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In der Karl König Werkausgabe nimmt dieses Buch einen besonderen Platz ein. Die Darstellung gilt als immer noch aktuelles Pionierstück der Geschwisterforschung. Empirie, biographische Studien, Mythologie und tiefe Menschenkenntnis werden angereichert mit Dokumenten und Notizen, die die Entstehung nachzeichnen und die Thematik vertiefen. "Das Buch wendet sich nicht nur an Fachleute, sondern an uns alle: Denn wir sind entweder einziges oder erstes, zweites, drittes oder so fort Kind. Damit sind Schicksalsfügungen verbunden, die sich vor uns auftun und uns auch etwas über das Sinnhafte unserer Existenz enthüllen. Ganz im Geiste moderner Entwicklungspsychologie geht König davon aus, dass damit Aufgaben verbunden sind, die uns vom Anfang bis zum Ende des Lebens begleiten und die es zu bewältigen gilt." Alfons Limbrunner "Hier aber geht es um Mit-Empfinden, Mit-Erleiden und Mit-Verstehen. Nicht katalogisierende Schematik wird gegeben, sondern der Anblick eines höheren Auftrags, unter dem wir alle stehen und den wir nur erfassen können, wenn wir ihn mit ertragen und erleiden wollen. Denn nicht der Test, nicht das Experiment und nicht die Analyse, sondern der ganze, ungeteilte Mensch ist das Maß aller Dinge." Karl König
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Seitenzahl: 215
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Karl König
Brüder und Schwestern
Geschwisterfolge als Schicksal
Herausgegeben von Alfons Limbrunner und Richard Steel
Verlag Freies Geistesleben
Die «Gründergruppe», Kirkton House, 1940.Karl König, zweiter von rechts, mit seinen Kindern: neben ihm, rechts in der ersten Reihe: Christoph, Andreas (dahinter Renate), an seiner rechten Seite Veronika.
Cover
Titel
Immergrünes Pionierstück
von Alfons Limbrunner
Brüder und Schwestern
von Karl König
Einleitung
Das einzige Kind
Das erste Kind
Das zweite Kind
Das dritte Kind
Das erhoffte Buch
von Richard Steel
Anhang
Vortragsnotizen zum Thema
Zwei Schwestern
Bruder und Schwester
Über die Kennedy-Familie
Fragebogen & Briefe
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Impressum
Leseprobe: Die zwölf Sinne des Menschen
Karl Königs wissenschaftlich-poetisches Essay zur Geschwisterforschung
von Alfons Limbrunner
Es gibt Bücher, die begleiten einen längere Zeit, manchmal sogar ein halbes Leben lang. Wenn man Menschen danach fragt, welche Titel und Autoren das sind, hört man höchst verschiedene, eben ganz individuelle Antworten. Das ganze Spektrum der großen Literatur und Dichtkunst taucht hier auf. Vermutlich kämen wenige auf die Idee, ein Sachbuch zu nennen. Wollte man gezielt erfahren, was von dieser Spezies sie wählen würden, so blieben manche Menschen stumm. Fragt man mich, so fallen mir, vom Umfang her ziemlich schmale Bücher, eher Büchlein, ein: Romano Guardinis Die Lebensalter und Karl Königs Brüder und Schwestern. Irgendwie, so empfinde ich, sind diese beiden Werke, das des katholischen Religionsphilosophen und das des anthroposophischen Arztes und Heilpädagogen, vom Inhalt und der Sprache her sogar verschwistert. Das eine ist 1967 erschienen, das andere, das 2013 in einem neuen Verlag, im neuen Kleid und frisch gerahmt noch einmal auf die Welt kam, drei Jahre vorher. Beide Schriften sind für mich literarische Evergreens, Bücher von jener Sorte, die ich von Jahr zu Jahr den Studierenden der Sozialen Arbeit empfohlen habe und gern «fürs Nachtkastl» verschenke.
Seit Ende der achtziger Jahre gehört die anthroposophisch orientierte Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu meinen Interessens- und Forschungsschwerpunkten (Limbrunner 1993, 2011). Schon vorher fiel mir Karl Königs Buch in die Hand. Es ist hier nicht der Ort, ausführlicher über Königs Wirken in diesem Bereich angewandter, praktischer Anthroposophie zu schreiben, aber nur so viel: Nach Rudolf Steiners Besuch auf dem Lauenstein bei Jena, der ersten heilpädagogischen Gründung für «Seelenpflege-bedürftige» Kinder und seinen Vorträgen zur Heilpädagogik in Dornach, verbindet sich der Arzt Karl König über verschiedene örtliche und berufliche Stationen mit dieser Arbeit. Er – und neben ihm viele andere – fühlten sich dem Worte Steiners am Ende des Heilpädagogischen Kurses (1995, S. 189) verpflichtet:
Denken Sie in einer geistigen Bewegung daran, diese geistige Bewegung für das praktische Leben fruchtbar zu machen, dann muss man diese geistige Bewegung als eine lebendige ansehen.
Die Zeit des Nationalsozialismus unterbindet die weitere Entwicklung innerhalb Deutschlands – fast alle Heime und Schulen müssen geschlossen werden. In der Schweiz und in den Niederlanden geht die Arbeit weiterhin relativ ungestört weiter. Großbritannien wird zur Chance für Karl König, der 1902 in einer jüdischen Familie in Wien geboren wurde und 1966 in Überlingen starb. Mit seinen überwiegend jüdischen Weggefährten emigrierte er nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich auf Umwegen nach Schottland. Von dort aus wurde 1940 in Camphill das «Licht auf dem Hügel» entzündet, das zum Sinnbild einer längst weltweiten Bewegung geworden ist, die inzwischen an die hundert Einrichtungen umfasst, dreizehn davon in Deutschland. In den fünfziger Jahren, als hierzulande alle Formen der Sozialpädagogik und Sozialarbeit – und damit auch der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie – in Schwung kommen, nähert sich König auch wieder dem Sprachraum, dem er entstammt. Gründungen im Bodenseeraum kennzeichnen diese Zeit bis zu seinem Tod. Er ist einer der unermüdlichsten Anwälte für Menschen mit Behinderung. Die Idee der Heilpädagogik, so meinte er, müsse man noch viel weiter fassen, «um ihrer wahrhaften Bestimmung ansichtig zu werden, […] um der überall entstandenen ‹Bedrohung der Person› hilfreich entgegenzutreten. Die ‹heilpädagogische Haltung› muss in jeder sozialen Arbeit, in der Seelsorge, in der Betreuung der Alten, in der Rehabilitation der Geisteskranken sowohl als auch der Körperbehinderten, in der Führung der Waisen und Flüchtlinge, der Selbstmordkandidaten und Verzweifelten, … sich zum Ausdruck bringen» (2008b, S. 46). Den mit diesen Worten verbundenen rasanten Aufschwung, eingebettet in ein günstiges sozialpolitisches Klima, den die gesamte Wohlfahrtspflege in den siebziger und achtziger Jahre genommen hatte, von der auch anthroposophische Gründungen profitierten, erlebte König nicht mehr. Es ist anzunehmen, dass auch er, wie der Verfasser dieser Zeilen, zu jenen gehört hätte, die sich über die allgemeine Entwicklung vom Wesen wahrer Hilfe und Mitmenschlichkeit zur Hilfe als Ware und den Wandlungen hin zur Sozialindustrie nicht begeistert gezeigt hätten.
König war ein Visionär, ein Mensch nicht nur der Tat, sondern auch des gesprochenen und geschriebenen Wortes. Die Stellung von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft, die wachsende Anteilnahme am Leid der Menschheit, der Angriff auf die Würde und Integrität des Menschen, forderten ihn immer wieder zu mündlichen und schriftlichen Stellungnahmen heraus (Lindenberg 1991, S. 18). Ein Blick in die Bibliographie zeigt, dass er in Hunderten von Aufsätzen seine umfassenden Interessen unter Beweis stellte. Die Themen reichen von seinem ursprünglichen Fachgebiet, der Embryologie, bis hin zu Geschichte, biographischen Studien, Landwirtschaft und Zoologie. Er schrieb als Arzt, als Lehrer, als Forscher und Wissenschaftler. Sein Schrifttum umfasst Texte mit künstlerischem Ausdruck, beinhaltet Lyrik und Dramatik, Mischungen aus Wissenschaft und Poesie, ein Stil, der ihm näher lag als die streng wissenschaftlich begriffliche Ausformung von Erfahrung.
Ich glaube, dass es gerade diese Fähigkeit war, die es ihm ermöglichte, nicht Wissenschaftler im reinsten und klassischen Sinne zu werden, sondern in jenem gedanklich und sprachlich lebendigen Bereich zu bleiben, der es ihm ermöglichte, alle Menschen zu erreichen und insbesondere im therapeutischen Umfeld Camphills eine Sprache zu sprechen, die auch die Gruppeneltern, die Therapeuten und die Lehrer verstehen konnten. Es war eine Sprache, die mit künstlerischem Sinn erfasst und verstanden werden wollte, und sie hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass König Wissenschaftler und Heilpädagoge sein konnte.
(Müller-Wiedemann 2016, S. 431 f.).
Und da sind vor allem seine Bücher, die ihm, neben den Gründungen von Einrichtungen und Dorfgemeinschaften, die Wertschätzung und Anerkennung breiter Kreise, weit über den anthroposophischen Raum hinaus, einbrachten. Zu den bekanntesten Werken gehören: Die ersten drei Jahre des Kindes (1957), Der Mongolismus – Erscheinungsbild und Herkunft (1959), verstreute Aufsätze, die posthum unter Geister unter dem Zeitgeist – Biographisches zur Phänomenologie des 19. Jahrhunderts als Buch herausgegeben wurden. Über die menschliche Seele erschien 1966, Brüder und Schwestern – Geburtenfolge als Schicksal bereits 1957/58 in Folgen, die jeweils in der internen Zeitschrift The Cresset veröffentlicht wurden, dann als Privatdruck in England und schließlich 1963 auch in den Vereinigten Staaten. Seit 1964 ist das Buch in Deutschland zu haben, zunächst im Ehrenfried Klotz Verlag, später dann bei Vandenhoeck & Ruprecht. Im Jahre 2008 erlebte es seine vierzehnte Auflage – ein immergrünes Pionierstück.
Wie aus dem Geleitwort von Ehrenfried Klotz bzw. aus dem Brief Königs an ihn (siehe Anhang S. 200) hervorgeht, wurden in der deutschen Ausgabe kaum irgendwelche Änderungen vorgenommen, «… weil ich ja hoffe, in nicht allzu ferner Zeit ein ausführliches Buch über diese wichtigen Probleme zu schreiben». König plante bereits einige Kapitelüberschriften für das große, gültige Buch mit dem Arbeitstitel Menschenschicksal und Geschwisterreihe bzw. Söhne und Töchter (siehe S. 114). Aus alldem ist nichts mehr geworden. Der frühe Tod und vermutlich auch andere Umstände, die Fülle der Vorträge und die Gründungen am Bodensee, haben es verhindert. Ob das auch etwas zu tun hat mit dem im Jahr darauf veröffentlichten Buch von Walter Toman, der gemeinhin als der Erste gilt, der in Deutschland über Geschwisterforschung veröffentlichte, darüber lässt sich nur spekulieren. Davon soll später die Rede sein.
Es kann davon ausgegangen werden, dass König 1957 begann, sich systematisch mit der Thematik von Brüder und Schwestern zu beschäftigen. In seinen unveröffentlichten Notizen heißt es dazu am 10. November:
Suche fast vergeblich nach Literatur über den Einfluss der Geschwister aufeinander während der Kindheit. Aber die Fragebogen, die ich diesbezüglich unter den Mitarbeitern verteilt hatte, werden doch schrittweise ein sehr aufschlussreiches Material. Es zeigt, je mehr ich es zu lesen beginne, dass es doch grundlegende Charakterzüge für das erste, zweite, usw. Kind gibt. Das erste Kind erscheint mir nun immer mehr im Bild des Janus. Es hat ein Gesicht nach den Eltern, das andere nach den Geschwistern gerichtet, und ich erhoffe mir aus diesem Bild, noch mehr Aufklärung und Einsicht zu gewinnen.
Und am 11. November:
Im zweiten Teil versuche ich, die allgemeinen Charakteristika des ersten Kindes darzustellen. Bei der Beschreibung, wie es sich dem zweiten gegenüber verhält, eröffnet ein Wort mir einen völlig neuen Blick. Denn als ich schreibe, dass es seine Stellung ‹verteidigen› muss, bringt das Wort ‹defender› die ganze Welt des ersten Kindes mir nahe. Es muss bewahren und erhalten; es muss, auch wenn es nicht will, ein Vertreter und Verteidiger dessen sein, was Tradition ist.
Es ist beeindruckend, wie König sich mit seinen materiell bescheidenen Möglichkeiten – keine universitäre Umgebung mit Assistenten und professoralen Spielräumen – dem Thema nähert. Belesen in Alfred Adlers Individualpsychologie, in Freuds und Jungs Schriften, im Studium von Biographien und Autobiographien, in der unmittelbar erreichbaren wissenschaftlichen Literatur, in dem, was die Schöpfungsgeschichte, die griechische Götterwelt, die Sagen und Märchen über Geschwister erzählen, im Einsatz empirischer Verfahren mittels Fragebögen und Statistiken, der eigenen beruflichen Erfahrung und der heilpädagogischen und ärztlichen Praxis – aus alldem besteht die Mischung für die Entstehung von Brüder und Schwestern. Der Prozess des Entstehens ist, trotz erster Veröffentlichung, nicht abgeschlossen, denn er ist ja die Vorarbeit für etwas Größeres. Die Vorbereitungen für Vorträge, wie den vom 11. April 1959 in Stuttgart oder am 6. November 1961 in Nürnberg (siehe Anhang), zeugen von der fortschreitenden Bewegung, die ihm das Thema abverlangt. König verbindet anthroposophisch geprägte Erkenntnisse mit aktuellen Forschungen, etwa die von Gerhard Wurzbacher, Ordinarius für Soziologie in Erlangen, über die Leitbilder gegenwärtigen deutschen Familienlebens (1954). Er referiert die Ergebnisse und leitet daraus zeitgemäße Forderungen zum Umgang mit Kindern, verbunden mit der notwendigen Partnerschaft zwischen Mann und Frau, ab. Seine Forderung lautet, dass Eltern ihre Kinder als eigenständige Wesen erkennen müssen und sie nicht so werden zu lassen, wie man selbst es wünscht oder will, sondern wie es im Kind veranlagt ist – genau das sei von größter Notwendigkeit.
Nach anthroposophischem Verständnis von Schicksal und Karma suchen sich Kinder bereits im Vorgeburtlichen ihre Eltern aus. Wir alle kommen entweder als einziges oder als erstes, zweites, drittes und so fort Kind auf die Welt. Damit sind Schicksalsfügungen verbunden, die sich vor uns auftun und uns, nach König, auch etwas über das Sinnhafte unserer Existenz enthüllen. Ganz im Sinne moderner Entwicklungspsychologie geht er davon aus, dass ein einzelnes oder ein erstes, ein zweites oder ein drittes Kind zu sein, Aufgaben mit sich bringt, die uns vom Anfang bis zum Ende des Lebens begleiten und die es zu bewältigen gilt. Für Königs Forschungen steht die Frage nach der Kontaktfähigkeit im Mittelpunkt, die die Stellung in der Geschwisterreihe mit sich bringt. Wie reagieren Kinder dadurch auf andere Menschen, auf Freundschaften, Mitmenschen, ihre Einbindung in Gruppen, ja, sogar auf die Wahl des Ehepartners (König 2013, S. 41 f.). Er erklärt die drei Formen der Geschwisterposition als Urbilder unseres sozialen Schicksals. Das Einzelkind sei ein Sonderfall und stehe für sich.
Im bereits geschriebenen, aber letztlich, in Absprache mit dem Verleger Paul M. Allen, nicht abgedruckten Vorwort der amerikanischen Ausgabe Brothers and Sisters. A Study in Child Psychology (New York 1963), geht er sehr viel ausführlicher als in der Einleitung zur deutschen Ausgabe auf die Schicksale der neun Kennedy-Geschwister ein (siehe Anhang, S. 183). In Königs System gibt es demnach bei den Kennedys drei erste Kinder, Joe, Kathleen und Bobby; dann folgen vier zweite Kinder: Jack, Eunice und Jean und Ted, die als Zwillinge nach König nur einen Rang in der Geburtenfolge einnehmen; zuletzt zwei dritte Kinder, Rosemary und Patricia. Dieses Beispiel ist für ihn, par excellence, ein Beleg, wie der Rang der Geburt die Züge eines jeden von uns prägt. König erhebt es zum «Joch dieses großen Gesetzes», das unsere Beziehung zu unserer Umgebung prägt. In der deutschen Einleitung ist von einem «Gesetz» nicht mehr die Rede, sondern der Autor relativiert seine Untersuchungen, dass all das, was er bislang darstellt, nur ein Anfang sei und deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben könne.
Festzuhalten ist, dass nicht Walter Toman, Lehrstuhlinhaber für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Erlangen, es war, der im deutschsprachigen Raum erstmals über Geschwisterforschung veröffentlichte, sondern Karl König ein Jahr vor ihm. To-man war bereits vor seiner Berufung nach Erlangen als Professor in amerikanische universitäre Forschungskreise eingebunden. Ob König dessen Family Constellation (New York 1961) kannte, ist bei seinen beschränkten Möglichkeiten eher unwahrscheinlich. Das Buch findet sich zumindest nicht in der noch weitgehend erhaltenen Bibliothek Königs in Schottland. Toman hat in seiner überarbeiteten deutschen Fassung Königs Arbeit jedenfalls nicht zur Kenntnis genommen, es erscheint zumindest nicht in der Bibliographie. Erstaunlich für einen Professor, der mit seinen Forschungen über den Einfluss von Familienkonstellationen als internationale Kapazität galt. Oder eben auch nicht, weil es immerhin sein könnte, etwas bewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen, zumal von einem Außenseiter, noch dazu einem mit dem «Stigma» des Anthroposophen.
Der ebenfalls in Wien gebürtige Toman (1920 – 2003) studierte dort Psychologie und veröffentlichte, wie König auch, nicht nur Fachliches, sondern sogar Lyrik und später manch anderes Geschriebene. Obgleich die beiden durchaus Ähnliches im Sinn hatten, sind ihre Werke über Geschwister kaum miteinander zu vergleichen. Hier der universitäre, stringent wissenschaftlich forschende Blick, dort die essayistische Abhandlung in einer Mischung aus Wissenschaft, bescheidener Empirie, breit gestreuter Literatur, einfühlsam aufbereitet, aber fern von streng geformter wissenschaftlicher Begrifflichkeit.
Toman orientierte sich, wie König auch, zunächst an den von dem Freud-Schüler und dessen späterem Kontrahenten Alfred Adler beobachteten Einflüssen, denen Geschwister ausgesetzt sind. Adler mit seiner Individualpsychologie war es, der in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts mögliche Verbindungen zwischen Geburtsrangplatz und Eigenschaften des Individuums vermutete. Die Bedeutung der Geschwisterpositionen, ihrer Eltern und die Beziehungen der Eltern untereinander für die menschliche Entwicklung und das spätere Leben, wurden zu Tomans Metier. Mittels breit abgestützter, systematischer Datenerhebung und einem theoretischen Modell wollte er vor allem für beratende und therapeutische Berufe ein diagnostisches Hilfsmittel, eine Art Tabellenkompendium zur Einschätzung der sozialen Beziehungen anbieten, das auch zur Messung des therapeutischen Fortschritts dienen sollte. Das Grundkonzept besagte, dass neue außerfamiliäre soziale Beziehungen nach den Vorbildern früherer und frühester innerfamiliärer sozialer Beziehungen gemacht werden. Ausgangspunkt ist,
… dass die ersten Lebensjahre notwendigerweise die psychologisch einflussreichsten sind. Dies auch deswegen, weil die regelmäßigen und intimen Personenkontakte der Kinder sich in diesen Jahren vorwiegend auf Familienmitglieder beschränken. Die frühen Erfahrungen mit Familienmitgliedern liefern gewissermaßen die Formen, in denen spätere Erfahrungen mit denselben Familienmitgliedern gemacht werden (Toman 1965, S. 13).
Tomans Modell umfasst folgende Typen: älteste Brüder von Brüdern, jüngste Brüder von Brüdern, älteste Brüder von Schwestern, jüngste Brüder von Schwestern, männliche Einzelkinder, älteste Schwestern von Schwestern, jüngste Schwestern von Schwestern, älteste Schwestern von Brüdern, jüngste Schwestern von Brüdern, weibliche Einzelkinder, gemischte und mittlere Geschwisterpositionen. In dieser Richtung wollte ja auch König weiterarbeiten.
Ein Ergebnis am Rande war, dass, je geringer der Altersunterschied zwischen den Geschwistern ist, desto größer und ernster sind ihre Konflikte miteinander, aber zugleich ist dabei die Neigung umso größer, einander auch im späteren Leben nicht zu verlassen (ebd., S. 14). Erwähnenswert sind auch seine Befunde zum Einzelkind, die Königs Darstellung ergänzen und erweitern.
Das Einzelkind lebt sozusagen nur von seinen Eltern […] Es lernt nicht, was die Kinder größerer Familien von ihren Eltern lernen können: die Behandlung anderer Kinder. Daher suchen Einzelkinder auch in möglichen Liebes- und Ehepartnern eher einen Vater oder eine Mutter als ein ‹Geschwister›, und öfter als andere bleiben sie kinderlos. Sie selbst wollen die Kinder sein. Unter gewissen Bedingungen neigen sie allerdings auch dazu, aus dieser Tendenz herauszubrechen und doch eigene Kinder zu haben, mitunter sogar ehrgeizig viele (ebd., S. 8).
Das triviale Hauptmerkmal des Einzelkindes sei seine Einmaligkeit in der Familie. Die Folge, insbesondere für das männliche Einzelkind, sei die Gewöhnung daran, der Liebling von zwei Erwachsenen, der Eltern, zu sein, ihr Stolz und ihre Freude, der mit ihrer sofortigen Hilfe rechnen kann. Später, so Toman sinngemäß, gehe ein solcher Mensch auch im Beruf davon aus, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und die Arbeitssituation in erster Linie zu seiner Talententfaltung zu deuten. Dennoch scheue er sich nicht, seine Fehler und Nachteile zu enthüllen. Schließlich: Wenn seine Talente ihn zum Star machen, diktiere er, mitunter hochmütig, seine Bedingungen. Auf Beziehungen zu Frauen sowie Männerfreundschaften sei er schlecht vorbereitet (ebd., S. 112).
In den neueren Veröffentlichungen zur Geschwisterforschung sucht man meist vergeblich nach den beiden Wienern, obgleich sich ihre Untersuchungen immer noch, länger als viele andere einschlägige Schriften, auf dem Buchmarkt und in der Lesergunst behaupten.
Seit Königs Arbeiten zu Brüder und Schwestern sind über fünfzig Jahre vergangen. Versucht man heute das Stichwort Geschwisterbeziehung zu «googeln», so ergibt das an die zigtausend Treffer. Ob das Interesse an dieser Thematik mit der sinkenden Geburtenquote in Deutschland und in den reicheren Industrienationen mit dem Trend zum einzigen Kind zu tun hat, bleibt dahingestellt. Die Fragestellungen sind jedenfalls eng verbunden mit der psychologischen und soziologischen Familien- und Lebensweltforschung. In der Praxis spielen sie in der Pädagogik, der Erwachsenenbildung, der Psychotherapie und in der Biographiearbeit eine nicht ganz unbedeutende Rolle.
Jeder weiß, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Verhältnisse für Kinder und Familien grundlegend geändert haben. Die Kinder werden immer weniger, werden dafür aber mit immer mehr verschiedenen Erwachsenen und professionellen Organisationen – Tagespflegestellen, Kinderkrippen, Kindergärten, Horten, Schulen – konfrontiert. Die Verhältnisse sind komplexer und komplizierter geworden: Kindheit wird nicht nur unter dem Aspekt der Geschwisterposition betrachtet, sondern im Zusammenhang mit lebensweltlichen Gesichtspunkten, sozialen, ökologischen, materiellen und individuellen Ressourcen. Königs Forschungsinteresse lag, wie weiter oben schon angedeutet, im sozialen Verhalten innerhalb der Geschwisterreihe und vor allem in der damit verbundenen «Kontaktfähigkeit». Die moderne Entwicklungspsychologie hat sich mittlerweile fast zwangsläufig auf ganz verschiedene Fragestellungen und Themen ausgeweitet. Ein Blick in Hartmut Kastens Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute gibt den Stand der neueren Diskussion wieder. Erwähnenswert ist, dass es Abschied zu nehmen gilt von dem, was uns frühere Forschungen an Befunden über Einzelkinder hinterlassen haben:
Einzelkinder unterscheiden sich gar nicht oder nur noch sehr unwesentlich von Nichteinzelkindern, wenn sie nicht in gestörten familiären Verhältnissen mit Eltern, die beide berufstätig sind, sondern in materiell und ökonomisch gesicherten, harmonischen Verhältnissen aufwachsen (Kasten 2003, S. 45).
Alle Autoren – einschließlich König und Toman – weisen auf die relative Gültigkeit ihrer Ergebnisse hin. Nicht jedes Detail oder konkrete Beispiel gilt für den Einzelfall. Das haben wissenschaftliche Untersuchungen an sich: Es sind Abstraktionen, Verallgemeinerungen der Wirklichkeit, die zwar eine empirische Basis haben, aber zunächst nichts Verbindliches und Definitives über den Einzelfall, den einzelnen Menschen aussagen. Theorien können allerdings helfen, individuelle menschliche Situationen und menschliches Verhalten besser zu verstehen. Denn wer würde behaupten, dass es keinen Unterschied mache, ob man als erstes, zweites oder drittes Kind zur Welt kommt? Keine Schrift, kein Okular eignet sich dazu aus meiner Sicht immer noch besser als Brüder und Schwestern.
Jenseits der Fachliteratur gibt es wunderbare Beschreibungen von ganz unterschiedlichen Geschwisterbeziehungen. Das Schöne daran ist, dass sie das, was die Wissenschaft relativ trocken beschreibt, viel lebendiger und eindringlicher vor Augen führen, es bestätigen, aber auch widerlegen. Ach, was gibt es da, neben eigenen und fremden ungeschriebenen Geschichten nicht alles zu entdecken über Brüder und Schwestern! Beispielsweise Adalbert Stifters Bergkristall und Der Hochwald, Erzählungen, die König ohnehin in seine umfassenden Vorbereitungen einbezog. Stifters Zwei Schwestern ist relativ unbekannt geblieben, jene geheimnisvolle Geschichte, die sich in den Höhen über dem Gardasee abspielt. Oder Unsre Lieb aber ist außerkohren. Die Geschichte der Geschwister Clemens und Bettine Brentano von Hartwig Schultz, eindringlich auch Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders. Und wem fielen, wenn von Dreien die Rede ist, nicht Dostojewskijs Die Brüder Karamasow ein, oder das jiddische Epos Die Brüder Maschber von Pinhas Kahanowitsch und Die drei Schwestern Piale von Richard Millet. Das beste Geschwisterbuch, das ich in letzter Zeit gelesen habe, ist Der Schwimmer von Zsuzsa Bánk. In dem Roman wird, unglaublich berührend und eindringlich, von der ziellos-sehnsüchtigen Reise des kleinen Isti, seiner älteren Schwester Kata und ihrem Vater erzählt, die von der Mutter und Partnerin im Ungarn der fünfziger Jahre plötzlich verlassen wurden. Den ungewöhnlichen Dokumentarfilm 7 Brüder verdanken wir Sebastian Winkels. In ihm erzählen sieben Männer, geboren zwischen 1929 und 1945, aus ihren Biographien, die sich zu einem faszinierenden Familienuniversum verdichten, in dem sich auf ungewöhnliche Weise deutsche Geschichte spiegelt.
Marie-Luise Kaschnitz, ein Jahr vor König geboren, hatte zwei ältere Schwestern und einen jüngeren Bruder. Ob sie sich in ihrem Leben als drittes Kind in Königs Aussagen hätte finden können, kann getrost offen bleiben. Kaschnitz wusste jedenfalls, wovon sie sprach in ihrem zeitlos gültigen Gedicht:
Geschwister
Was anders heißt Geschwister sein als Abels Furcht und Zorn des Kain, als Streit um Liebe, Ding und Raum, als Knöchlein am Machandelbaum, und dennoch, Bruder, heißt es auch, die kleine Bank im Haselstrauch, den Klageton vom Schaukelbrett, das Flüstern nachts von Bett zu Bett, den Trost –
Geschwister werden später fremd, vom eigenen Schicksal eingedämmt, doch niemals stirbt die wilde Kraft der alten Nebenbuhlerschaft, und keine andere vermag so bitteres Wort, so harten Schlag. Und doch, so oft man sich erkennt und bei den alten Namen nennt, auf wächst der Heckenrosenkreis. Du warst von je dabei. Du weißt.
Abgesehen von Autobiographien erzählen Menschen, die schreiben, ob gewollt oder nicht, immer auch etwas von sich. Sogar Forschungsinteressen, insbesondere mit psychologischem und sozialwissenschaftlichem Hintergrund, haben, schaut man genauer hin, gelegentlich auch einen, wie auch immer gearteten, biographischen Bezug. Freilich lassen sich Menschen nicht in jedem Falle gern zum Studierobjekt für jene machen, die dem Zusammenhang zwischen Biographie und Werk auf die Spur kommen wollen.
Karl König hat das an zahllosen Biographien getan. Aber immer mit einem verstehenden, einfühlenden Gestus und Blick, dem die reine psychologische Beurteilung und die bloße Neugier fremd war. Auch in Brüder und Schwestern heißt es:
Hier aber geht es um Mit-Empfinden, Mit-Erleiden und Mit-Verstehen (König 2013, S. 38).
Diese Haltung lässt sich auch auf ihn selbst, auf das, was er beispielsweise über den Schicksalsweg des einzigen Kindes geschrieben hat, anwenden. Denn wer über Brüder und Schwestern schreibt, muss zwangsläufig auch seine eigene Kindheit und Herkunftsfamilie im Blick haben, kann gar nicht anders, als in seine Überlegungen die Konstellation der angeheirateten Partnerin und der mit ihr gegründeten Familie mit ihren vier Kindern einzubeziehen.
Auffallend ist, dass König, dieser ungeheuer viel schreibende Mensch, in seinem schmalen autobiographischen Fragment, das 1940 endet, nur wenige Zeilen über sich und seine Kindheit berichtete:
Am Anfang dieses Jahrhunderts wurde ich in Wien geboren. Meine Eltern waren Juden; der Vater stammte aus dem Burgenland, die Mutter kam aus dem tschechischen Mähren. Ich wuchs als einziges Kind in relativer Einsamkeit auf. Der Besuch der Volks- und Mittelschule ging nicht ganz reibungslos vor sich, da ich in manchen Dingen recht eigenwillig war (König 2008 a, S. 106 f.).
Seine berufstätigen Eltern betrieben ein Schuhgeschäft, liebten «Karli» und umsorgten ihn. Das Einzelkind hatte von Geburt an einen leicht deformierten Fuß, war aber mit überaus wachen Sinnen und starker Empfindungsfähigkeit begabt und schaute die Welt aus recht altklugen Augen an. Und er hatte etwas Besonderes an sich (Lindenberg 1991, S. 19):
Als einmal ein Professor der Psychologie an dem Schuhgeschäft vorbeiging, wo der zweijährige Lockenkopf in seinem Kinderwagen vor der Tür saß, geriet dieser in solches Staunen, dass er den Laden betrat und fragte, wem das Kind da draußen gehöre. Der stolzen Mutter verkündete er sodann: Das wird einmal ein berühmter Mann werden! Ich habe während meiner gesamten wissenschaftlichen Laufbahn noch nie eine so auffällige Kopfform wie die des Kindes dort gesehen.
Karl König war, was er über Einzelkinder schreibt, ein «Kind der Schwelle». Jene leben in einer Art «splendid isolation», sind nicht viel mit anderen Kindern zusammen, haben nicht viele Möglichkeiten, ihr soziales Kontaktverhalten zu entwickeln. Sehr viel später erst bat er seine Mutter, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Einmal heißt es da:1
Mit großer Sorge habe sie zusehen müssen, wie ihr Sohn immer mehr in sich gekehrt und verschlossen wurde. Migränen hielten ihn oft tagelang im Bett, die Abende verbrachte er außerhalb des Hauses, bei seinem Freund, dessentwegen er die Schule gewechselt hatte. ‹Es lag so eine Traurigkeit in ihm, als wenn er den ganzen Weltschmerz allein tragen müsste. Wir hatten Angst, die Türe zu öffnen, ob wir ihn heil vorfinden werden (Müller-Wiedemann 2016, S. 26).
Der heranwachsende Knabe hatte die Statur des Vaters und ein überproportional großer Lockenkopf ruhte auf einem relativ kleinen, schmächtigen Leib. Die Deformität der Füße machte es notwendig, ein Leben lang orthopädisches Schuhwerk zu tragen. Der Frühreife, der seinen Altersgenossen weit voraus ist, liest und liest und bis zum Lebensende hat er ein besonderes Verhältnis zu Büchern gepflegt. So ein besonderes Kind, band vor allem den Beistand der Mutter, der sich bald in Verehrung und Bewunderung wandelte, die ein ganzes Leben anhielt. Adolf König, der Vater, zog sich, zumal sich sein Sohn früh schon von den Wurzeln des jüdischen Glaubens entfernte, ins Pfeife rauchende Schweigen und die Resignation zurück.
Wenn auch Königs Autobiographie nur ein Fragment geblieben ist, seinen Tagebüchern vertraute er bereits als Jugendlicher viel an. Bis zu seinem Lebensende behielt er diese Übung bei, schilderte darin nicht nur äußere Tatsachen, sondern auch innere Stimmungen und Seelenzustände, Reflexionen über die «Rätsel meiner Existenz». Es finden sich Notizen wie «Das Leid der Welt ist in mir» und «Zu Leid, Arbeit und Schaffen bin ich erkoren. Ich bin ein Mensch». Vieles davon ist bislang noch unveröffentlicht. Erfreulich ist, dass sich das, unter anderem im Rahmen der Werkausgabe, zu ändern beginnt und die Quellen für eine objektive König-Forschung zugänglich gemacht werden.