteilung zu überbringen«, versetzte der Staatsrat leidenschaftslos, mit einem Seitenblick auf den Adjutanten. »T-t-… Tut mir leid, Oberstleutnant, aber so lautet die Instruktion.«
»Geh rüber, Mischa«, befahl der sibirische Generalgouverneur, den die ausländische Presse einen Henker und Satrapen nannte, in innigem Ton. »Ist der Samowar schon bereit? Sobald wir hier fertig sind, rufe ich, dann trinken wir zusammen ein Gläschen Tee … Ja nun!« fuhr er fort, nachdem die Tür sich hinter dem Adjutanten geschlossen hatte. »Was haben wir denn für Geheimnisse? Ein Telegramm vom Zaren? Geben Sie her.«
Der Beamte trat dicht an den Sitzenden heran, fuhr mit der Hand in die Innentasche seines Biberjacketts – als ihm die verbotene Zeitung mit dem rot angestrichenen Artikel ins Auge fiel. Den Blick des Staatsrats bemerkend, verzog der General das Gesicht.
»Tja, die Herren Nihilisten lassen Chrapow nicht aus den Augen! Ihren ›Henker‹ … Daß ich nicht lache! Gewiß wird auch Ihnen, lieber Fandorin, allerhand Unsinn über mich zu Ohren gekommen sein? Glauben Sie bloß nicht den bösen Zungen! Nichts als Lügen, an den Haaren herbeigezogen … Barbarische Wärter sollen das Mädchen in meinem Beisein halbtot geprügelt haben. Eine Verleumdung ist das!« Man sah, die unselige Geschichte um jene Iwanzowa, die sich erhängt hatte, hing Seiner Hohen Exzellenz tüchtig an, ließ ihm noch keine Ruhe. »Ich bin ein ehrlicher Soldat, Träger zweier Georgskreuze – eins für Sewastopol2, eins fürs zweite Plewna3!« ereiferte er sich. »In Wahrheit wollte ich das dumme Ding vor der Strafkolonie bewahren! Gut, ich hab sie geduzt – und wenn schon. Ich meinte es doch ganz väterlich! Ich hab eine Enkelin in ihrem Alter! Darauf verpaßt sie mir altem Mann, einem Generaladjutanten, eine Ohrfeige. Vor versammelter Wachmannschaft, vor den Häftlingen! Allein diese Untat hätte sie von Gesetzes wegen mit zehn Jahren Zwangsarbeit zu büßen! Statt dessen habe ich befohlen, sie ein bißchen auszupeitschen, und die Sache hätte sich gehabt. Von wegen halbtot, wie es die Postillen schrieben – zehn Hiebe, mit halber Kraft! Und nicht die Gefängniswärter, die Aufseherin hat es getan. Wer konnte denn ahnen, daß diese verrückte Iwanzowa Hand an sich legen würde? Dabei ist sie nicht mal von adligem Blut, gewöhnlicher Mittelstand, und solche Sachen!« Der General winkte erbost ab. »Das bleibt nun ewig an mir hängen. Kurz darauf hat noch so eine Verrückte auf mich geschossen. Ich hab Seiner Majestät geschrieben, man möge sie nicht hängen, doch der Zar blieb hart. Eigenhändig hat er es auf mein Gesuch geschrieben: ›Wer das Schwert gegen meine Getreuen erhebt, darf auf Gnade nicht hoffen!‹« Chrapow schniefte gerührt, Greisentränen in den Augenwinkeln. »Jetzt veranstalten sie eine große Hatz auf mich. Die reinste Wolfsjagd. Und dabei hab ich nur das Beste gewollt … Ich versteh das nicht, beim besten Willen, ich versteh das nicht!«
Konsterniert hob der Generalgouverneur die Hände. Da entgegnete der junge Mann mit dem dunklen Haarschopf und den grauen Schläfen auf einmal ganz ohne zu stottern: »Einer wie Sie wird nie verstehen, was Ehre und Menschenwürde bedeuten. Sei’s drum. Den anderen Bluthunden soll es eine Lehre sein!«
Die Kinnlade des Generals klappte nach unten, er wollte sich aus dem Sessel erheben, doch der sonderbare Beamte hatte die Hand inzwischen aus seinem Jackett gezogen, und darin war kein Telegramm, sondern ein kurzer Dolch. Der Dolch drang dem General mitten ins Herz, Chrapows Brauen schoben sich nach oben, der Mund ging auf, doch es kam kein Laut. Seine Finger krallten sich um die Hand des Staatsrats, wobei der Diamant noch einmal aufblitzte. Dann kippte der Kopf des Generalgouverneurs leblos nach hinten, und ein Rinnsal dunkles Blut lief ihm das Kinn hinab.
Angewidert löste der Mörder den Griff des Toten von seinem Handgelenk, riß den angeklebten Schnurrbart mit einem nervösen Ruck von seiner Oberlippe und rieb sich die grauen Schläfen, die davon so schwarz wurden wie sein übriges Haar.
Nach einem raschen Blick über die Schulter, auf die verschlossene Tür, trat der Mann zielstrebig vor eines der vom Schnee blinden Fenster, die auf die Gleise hinaus gingen, zerrte am Griff – doch das Fenster war am Rahmen angefroren, gab nicht nach. Was den seltsamen Staatsrat jedoch nicht aus der Fassung brachte. Er packte den Griff mit beiden Händen, hängte sich daran. Die Stirnadern traten ihm hervor, die zusammengebissenen Zähne knirschten – und, o Wunder: Der Fensterrahmen knirschte ebenfalls und fuhr nach unten. Schnee stäubte herein, dem Kraftprotz mitten ins Gesicht, die Vorhänge flatterten fröhlich. Ein behender Satz – und der Mörder schwang sich über die Fensterkante, war einen Moment später im Morgengrauen verschwunden.
Wenige Augenblicke später war das Kabinett nicht mehr wiederzuerkennen. Übermütig, als könnte er sein Glück nicht fassen, ließ der Wind allerlei hochwichtiges Papier über den Teppich wirbeln, zerrte an der fransigen Tischdecke, zauste die schlohweißen Haare des Generals.
Der hellblaue Lampenschirm geriet jäh ins Schaukeln, der Lichtkegel glitt über die Brust des Toten, und man konnte sehen, wie gründlich der Dolch eingepflanzt war, bis ans Heft – und daß dieses Heft zwei gravierte Initialen trug: KG.
HENKER DER VERGELTUNG ENTZOGEN
Wie unsere Redaktion aus zuverlässigster Quelle erfuhr, soll Generaladjutant Chrapow, der erst letzten Donnerstag vom Amt des stellvertretenden Innenministers und Befehlshabers des Gendarmeriekorps entbunden wurde, in Bälde zum Generalgouverneur von Sibirien ernannt werden; er wird sich unverzüglich an seinen neuen Dienstort begeben. Die Hintergründe dieser Versetzung sind nur allzu einleuchtend. Dem Zaren liegt daran, Chrapow der Rache des Volkes zu entziehen, indem er seinen braven Kettenhund für eine Weile aus dem hauptstädtischen Verkehr zieht. Doch das Urteil, das unsere Partei über diesen blutrünstigen Satrapen gefällt hat, bleibt in Kraft. Mit seinem unmenschlichen Befehl, die politische Gefangene Polina Iwanzowa der Folter zu unterziehen, hat Chrapow selbst dafür gesorgt, daß die Gebote der Menschlichkeit auf ihn keine Anwendung mehr finden. Er hat sein Leben verwirkt. Zweimal gelang es dem Henker, seinen Rächern zu entkommen, doch er ist und bleibt dem Tode geweiht.
Aus nämlicher Quelle war zu erfahren, daß Chrapow bereits für den Posten des Innenministers vorgesehen ist. Die Abkommandierung nach Sibirien ist eine vorübergehende Maßnahme, ihr einziger Zweck, Chrapow vor dem Sühneschwert des Volkszorns in Sicherheit zu bringen. Die Zarenbüttel rechnen damit, unsere Kampfgruppe, der es obliegt, das Urteil über diesen Henker zu vollstrecken, in nächster Zeit aufzudecken und zu liquidieren. Und ist die Gefahr erst gebannt, wird Chrapow mit fliegenden Fahnen, als des Imperators unumschränkter Günstling, nach Petersburg zurückkehren.
Das darf nicht sein! Die ausgelöschten Leben unserer Genossen schreien nach Vergeltung.
Unsere Genossin Iwanzowa, da sie die Schmach nicht ertrug, hat sich im Kerker erdrosselt. Sie war gerade einmal siebzehn Jahre alt.
Die dreiundzwanzigjährige Studentin Skokowa hat auf den Satrapen geschossen, aber nicht getroffen. Sie wurde gehenkt.
Ein Genosse unserer Kampfgruppe, dessen Namen geheim zu bleiben hat, wurde von einem Splitter der eigenen Bombe getötet, während Chrapow abermals unversehrt blieb. Sei’s drum, Hohe Exzellenz, der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht. Unsere Kampfgruppe wird Euch auch in Sibirien aufspüren.
Angenehme Reise!
in welchem Fandorin verhaftet wird
Der Tag war von Anfang an verkorkst. Erast Petrowitsch Fandorin war in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, weil er schon um halb neun auf dem Nikolaus-Bahnhof sein mußte. Gemeinsam mit seinem japanischen Kammerdiener hatte er das obligatorische Gymnastikprogramm absolviert, hatte eine Schale grünen Tee getrunken und war beim Rasieren (währenddessen machte er Atemübungen), als das Telefon schellte. Wie sich nun herausstellte, war das frühe Aufstehen für die Katz gewesen: Der Kurierzug aus Sankt Petersburg würde aufgrund von Schneeverwehungen um zwei Stunden verspätet ankommen.
Da alle notwendigen Vorkehrungen zur Gewährleistung der Sicherheit für den hohen hauptstädtischen Gast bereits am Vortag getroffen worden waren, fiel Fandorin nicht gleich ein, womit er die unerwartete freie Zeit hätte füllen können. Gut, er konnte früher zum Bahnhof fahren, doch das wollte er nicht. Wozu seinen Untergebenen unnötig auf die Nerven fallen? Es bestand kein Zweifel, daß Oberst Swertschinski, amtierender Chef der Gendarmerieverwaltung im Gouvernement, alle Anweisungen genauestens befolgt hatte: Bahnsteig eins, wo der Zug einfahren würde, war von Agenten umstellt, direkt auf dem Bahnsteig wartete eine gepanzerte Kutsche, und der Begleitschutz war auf das sorgfältigste ausgewählt. Eine Viertelstunde früher auf dem Bahnhof zu sein würde vollkommen ausreichen – auch das nur der Ordnung halber und nicht, um allfällige Unterlassungen zu entdecken.
So verantwortungsvoll die Aufgabe war, die ihm Seine Erlaucht Fürst Dolgorukoi hier übertragen hatte, so unkompliziert war sie auch. Er hatte die prominente Person in Empfang zu nehmen, zum Frühstück beim Fürsten und anschließend zur Erholung in eine peinlich bewachte Residenz auf den Sperlingsbergen zu geleiten, bevor er den frischgebackenen sibirischen Generalgouverneur abends an den Zug nach Tscheljabinsk bringen würde; der Ministerwagen würde selbstverständlich angekoppelt sein. Das war eigentlich alles.
Die einzig heikle Frage, die Fandorin seit dem gestrigen Tag quälte, war, ob er Generaladjutant Chrapow die Hand schütteln sollte – der sich eine wenn nicht Schandtat, so im mindesten unverzeihliche Dummheit hatte zuschulden kommen lassen.
Von Amts wegen und im Hinblick auf die Karriere galt es die Gefühle natürlich hintanzustellen, zumal Leute, die es wissen mußten, eine baldige Rückkehr des Ex-Gendarmeriekommandeurs in die Führungsspitzen prophezeiten. Daß Fandorin den Händedruck nicht zu umgehen beschloß, hatte jedoch einen gänzlich anderen Grund: Ein Gast ist ein Gast, den zu kränken einfach nicht anstand. Einen kühlen, betont offiziellen Ton anzuschlagen konnte durchaus genügen.
Der Entschluß war richtig, ja geradezu unanfechtbar, und dennoch nagten, wie man so schön sagt, an Fandorins Herzen Zweifel: Waren es am Ende nicht doch Karrieregelüste, die den Ausschlag gaben?
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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