Der Träumerling - Nicole Groß - E-Book

Der Träumerling E-Book

Nicole Groß

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Beschreibung

Den Menschen zu dienen ist sein größtes Glück. Ihre Wünsche sind seine Bestimmung. So scheint es für den Träumerling, bis zu jenem Tag, an dem ihn seine geliebte himmlische Gabe verlässt und er keine Wünsche mehr erfüllen kann. Tief verloren in einer fremden Welt droht sein gütiges Herz zu zerbrechen. Doch als er sich seiner Hoffnungslosigkeit ergibt, führt ihn das Leben auf eine Reise voller Erkenntnisse, die ihm die Ursache seines Schicksals zeigen und ihm schließlich sein eigenes Glück bringen. Er war in diese Welt gekommen, um seiner Aufgabe zu folgen, doch diese Welt hielt für ihn mehr bereit, als er es zu erahnen vermochte.

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Über die Autorin:

Nicole Groß, geboren 1984, studierte Kriminologie und suchte zwischen Wissenschaft und Lehre nach der Essenz für friedvolles Zusammenleben. Auf dem Weg durch das Leben fand sie diese jedoch einzig in der persönlichen Verwirklichung des Selbst eines jeden Menschen. Heute schreibt sie inspirierende Geschichten voller Lebensphilosophie und über das Glück vom erfüllten Sein. Sie lebt mit ihrer Familie in den sonnigen Weinbergen im Herzen des Rheingaus.

«Fern aller Gedanken und fern allen Geschehens

leuchtet ein Licht in jedem von uns,

das uns den Weg weist, unsere Herzen erwärmt

und uns in der Weisheit des Lebens erhellt.

Seit jeher erfüllen Wesenheiten diese Welt mit ihrem

Zauber und leiten uns wie Laternen durch die Nacht,

um uns stets zu diesem Licht zu führen,

auf dass es uns niemals erlischen möge.»

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Prolog

Weithin, über die Wälder und den großen See hinweg, und fern von den Schrammen auf seiner Seele, blickte der Träumerling zurück, als würde er ein Gemälde im Geiste betrachten. Er saß auf der Veranda und schaute zum grünen Hain. Durch seine Gedanken strich die Erinnerung an die Zeit, wie alles begann. Es war zu jener Zeit, als die Wünsche noch Träume waren und der Zauber der Welt sich in unseren Herzen niederließ. Voller Hoffnung und großer Erwartungen hatte der Träumerling sich aufgemacht in ein kleines, müßiges Städtchen, umhüllt von einem wilden Fluss, der daran zu erinnern schien, dass dort draußen außerhalb der Stadtmauern das Leben wartete. Jeden lieben Tag konnte man ihm beim Träumen zusehen, wenn er auf der steinernen Stadtmauer an jener Stelle saß, an welcher sie sich dem Fluss zu verneigen schien und sich gerade so niedrig zu Boden senkte, dass dieses liebenswerte Himmelswesen dort seinen Platz einnehmen konnte. Er ließ die Beine baumeln und sah voller Güte und Zuversicht auf die Welt. In seiner Güte schuf er die Kraft für seine Gabe, den Menschen ihre Wünsche zu erfüllen. Und dies war für ihn sein größtes Glück.

Er war in diese Welt gekommen, um den Menschen ihr Glück zu bringen, und doch vermochte er nicht zu erahnen, welche wundersame Reise diese Welt für ihn bereit hielt. Nun ging er weiter, noch einmal wandte er sich um, und Ruhe und Frieden stellten sich in seinem Herzen ein.

Kapitel 1

An jenem Tag, an dem der Träumerling in diesem Städtchen eintraf, erstrahlte die Abendsonne in ihrem schönsten Licht. Das Erste, was er erblickte, war der Fluss, über dem die Sonnenstrahlen ihre abendlichen Farbenspiele durch die Wolken zauberten. Er schaute hinauf zu den Wolken, noch einmal nach Hause. Nun war er in dieser Welt gelandet, um seiner Bestimmung zu folgen und seine Erfüllung zu finden. Einzig seine Hoffnung würde ihn auf diesem Weg tragen, den das Schicksal ihm erwählt hatte. Der Träumerling hatte die Aufgabe, den Menschen mit seiner Gabe zur Seite zu stehen. Ein Träumerling der sich stets an guten Gedanken erfreute und gütig war, der hatte das Träumen und konnte damit Wünsche erfüllen. Eine Stadt mit vielen Menschen und vielen Herzen mit ebenso vielen Sehnsüchten würde ihm geben, wonach er suchte und was er zu schenken erstrebte.

Die Stadtbewohner waren auf dem Dorfplatz zu einer großen Menschentraube zusammengekommen. Es roch nach selbstgebackenen Vanilletaschen, die über den gesamten Platz dufteten. Allüberall legte sich der sanfte Duft von frisch aufgekochtem Kakao auf die Gemüter und die Menschen lachten, tanzten und waren voller Freude. Im Hintergrund standen die Kaufwagen mit den vielen süßen Sinnfreuden wie frisch gebackenen Waffeln, Zimtschnecken und Schokoladenfrüchten, und jede Straßenlaterne zeigte sich geschmückt mit einer prachtvollen Blütengirlande. Lange Zeit hatte es in dieser Stadt keine solch große und leichte Stimmung gegeben. Die Menschen waren ungewohnt fröhlich und aufgeschlossen für diese Festlichkeit, so überaus glücklich waren sie über die Ankunft eines Träumerlings in ihrem Städtchen. Seit Wochen malten sie sich aus, wie erfreulich und leicht ihr Leben werden würde, mit einem Helfer, der ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen würde. All ihre Wünsche könnten sie nun in die Welt aussenden. Nur ganz leise im Stillen fragte sich so manches Mitglied dieser Stadt, weshalb gerade ihnen dieses Glück zuteilwurde.

Der Magistrat lief auf den himmlischen Gastfreund zu und begrüßte ihn überschwänglich. «Sei gegrüßt lieber Träumerling. Wir sind hocherfreut dich in unserem gemütlichen Städtchen begrüßen zu dürfen. Ich bin Herr Allons», sagte einer von ihnen. «Solltest du etwas brauchen oder eine Frage haben, dann wende dich an mich. Ich werde dir alles zeigen und alle Bewohner der Stadt vorstellen.» In seiner Haltung erhaben, doch in seiner Erscheinung ergeben, erhob der Träumerling seinen Blick in die Menschenmenge. Mit gleitender Sanftheit strich sein Wohlwollen über die Gesichter dieser Menschen und berührte sie vollkommen in jedem ihrer Sinne. Beeindruckt von dieser Anmut hielten die Menschen einen Augenblick lang inne und betrachteten den Träumerling. Seine feine Gestalt verlieh ihm eine gewisse Zartheit, und doch zeigte seine hohe Statur und seine markanten Züge das würdevolle Auftreten eines jungen Mannes, dessen himmlische Herkunft sich aber doch in den klaren glanzvollen Augen zeigte und die Menschen sprachlos stimmte. Auf seinem zarten Gesicht ließ sich ein liebevolles Lächeln nieder, so dass sich die Leute wieder zu rühren begannen.

Er begrüßte die Menschen mit einer fast unbemerkten Kopfbewegung zur Seite, während er aufmerksam dem Magistrat zugewandt blieb. «Ich danke euch allen für diesen freundlichen Empfang», sprach der Träumerling zu ihnen. «Ich könnte nicht glücklicher sein, als hier bei euch meine Aufgabe zu erfüllen. Mögen eure Wünsche stets fruchtbar sein und euch das Glück bringen. Und möge ich euch stets als guter Freund und Helfer zur Seite stehen, wenn ihr mich am meisten braucht. Ich freue mich auf das Leben hier mit euch und hoffe, sodann Teil dieser schönen Stadt zu werden, Teil von eurem Leben und Teil von dieser Welt.»

Die Leute gaben Beifall und jubelten ihm zu. Da stand er nun. Begrüßt und gefeiert. Unter hunderten von Menschen, die ihn ersehnt hatten und dennoch ganz allein mit seinen Erwartungen und seinen Hoffnungen. Herr Allons reichte ihm erneut bestätigend die Hand. Als der Träumerling den Handschlag erwiderte, rutschte ihm der Gürtel seines Mantels aus der linken Schlaufe und die Schnalle berührte mit einem leisen Klang das große Buch, das er unterm Arm hütete. Die Abendsonne spiegelte sich in dem kaum erkennbaren goldenen Emblem auf dem Einband. Er hielt das Buch in den Armen, wie man ein Kind tragen würde. Ein Kind, das man liebend bei sich trägt und um seines Schutzes willen wenig Aufmerksamkeit darauf zu lenken gibt. Dennoch blitzte das Emblem mit jeder Bewegung, die der Träumerling ausführte, immer wieder auf und weckte das Erstaunen der Anwesenden. Er war wie eine Gestalt aus Hoffnung und ferner Sehnsucht, die aus der Tiefe des Himmels in ihr bescheidenes Leben trat, und für einen kurzen Augenblick ließ ihr Gegenüber sie in Einkehr versinken, in einen unbekannten Raum tief in ihrem Herzen.

Schließlich führte der Magistrat seinen Gast zum Stadtkern hinauf in Richtung Gemeindehaus. Ihm wurde die Stadt gezeigt und alle Sehenswürdigkeiten vorgestellt. Die Führung verlief zügig und er bekam kaum die Möglichkeit, sein Interesse an all den Begebenheiten mit Fragen zu bekunden, denn die Menschen schienen es sehr eilig zu haben, wieder in ihren Alltag zurückzukehren. Herr Allons nahm den Träumerling an die Hand und zog ihn von hier nach dort, bis sie die gesamte Stadt angeschaut hatten. Es gab kaum Gelegenheit alles genau zu betrachten oder die Menschen kennenzulernen, da erreichten sie auch schon wieder das Gemeindehaus. Es war aus braunem Holz gebaut, bescheiden gehalten mit einem großen Schornstein auf dem Dach. Die Farbe an den Fensterläden war etwas abgetragen und es fehlten hier und dort ein paar Dachziegel, ansonsten schien es gemütlich und solide zu sein.

«Hier wirst du wohnen», sagte Herr Allons und schaute zufrieden drein.

Der Träumerling blickte glücklich auf das Haus und entgegnete: «Es ist schön, es sieht sehr wohnlich aus, mit dem Kamin und den Fensterläden. Ich könnte sie neu anstreichen, wenn Sie das wünschen.»

Herr Allons lachte vergnügt. «Oh nein», schüttelte er seinen dichten, wirren Schopf. «Nein, nein, nein», tönte ein überhebliches Lachen aus seinem Hals und sein Blick wandte sich zu den restlichen Mitgliedern des Magistrats, die hinter ihnen standen. Der Träumerling schaute ihn verdutzt an und wunderte sich über diese Verhaltensweise. Aber fromm, wie er war, dachte er sich nichts weiter dabei und hörte höflich zu.

«Das wird nicht nötig sein. Du wirst dich ja hier nicht viel aufhalten, da du die Wünsche erfüllst und da wirst du wohl viel in unserer Stadt zu tun haben. Zum Essen und zum Nächtigen bedarf es dir wohl nicht viel, daher haben wir es dir besonders gemütlich eingerichtet. Komm schon und sieh es dir an.» Gemeinsam gingen sie hinein. Die Haustüre quietschte leise beim Öffnen und als sie hineintraten, knarrte der Dielenboden bei jedem ihrer Schritte. Die Einrichtung war einfach gehalten, inmitten des Raumes stand ein großer Tisch aus Nussbaumholz mit vielen schlichten Stühlen aus demselben Holz, die sich daran reihten. «Hier müssten wohl die Gemeindevertreter sitzen wenn sie wichtige Besprechungen abzuhalten haben.» Der Träumerling war beeindruckt. Aber gleichzeitig fragte er sich, wo er sich wohl in dem Haus aufhalten würde. Es schien nur diesen einen großen Raum zu geben. Am Eingang stand der steinerne Kamin mit einer nostalgischen Umrandung aus Eisenguss, ein paar Bilder mit Fotografien der Stadt und der umliegenden Natur hingen an den Wänden, und eine großzügig aus Holz geschwungene Deckenleuchte hing mittig über dem massiven Holztisch. Nur eine einzige kleine Tür war da noch, die ihrer Größe nach wohl eine Besenkammer sein mochte. Somit blieb für den Träumerling nur die Möglichkeit, dass er wohl in diesem großen Raum leben würde. Der Raum erschien geräumig und durch die linksseitige Fensterfront war er auch recht hell und das Abendlicht leuchtete von draußen herein. Von hier aus konnte er den blauen Fluss entlang der Stadtmauer sehen. Auf der anderen Seite des Flussufers lag ein großer Wald, der weit bis zum Horizont führte. Er stellte sich vor, wie er an den Abenden zu diesen Fenstern hinaus nach oben zu den Sternen blicken und bei hellem Mondlicht das Fließen des Flusses beobachten würde.

Soeben gedachte er, seine Gedanken mit Herrn Allons zu teilen, da öffnete dieser die Tür zur Besenkammer. «Und hier ist dein Reich!» Er zog voller Erwartung die Augenbrauen nach oben, sodass sich auf seiner Stirn dicke Furchen bildeten.

Er bekam die Reaktion, die er sich erhofft hatte. Denn der Träumerling war so gutmütig und freundlich, dass er ein Lächeln aufsetzte und so versuchte, seinen fragenden Ausdruck zu verstecken.

«Na, was sagst du?», fragte Herr Allons. Und ohne überhaupt gewillt zu sein, eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: «Hab ich dir zu viel versprochen? Es ist doch sehr gemütlich, nicht wahr? Du wirst verstehen, dass wir das Gemeinschaftszimmer für das Gemeinwesen benötigen, für unsere Gemeindetreffen und Abstimmungen und all die anderen städtischen Zusammenkünfte.»

Erleichtert dachte der Träumerling, dass er auf diese Weise immer Teil der Gemeinschaft wäre, weil er so stets bei Zusammenkünften der Gemeinde ohnehin anwesend wäre und er erklärte sich die spärliche Räumlichkeit damit, dass die Stadtbewohner wohl dachten, ihr Gast sollte bei jedem Treffen dabei sein und im Mittelpunkt des Stadtgeschehens stehen und mitwirken. Das erfreute ihn und er vergaß darüber das fehlende Fenster in seiner neuen Unterkunft, die staubige Matratze, die sie ihm als Bett auf den Fußboden gelegt hatten und die engen leeren Wände, die er jeden Abend zum Einschlafen betrachten würde. Aber er meinte zu verstehen und erkannte viel guten Willen der Stadtleute, um ihn in das Stadtleben einzuführen, und was er sich ganz besonders wünschte, ihn gleicherweise in ihre Herzen zu lassen.

Er lächelte Herrn Allons an. Dieser gab ihm einen im Gewand einer nett gemeinten Geste kräftig ausgeführten Klaps auf die Schulter und drückte ihn damit, für die anderen fast unbemerkt, in die kleine Kammer. Es roch nach staubiger Wäsche und modrigem Holz. In der hinteren linken Ecke stand ein Besen mit Handfeger und es lagen ein paar Wäscheklammern einzeln verteilt auf dem Boden. Kein Fenster, keine Heizung und keine Wärme.

«Es wird schon gehen», fand der Träumerling und bei dem Versuch, freudige Gedanken zu bewahren, überkam ihn eine bedrückende Schwere auf seiner Brust. Irgendetwas zog sich in ihm langsam zusammen. «Dabei waren doch alle so freundlich zu ihm.» Er vermochte es sich nicht zu erklären, und so beachtete er das Gefühl nicht weiter.

«So, nun lassen wir dich mal einleben. Du musst erschöpft sein von deiner Reise. Wir wünschen dir eine geruhsame Nacht.» Allons wandte sich entschlossen zur Haustür und beabsichtigte gerade aufzubrechen, da drehte er sich nochmals um und erhob den Finger. «Ach ja, das habe ich beinahe vergessen. Die Waschräume findest du direkt gegenüber. Sieh!» Unsanft schob er den Träumerling in Richtung Fenster und zeigte ihm ungeduldig die Waschhäuser. Öffentliche Toiletten stand auf einem Schild über dem kleinen Betonhäuschen. «Sie sind immer geöffnet und die gesamte Gemeinde pflegt regelmäßig die Waschhäuser aufzusuchen. Sollten also Fragen aufkommen, kannst du auch jeden um Hilfe bitten, der gerade vor Ort beziehungsweise auf dem Örtchen ist.» Herr Allons lachte und hielt sich dabei den runden Bauch. Drei tiefe lachende Töne kamen nacheinander aus seiner Kehle, ja, nicht aus seinem Herzen. Der Träumerling erkannte ein wahres Lachen, das direkt aus dem Herzen kam – dies, war keines davon. Doch er machte sich nichts daraus und wie all die anderen Anwesenden lächelte er beschämt, aber höflich über den Versuch von Herrn Allons, unterhaltsam zu sein.

Nachdem sich alle verabschiedet hatten und der Träumerling nun alleine in seiner Kammer war, betrachtete er die kahlen Wände, legte sich auf die Matratze am Boden und nahm die Decke, um sich darunter zu wärmen. Er öffnete die kleine knarrende Holztür ein wenig und lugte hinaus in den großen Gemeinschaftsraum. Wie er in diesem engen, staubigen und dunklen Raum lag, erwischte er sich bei dem Gedanken, heimlich in die Stube zu gehen und die Matratze umzuplatzieren. Schnell erinnerte er sich jedoch an die eindringlichen Worte von Herrn Allons, dass es ihm keinesfalls gestattet sei, den Gemeinderaum zu nutzen. Auch der Kamin dürfe nicht befeuert werden, dieser sei ausschließlich für die Gemeindeaktivitäten vorgesehen, ebenso wie das gesamte Haus. Nur für den kleinen Raum gewähre er eine Ausnahme, dies verstehe sich von selbst, schließlich musste sich der Träumerling in der Stadt wohlfühlen und brauche eine gemütliche Unterkunft. Was hätte der Träumerling dazu entgegnen sollen. Also zog er die Tür näher heran und kroch noch tiefer unter die Decke, dann schloss er die Augen. Besonnen hoffte er auf den morgigen Tag und stellte sich vor, wie ein neuer Tag wieder Licht in die Kammer und auch in sein Herz bringen würde. Und so schlief der Träumerling ein und verbrachte die erste Nacht in seiner neuen Welt.

Kapitel 2

Die Morgenröte zeigte die frühen Farben des Tages in einem zarten Rosé, welches gedeckt wie von pudrigem Sand durch den morgendlichen Nebeldunst zog. Ein neuer Tag hatte begonnen, und während der Träumerling noch friedlich schlief, schienen die ersten Sonnenstrahlen durch den Türschlitz zu seiner Kammer. In der Nacht hatte er sich in dem engen, fensterlosen Raum nicht ganz wohlgefühlt und so hielt er die Tür etwas geöffnet. Leider mochte sich die Tür nicht von selbst geöffnet halten und so bewegte sie sich mit jedem Male, wenn er die Tür aus der Hand ließ mit einem Quietschen in Richtung Türschloss. Und so kam es, dass der Träumerling die meiste Zeit der Nacht versuchte, mit der Welt außerhalb der engen vier Wände durch einen geöffneten Türspalt verbunden zu bleiben und tat kaum ein Auge zu.

Das warme Licht strahlte in die Kammer hinein und berührte seine Wange. Der Träumerling drehte sich auf den Rücken und erhob sich von der durchgelegenen Stoffmatratze am Boden, um den Tag zu begrüßen. Schnell vergaß er die Strapazen der Nacht, als er zu den Fenstern lief und den Fluss erblickte. Der Sonnenglanz schimmerte auf den strömenden Bewegungen des Wassers. Voller Vorfreude auf die Menschen und seine Aufgabe besann sich der Träumerling auf sein Vorhaben, an diesem Morgen in aller Frühe noch einmal durch seine neue Heimat zu spazieren und die Leute zu treffen. Die Häuser zu betrachten, die Farben zu spüren, die Düfte zu riechen und den Geist dieser Stadt in sich aufzunehmen. Er konnte es kaum erwarten, zu erfahren, was die Menschen hier liebten, wie sie lebten und welche Sehnsüchte sie hatten; ja, welche Wünsche sie wohl haben mochten und wie er ihnen so gerne helfen könnte.

So nahm er seine geliebte dunkelblaue Mütze, die er auf den Besenstiel in der Kammer gehangen hatte, und streifte sie sich mit einem vergnügten Lächeln auf dem Gesicht über den Kopf. Draußen vor dem Haus sangen die Vögel und die Sonne strahlte durch die hauchdünnen Schäfchenwolken am Himmel. Er streckte die Arme weit in alle Richtungen aus und atmete tief die frische Morgenluft ein. Vergnügt und besonnen lief er die Steigung hinauf zu den Wohnhäusern der Stadtbewohner. Die Kieselsteine auf dem Weg kitzelten seine Füße durch die feinen Sohlen seiner Stiefel und die vielen Blumen ließen die Beete bunt erstrahlen. Die Häuser sahen gemütlich aus. Sie waren schlicht gehalten wie das Gemeindehaus und dennoch hatten sie durch die verschiedenfarbigen Fensterläden einen freundlichen Charme. Einige Fensterläden waren himmelblau angestrichen, manche in einem satten Dunkelgrün und andere wieder in den Farben der Lavendelblumen, die überall am Wegesrand in großen Arrangements blühten. Nicht alle Läden waren gepflegt, bei einigen blätterte die Bemalung ab und die hübschen Holzschnitzereien hatten ihre Linien verloren. Die Blumenbeete in den Vorgärten waren kunstvoll und akkurat bepflanzt. Kleine weiße Kreuzzäune umrahmten die Gärten und verzauberten deren Anblick in leichte Aquarelle wie aus einer Galerie. Es war wahrhaft schön, anzusehen und der Träumerling versank in der Vorstellung, in dieser Stadt zu leben und vielleicht irgendwann auch in einem dieser kleinen Häuschen zu wohnen und seinen Garten mit den schönsten Blumen zu schmücken. Er würde Veilchen wählen. Ein blaues Meer aus Veilchen würde ihn und die Menschen jeden Tag begrüßen und am Abend für die Nacht verabschieden. Er würde sich eine kleine, weiße Gartenbank aus Birkenholz in den Garten stellen und von dort aus die Pracht der Blumen bewundern. Seine Fensterläden wären frisch angestrichen, in demselben Weiß wie auch der Zaun und die Gartenbank. Und eine Vogeltränke ... – doch bevor er seine Träumerei zu Ende denken konnte, wurde er durch einen lauten Schlag aus dieser zauberhaften Vorstellung gerissen. Er schaute sich um und erblickte eine Dame, die gerade dabei war, ihre Fensterläden zu öffnen. Mit gewaltiger Wucht schlug sie die beiden Vorrichtungen jeweils nacheinander gegen die Hauswand. Sie bewegte sich hektisch und ihre geröteten Wangen ließen einen langen frühen Morgen mit vielen unerfreulichen Arbeiten erahnen. Beinahe im selben Augenblick stürmte eine weitere Stadtbewohnerin aus ihrem Haus. Sie hielt einen olivgrünen Flechtkorb in den Händen, der so groß war, dass dieser ihr bis zu den Augen reichte und ihr die Sicht nach vorn nahm. Sie lugte angestrengt abwechselnd an den Seiten des Korbes vorbei und versuchte sich so, sicher über den Weg vom Haus bis auf die Straße zu bewegen, wo der Träumerling stand. Mit jedem Versuch an dem großen Korb vorbeizuschauen, wirkte ihr Gesicht noch strenger und sie drehte hektisch ihren Kopf hin und her, stampfte mit jedem Schritt genervt auf den schön gepflasterten Weg, als befinde sie sich gerade äußerst übereifrig in der Vorbereitung eines großen Jahresfestes. Sie kam auf den Träumerling zu.

Er lächelte sie freundlich an und sagte: «Guten Morgen, die Dame.» Schnaubend lief sie an ihm vorüber, im Vorbeigehen trafen sich ihre Blicke, aber sie entschied sich wohl dazu, ihre Kräfte lieber bewusst einzuteilen, und hielt sich mit dem netten Morgengruß zurück.

So fragte der Träumerling fromm: «Meine Dame, wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen sehr gerne behilflich sein.»

Sie blieb stehen, sah ihn an, schüttelte den Kopf und herrschte ihn an: «Mein Guter, siehst du denn nicht, dass ich schwer beschäftigt bin?»

Der Träumerling erwiderte: «Eben darum ...»

Sie fiel ihm ins Wort: «Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Ich wäre schon längst weiter, wenn du mich nicht aufhalten würdest.» Sie ging ohne Gruß davon und verschwand zwischen den anderen Wohnhäusern. Enttäuscht schaute der Träumerling auf die Häuser. Da stand er nun. Er hatte versucht, einen tieferen Einblick in diese Stadt und deren Bewohner zu gewinnen. Für heute war seine Mühe erfüllt und er bewegte sich wieder den Berg hinab in Richtung Stadtkern. Seine Aufgabe wartete auf ihn und er suchte nach einem geeigneten Plätzchen, um ihrer nachzukommen.

Auf dem großen Platz standen Verkaufswagen mit vielen bunten Kisten und überall lag Obst und Gemüse. Es roch nach Käse und frisch zubereiteten Backwaren. «Heute ist wohl Markt», dachte der Träumerling. «Eine gute Gelegenheit ein paar Leute zu treffen und sie kennenzulernen.» Als er den Marktplatz erreicht hatte, waren die Menschen schon sehr geschäftig. Die Güter wurden in die Ladentheken eingeräumt. Verkaufsschilder wurden geschrieben und der Boden gefegt.

«Guten Morgen», sagte der Träumerling zu einem der Marktmänner, der gerade einen Bund Radieschen auf die Warentheke legte.

«Wir haben noch nicht geöffnet. Du musst dich noch einen Augenblick gedulden», sprach er ihn gehetzt an.

«Oh, nein. Ich wollte nur ...», er versuchte, geeignete Worte zu finden, «ich dachte ich könnte Guten Morgen sagen und mich vorstellen. Ich bin neu in der Stadt. Ich bin der Träumerling, also wenn sie einmal Hilfe benötigen ...» Er unterbrach seine Ansprache, da er sich nicht darüber gewiss war, ob der Mann ihm auch zuhörte, denn er arbeitete weiter an seinem Stand und pustete genervt seine Atemluft aus. «Vielleicht sind Sie im Moment einfach zu sehr beschäftigt und ich komme ein anderes Mal wieder», sagte der Träumerling freundlich.

Der Mann entgegnete prompt mit angestrengter Miene: «Hör zu, ich bin beschäftigt und sollte ich etwas von dir brauchen, werde ich dich das wissen lassen. Dafür bist du doch da, oder nicht?»

Der Träumerling senkte den Blick. «Ja», sagte er betroffen. «Ja, dafür bin ich da. Aber auch, um euch ein Freund und Vertrauter zu sein», fügte er vor sich hinmurmelnd hinzu. Der Mann hörte ihn wohl nicht mehr, er stand bereits wieder hinter seinem Kaufladen und packte neue Paletten aus. Die anderen Marktleute steckten ebenfalls inmitten der Vorbereitungen, sodass sich der Träumerling entschloss, den Markt lieber zu verlassen. Sein Herz wusste nicht recht, ob er dies tat, um niemanden zu stören oder um eine weitere Enttäuschung zu vermeiden, die sein Herz betrüben würde. Er hatte gehofft, die Freude über seine Ankunft wäre mehr als ein Begrüßungsfest und dass er diese Freude der Stadtbewohner spüren würde, dass er diese Freude erleben dürfte als Teil dieser Stadt und auch als ein Teil in ihrem Leben. Schließlich war er ein Träumerling und er hatte mehr zu geben, als nur Wünsche zu erfüllen. «Wenn sie ihn doch nur in ihr Herz ließen.»

Da stand er nun, auf einem fremden Platz, in einer fremden Stadt mit fremden Menschen und einem fremden Gefühl in seinem Herzen. Niemals zuvor hatte er eine so starke Sehnsucht empfunden. Er konnte dieses Gefühl nicht fassen, es nicht begreifen, aber es war da und es führte ihn manchmal in Augenblicke hinein, die ihn sein eigenes Selbst und all seine Weisheit vergessen ließen. Er blickte sich um und atmete einmal tief die frische Morgenluft ein. Er hob seinen Kopf, presste die Luft wieder hinaus und hoffte so, all seine trüben Gedanken von sich zu stoßen. Oben am Himmel entdeckte er ein paar weiße Wolken. Dicht und fest schwebten sie vor seinem sehnenden Auge, sie lagen aufeinander wie ein behutsames Himmelsbett. Er fühlte sich sogleich geborgen und beschützt. Langsam schloss er die Augen und behielt dieses Gefühl in seinem ruhelosen Geist. Und er erinnerte sich. Ihn überkam ein Lächeln, und er bedankte sich für diesen Moment.

Plötzlich nahm er einen wundervollen Duft wahr. Es roch nach frisch Gebackenem. Er lief einen kleinen Kiesweg hinab zu einem Stadtpark. Große, alte Bäume umrahmten das Gelände und auf der Wiese blühten bunte Blumen. Es war wunderschön. Der Träumerling näherte sich dem mächtigen Eingangstor zur Anlage und bestaunte das Geschehen. Diesen Stadtgarten hatte ihm der Magistrat bei der Führung nicht gezeigt. Umso mehr freute sich der Träumerling über diese freudige Überraschung. Die Vögel sangen wild durcheinander und verkündeten ihre tägliche Botschaft. Ein paar Tauben wurden durch das Geräusch eines kehrenden Besens aufgeschreckt und flogen zu dem Taubenhaus, das inmitten der großen Wiese stand. Es war beträchtlich hoch und weilte auf einem dicken Holzpfahl, der mit filigranen Schnitzereien bestückt war. Noch immer hörte er das Kehren und er schaute sich um. Dort, zwischen zwei Parkbänken war ein kleiner Verkaufsladen. Er stand auf einer gepflasterten runden Fläche, von welcher sich ein im selben Muster gepflasterter Weg bis hin zu dem flachen Weiher ebnete, der nur ein paar Schritte hinter dem Verkaufswagen ruhte. Eine Frau kehrte den sandigen Boden von den Steinen und sah zum Träumerling hinüber. Sogleich dachte er daran, dass die Menschen hier so sehr beschäftigt sind und bemühte sich darum, die Frau nicht zu stören. So lächelte er sie freundlich an und grüßte höflich.

Gerade als er weitergehen wollte, sagte die Frau: «Guten Morgen, Träumerling. Du siehst hungrig aus. Was tust du schon so früh am Morgen hier?»

Er hielt einen Augenblick lang inne und blieb stehen. «Konnte sie ihn gemeint haben?», dachte er bei sich. «Ja, sie hatte ihn schließlich Träumerling genannt, und er war der Träumerling.»

Also drehte er sich zu ihr um und lächele sie erwartungsvoll an. «Ich bin ...» Er versuchte Worte zu finden. «Nun, ich möchte die Stadt und ihre Menschen kennenlernen. Der Sonnenschein hat mich nach draußen gelockt und ich versuche mich hier einzufinden.» Die Frau blickte ihn in aller Ruhe an. Sie hatte ihren Besen beiseitegestellt und hörte ihm aufmerksam zu. Der Träumerling war darüber sehr überrascht und freudig zugleich.

«Und? Hast du die Menschen schon kennengelernt?», fragte sie und klopfte den sandigen Staub von ihrem langen, geblümten Rock.

Der Träumerling schaute etwas betrübt zu Boden. «Leider sind alle sehr beschäftigt hier. Ich denke ich muss mich noch gedulden und warten bis die Leute auf mich zukommen.»

Sie hob die Augenbrauen. «Du meinst, bis sie etwas von dir brauchen?», sagte sie. Er sah sie an, und seine Augenlider sanken zustimmend nach unten. Aber gleichzeitig lächelte er besonnen und sein Kopf bewegte sich leicht nach rechts und links, so als wollte er den Worten der Dame überhaupt nicht zustimmen. Doch seine Augen verrieten die Enttäuschung.

Die Frau nahm den Besen wieder in die Hand und kehrte langsam weiter. «Hör mal» sagte sie, «die Menschen in dieser Stadt sind oft sehr beschäftigt – sie glauben es zu sein. Sie können tagelang arbeiten und haben nichts vollbracht, sie können tagelang umherlaufen und sind keinen Schritt weitergekommen und sie können den ganzen Tag reden und doch haben sie am Abend nichts gesagt.»

Der Träumerling sah sie verwundert an. «Aber warum?», fragte er. Doch ihr Anblick und ihr bedauerndes Schmunzeln vermittelten ihm Einsicht. «Ist es denn für diese Menschen so unerträglich einfach nur zu sein? Sie haben hier doch alles.»

Die Frau lachte liebevoll. «Du begreifst schnell.» Sie hatte ein kraftvolles Lachen, ein wahrhaftiges, das sah er an ihren Augen. Sie strich sich die großen goldenen Locken aus der Stirn und diese Augen schenkten ihm Zuversicht. Wie Sterne am Tag erleuchteten sie seine trübe Stimmung.