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Das Glück liegt oft genau da, wo man es am wenigsten erwartet Nach dem Tod ihres ungeborenen Kindes verliert Theresa den Boden unter ihren Füßen. Ohne Freund und ohne Job kehrt sie gebrochen zurück in ihre Heimatstadt und bezieht wieder ihr Kinderzimmer bei ihrer Mutter. Der einzige Lichtblick: Sie kann jetzt wieder ihrem Hobby, dem Nähen, nachgehen und beginnt, im Stoffladen ihrer Tante zu arbeiten. Dort, zwischen Nähgarn und Nadel fühlt sie sich endlich wieder angekommen. Und auch der Blick aus dem Schaufenster gefällt ihr, läuft dort ihr attraktiver Nachbar Romain über den Platz … Als auch ihr Bruder wieder nach Hause zieht und die beiden Geschwister eine vor Jahren vergrabene Flaschenpost mit ihren geheimsten Träumen finden, beschließen sie, sich endlich ihre Jugendträume zu erfüllen. Doch das ist schwieriger als gedacht und schon bald muss Theresa sich entscheiden: Will sie den Träumen der Vergangenheit nachjagen oder liegt das Glück nicht direkt vor ihrer Tür? Meinungen zum Buch: "Passend zum Thema fällt mir ein Zitat von Daniel Spitzer ein: 'Das Glück ist ein Mosaikbild, das aus lauter unscheinbaren kleinen Freuden zusammengesetzt ist.' Dieses Mosaikbild lässt die Verfasserin hier vor meinem geistigen Auge entstehen und der ganze Roman wirkt tatsächlich wie der Stoff, aus dem die Träume sind." (Rezensention Katikatharinenhof) "Es war mein erster Roman von dieser Autorin, aber hoffentlich nicht mein letzter! Vielen Dank für die schönen Lesestunden!" (Karin P. auf NetGalley.de)
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Seitenzahl: 422
Der traumhafte Stoffladen
Amanda Kissel ist das Pseudonym der Autorin Ursula Kissel. Sie wurde in Neustadt an der Weinstraße geboren. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie heute mitten im Pfälzer Wald und arbeitet als Lehrerin. Mehrere ihrer Kurzgeschichten wurden in Anthologien veröffentlicht. Ihr erster Roman "Apollonias Kiste" erschien 2018.
Das Glück liegt oft genau da, wo man es am wenigsten erwartet
Nach dem Tod ihres ungeborenen Kindes verliert Theresa den Boden unter ihren Füßen. Ohne Freund und ohne Job kehrt sie gebrochen zurück in ihre Heimatstadt und bezieht wieder ihr Kinderzimmer bei ihrer Mutter. Der einzige Lichtblick: Sie kann jetzt wieder ihrem Hobby, dem Nähen, nachgehen und beginnt, im Stoffladen ihrer Tante zu arbeiten. Dort, zwischen Nähgarn und Nadel fühlt sie sich endlich wieder angekommen. Und auch der Blick aus dem Schaufenster gefällt ihr, läuft dort ihr attraktiver Nachbar Romain über den Platz … Als auch ihr Bruder wieder nach Hause zieht und die beiden Geschwister eine vor Jahren vergrabene Flaschenpost mit ihren geheimsten Träumen finden, beschließen sie, sich endlich ihre Jugendträume zu erfüllen. Doch das ist schwieriger als gedacht und schon bald muss Theresa sich entscheiden: Will sie den Träumen der Vergangenheit nachjagen oder liegt das Glück nicht direkt vor ihrer Tür?
Amanda Kissel
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinNovember 2018 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-95818-394-0
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Nachtrag
Romains Literaturliste
Romains Lieblingsstücke für das Saxophon
Leseprobe: Das Geheimnis vom Strandhaus
Empfehlungen
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Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Kapitel 1
Für Rolf und Ruth
Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und es roch nach Herbst, Rauch und Erde. Theresa umklammerte ihren Koffer, sie wollte ihn nicht auf der feuchten, mit Laub bedeckten Treppenstufe abstellen. Die oberen Ecken der Haustür waren voller Spinnweben, wie jedes Jahr, wenn der Altweibersommer sich dem Ende zuneigte.
Das Haus war nicht besonders groß und lag in einer ruhigen Straße, die von Platanen gesäumt war. Das Gestein war kaum noch sichtbar, denn es war über und über mit Efeu überwuchert. Die Regentropfen perlten von den Blättern. Von jeher war das Haus für Theresa ein sicherer Hafen gewesen, ein Ort, an den man immer wieder zurückkommen konnte.
Auf dem Klingelschild, das neu beschriftet worden war, wie ihr schmerzlich auffiel, stand: Adelheid Rehberg. Sie holte tief Luft und läutete.
Nach einer Weile regte sich etwas im Inneren des Hauses, dann wurde die Tür geöffnet und eine Frau Mitte fünfzig blickte sie erstaunt an.
»Hallo … Was für eine Überraschung! Ich habe gar nicht mit dir gerechnet.«
Theresa biss sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Adelheid Rehberg, von allen nur Ada genannt, ließ den Blick zu dem großen Koffer schweifen. Dann zog sie Theresa zu sich heran und umarmte sie. Theresa schloss die Augen und atmete das vertraute, altmodische Parfum ihrer Mutter ein. Sie war so froh, endlich zu Hause zu sein.
»Komm erst mal herein, was stehst du denn da draußen im Regen herum. Warum hast du nicht angerufen und gesagt, dass du kommst? Du hast Glück, dass wir freitags früher Schluss machen und ich schon zu Hause bin«, sagte ihre Mutter, nahm ihr den Koffer aus der Hand und stellte ihn im Flur ab. »Mein Gott, ist der schwer – hast du dein ganzes Hab und Gut darin?«
Beinahe hätte Theresa bejaht, aber sie wollte ihre Mutter nicht gleich mit ihren Neuigkeiten überfallen.
»Komm in die Küche. Ich koche uns erst mal einen Kaffee. Du siehst durchgefroren aus.« Ada ging in die Küche voraus, in der sich seit Jahren nichts verändert hatte. Noch immer beherrschte der große runde Tisch mit den vier Holzstühlen den Raum. Hier hatten sie in ihrer Kindheit Mahlzeit um Mahlzeit eingenommen, alle vier Familienmitglieder zusammen. Es war tröstlich, sich auf ihren alten Platz zu setzen und dem Regen zuzuhören, der gegen die Fensterscheiben plätscherte. Es war ein trüber Nachmittag, und Ada machte Licht an, während sie sich um den Kaffee kümmerte.
Theresa betrachtete sie von hinten; ihre Mutter trug eine schwarze Hose und eine weiße Bluse, ihr Standard-Outfit für das Finanzamt, bei dem sie arbeitete. Der konservative Eindruck wurde von der blauen Strähne zunichte gemacht, die in ihr dunkles kurzes Haar gefärbt war. Theresa mochte die blauen Haare nicht besonders, aber sie verliehen ihrer Mutter etwas Rätselhaftes, hoben sie von anderen ab.
Ada stellte zwei dampfende Kaffeebecher auf den Tisch und setze sich ihr gegenüber.
»Nun erzähl mal«, forderte sie sie auf und musterte sie voller Besorgnis. »Du kommst doch nicht einfach ohne Grund an einem Freitagnachmittag mit einem riesigen Koffer und ohne Voranmeldung nach Hause geschneit. Was ist passiert?«
Theresa holte tief Luft. »Matthias hat mich verlassen und ich habe meinen Job verloren.«
Sie senkte den Blick und starrte in ihren Kaffeebecher. Trotzdem spürte sie die entsetzten Augen ihrer Mutter auf sich ruhen.
»Was?«
»Matthias hat gestern Abend mit mir Schluss gemacht, deshalb habe ich heute meine Sachen gepackt und bin hierhergekommen.« Ihre Stimme brachte nur ein Flüstern heraus.
»Aber was ist vorgefallen?«, fragte Ada besorgt.
Theresa hatte sich die Ärmel ihres dunkelgrünen Langarmshirts bis über die Hände gezogen und tupfte sich damit die Tränen weg, die ihr aus den Augen quollen. »Es ging einfach nicht mehr.«
Ihre Mutter schob sich ratlos ihre blaue Haarsträhne aus der Stirn. »Die Trennung ging von ihm aus, oder?«
Theresa nickte unglücklich.
»Hat er eine andere?«
»Nein …«
»Habt ihr gestritten?«
Theresa schüttelte den Kopf.
Ada seufzte. »Vielleicht sieht alles in ein paar Tagen wieder ganz anders aus. Vielleicht überdenkt er alles nochmal und merkt, dass er dich doch noch will. Was meinst du?«
»Das wird nicht passieren«, sagte Theresa mit Nachdruck.
»Und was ist mit deiner Arbeit?«, fragte Ada mit gerunzelter Stirn. »Es hatte doch so gut angefangen bei Schirmer&Söhne. Du warst doch fast am Ende deiner Probezeit.«
Theresa hatte nach Abschluss ihres BWL-Studiums als Treasurer in einem kleinen Unternehmen in Frankfurt, das Autoteile herstellte, gearbeitet. Sie hatte sich dort schnell eingelebt und wurde bald vom Seniorchef Wilhelm Schirmer und seinem Sohn Fridolin als zuverlässige Mitarbeiterin geschätzt.
»Sie waren doch immer so zufrieden mit dir«, fügte Ada eindringlich hinzu und zog Theresa die Hand vom Gesicht weg, um ihr in die Augen sehen zu können. »Das ändert sich doch nicht von einem Tag auf den anderen.«
»Es ist eben passiert«, murmelte Theresa, wich dem Blick ihrer Mutter aus und starrte aus dem Fenster, an dem Rinnsale von Regen herabliefen. »Irgendwann waren sie nicht mehr zufrieden mit mir.«
»Hast du Fehler bei der Arbeit gemacht? Hast du falsch kalkuliert? Haben sie durch dich Geld verloren?«
Ada war lauter geworden, man merkte ihr deutlich ihre Ungeduld an.
Doch Theresa schüttelte nur den Kopf. »Es tut mir leid, Mutti. Wirklich. Ich kann im Moment nicht drüber reden. Es geht nicht. Lass mir etwas Zeit.«
Milder gestimmt nahm ihre Mutter ihre Hand und streichelte sie zärtlich. »Na gut. Dann will ich dich nicht drängen. Du erzählst mir alles, wenn du dich in der Lage dazu fühlst.«
»Danke«, schniefte Theresa. »Kann ich eine Weile hierbleiben?«
Sie glaubte, ein leichtes Zögern wahrzunehmen, doch dann sagte Ada: »Natürlich. Du kannst dich wieder in deinem alten Zimmer einrichten. Was ist jetzt mit eurer Wohnung in Frankfurt?«
»Matthias wird weiterhin darin wohnen. Alleine.«
Theresa stand auf, stellte ihren leeren Kaffeebecher in die Spüle und nahm im Flur ihren Koffer. Als sie am Wohnzimmer vorbeikam, hielt sie einen Moment erschrocken inne. Es befand sich nur noch die kleine Samtcouch darin, die zwei Sessel waren verschwunden und hatten einem Crosstrainer und einem Rudergerät Platz gemacht.
»Was ist das?«
»Wonach sieht es denn aus?«, fragte Ada unwirsch.
»Hast du aus unserem Wohnzimmer einen … Fitnessraum gemacht?«
»Fitnessraum – nun übertreib mal nicht. Es steht immer noch die Couch da und fernsehen kann man auch noch. Ab und an gibt es eben Veränderungen im Leben.« Ein verletzlicher Zug lag um die Lippen ihrer Mutter. »Dein Vater ist vor einem Dreivierteljahr gestorben. Du und dein Bruder denkt wohl, ich würde jetzt nur noch mutterseelenallein in diesem Haus herumsitzen und Däumchen drehen. Aber das tue ich nicht. Man muss vorausschauen und sich andere Aufgaben suchen im Leben.«
»Ja, ich weiß«, murmelte Theresa. »Tut mir leid, so war das nicht gemeint.«
Beide blickten zu dem gerahmten Foto ihres Vaters, das auf dem Bücherregal neben dem Rudergerät stand. Theresa bemerkte aus dem Augenwinkel heraus, dass ihre Mutter rasch eine Träne wegblinzelte, bevor sie sich abwandte und in die Küche zurückging.
Eine enge Treppe mit weißgestrichenem Holzgeländer führte in die oberen Räume. In ihrem alten Kinderzimmer hatte sich nichts geändert. Es empfing sie mit den gelb gemusterten Vorhängen, die sie als Teenie selbst genäht hatte. Der Regen trommelte nun stärker gegen das Fenster, das den Blick auf einen Himmel mit zusammengebauschten grauen Wolken freigab.
Sie stellte ihren Koffer ab und sah sich um. Im Bücherregal standen ihre französischen Bücher, die sie für die Schule hatte lesen müssen – Molière, Camus, Gide, Voltaire, Stendhal und so weiter. Auch der Rest der Dekoration verriet, dass sie als junges Ding eine absolute Frankreichliebhaberin gewesen war. Über dem Bett hingen ein Poster vom nächtlichen Paris, eines vom Eiffelturm und eines von leuchtenden Lavendelfeldern in der Provence. Auf dem Regal stand ein Foto ihrer Brieffreundin Aurore aus La Rochelle, die sie mehrere Jahre hintereinander mit dem deutsch-französischen Schüleraustausch besucht hatte. Sie schloss die Augen, vergaß für einen Moment ihren Kummer und ließ ihre Gedanken zurückschweifen zu endlosen Feldern mit blühenden Sonnenblumen, duftenden Heuballen … Auf einem dieser Heuballen wurde sie vor zwölf Jahren in der Julihitze zum ersten Mal geküsst, von Nicolas, dem Bruder ihrer Austauschpartnerin. Noch heute erinnerte sie sich an den Geschmack seiner Lippen, er schmeckte nach der selbstgemachten Himbeerlimonade seiner Großmutter und ihren Zitronentartelettes.
Sie gab sich einen Ruck und kehrte fast gegen ihren Willen in die Gegenwart zurück. Das alles war lange her, heute war sie siebenundzwanzig Jahre alt, Nicolas hatte sie seit diesem letzten Sommer vor zwölf Jahren nie wieder gesehen, und überhaupt schien es ihr, als wäre dies alles mehr als ein ganzes Menschenleben her.
Sie öffnete ihren Koffer und ging ins angrenzende Bad, das sie während ihrer Jugend mit ihrem kleinen Bruder Friedrich geteilt hatte, um ihren Kulturbeutel auszupacken. Kurz sah sie in den Spiegel über dem Waschbecken, aber ihr Anblick gefiel ihr nicht. Ihre Haut war blass und fleckig vom Weinen, die grauen Augen rotgerändert, und die braunen, welligen Haare hingen ihr zerzaust um die Schultern.
Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und glättete ihre Haare mit den Händen so gut es ging. Zurück in ihrem Zimmer nahm sie ihre Kleidung aus dem Koffer und legte sie in den Schrank. Auf dem Tisch unter dem Fenster stand noch immer ihre alte Nähmaschine, die sie von ihrer Großtante Babette zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Neben Frankreich war das Nähen eine weitere Leidenschaft von ihr gewesen. Sie hatte sich sämtliche Röcke und T-Shirts selbst geschneidert und war von den meisten Mädchen ihrer Klasse bewundert worden, da sie ausschließlich Unikate trug. Gerne hätte sie das Nähen zu ihrem Beruf gemacht, hätte ihre Mutter nicht …
»Theresa!«, rief Ada von unten. »Ich hab dir doch bei unserem letzten Telefonat erzählt, dass es Tante Babette nicht so gut geht. Geh doch mal die nächsten Tage bei ihr vorbei.«
»Hatte ich sowieso vor«, gab Theresa zurück und strich über die Nähmaschine. Ob sie noch einwandfrei funktionierte? Sie hatte seit mindestens sechs, sieben Jahren nicht mehr damit genäht, ihr hatte während des Studiums schlichtweg die Zeit gefehlt.
Nachdem alle Kleider verstaut waren, blieb nur noch der gelbe Plüschhase im Koffer. Wehmütig zog Theresa ihn heraus und drückte ihn an sich. Sofort begannen die Tränen wieder zu fließen, und sie legte sich gekrümmt auf das Bett, den Hasen fest umklammert. Es war eigentlich nicht ihr Hase, er sollte ursprünglich für jemand anderen sein. Aber er war seinem wahren Besitzer nie gegeben worden, und nun war er ein Waisenhase.
Als sie am Samstagmorgen nach einer schlaflosen Nacht herunterkam, trainierte ihre Mutter auf dem Crosstrainer. Sie trug eine neonfarbene Leggings und ein T-Shirt, die beide leuchteten wie ein oranger Textmarker.
»Frühstück steht in der Küche«, sagte Ada atemlos und wischte sich mit einem Handtuch die Stirn ab. »Übrigens – heute Abend kommt meine Bridgerunde.«
»Wer?«, fragte Theresa. Ihre Mutter hatte nie zuvor Bridge gespielt. »Na, die Damen, mit denen ich mich jeden Samstagabend zum Bridgespielen treffe. Emma, Marlene und Hedwig. Möchtest du mitspielen?«
»Nein, nein«, sagte Theresa schnell. Ihr stand der Sinn überhaupt nicht nach Gesellschaft, sie wollte alleine sein, reglos auf dem Bett liegen und den gelben Hasen im Arm halten.
»Gut.« Ein kurzer Anflug von Erleichterung flog über Adelheids Gesicht, aber Theresa hatte ihn dennoch wahrgenommen. Unbehagen machte sich in ihr breit; sie hatte ihre Mutter ohne Vorwarnung überfallen und drang in ihr Leben ein, das sie sich nach dem Tod ihres Vaters neu aufgebaut hatte. Sie wusste, wie viel Kraft es ihre Mutter gekostet haben musste.
Sie trank in der Küche im Stehen eine Tasse Kaffee und aß ohne Appetit einen trockenen Toast, bevor sie noch mal ihren Kopf ins Wohnzimmer steckte.
»Ich gehe zu Tante Babette in den Laden.«
»Gute Idee, tu das«, keuchte ihre Mutter, die inzwischen ihr Tempo erhöht hatte. »Und rede ihr mal ins Gewissen, dass sie Arbeit abgeben muss: Sie hört weder auf ihre Ärztin noch auf mich.«
Theresa ging die Straßen Neustadts in Richtung Stadtzentrum entlang und sog die klare Herbstluft ein. Sie war ein paar Monate nicht mehr in ihrer Heimatstadt gewesen, und die engen Gassen mit den Fachwerkhäusern und Höfen, den weinumrankten Mauern und dem Kopfsteinpflaster erschienen ihr malerischer denn je. Wie jeden Samstagmorgen herrschte lebhaftes Treiben in der Kleinstadt, die Cafés und Bistros waren voller Menschen, die hier lange und ausgiebig frühstückten.
Bald erreichte sie den kleinen Platz, auf dem sich das Stoffgeschäft ihrer Großtante namens Samt & Seide befand. Ihr Herz zog sich zusammen, sie wusste nicht recht, ob vor Freude oder Wehmut, weil sie schon so lange nicht mehr hier gewesen war. Das Geschäft war ihre gesamte Jugend hindurch ihr liebster Ort gewesen. Neben dem schmalen Haus ihrer Tante befand sich ein hipper Friseur namens Rapunzel, der Feinkostladen Geschmackssache und eine Chocolaterie. Die Läden existierten bereits seit Jahrzehnten. Gegenüber jedoch war offenbar eine neue Bar eröffnet worden. Chez Romain prangte in schnörkelloser Schrift über der massiven Haustür aus dunklem Holz. Das klang französisch. Neugierig spähte sie durch ein Fenster, aber dahinter war alles dunkel, und so steuerte sie, an dem Brunnen in der Mitte des Platzes vorbei, das Samt & Seide an.
Das Schaufenster war ungewohnt nachlässig gestaltet. In ihrer Jugendzeit hatte Theresa ihrer Tante oft geholfen, originelle Kreationen auszustellen, die die Leute anzogen. Eines ihrer Modethemen war Märchen gewesen; dazu hatte Tante Babette Prinzessinnenkleider aus prächtigen Samt- und Seidenstoffen geschneidert, die sie den Schaufensterpuppen angezogen hatten. Ein mit üppigem Purpur überworfener Stuhl als Thron sowie eine Leinwand im Hintergrund, die mit einer undurchdringlichen Dornröschenhecke bemalt war, bildeten die übrige Deko. Die Passanten hatten lange davor verweilt, um jedes Detail in sich aufzunehmen.
Ein anderes Thema hatte Unterwasserwelt geheißen. Tante Babette hatte Nixenkostüme mit langen Meerjungfrauenflossen aus schillernden Stoffen gezaubert, riesige Muscheln und Seesterne aus Pappmaché von der Decke baumeln lassen.
Es stimmte sie traurig, wie das Schaufenster jetzt aussah. Außer ein paar achtlos hingeworfenen Stoffballen war es leer. Tante Babette musste es wirklich schlecht gehen, wenn sie sich nicht mehr darum kümmerte – andererseits hatte sie die siebzig weit überschritten, war es nicht klar, dass die Kräfte irgendwann nachließen? Es war ein Wunder, dass sie den Laden überhaupt noch allein führte.
Theresa trat durch die Glastür ein und wurde vom melodischen Bimmeln der Ladenglocke empfangen. Sofort fühlte sie sich wieder wie zu Hause und Erinnerungen stürmten auf sie ein. Fast jeden Tag war sie nach der Schule zu Tante Babette in den Laden gegangen, hatte im Hinterzimmer erst ihre Hausaufgaben gemacht und ihr dann geholfen. Ihre Tante hatte nie geheiratet und freute sich über ihre Gesellschaft. Ada war bis nachmittags im Finanzamt gewesen und froh, dass ihre Tochter im Laden unterschlüpfen konnte. Bereits mit zehn Jahren konnte Theresa Röcke und Kleider nähen; sie nähte Kissen, Taschen und Stofftiere. Ihre Kreationen waren nie in dezenten Farben gehalten, sondern ein aufregendes Wirrwarr aus Mustern und Formen, leuchtenden Farben, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassten, auf den zweiten jedoch eine schillernde Harmonie bildeten.
Gedankenverloren strich sie über Baumwoll-, Samt- und Jerseystoffe, bis es im Hinterzimmer hinter dem Verkaufsraum raschelte und sie schnell aufsah.
»Theresa!«, rief Tante Babette strahlend und kam schwerfällig auf sie zu. Sie breitete die Arme aus und drückte ihre Großnichte an ihren wogenden Busen. Wie immer trug sie einen unförmigen, selbstgenähten Kittel, der mit pinkfarbenen Flamingos bedruckt war und ihr schweres Übergewicht kaschierte, und hatte die grauen Haare unordentlich zu einem Dutt zusammengefasst. »Ich wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist! Deine Mutter hat mir nichts verraten.«
»Ich bin ganz spontan gekommen«, sagte Theresa und löste sich langsam aus der Umarmung ihrer Tante, die sich so tröstlich anfühlte.
»Du siehst blass aus«, stellte Babette fest und musterte sie gründlich. »Und unglücklich. Was ist los?«
Wie immer hielt sich ihre Tante nicht mit Small Talk auf. Theresa seufzte.
»Ich habe meine Arbeit verloren und Matthias hat mit mir Schluss gemacht. Deswegen bin ich heimgekommen.«
»Ach, du grüne Neune!«, rief Babette entsetzt. »Das verlangt nach einer Krisensitzung. Du musst mir alles erzählen.«
Gerade hatte eine Frau mit zwei Kindern das Geschäft betreten und schaute sich bei den Jerseystoffen mit Feuerwehr- und Drachenmotiven um. Freundlich, aber resolut komplimentierte Babette sie zum Ausgang. »Tut mir sehr leid, wirklich, aber wir haben gerade eine absolute Familienkrise, die sofortiges Einschreiten erfordert. Wenn Sie bitte …«
Die Frau sah sie erstaunt an, nahm aber ihre Kinder an die Hand und ging zur Tür. »Ja, nun, das kann ja durchaus mal vorkommen.«
»Wenn Sie wiederkommen, gebe ich Ihnen zur Entschädigung einen großzügigen Rabatt«, versprach Tante Babette, schloss die Tür hinter ihr und hängte ein Geschlossen-Schild auf.
»Du musst wirklich nicht wegen mir schließen, Tante Babette«, wandte Theresa ein. »Ich wollte nur kurz nach dir sehen, ich kann auch heute Abend wiederkommen und dann …«
»Papperlapapp«, sagte die Tante scharf und stapfte ihr voran die Treppe hoch ins Obergeschoss, wo sie ihre Wohnung hatte. Theresa bemerkte, wie schwer es ihr fiel, die Stufen zu erklimmen, sie keuchte wie ein kaputtes Ventil.
In ihrer kleinen Küche, die den verblichenen Charme der Siebzigerjahre hatte – über der Spüle waren geblümte Kacheln, die Schränke waren giftgrün – knallte Babette eine Cognacflasche auf den Tisch und stellte zwei Gläser dazu.
»Aber Tante Babette«, protestierte Theresa, »doch nicht am Vormittag … Und außerdem – darfst du das überhaupt?«
Sie ließ den Blick über die diversen Tablettenschachteln und -röhrchen schweifen, die am Ende des Tisches auf einem Haufen lagen.
Babette atmete schwer. »Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen, oder wie man so sagt. Ich war noch nie jemand, der bei schlechten Neuigkeiten ein gepflegtes Tässchen Tee trinkt, das weißt du doch.«
Theresa ergab sich in ihr Schicksal und sah zu, wie ihre Tante großzügig einschenkte. »Trotzdem. Mutti hat mir gesagt, dass es dir gesundheitlich nicht gut geht. Und wenn ich mir diese vielen Medikamente ansehe … Du solltest besser auf dich achten.«
»Hat sie dich geschickt, um mit mir zu schimpfen?«, fragte Tante Babette und verzog das Gesicht. »Das kann sie sich sparen. Mit Mitte siebzig ändere ich meine Gewohnheiten bestimmt nicht mehr, da kann sie sagen, was sie will. Hier, möchtest du eine Weinbrandpraline? Bedien dich.«
Genüsslich schob sie sich drei Pralinen nacheinander in den Mund, während Theresa nur auf die Schachtel starrte, als würde sie ihr Übelkeit verursachen.
»Meine Ärztin ist sowieso der Meinung, ich mache es nicht mehr lang«, sagte Babette unbekümmert. »Also kann ich auch die guten Seiten des Lebens genießen, meinst du nicht? Einen schönen Cognac, exquisite Schokolade, ab und an mal eine kubanische Zigarre, und sonntags den Tatort. Aber genug von mir alter Schachtel. Erzähl mir, was passiert ist.«
»Nun ja«, begann Theresa unbehaglich. »Das habe ich ja schon. Mit Matthias ist es aus, und meine Arbeit habe ich auch verloren.«
»Sei froh, dass du diesen kleinen Lackaffen los bist«, sagte Babette verächtlich. »Ohne ihn bist du besser dran. Ich konnte ihn noch nie leiden. Wie er auf meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag in diesem rosa Hemd aufgetaucht ist wie ein kleines Mädchen …«
Theresa schwieg bedrückt. Bis jetzt vermisste sie Matthias nicht, doch wenn sie an den Grund der Trennung dachte, vergrößerte sich der Kloß in ihrem Hals und sie glaubte, zu ersticken vor Kummer.
Zum Glück war Tante Babette so in ihrer Empörung gefangen, dass sie gar nicht daran dachte, nach den Gründen zu fragen.
»Noch Cognac? Und nimm dir eine Praline, die sind köstlich. Ich habe sie aus der Chocolaterie nebenan. Dort bekomme ich Rabatt, besonders wenn ich mehrere Schachteln gleichzeitig kaufe. Es geht nichts über gute Geschäftsbeziehungen zur Nachbarschaft. Und was war mit deiner Arbeit in dieser Schirmfabrik?«
Theresa musste gegen ihren Willen lächeln. »Es war doch keine Schirmfabrik. Die Eigentümer hießen nur Schirmer. Ich … Es, äh, ist etwas kompliziert …«
Sie druckste noch ein wenig herum, weil sie um nichts in der Welt über das Thema sprechen wollte und nicht wusste, was sie stattdessen an Belanglosigkeiten sagen konnte. Doch ihre Tante kam ihr mit ihrer Ungeduld zuvor.
»Ganz ehrlich, Theresa – der Job war absolut nichts für dich. Das habe ich von Anfang an gewusst, deshalb überrascht es mich nicht, dass nichts Dauerhaftes daraus wurde. In diese Finanzwelt gehörst du nicht.«
Insgeheim stimmte Theresa ihr zu, doch sie schwieg, um nicht wieder diese uralte Diskussion über ihr Berufsleben zu entfachen. Babette schob sich eine weitere Praline in den Mund.
»Dieses ganze BWL-Studium war doch eine Farce. Da hat dich deine Mutter in eine Richtung gedrängt, die nicht die richtige für dich war. Es ist schön, dass sie ihren Job als Finanzbeamtin mit so viel Leidenschaft ausübt …« An dieser Stelle lachte sie trocken, hustete daraufhin aber so heftig, dass Theresa aufsprang und ihr ein Glas Wasser eingoss. Babette winkte mit zittriger Hand ab und kippte ihren Cognac hinunter.
»Deine Mutter ist eine leidenschaftliche Finanzbeamtin«, fuhr sie dann fort, als wäre nichts gewesen, »aber du bist anders gestrickt. Du hättest Schneiderin werden sollen wie ich. Bei mir hättest du eine Ausbildung machen können. Oder überall sonst. Alle hätten dich mit Kusshand genommen, du konntest ja bereits mit zehn Jahren perfekt nähen. Stattdessen hast du dich dein halbes Leben lang mit Zahlen beschäftigt – Zahlen!« Sie spie das Wort aus, als wäre es etwas Unanständiges. »Dein Talent, deine Leidenschaft für Mode, für das Kreieren sind dabei auf der Strecke geblieben!«
Sie hatte sich völlig verausgabt und hustete wieder kräftig.
»Das hört sich nicht gut an«, sagte Theresa besorgt und klopfte ihr hilflos auf den Rücken.
»Ach was, Unkraut vergeht nicht«, keuchte Babette, nahm mit zittrigen Fingern eine Tablette aus einer der Schachteln, schluckte sie und spülte sie mit Cognac hinunter.
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist …«
»Komm, hör auf, meine Krankenschwester zu spielen. Um es nochmal ganz deutlich zu sagen: diese Stelle als Trash …«
»Treasurer«, half Theresa aus.
»Ja, wie auch immer. Was immer das sein soll. Diese Arbeit ist nicht das richtige für dich.«
Theresa drehte ihr Cognacglas in den Händen. »Ich bin den Job ja sowieso los.«
»Hm. Und was hast du jetzt vor?«
Theresa stützte den Kopf in die Hände. Nach den Ereignissen der letzten Wochen fühlte sie sich unendlich müde und kraftlos; ihr fehlte die Energie, um Pläne zu schmieden. Es war anstrengend genug, einfach den Tag durchzustehen.
»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte Babette und musterte sie scharf. »Du könntest eine Weile hier im Laden bei mir arbeiten. Ich bin zu alt und zu krank, um alles alleine zu schaffen. Sie dich nur um. Das Vorratslager sieht aus wie Sau, und der Zustand des Schaufensters hat dich gewiss schockiert.«
»Ach nein, das ist nicht so …«
»Papperlapapp«, schnitt ihr Babette das Wort ab. »Du musst nichts beschönigen. Meine Buchhaltung ist ein einziges Chaos. Aber für dich als Betriebswirtschaftlerin wäre es bestimmt ein Leichtes, da durchzusteigen und alles wieder auf Vordermann zu bringen. Ohne die Hilfe deiner Mutter bei der Steuererklärung wäre ich eh schon lange im Knast wegen schmuddeliger Buchführung … «
Theresa starrte ihre Tante an; ihr Herz klopfte freudig beim Gedanken an die Arbeit im Stoffladen.
»Ich hatte bis letzte Woche noch eine Aushilfe«, erzählte Tante Babette. »Aber es ging auf Dauer nicht gut mit ihr. Das arme Ding war Kettenraucherin, sie musste halbstündlich vor die Tür, um ihrem Laster zu frönen, egal, ob gerade Kundschaft da war oder nicht. Außerdem dünstete sie einen widerlichen Zigarettengeruch aus, und die Stoffe rochen bereits nach ihr. In meinem Geschäft stank es wie in einer verrauchten Spelunke, stell dir das mal vor!«
»Oh je«, murmelte Theresa.
»Ja, nicht wahr? Wer möchte schon Stoffe kaufen, die nach durchzechter Nacht stinken? Ich musste diese Frau loswerden, bevor sie mir alle Kunden vergraulte. Deshalb kommst du mir wie gerufen, Theresa. Viel zahlen kann ich dir nicht, aber du kannst dich nach Herzenslust an den Stoffen, an meinen Spirituosen und meinen Süßigkeiten bedienen. Vielleicht möchtest du ja wieder mit dem Nähen anfangen?«
»Danke für das tolle Angebot«, sagte Theresa gerührt. »Ich meine, du bist meine Rettung! Ohne dich würde ich nur zu Hause rumsitzen und mich in meinem Elend suhlen. Und ich kann jeden Euro gebrauchen. Ich freue mich richtig, wieder hier mit dir zusammenzuarbeiten. Genauso wie früher.«
Sie umarmte ihre Tante.
»Wann soll ich anfangen?«
»Am Montag?«
»Gut. Ach, übrigens …« Theresa stand auf und blickte durch das schmale Küchenfenster hinüber zu dem alten Fachwerkhaus, das seit Neuestem das Chez Romain beherbergte. »Was ist das für ein neues Lokal da gegenüber? Als ich das letzte Mal hier war, war noch diese Pizzeria in dem Gebäude.«
Babette sah ihr über die Schulter und sagte abfällig: »Keine Ahnung, das ist irgend so eine Bar. Es gibt da anscheinend vor allem Cocktails, was Richtiges zu essen haben die wohl nicht. Die Bar gehört so einem seltsamen Typen. Er scheint aber kein Franzose zu sein, wie der Name vermuten lässt. Keine Ahnung, wo genau er herkommt. Auf jeden Fall hat er regen Frauenverkehr.«
Theresa lachte auf. »Du bist ja bestens informiert.«
»Natürlich. Ich habe recherchiert. Ich will schließlich wissen, wer sich in meiner Nachbarschaft so niederlässt. Begleitest du mich bei Gelegenheit mal rüber, auf einen Cocktail? Ich würde mich gerne mal da drüben umsehen.«
»Okay«, willigte Theresa ein, obwohl ihr insgeheim so gar nicht der Sinn nach Ausgehen stand.
Da sie sonst nichts zu tun hatte und die Aussicht darauf, zu Hause trübsinnig in ihrem Kinderzimmer zu sitzen, nicht sehr verlockend war, blieb sie gleich einige Stunden im Laden und machte sich nützlich. Da es wieder zu regnen begann, blieb die Kundschaft weitgehend aus. Tante Babette schloss das Samt & Seide früher als sonst, wünschte ihr einen schönen Sonntag und schloss die Ladentür hinter ihr ab.
Unschlüssig stand Theresa im Regen; dicke Tropfen zerplatzten auf der Oberfläche des Brunnens in der Mitte des Platzes und zogen Kreise um sich. In der Bar gegenüber war noch alles dunkel, sie öffnete erst um siebzehn Uhr, wie auf dem silbernen Türschild zu lesen war. Sie spannte ihren Schirm auf und schlenderte hinüber, um durch die Fenster zu sehen, doch außer einem finsteren Raum erkannte sie wenig.
Gemächlich ging sie nach Hause. Ada befand sich in der Küche und bereitete ein paar Schnittchen und Getränke für ihre Bridgerunde vor.
»Wie war es bei Babette?«, fragte sie, während sie kleine Happen mit Lachs und Ei belegte.
»Gut. Sie hat mir angeboten, bei ihr im Laden zu arbeiten.«
Als sie den Blick ihrer Mutter sah, fügte sie rasch hinzu: »Natürlich nur, bis ich etwas anderes gefunden habe.«
»Ach so.« Ada wirkte erleichtert. »Du hast ja nicht jahrelang BWL studiert, um dann in einem Laden zu stehen und Stoffe zu verkaufen.«
»Aber das macht mir gerade am meisten Spaß. Ich habe heute schon ein bisschen mitgeholfen.« Sie behielt die Tatsache, dass ihr diese Arbeit auch vor zehn Jahren bereits Freude bereitet hatte, für sich, um keine erbitterte Diskussion mit ihrer Mutter anzuzetteln.
»Du solltest gleich am Montag anfangen, dich nach interessanten Stellen umzusehen«, riet ihr Ada und legte Frischhaltefolien über die Schnittchen. »Du kannst ja mit den Zeitungsannoncen und mit dem Internet anfangen. Ich höre mich auch mal um.«
»Mhm. Mal sehen«, gab Theresa unverbindlich zurück und wandte sich ab, damit ihre Mutter ihren gequälten Gesichtsausdruck nicht sah. Nach den letzten Wochen brauchte sie Zeit, um wieder zu sich zu kommen, sie konnte nicht einfach am Montag durchstarten, als wäre nichts gewesen.
Sie löffelte schnell einen Joghurt, um nach oben verschwinden zu können. Adelheids Bridgerunde wollte sie nicht unbedingt begegnen, sie sehnte sich plötzlich nach der Einsamkeit und Stille ihres Zimmers. Der Tag im Samt & Seide war zwar schön, aber auch anstrengend gewesen, und sie merkte, wie ausgelaugt sie sich fühlte.
Vom oberen Stockwerk aus hörte sie, wie die Freundinnen ihrer Mutter eintrafen und sich geräuschvoll begrüßten. Sie schienen guter Stimmung zu sein und richteten sich um den Küchentisch herum ein.
»Schicke neue Louis Vuitton-Tasche, Emma«, sagte Adelheid zu einer ihrer Freundinnen. »Ich hoffe sehr, es ist kein Fake aus China?«
»Ach, Ada«, seufzte die Angesprochene, »lass die Finanzbeamtin in dir doch mal Feierabend machen.«
Theresa duschte lange, putzte sich die Zähne und schlüpfte in ihr Nachthemd, um sich dann auf dem Bett zusammenzurollen, den gelben Hasen an sich gedrückt, als könne er ihr Trost schenken.
Die Bridgedamen wurden immer ausgelassener; es schien Alkohol zu fließen, Gelächter hing im Raum. Eine der Freundinnen bekam einen Telefonanruf, denn Theresa vernahm, wie sie am Fuße der Treppe offenbar mit ihrem Mann redete.
»Marlene«, rief ihre Mutter aus der Küche. »Du weißt schon, dass du als Freiberuflerin das Handy unter gewissen Umständen absetzen kannst, oder?«
Die Bridgefreundinnen lachten sich kaputt und klirrten mit ihren Gläsern.
Theresa verfiel in einen unruhigen Schlaf. Wilde Träume vermischten sich mit dem schrillen Lachen der Bridgedamen. Später schrak sie aus einem schrecklichen Albtraum auf und saß kerzengerade im Bett, den Hasen immer noch unter den Arm geklemmt. Es herrschte eine undurchdringliche Dunkelheit, das Haus lag in völliger Stille. Auch in ihrem Traum hatte sie gerade geschlafen und war davon aufgewacht, dass sich eine feuchte, dunkle Blutlache zwischen ihren Beinen ausbreitete.
Ihr war so übel, dass sie das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Sie stand zittrig auf, stürzte ins angrenzende Badezimmer und erbrach sich in die Toilette.
Als es vorbei war, kniete sie Minuten lang auf den kühlen Fliesen, ohne sich zu rühren. In ihr herrschte eine schreckliche Leere, die sich womöglich nie wieder füllen würde.
Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie die Kraft aufbrachte, sich hochzurappeln, sich das Gesicht eiskalt abzuwaschen und wieder in ihr Bett zu gehen. Die Angst, der Traum könnte zurückkehren, hielt sie wach.
Da klingelte es an der Haustür. Das Geräusch zerriss die Stille der Nacht, sodass sie erneut auffuhr. Sie tastete nach ihrem Smartphone und schaute auf die Zeitanzeige: Es war nach Mitternacht. Das Herz trommelte in ihrer Brust; irgendetwas musste passiert sein, denn wer läutete um diese Zeit?
Sie schob die Decke zurück, stand auf und schlich auf den Flur. Unten vernahm sie gedämpfte Stimmen, dann wurde das Licht im Eingangsbereich angemacht. Noch immer war ihr dieses nächtliche Intermezzo unheimlich, trotzdem ging sie, Schritt für Schritt, barfuß die Treppe ein Stück hinunter.
Als sie um die Biegung kam, sah sie ihre Mutter in einem weißen Nachthemd und einen kräftigen jungen Mann, der in jeder Hand einen Koffer hielt. Einen Wäschekorb mit drei Laptops und diversen andere technische Geräten hatte er auf der ersten Treppenstufe abgestellt.
»Friedrich!«, rief sie und rannte das letzte Stück der Treppe hinunter auf ihn zu.
»Hallo, Schwesterherz«, sagte ihr kleiner Bruder und grinste sie verlegen an. »Achtung, stolper nicht über meine Ausrüstung.«
»Was tust du hier mitten in der Nacht?«
»Das frage ich mich auch«, sagte Ada nicht sehr erfreut. »Ich habe mich fürchterlich erschrocken, als es mitten in der Nacht geklingelt hat. Ich habe gedacht, es wäre etwas passiert und die Polizei stünde vor dem Haus.«
»Ach, was, übertreib nicht. Ist das Bett in meinem alten Zimmer bezogen? Ich bin hundemüde.«
Ada ließ ein trockenes Lachen hören. »So leicht kommst du mir nicht davon, Fritzchen. Du bist mir schon eine Erklärung schuldig, weshalb du nach Mitternacht bei mir aufschlägst.«
Friedrich seufzte ergeben, und so begaben sie sich alle drei in die Küche, wo sie sich an den runden Tisch setzten. Vor den Fenstern herrschte Dunkelheit, lediglich die Straßenlaterne warf einen schmalen Streifen Licht über den Vorgarten.
»So, jetzt erzähl mal«, forderte Ada ihn auf.
»Kann ich einen Kakao haben oder so?«, fragte Friedrich bittend.
Ada starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, sodass Theresa sich rasch erhob. »Ich mach dir einen. Du auch, Mutti?«
»Hm.«
Theresa gab Milch in drei Becher und rührte Kakao hinein, um alles in der Mikrowelle zu erhitzen. Verstohlen betrachtete sie ihren Bruder. Er war fünfundzwanzig, zwei Jahre jünger als sie. Seit sie ihn vor einigen Wochen das letzte Mal gesehen hatte, hatte er ordentlich zugenommen. Sie ging davon aus, dass er durch seine Arbeit – er arbeitete als Software-Entwickler, meistens im Home-Office – nicht oft vor die Tür kam und sich einfach zu wenig bewegte. Er ernährte sich wahrscheinlich hauptsächlich vom Lieferservice. Seine langen braunen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden, und wie üblich trug er eines seiner Nerd-T-Shirts. Auf diesem stand Es gibt 10 Arten von Menschen – die, die das binäre System verstehen und die, die es nicht verstehen.
Ihr Ex Matthias hatte Friedrich immer als einen Rollenspieler-Typen bezeichnet, und Theresa wusste, dass das nicht als Kompliment gemeint war.
Schließlich saßen sie alle drei vor einem Becher dampfenden Kakaos.
»Ich höre«, sagte Ada. »Was ist los?«
Theresa dachte bitter, welch ein Zufall es war, dass erst sie selbst bei ihrer Mutter aufgetaucht war, vor einem Scherbenhaufen ihres Lebens stehend, einen Tag später ihr Bruder. Dass er ohne schwerwiegenden Grund hier aufgetaucht sein könnte, war undenkbar.
»Hast du auch deinen Job verloren und wurdest verlassen?«, fragte Ada nun schärfer, als Friedrich genüsslich seinen Kakao schlürfte.
»Ach was«, winkte er ab. »Dramatisier nicht immer so. Und wieso auch? Hast du deinen Job verloren, Mutter? Du bist doch verbeamtet auf Lebenszeit, sie können dich doch gar nicht auf die Straße setzen!«
»Haha, sehr witzig«, sagte Ada. »Ich bin hundemüde, Fritzchen. Rück raus mit der Sprache, ich glaube, wir wollen alle schlafen gehen.«
»Na ja, ich habe ein kleines Wohnungsproblem, nichts wirklich Schlimmes.«
»Will heißen?«
»Nun …« Friedrich trank einen großen Schluck; Theresa sah ihrer Mutter an, dass sie am Ende ihrer Geduld war. »Mein Vermieter hat mir vor ein paar Monaten gekündigt, wegen Eigenbedarfs …«
»Vor ein paar Monaten?«, fragte Theresa ungläubig. »Hast du dir in der Zwischenzeit nichts Neues gesucht?«
»Äh, naja, nicht richtig. Ich hatte gehofft, er überlegt es sich nochmal anders. So einen ruhigen und zuverlässigen Mieter wie mich findet man bestimmt nicht alle Tage.«
»Du hast das Problem also ausgesessen?« Ada schlug mit der Hand auf den Tisch. »Wie so oft. Ich fasse es nicht. Und wieso musstest du unbedingt mitten in der Nacht hier auftauchen? Hätte das nicht bis morgen früh Zeit gehabt?«
»Nein«, sagte Friedrich zerknirscht. »Der Vermieter ist in den letzten Tagen zudringlich geworden. Sehr unangenehm. Er hat mir schließlich ein Ultimatum gesetzt. Wenn ich die Wohnung heute nicht bis Mitternacht geräumt hätte, hätte er die Polizei gerufen. Das wollte ich dann doch nicht riskieren.«
Ada seufzte tief. »Und nun?«
»Ich dachte«, begann Friedrich und sah sie bittend an, »dass ich vielleicht eine Weile hier unterkommen könnte? Bis ich etwas Neues gefunden habe?«
»Hm.« Ada verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte ihn.
»Dann wärst du auch nicht so alleine im Haus«, fügte Friedrich hinzu.
»Wer sagt, dass ich alleine bin?«, fuhr Ada ihn an. »Samstags kommen meine Bridgefreundinnen, donnerstags mache ich den Damen aus der Nachbarschaft die Nägel und freitags gehe ich zum Bowling.«
»Wieso hast du vorhin eigentlich gesagt, ob ich auch meinen Job verloren habe?«, fragte Friedrich plötzlich.
»Ich wurde entlassen und Matthias hat mit mir Schluss gemacht«, presste Theresa schnell heraus. »Ich bin seit gestern auch hier.«
Friedrich legte ihr den Arm um die Schulter und sie drückte einen Moment lang ihr Gesicht an seine Brust. Er roch so tröstlich nach Pizza.
»Dieser arrogante Idiot hat dich sitzenlassen? Dem würde ich gerne mal die Meinung geigen! Wie kann er nur? Was ist passiert?«
»Das würde mich auch mal interessieren«, warf Ada ein.
Theresa traten die Tränen in die Augen; sie schüttelte den Kopf und trank schweigend den Rest ihres Bechers aus.
»Nun gut«, sagte Ada. »Heben wir die Tafel auf. Es ist nach ein Uhr. Ich gehe jetzt ins Bett. Friedrich, du weißt, wo die Bettwäsche ist, hol dir welche und bezieh dein Bett.«
»Gut. Helft ihr mir bitte, mein Gepäck und die Computer in mein Zimmer zu tragen?«
Jeder nahm ein Gepäckstück und einen der Laptops.
»Wozu brauchst du drei Laptops?«, fragte Ada misstrauisch.
»Ich arbeite damit, schon vergessen? Ich entwickle Software, das geht nicht mit Papier und Bleistift.«
Friedrich öffnete die Tür seines alten Kinderzimmers, blieb aber so abrupt auf der Schwelle stehen, dass Theresa und ihre Mutter beinahe in ihn liefen. Er stieß einen entsetzten Schrei aus.
»Alter Schwede, was zum Teufel ist hier passiert?«
Ada schob ihn ungerührt zur Seite und ließ das Gepäck auf den Boden plumpsen, während Theresa sich genauso schockiert umsah wie ihr Bruder. Das Bett und die Möbel standen zwar noch, jedoch hatte Ada das Bett mit Polstern zu einer gemütlichen Couch umfunktioniert; auf dem niedrigen Tisch davor stapelten sich Frauenzeitschriften wie in einem Wartezimmer beim Arzt. Der große Tisch, auf dem Friedrich bereits zu Schulzeiten seine Computer stehen hatte, war mit einem Sortiment von Nagellacken beladen. Es mussten an die hundert sein – in allen Farben schimmerten sie im sanften Licht der Deckenlampe, pastellfarben, grellbunt, unauffällig dezent, durchsichtig, neonfarben, matt, glänzend, mit Glitzerpartikeln und ohne. Außerdem waren noch ein paar professionell wirkende Gerätschaften zu sehen, Feilen, Pinsel, Gele, Schablonen und eine UV-Lampe.
»Oh mein Gott«, murmelte Friedrich und ließ sich haareraufend auf das zum Sofa umgebaute Bett sinken. »Was hast du aus meinem Zimmer gemacht? Ist das hier so etwas wie eine Praxis?«
Ada schnaubte. »Praxis … Ich bin doch kein Arzt. Ich habe euch doch vorhin erzählt, dass ich meinen Freundinnen aus der Nachbarschaft donnerstags die Nägel mache. Aber keine Sorge, du kannst hier ganz normal schlafen. Richte halt das Bett wieder her. Aber donnerstags musst du das Zimmer für zwei bis drei Stunden räumen.«
»Kann ich diese tausend Lacke woanders hinstellen?«
»Bitte? Natürlich nicht. Wohin denn? Das ist jetzt mein Nagelmodellagetisch, die Lacke und Geräte sind ein Vermögen wert. Das bleibt alles stehen.«
»Aber wo soll ich denn meine Laptops aufstellen? Du weißt doch, dass ich immer von zu Hause aus arbeite, soll ich mich aufs Klo setzen?«
»Jetzt hör mir mal zu, Fritzchen«, sagte Ada, und sie klang plötzlich sehr müde. »Euer Vater ist seit einem Dreivierteljahr tot. Ich habe ein Recht darauf, mir ein neues Leben aufzubauen, ohne ihn. Ich bin froh, dass ich alle meine Hobbies habe, die mich vom Grübeln abhalten. Meine Hobbies machen mir sogar großen Spaß! Anfangs habe ich meinen Bekannten nur die Nägel gemacht, um mich von meiner Trauer abzulenken, aber inzwischen bin ich so etwas wie eine Institution in der Nachbarschaft, was mich sehr glücklich macht.«
»Aber Mutti«, sagte Friedrich, »das freut uns ja auch, und natürlich sollst du auch weiterhin deinen Beschäftigungen nachgehen.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich mit sechsundfünfzig Jahren plötzlich wieder meine beiden Kinder im Haus habe … Ich hoffe, ihr erwartet nicht, dass ich euch wieder von vorne bis hinten bemuttere und bediene. Die Zeiten sind vorbei. Ich möchte mein Leben weiterleben wie bisher.«
»Aber natürlich, Mutti«, sagte Theresa, die sich recht unwohl fühlte.
»Ihr könnt gerne alle beide hier wohnen, aber kochen und eure Zimmer in Ordnung halten müsst ihr selber. Und um eure Wäsche kümmert ihr euch auch alleine. Ihr wisst, wo die Waschmaschine steht.«
Friedrich sah seine Mutter mit gemischten Gefühlen an. »Ja, schon, das ist natürlich alles vollkommen okay, aber könntest du mir nicht wenigstens bei der Wäsche ein bisschen unter die Arme grei…«
»Nein!«, rief Ada unwirsch. »Das Hotel Mama ist geschlossen.«
Theresa war froh, als am Montagmorgen der Wecker klingelte; sie war die letzten Stunden wach im Morgengrauen gelegen und hatte gegrübelt. Heute würde sie anfangen, im Samt & Seide zu arbeiten, ihr Tag würde nun viel weniger Leerlauf haben, die finsteren Gedanken, die sie die letzten Wochen in die Tiefe gezogen hatten, würde sie so hoffentlich besser in Schach halten können.
Der Rest des Wochenendes war ereignislos dahingeplätschert. Adelheid war mit einer Bekannten im Kino gewesen, und Friedrich hatte fluchend einen Ort im Haus gesucht, an dem er seine Computeranlagen aufbauen konnte. In seinem ehemaligen Zimmer war zu wenig Platz dafür, auch im Wohnzimmer war es aufgrund von Adas Fitnessgeräten neuerdings ungewohnt eng. Schließlich war ihr Bruder mit seiner gesamten Ausrüstung im Keller verschwunden, und sie sah ihn den ganzen Sonntag kaum noch, hörte nur noch die durch die Kellerdecke gedämpften Geräusche seiner PC-Spiele.
Ada war bereits im Finanzamt und Friedrich schlief noch, als Theresa aufbrach. Es war ein stiller Morgen, der frühherbstliche Nebel schien alle Laute zu schlucken. Die Straßen und Gärten schienen wie in dicke Watte gepackt.
Sie wäre wieder in Depressionen verfallen, wenn sie einen weiteren Tag lang untätig auf ihrem Bett im Kinderzimmer hätte liegen müssen, den gelben Plüschhasen im Arm, der sie ständig an das erinnerte, was sie verloren hatte.
Es herrschte bereits reger Betrieb im Zentrum Neustadts; das Wasser in dem Brunnen auf dem kleinen Platz plätscherte, die Inhaber des Feinkostladens Geschmackssache und der Chocolaterie schoben gerade Ständer mit Waren auf das Kopfsteinpflaster, und die ersten frisch gesträhnten und gefärbten Kundinnen verließen den Friseursalon Rapunzel, der bereits um acht Uhr öffnete. Das Chez Romain gegenüber vom Stoffladen war noch dunkel, die Bar würde natürlich erst am Abend aufmachen.
Theresa betrat das Stoffgeschäft; sogleich fühlte sie sich wieder wie daheim, eigentlich mehr als in ihrem eigentlichen Zuhause. Wie schon früher als Kind und als Jugendliche konnte sie sich nicht sattsehen an den Stoffen mit ihren vielfältigen Farben, Mustern und Texturen, an den Regalen mit Knöpfen, Reißverschlüssen, Garnen und Nadeln. Im Vorbeigehen berührte sie sachte einige pastellfarbene Knöpfe, die die Form von Blumen hatten.
»Guten Morgen, du bist ja überpünktlich«, begrüßte Tante Babette sie. Sie stand am Schneidetisch und schnitt die Reste von Stoffballen in kleine Stücke für den Restekorb. Sie trug wieder einen überdimensionalen selbstgenähten Kaftan, der mit dunkelroten Rosen bedruckt war. Obwohl es erst neun Uhr war, sah sie bereits fix und fertig aus.
»Guten Morgen, Tante Babette. Soll ich dich ablösen?«
»Ach was, das schaffe ich schon«, sagte Babette und wischte sich über die Stirn. »Mach dich anderweitig nützlich. Du weißt, die Buchhaltung schreit nach dir. Ich möchte nicht, dass deine Mutter mir die Steuerprüfung auf den Hals jagt, wenn es da Unregelmäßigkeiten gibt.«
»Okay«, meinte Theresa, ließ sich von ihrer Tante alle Bücher und Ordner geben – alles war recht schlampig geführt, Unterlagen und Rechnungen waren nicht richtig abgeheftet, sondern einfach irgendwo zwischen die Seiten geschoben – und machte sich im Hinterzimmer an die Arbeit. Es war nicht so leicht, Ordnung in das Chaos zu bringen und ein ums andere Mal hätte sie am liebsten alles hingeworfen, doch sie machte stetig weiter, denn die Arbeit lenkte sie ab.
Um die Mittagszeit verschwand Tante Babette nach oben in ihre Wohnung, um eine Suppe zu kochen, und während die eine aß, hielt die andere unten im Laden die Stellung, und umgekehrt. Bereits am ersten gemeinsamen Tag fanden sie eine Routine, die ihnen beiden guttat.
Am frühen Nachmittag schwirrte Theresa der Kopf vor Zahlen, und sie beschloss, erst am nächsten Tag weiterzumachen. Stattdessen räumte sie neue Stoffe in die Regale, die heute geliefert worden waren – Tante Babette konnte sich kaum mehr bücken, geschweige denn auf eine Leiter steigen, um an die oberen Regale zu kommen, sodass sie dankbar für Theresas Hilfe war.
Theresa bekam seit Langem mal wieder große Lust, selbst zu nähen und suchte sich einen dunkelvioletten und einen flaschengrünen Stoff aus.
»Ziehst du mir die Kosten vom Lohn ab?«, fragte sie ihre Tante, doch die winkte unwirsch ab.
»Sei nicht albern. Ich habe dir am Samstag schon gesagt, du kannst dir nehmen, was du willst. Sieh es als Werbungskosten an; wenn du dir was Schönes nähst und im Laden anhast, ist das die beste Reklame für mein Geschäft.«
»Dankeschön. Hast du etwas dagegen, wenn ich das Schaufenster ein bisschen dekoriere?«
»Mach nur. Ich bin einfach nicht mehr gelenkig genug, um im Schaufenster herumzuturnen. Ich weiß, es ist kein schöner Anblick im Moment … Viel Dekomaterial habe ich leider nicht zu bieten.«
»Ich werde schon was finden«, murmelte Theresa und sah sich im Hinterzimmer und im Lager um.
Nach einer Stunde war es ihr gelungen, aus den wenigen vorhandenen Materialien eine Art Herbstlandschaft zu gestalten; sie hatte zwei aufgespannte Regenschirme ins Schaufenster gehängt und aus grauem Baumwollstoff einen gewölbten Himmel gestaltet. Im Lager hatte sie einen roten Plüschsessel gefunden, der verloren in der Ecke gestanden hatte, und ihn unter Ächzen ebenfalls ins Schaufenster verfrachtet. Ein alter Quilt, den Babette vor Jahren genäht hatte, lag gemütlich darüber drapiert.
Babette bewunderte ihre Arbeit gebührend.
»Ich werde anfangen, zu Hause jeden Abend zu nähen«, beschloss Theresa, »Herbst- und Winterkleidung. Dann können wir den Schaufensterpuppen bald was anziehen und den Kunden Inspirationen für ihre Nähprojekte geben.«
»Nur, wenn es dir nicht zu viel ist«, wandte Babette ein. »Du musst dich nicht völlig verausgaben.«
»Ich habe ja sonst nichts zu tun«, sagte Theresa leise.
Eine junge Frau kam herein und schaute sich bei den Kinderstoffen um.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Theresa.
Die Frau wandte sich ihr zu; ihre Jacke klaffte auf und Theresa stach ihr dicker Babybauch ins Auge.
»Ja, gern. Ich suche einen rosa Stoff für die Babywiege. Ich möchte einen Vorhang nähen.«
»Ich …«, begann Theresa, »Ich schaue …«Sie brach ab. Schweiß trat ihr auf die Stirn, alles drehte sich in ihr. Sie entschuldigte sich schnell und lief ins Hinterzimmer, um sich dort auf den Boden sinken zu lassen. Tante Babette sah ihr kopfschüttelnd hinterher und bediente die Kundin selbst.
Als sich Theresa später wieder in den Verkaufsraum hinauswagte, sah sie sie kopfschüttelnd an. »Was war das für eine Nummer, Kind?«
»Tut mir leid, Tante Babette«, murmelte Theresa zerknirscht. »Ich hatte einen kleinen Aussetzer.«
»So würde ich es nicht nennen. Brauchst du einen Schnaps? Sollen wir schließen und nach oben gehen?«
»Nein, geht schon …« Theresa war rot angelaufen und verknotete unwohl die Hände ineinander.
»Willst du mir was sagen?«
Theresa fühlte sich, als würden die durchdringenden Augen ihrer Tante sie aufspießen. Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Nun gut«, sagte Babette schließlich. »Wie wäre es, wenn wir nach drüben in diese neue Spelunke gehen und sie mal auskundschaften? Ich lade dich ein. Ich bin gespannt, was die auf Lager haben.«
Die Bar hatte gerade geöffnet und war bis auf einen Mann, der an einem kleinen Tisch in der Ecke an einem Laptop saß und arbeitete, noch leer. Theresas Blick verharrte einen Moment auf ihm. Seine klassischen Gesichtszüge und die sanft geschwungenen Lippen fielen ihr sofort auf. Dann riss sie sich los und sah sie sich im Raum um; alles war edel in dunklem, glänzendem Holz und Glas gehalten. Die Tische und Stühle wirkten gleichzeitig minimalistisch und elegant. An den Wänden hingen Frauenportraits in Öl, einige in sanften, andere in grellen Farben gemalt. Die Gesichter hatten einen unglaublichen Ausdruck, man glaubte, den Frauen bis auf den Grund ihrer Seele blicken zu können.
»Guten Abend alle zusammen«, grüßte Tante Babette, doch von der Bedienung, die hinter dem Tresen Gläser polierte, kam nur ein Murmeln. Sie war ein bildhübsches, junges Geschöpf mit makelloser heller Haut, seidigen schwarzen Haaren, die ihr in Wellen auf die Schultern fielen, und blutrot geschminkten Lippen. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und erinnerte Theresa ein wenig an Schneewittchen.
Sie setzten sich an einen Tisch in einer Nische und studierten die Karte.
»Das ist er«, flüsterte Tante Babette in Bühnenlautstärke.
»Was? Wer?«
»Der Typ am Laptop. Das ist dieser Romain, der Besitzer.«
Der Mann sah kurz auf und lächelte zu ihnen hinüber. Ihre Blicke begegneten sich kurz. Dann wandte Theresa sich ab und beobachtete ihn kurz darauf verstohlen über ihre Karte hinweg. Er hatte kurze dunkle Haare, dunkle Augen und war sehr schick in Anzugshose und Weste über einem weißen Hemd gekleidet. Er mochte ungefähr Anfang dreißig sein.
»Was gibt´s denn hier zu essen?«, überlegte Babette laut.
»Amuse-Gueules«, gab Theresa leise zurück.
»Was ist das?«
»Das sind so kleine Appetithäppchen, zum Beispiel Oliven oder Fleischstückchen oder mit Olivenöl bestrichenes getoastetes Weißbrot.«
»Hm.« Tante Babette runzelte unzufrieden die Stirn. »Schade, dass es hier nichts Richtiges zu essen gibt. Ein Glas Oliven kann ich mir auch daheim aufmachen, da muss ich nicht in ein Restaurant gehen.«
»Wir sind hier ja auch in einer Bar und nicht in einem Restaurant«, sagte Theresa und überflog die schier endlose Liste mit den Cocktails.
»Trotzdem«, nörgelte Babette. »Von ein paar Häppchen werde ich nicht satt. Dann muss ich nachher daheim noch was essen. Sag mal, kommt die heute noch oder werden Gäste hier nicht bedient?«