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So bleibe ich nur Künstlernatur! Neben der bekannten Erzählung »Auch eine Weihnachtsgeschichte« enthält dieser Band weitere Kurzgeschichten und Gleichnisse, die hier erstmals auf Deutsch erscheinen. Die mit Faksimiles und Tagebuchnotizen ergänzte Sammlung bezeugt Königs Kreativität, seinen bildhaften Stil und sein weitreichendes Bewusstsein für die Perspektiven des Lebens.
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Seitenzahl: 219
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Karl König
Geschichten und Gleichnisse
Herausgegeben von Richard Steel
Verlag Freies Geistesleben
«So bleibe ich nur Künstlernatur.»
Karl König als Dichter und Erzähler
von Richard Steel
Karl König – Geschichten und Gleichnisse
I. Den Kindern erzählt
Eine Geschichte zum Michaelstag
Zum Ersten Advent
II. Gleichnisse – für die Eurythmie eingerichtet
Der Schatz im Acker
Die Perle in der Muschel (Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis)
III. Kurzgeschichten
Der Traum des Mönchs
Die träge Zunge (Eine chassidische Geschichte)
Athena Parthenos – Ein Märchen
Weihnachten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Eine Geschichte aus den Highlands
Eines Morgens 1352 vor Christus
Die Geschwister
Die böhmisch-mährischen Brüder
Die drei Tage
Auch eine Weihnachtsgeschichte
Karl Königs «Weihnachtsgeschichte»
Nachwort von Richard Steel
Übersicht der Entstehungszeiten und Erstveröffentlichungen
Anmerkungen
von Richard Steel
Bereits 2017 haben wir einen Band mit Gedichten, Meditationen und Sprüchen von Karl König unter dem Titel Den Sinn des Lebens will ich haben veröffentlicht. Alfons Limbrunner, der damals entscheidend an der Herausgabe mitwirkte, erachtete es als stimmig, ein dem dichterischkünstlerischen Werk entlehntes Zitat als Buchtitel voranzustellen. Die Wahl fiel dann auf einen Vers aus einem Gedicht des erst siebzehnjährigen Dichters.1
Zunächst jedoch – während seines Umgangs mit über 400 Gedichten – wollte Alfons Limbrunner die Zeile «So bleibe ich nur Künstlernatur.», die Karl König 1919 seinem Tagebuch anvertraut hatte, verwenden.
Damals war geplant, bald auch den zweiten Band mit Erzählungen und Geschichten hinzuzustellen. Doch nach Alfons Limbrunners Tod 2017, kurz nach Erscheinen des Gedichtbands, geriet die Arbeit ins Stocken und der zweite Band ließ bis dato auf sich warten. Wäre er als Herausgeber noch im Team, so könnte der Buchtitel für diesen Band durchaus «So bleibe ich nur Künstlernatur.» lauten. Nun bildet die Zeile aus dem Tagebuch den Titel dieser Einleitung.
Königs Selbsteinschätzung weist eine fast prophetische Dimension für seine gesamte Biographie auf. Natürlich hatte er die künstlerische Natur seines Wesens stark erlebt, doch konnte er kaum ermessen, welche Bedeutung diese Veranlagung – auch für seine nicht künstlerischen Aufgaben – haben würde. Als Jugendlicher wäre er gerne aus seinem großen Enthusiasmus heraus Künstler geworden, doch musste er sich eingestehen, dass sein Talent nicht ausreichen würde. So schrieb er in selbstkritischer Betrachtung in sein Tagebuch:
So bleibe ich nur Künstlernatur. Denn dass ich nichts in der Kunst zusammenbringe, darüber bin ich mir klar geworden.
Dieses «nur» aber wurde zu einem wichtigen biographischen Element. Das Künstlerische wirkte sich nämlich überall da aus, wo König im späteren Leben tätig wurde, und gerade diese Fähigkeit war es, die vielen Menschen eine Zugangsmöglichkeit zur Anthroposophie gewährte. Vieles wurde durch seine Darstellungsart für seine Zuhörer lebendig. Wenn er zum Beispiel über Elefanten oder andere Tiere sprach – so wurde berichtet –, wirkte er selbst so groß wie ein Elefant und führte die charakteristische Gangart der Tiere vor. Tiefer betrachtet erlebte König wohl dieses Künstlerisch-Bildhafte zunehmend als einen Aspekt seiner Erdenaufgabe; gewissermaßen zum Auftakt der Gründung in Camphill entstanden die noch nicht genügend gewürdigten Illustrationen2 der meditativen Sprüche des Seelenkalenders, und wenn er dann, gegen Ende seines Lebens, den Begriff der «Herzenserkenntnis» prägte,3 so hängt dies sicher mit einem künstlerischen Zugang, auch in der Art des Denkens, zusammen. Seine Vorträge, die zumeist aus dem imaginativen Bereich schöpfen, aber besonders die Bücher, wo man dies vielleicht nicht erwarten würde, zeugen davon. Als Beispiel möge Bruder Tier4 gelten, in dem der Leser in eine neue Erlebnisebene der Tierwelt geführt wird. Selbst ein Buch, das in eine Erkenntnis der Seelenvorgänge des Menschen führen sollte – Über die menschliche Seele5– bleibt nicht nur Sachbuch, sondern fordert den Leser immer wieder zu einem eigenen, bild- und erlebnisgetragenen Mitdenken auf. Schließlich sollte erwähnt werden, dass es für König ein wichtiges Prinzip der Gemeinschaftsbildung blieb, das Leben mit Kunst zu durchdringen. Darüber wurde bereits ein Themenheft des Instituts herausgegeben: Kunst in Gemeinschaft, Gemeinschaft als Kunst.6
Hatten wir bei den Gedichten Karl Königs die herausfordernde Aufgabe, für die Publikation eine kleine Auswahl zu wählen, so können wir in diesem Band alle im Archiv vorhandenen Geschichten präsentieren. Wir gehen davon aus, dass damit tatsächlich alle erfasst sind, da König seine schriftlichen Arbeiten gesammelt und aufbewahrt hat. Lediglich kleinere Tagebucheinträge, die aber eher essayistischer Natur sind, haben wir hier nicht aufgenommen. Einer, in einem frühen Tagebuch, trägt den Titel Wer ist für mich der größte Mensch? und zeigt die frühe Auseinandersetzung des jungen im Judentum aufwachsenden Menschen mit seiner Entdeckung des Christus. Der andere, geschrieben in der Pilgramshainer Zeit, den er dann als einfaches, kleines illustriertes Heft seiner Frau bald nach der Heirat schenkte, heißt Was ist ein Christ? Beide werden in einer späteren Studie, im Zusammenhang mit seinem Weg zum Christentum, zu betrachten sein.
Neben den ersten Gedichten finden wir in Karl Königs Jugendtagebüchern erste Ansätze und einige Fragmente von Geschichten. Wir erfahren, wie der Fünfzehnjährige seinem verehrten Mentor, Arnold Bergel, sein Konzept für ein Märchen vorstellte und ihm erzählte, dass er beabsichtige, daraus ein Theaterstück zu machen. Sein Vorbild war damals der Vater seines Jugendfreunds, der selbst Theaterstücke schrieb und im Prater aufführte.7 König hatte bereits einige der Spiele erlebt und sogar mitspielen dürfen. So lesen wir im Tagebuch von 1918:
29.7.1918: Als ich mit Herrn Bergel über meine Gedichte sprach, sagte ich ihm auch von einer Idee, die ich für ein Märchenspiel verwenden wollte. Er riet mir aber, die Idee nur nackt darzulegen, da die Ausarbeitung viel zu schwer sei.
Die Idee:
In einem fernen Lande. In dem Lande, das voll von den schönsten Blumen und Blüten, leben nur Dichter. Wirkliche Dichter, die die Natur fühlen und sie besingen. Und der Königssohn ist der größte Dichter bei ihnen. Er besingt am herrlichsten die Natur und die Welt. Wenn man seine Dichtungen liest, vermeint man den besten und den edelsten Menschen vor sich zu haben. Doch dem ist nicht so. Er ist der grausigste Tyrann, ein Verächter des Lebens und der Natur. Und doch schreibt er so herrlich. Das war sein Geheimnis: Sein Vater zeugte ihn unrechtmäßig. Seine Mutter, eine Fee, gab ihm bei der Geburt die Gabe, der größte [Lücke im Tagebuch] im Lande zu werden. Doch da kam das Weib des Königs, das er betrogen und sagte: «Ein Dichter kannst du sein, aber kein wirklicher. Ich nehme dir die Gabe des Fühlens. Des Fühlens der Natur. Nur an einem Tage soll dir klar werden, dass du nicht fühlst. Der Tag sei dein 30. Geburtstag.» So die Taufgeschenke des Kindes. Der 30. Geburtstag kam heran und was war es? Er sah alles in einer anderen Art. Die Blumen, die Gräser, die Bäume, die ganze Natur. Da fühlte er, dass er nicht fühlte. Doch da ward ihm kund, dass am nächsten Morgen er wieder der Natur fühllos entgegentreten wird. Das treibt ihn zum Höchsten: «Bevor solch ein Leben, lieber der Tod.»
Die erste kleine Geschichte, die er dann zu Ende ausführte, entstand ein Jahr später, 1919, als Geschenk für seinen besonderen Freund «Fredi» (Alfred Bergel) zum Geburtstag. Deutlich wird dabei, wie wichtig ihm diese Freundschaft war:
6.1.1919: Dem Fredi habe ich zu seinem Geburtstag ein Märchen geschrieben: «Es war einmal, da lebte ein Mann, der ein großer Künstler war. In seiner Wiege war ihm ein Strauß der herrlichsten Rosen geschenkt worden, und diese Rosen wurden seine Kunst. Und sie spendeten Duft und Schönheit manchen Menschen. Doch viele, viele gab es, die diese Schönheit, gerade diese, nicht verstanden. Und der Künstler wurde betrübt, dass er nicht jedem Schönheit geben konnte. Einmal, in tiefer Nacht, in schwerem Traum, war es, dass der Künstler in sich blicken konnte und da gewahrte er in seiner Seele einen verwelkenden Strauß kleiner Blumen. ‹Arme Blumen›, sprach er, ‹ich habe euch, ob meines großen Straußes ganz vergessen.› Er nahm die Blümlein aus seiner Seele und bot sie den Menschen dar. Und siehe, die Blumen sprossen aus und zogen alle Menschen, ohne Ausnahme zu sich. Denn jeder hatte in seiner Seele solch kleine verwelkende Blumen, die nun, angesichts der Bruderblumen wieder zu blühen anfingen. Und der Künstler wurde glücklich und froh, dass er nun allen Menschen Schönheit und Freude gab. Er hatte den Menschen seine Kunst und seine Seele gegeben.»
Lieber Freund, du weißt sicher, dass ich tausend Wünsche zu deinem Geburtstag habe, aber mein erster und innigster soll sein: Werde wie dieser Mann – so glücklich und groß.
Im Gegensatz zu den Gedichten, die einen roten Faden in seiner Biographie erkennen lassen – viele bezeugen die innere Suche während der Jugend- und frühen Erwachsenenjahre –, hat Karl König (abgesehen von den oben genannten Jugendaufzeichnungen) alle Geschichten, die in diesem Band vereint sind, zwischen 1942 und 1964 in Camphill verfasst; außer die für seine Frau Tilla bestimmte sehnsuchtsvolle Geschichte «Die böhmisch-mährischen Brüder», die er im Mai 1939 in der Anfangszeit in Kirkton Haus schrieb. Wie diese sind die meisten Geschichten seiner Frau Tilla gewidmet – zum Geburtstag oder zum Hochzeitstag. Die frühe Erzählung «Die Geschwister» hat er 1944 für Trude Amann (die er in Wien als Trude Blau gekannt hatte) geschrieben. Sie war Mitglied seiner Jugendgruppe in Wien – als Einzelkind spürte er wohl sehr früh ein geschwisterliches Verhältnis zu ihr.
Der Eintrag vom 29.7.1918 aus dem Tagebuch des fünfzehnjährigen Karl König
Im Anhang fügen wir eine tabellarische Übersicht mit Entstehungsdaten und Einzelheiten zu den Publikationen hinzu, weil die Anordnung im vorliegenden Band nicht dem chronologischen Prinzip folgt, sondern mehr im Inhaltlichen begründet ist.
Wir beginnen mit den Geschichten, die König den Kindern erzählt hat. Es sind Ansprachen zu den Jahresfesten. Wir wissen, dass er oft zu den Kindern gesprochen hat, aber leider hat er nur zwei der vielen Erzählungen in seinem Tagebuch der frühen Camphill-Zeit (1942) hinterlassen. Die Worte für das «Adventsgärtlein» halten sich eng an die Ansprache Rudolf Steiners, als er diese Adventstradition im Sonnenhof in Arlesheim einführte.8 König hatte auch sein erstes Adventsgärtlein just dort in Arlesheim erlebt; ein Erlebnis, das sein weiteres Leben prägen sollte.9 Anke Weihs hat zudem aus dem Gedächtnis eine weitere Ansprache für die erste Gruppe von Kindern, zur Eröffnung von Kirkton Haus, Pfingsten 1939, festgehalten. Diese ist in der Biographie Karl König abgedruckt.10 Im Tagebuch von 1962 finden wir zudem eine interessante Notiz zum ersten Weihnachtsfest, das im neuen Saal gefeiert werden sollte. Am 2.12. notierte König:
Lese dann einige Weihnachtsgeschichten, weil ich morgen zum Schulfest der Kinder sprechen soll und bin berührt und ergriffen von den Inhalten dieser einfachen Erzählungen. Bin aber sehr erschöpft.
Am nächsten Tag lautet der Eintrag dann:
Beim Aufwachen am Morgen merke ich, dass eine Erkältung mit leichtem Fieber mich gepackt hat. Kann aber aufstehen und zur Schulfeier gehen, die sehr interessant, aber recht ungehalten ist. Trotzdem ist es wunderbar, die Kinder zu sehen und zu bemerken, wie viele davon doch sehr schwer erkrankt und in ihrer Entwicklung gestört sind, aber dennoch gute Leistungen zeigen. Ich erzähle ihnen von den Weihnachtsgeschichten der Welt und von dem großen Weihnachtsbaum im Himmel, dessen Kerzen aus dem Leid und der Not der Menschen gegossen werden.
Auf die Erzählungen für die Kinder folgen dann zwei «Gleichnisse», die König so verfasste, dass sie den Kindern eurythmisch gezeigt werden konnten. Ihm lag die Eurythmie für Kinder sehr am Herzen. Bereits ab 1942 war es für die Gestaltung des Alltagslebens in der Gemeinschaft möglich, die eurythmische Kunst vermehrt einzusetzen, nachdem die Eurythmistin Irmgard Lazarus nach Camphill gekommen war und dort schließlich bis in die 1990er-Jahre aktiv blieb.
Die «eigentlichen» Kurzgeschichten umfassen elf an der Zahl. Es scheint so, dass Karl König sich vielen Elementen seiner eigenen Biographie mittels der Erzählkunst zu nähern versucht hat, denn alle Geschichten weisen direkte oder indirekte autobiographische Bezüge auf. Beim Studium seiner Biographie können sie uns eine weitere Erlebnisebene erschließen – was in einem Nachwort zu dem Kleinod «Auch eine Weihnachtsgeschichte» anhand eines Beispiels verdeutlicht wird.
Drei dieser Geschichten schließen in ihrer rätselhaften Natur an die «Gleichnisse» an: «Der Traum des Mönchs», «Die träge Zunge» und «Athena Parthenos». Letztere weist einen tiefen Bezug zu Königs Heimat Wien auf und ist in ihrer literarischen Form besonders. König selbst hat die Geschichte mit «Märchen» untertitelt. Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» (das Rätselmärchen, wie Rudolf Steiner es nannte) bildet denn auch sehr deutlich den Hintergrund, so wie es bei Rudolf Steiners Mysteriendramen der Fall gewesen war. Dass «Die träge Zunge» als chassidische Geschichte in seinem Tagebuch zu finden ist, deutet auch auf Familienzusammenhänge hin, da Königs Großvater mit der damals mehr esoterischen Strömung des Judentums verbunden war.
Die dann folgenden drei Geschichten: «Weihnachten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft», «Eine Geschichte aus den Highlands» und «Eines Morgens 1352 vor Christus» hatte König für die jeweils gängige Zeitschrift der Camphill-Bewegung geschrieben; «Weihnachten», eine Geschichte, die sicher absichtlich an Dickens’ Weihnachtsgeschichte erinnern soll, war für Leaves from Camphill, die anderen beiden für The Cresset. Letztere hatte er unter dem Pseudonym «A. Shepherd» veröffentlicht, was sicher seine Absicht unterstreichen soll, weniger «König» der Gemeinschaft, sondern vielmehr «ein Hirte» zu sein. Mit seiner führungsstarken Rolle sowie seinen temperamentbedingten Eigenschaften versuchte er stets bewusst umzugehen.
Am rätselhaftesten ist wohl die ägyptische Szene, die in «Eines Morgens 1352 vor Christus» so dargestellt wird, als würde der Erzähler es tatsächlich miterlebt haben. Man findet hier Anklänge an eine Ebene, die besonders in dem von König verfassten «Requiem»11 auftaucht – wie eine Zusammenschau vom alten Ägypten mit den Ereignissen unserer Zeit (im «Requiem» vor allem in Zusammenhang mit Kaspar Hauser). Es wird aber auf eine Entwicklung in der Mysteriengeschichte hingewiesen; innerhalb dieser traumartigen Erzählung erscheint wiederum ein Traum, in dem kundgetan wird:
Oh Priester und Schüler, Meister,
Erzdiakon der Tempel,
Diener, Weise,
Die Zeit ist gekommen und ist nahe
Wenn die Pforten und Türen unserer
Heiligen Mysterien
Für immer geschlossen werden müssen.
Inhaltlich erinnert das an die Handlung in Königs Spiel für Michaeli, das erste seiner Spiele innerhalb der schottischen Gemeinschaft, das mit seiner Auseinandersetzung mit den tieferen, schicksalsmäßigen Zusammenhängen seiner kleinen Pioniergruppe im schottischen Exil zu tun hat.12 Da geht es um eine Neuerschließung der Mysterien in moderner Form und um die Rolle der Gemeinschaft in diesem Prozess. Der (ägyptische) Wächter wartet auf das neue spirituelle Streben des heutigen Menschen. Bei der ersten Aufführung war es König wichtig, wer die einzelnen Rollen bekam – er selbst spielte den Wächter. Wieder kommt in dieser Zweiheit von ägyptischen Darstellungen etwas von dem Goethe-Märchen zum Vorschein: dort, im Märchen-Bilde, erhebt sich der alte Tempel ans Licht, und die Brücke (der grünen Schlange) wird für alle Menschen begehbar – in beide Richtungen, so wird betont. Wenn es im ägyptischen Traum Königs heißt:
Ich erhob mich, ich stand, ich wusste:
Die Zeit unserer Götter ist erfüllt worden,
entsteht der Eindruck, dass der Wächter im Spiel bereits spricht, als er sich hinkniet und den Tempel für die Menschheit freigibt:
Habt Dank
Ihr Himmel, die in Liebeslicht
Euch meiner erinnert.
Die vier letzten Geschichten sind direkt autobiographisch. «Die Geschwister» ist zwar in gewisser Beziehung eine Bildbetrachtung, bezieht sich aber auf seine früheren Erlebnisse in Wien.
«Die böhmisch-mährischen Brüder» schrieb König direkt nach dem Einzug ins Kirkton Haus – es waren nun die ersten Wochen im Exil des kargen schottischen Nordens, mit ungewisser Zukunft. Diese Geschichte, die er seiner Frau zum 10. Hochzeitstag am 5. Mai 1939 widmet, spiegelt seinen tiefen Bezug zu Schlesien wider, der Heimat seiner Frau, wo er prägende Erlebnisse in der von der frommen Bruderschaft geformten Landschaft und der Herrnhuter Lebensweise erfahren hatte und sich gedrängt fühlte zu schreiben, wie die «Eiskruste» seines Schicksalsrätsels zu tauen begann:
Das innerste Christentum Ihrer Seele und die tiefste Geistigkeit der umgebenden Landschaft vermochten es.13
«Die drei Tage» ist eine künstlerische Verarbeitung der gemeinsamen Hochzeitsreise 1955 und während seiner schweren Herzerkrankung geschrieben.
Eine besondere Bedeutung sowie Stellung kommt dann der kleinen Erzählung «Auch eine Weihnachtsgeschichte» zu. Aus dem Titel ist ersichtlich, dass diese nicht nur jahreszeitlich gebunden als Weihnachtsgeschichte gedacht war, sondern inhaltlich viel weiter zu fassen ist, obwohl sich das Erlebnis, das König zur Niederschrift veranlasste, tatsächlich in der Weihnachtszeit ereignete. Da diese Geschichte im Werdegang Camphills eine wesentliche Rolle spielt und in mehrfacher Weise mit der Verflechtung von Menschen- und Gemeinschafts-Biographie zu tun hat, ist ein Nachwort zur Erläuterung angefügt.
Auch wenn Karl König nicht zu einem Künstler im speziellen Sinne wurde – weder in der Musik noch in der Literatur und Dichtung oder in der Malerei –, so weitete sich seine «nur Künstlernatur» über das gesamte Gebiet der sozialen Kunst aus, ernährte ein Gemeinschaftsleben, das für alle sonst eher eine nur entbehrungsreiche Arbeit bedeutet hätte, und regte viele Menschen an, ebenfalls ihre künstlerische Natur zu entdecken und sozial fruchtbar zu machen.
Wenn Charles Darwin am Ende seines Lebens schreiben musste:
Mir scheint, mein Geist ist eine Maschine geworden, wie gemacht dafür, allgemeine Gesetze knirschend aus großen Tatsachensammlungen heraus zu zermalmen […] Wenn ich mein Leben noch einmal zu leben hätte, dann würde ich es mir zur Regel machen, mindestens einmal in der Woche ein wenig Lyrik zu lesen und etwas Musik zu hören; vielleicht wären die jetzt verkümmerten Teile meines Gehirns dann, durch ständigen Gebrauch, aktiv geblieben. Der Verlust dieser Empfänglichkeit ist ein Verlust an Glück und mag wohl dem Intellekt Schaden zufügen, noch wahrscheinlicher aber dem moralischen Charakter, weil ein solcher Verlust den emotionalen Teil unserer Natur verkümmern lässt.14
Tilla König mit Veronika und Christof, im Hintergrund Peter Roth, Kirkton Haus, 1939/40
So können wir bei Karl König – ein Jahrhundert später – den Ansatz finden, gerade diesen Verlust, der sich heute immer noch menschheitlich auszuweiten droht, durch neue Impulse auszugleichen.
Heute, am Michaelstag, habe ich den Kindern die folgende Geschichte erzählt, die mir am Morgen beim Aufwachen gekommen ist:
Ihr wisst, liebe Kinder, dass der Mond manchmal, in wolkenlosen Nächten strahlend und hell-leuchtend über die Erde scheint, dass es aber andere Nächte gibt, wo er unsichtbar ist und wir Menschen nur die Sterne leuchten sehen. Es gibt Nächte, wo ihr nur den halben Mond sehen könnt und manche Abende, da er so schmal ist und zart wie ein dünner Becher.
Nun war vor langen Zeiten einmal ein Kind, das wanderte eines Nachts von seinem Elternhause fort und sein Engel begleitete es. Als sie nun so wanderten, da stieg der Mond hinter dem Wald herauf, groß und strahlend. Und das Kind fragte seinen Engel, wie es denn komme, dass der Mond so viel gutes und schönes Licht habe und wieso manchmal dieses Licht auch wieder verschwunden ist und kein Auge den Mond erspähen kann. Und der Engel sagte, dass dies immer und immer wieder so ist, dass der Mond einmal voll und einmal leer, einmal groß und einmal wieder verschwunden ist. «Denn der Mond», sagte der Engel, «ist ein großer, mächtiger Himmelsbecher. Und die Sonne, sie scheint auf diesen Becher, auf dieses Mondengefäß, und der Mond, der nimmt all die Lichtstrahlen der Sonne in sich auf und verwandelt sie in leuchtendes Mondenwasser. Und immer zwei Wochen lang wird auf dem Monde aus dem Licht der Sonne dieses leuchtende Wasser, bis der Becher des Mondes ganz voll ist. Und wenn er voll ist, dann fließt der Becher über und das Lichtwasser regnet auf die Erde. Es regnet auf den Boden, auf die Samen und Saaten, auf die Blüten und Früchte. Alles, was Wachstum ist, strömt mit diesem Lichtwasser auf die Erde und es fließt und fließt so lange, bis der Mondenbecher wieder leer geworden ist. Alles blüht auf unter der Kraft dieses Wassers, alles wächst und gedeiht, alles wird. Und dann, wenn der Becher all seinen Inhalt auf die Erde gegossen hat, dann strahlt die Sonne wieder auf den Mond und neues Licht wird zu neuem Lichtwasser.»
«Ja», sagte das Kind, «aber wer ist so gut, dass immer wieder neues Licht von der Sonne dem Mond geschenkt wird?»
«Vor der Sonne», erwiderte der Engel, «da steht ein mächtiges, wunderbares Geistwesen in einem lichten Kleide. Und dieses helle, göttliche Wesen, das fühlt in seinem Herzen, immer dann, wenn kein Mondenwasser mehr da ist, um auf die Erde zu fließen, großes Mitleid mit der kahlen Erde und mit den durstenden Menschenherzen. Und dieses große Geistwesen, das immerzu auf die Erde und ihre Menschen blickt, das sammelt dann das Licht der Sonne und schenkt es dem Mond. Immer, wenn der Mondenbecher leer ist, dann strahlt das Lichtkleid des Erzengels Michael das Sonnenlicht auf den Mond. Und so wird der Becher wieder voll, kann niederströmen sein Lichtwasser auf die Erde, und wenn er leer ist, wieder gefüllt werden.»
Ein Becher ist der Mond, ein wandernder Becher, Ganganda Greida, eine Schale ist er, die Lichtwasser fließen lässt auf die Erde; das Licht aber, das von der Sonne kommt, das ist die Spende der Güte dieses großen Lichtwesens, des Erzengels Michael.
Gestern, am 1. Adventssonntag (29. November), habe ich den Kindern im Adventgarten die folgende Geschichte erzählt:
Liebe Kinder,
wieder ist es Advent geworden in diesem Jahr und wieder sind wir vereinigt und sitzen zusammen um den Adventsgarten. Und bald wird jeder von euch einen Apfel nehmen mit dem Licht daran und wird durch die Spirale wandern, bis er die Mitte erreicht hat, und an der großen Kerze des Mooshügels seine eigene Kerze anzünden.
Wir wollen uns dieses Jahr fragen, warum das alles so getan wird. Warum am ersten Advent viele Kinder ihren Apfel nehmen und die Kerze und wandern, um die Kerze anzuzünden.
Als Adam und Eva noch im Paradies waren, dass wisst ihr alle, da kam es über sie, dass die Schlange sie verführte und ihnen gebot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. So war es, dass Adam und Eva einen Apfel pflückten und davon aßen. Und der Apfel schmeckte gut und sie pflückten mehr Äpfel. Dafür aber ward ihnen von Gott geboten, das Paradies zu verlassen. Und da machten sich Adam und Eva auf und stiegen vom Paradies herunter auf die Erde. Aber das brauchte lange, lange Zeit. Sie stiegen Jahrhunderte und Jahrtausende niederwärts und jeder Schritt, den sie taten, war eine Stufe und alle diese Stufen zusammen waren eine große Treppe, die vom Paradies auf die Erde führte. Es war eine harte, steinerne Treppe, und als Adam und Eva auf der Erde ankamen, da waren sie alt und müde, und das Einzige, was sie mitnehmen konnten vom Paradies, das waren die Äpfel, die sie gepflückt hatten. Adam und Eva stiegen Stufe für Stufe herunter, jeder seinen Apfel in der Hand tragend, so kamen sie unten an. Und trotzdem sie müde waren von dem langen Weg, begannen sie nun mit ihren vielen Kindern, mit Kain und Abel und allen anderen auf der Erde zu arbeiten. Sie pflügten und eggten, sie hämmerten und sägten, sie wanderten und jagten. Und immer hielten sie den Apfel zur Erinnerung an das Paradies heilig. Aber die Erde wurde dunkler und dunkler und die Arbeit wurde immer schwerer. Das Paradies aber, das war hell und licht. Und im Paradies da war Gott-Vater und der Sohn Gottes. Und der Gottes-Sohn, der sah hinunter auf die Erde und die Menschen und die dunkle Erde erbarmten ihn und er entschloss sich, ein wenig Licht des Paradieses der dunklen Erde zu bringen. Und als er sich entschlossen hatte, das zu tun, zündete er eine Kerze am Paradieses-Licht an und verließ die Pforten des Paradieses und stieg auf die Erde. Er stieg die gleiche Treppe, Schritt für Schritt, hinunter, die auch Adam und Eva gegangen waren, aber er trug statt des Apfels die brennende Kerze in der Hand und bei jedem Schritt, den er tat, wurde Adams Steintreppe in Gold verwandelt. Stufe um Stufe wurde verwandelt, wurde Gold und Silber, besetzt mit vielen Edelsteinen, Smaragden und Rubinen, Amethysten und Chalcedonen. Und als der Gottes-Sohn auf der Erde angelangt war, da war die ganze Treppe verwandelt, voll Licht und Glanz. Und Jesus-Christus hatte die Paradieses-Kerze in der Hand, und er nahm Adams Apfel und steckte die Kerze an den Apfel, und das war der erste Advent auf Erden.
Seit dieser Zeit wird die Erde heller, seit dieser Zeit strahlt die Kerze immer mehr und mehr, und die Menschen, die haben nun die Erlaubnis, jedes Jahr während der Adventszeit eine Stufe auf der hellen, goldenen Treppe wieder hinaufzusteigen. Jeder Advent, das ist eine Stufe auf der Himmelsleiter, zurück ins Paradies.
Und die ganze Menschheit hat diese Wanderung angetreten. Manche Menschen, die gehen jedes Jahr eine Stufe, andere nur jedes zweite Jahr, wieder andere nur jedes dritte Jahr. Und so ist die Himmelstreppe voll von vielen, vielen Menschenseelen, die warten auf die Adventszeit jedes Jahres, um eine Stufe näher dem Paradies sein zu können.
Deshalb wollen wir alle unseren Apfel mit der Kerze nehmen und die Kerze anzünden, um euch während dieser Adventszeit eine Stufe näher zu rücken dem Paradies.
Da war einmal ein Mensch!
Es war ein guter Mensch,
Der seine Arbeit tat am Tage
Und wenn er müde war,
Des Abends seinen Schlaf empfing.
Er konnte in Ruhe
Im Raum der Nacht verweilen.
Es waren seine Träume noch
Von hellen Bildern freudig ausgefüllt,
Er sah des Paradieses Fluren
Und die Himmelsleiter
Auf der die Engel auf- und niederstiegen.
Doch mehr und mehr
Verfinsterte die Traumwelt sich
Des guten Menschen.
Die Müdigkeit am Abend
Wurde ihm zur Qual.
Und manchmal füllte Angst sein Herz
Wenn er zum Schlaf sich legen wollte.
Es wusste nicht der gute Mensch,
Warum ihn seine Ruhe
Und seine Güte wohl verlassen wollten.
So legte er an einem Morgen
Still seine Wanderkleider an,
Er nahm den Stock in seine Hand
Und machte sich auf seinen Weg.
Er dachte, dass der Weg
Ihn wohl schon dorthin führen werde,
Wo er des Schlafes Ruhe
Und auch des Herzens Güte
Wieder finden würde.
So wanderte er durch die Tage,
Durch die Wochen, durch die Jahre,
Bis eines Tages er
Am Rand eines Waldes stand.
Er ließ sich nieder
Und beschaute alles Land
Das ihm zu Füßen lag.
Und da gewahrte er,
Dass in der Mitte dieses Landes
Ein Acker lag.
Es war ein Acker
Wie viele andre Äcker sind.
Die Erde war noch braun,
Denn eine Pflugschar hatte
Den fruchtbar reichen Boden umgebrochen.
Es lag ein stilles Leuchten
Über diesem Acker,
Und unser guter Mensch